1 Traugott Konstantin Oesterreich: Ein früher Pionier der Religions- und Kulturpsychologie

Traugott Konstantin Oesterreich wurde 1880 im preußischen Stettin geboren. Seine Kindheit und Jugend verbrachte er in Berlin, wo er 1899 das Abitur ablegte und im gleichen Jahr begann, Mathematik, Physik und Astronomie zu studieren. Jedoch wechselte er zwei Jahre später zum Studium der Philosophie und Psychologie, das er 1905 abschloss. Seine ein Jahr später erschienene Dissertation Kant und die Metaphysik (Oesterreich 1906) wurde vom Philosophen Friedrich Paulsen und vom Gründer des psychologischen Instituts in Berlin, Carl Stumpf, betreut (vgl. Bauer 1999). Bis 1910 arbeitete Oesterreich am neurobiologischen Institut in Berlin, wo er in Kontakt mit der Philosophiegeschichte sowie der deutschen und französischen Psychopathologie kam. Beide Fächer inspirierten ihn zu seiner Habilitation Die Phänomenologie des Ich in ihren Grundproblemen (Oesterreich 1910), die er 1910 an der Universität Tübingen einreichte. An derselbigen arbeitete er ab 1910 als Privatdozent, ab 1916 als außerordentlicher Professor und 1922 als ordentlicher Professor, wo er zwischen 1924 und 1930 ein psychologisches Institut gründete (vgl. Wolfradt 2017; Wolfradt und Demmrich 2016). Aufgrund seiner frühen demokratischen Bestrebungen in der Weimarer Republik und seiner jüdischen Frau Maria wurde Oesterreich bereits kurz nach der Machtübernahme der Nazis 1933 mit einer reduzierten Pension frühzeitig emeritiert (vgl. Bauer 1999). Oesterreich und seine Familie litten unter schlechten materiellen Bedingungen und kontinuierlichen Schikanen des NS-Regimes. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Oesterreich rehabilitiert und erlangte seinen Lehrstuhl zurück, der ihm jedoch nur zwei Jahre später erneut entzogen wurde. Im Folgenden erlitt er zwei Schlaganfälle mit dauerhaften Lähmungen, an denen er am 28. Juli 1949 verstarb (vgl. Wolfradt und Demmrich 2016). Oesterreich wurde beschrieben als ein Mensch mit einem demütigen, zurückgezogenen und ehrfürchtigen Charakter (vgl. M. Oesterreich 1954) und gilt bis heute als ein wissenschaftlicher Querdenker, der sich in eine Vielzahl von Themen tief einarbeitete.

So kann er als ein früher Pionier der Religions- und Kulturpsychologie angesehen werden. Inspiriert vom großen Religionspsychologen William James (1842–1910), legte Oesterreich seinen Fokus auf individuelle religiöse Erfahrungen. Er analysierte nicht nur verschiedene religiöse Phänomene wie Glossolalie, Inspirationen, Tranceerfahrungen und Besessenheit, sondern beschäftigte sich auch ganz zentral mit Parapsychologie (z. B. Psychologie okkulter Medien; vgl. Wolfradt 2017). Er war Mitglied des wissenschaftlichen Beirats der Zeitschrift für Religionspsychologie und aktiv in religionspsychologischen Diskussionen seiner Zeit eingebunden (vgl. v. Belzen 2015), in denen er eine nichtreduktionistische Perspektive auf religiöse Phänomene vertrat. Kulturpsychologisch wirkte Oesterreich, indem er dissoziative Zustände und Tranceerlebnisse als grundlegend für die Entwicklung von Religiosität in verschiedenen Kulturen und Religionen analysierte.

Darüber hinaus entwarf er auch Wahrnehmungsexperimente, die innerhalb der deutschen Psychologie große Anerkennung fanden. Seine Hauptthemen galten jedoch als unkonventionell und führten Oesterreich in eine Isolation im deutschsprachigen akademischen Bereich, während er auf internationaler Ebene in den 1920er-Jahren hoch angesehen war. In diese Zeit fällt auch seine Studie zur Besessenheit.

2 Die Besessenheit

In Die Besessenheit (1921), einer über 400-seitigen Phänomenologie, beschreibt Oesterreich sehr detailliert Besessenheitszustände und kristallisiert ihre psychophysischen Symptome heraus, um daraus wiederum zentrale religionspsychologische sowie parapsychologische Erklärungen abzuleiten. Diese werden untermauert durch umfassendes Berichtsmaterial von Besessenheit durch Dämonen, Verstorbene, Tiere, Besessenheitsepidemien sowie Exorzismen, aus antiken und gegenwärtigen Kulturen, die das gesamte Werk durchziehen und ihm einen großen Unterhaltungswert verleihen.

Allgemein gesprochen, beschreibt er die Besessenheit als eine Art Anfall, in dem eine sogenannte ‚Persönlichkeit‘ im Erleben und Verhalten des Besessenen für eine bestimmte Zeit in den Vordergrund trete, die von der normalen Persönlichkeit des Erkrankten stark abweiche. In einigen, vor allem älteren Fallberichten werden diese als Dämonen oder Teufel bezeichnet, in neueren Berichten, d. h. zur Zeit der Romantik, werden sie als die Seelen Verstorbener interpretiert, die auch gut gestimmt sein können. Letztere schließt er für seine Studie aus und konzentriert sich ausschließlich auf die dämonische Besessenheit.

Was sind nun die zentralen Symptome dieser dämonischen Besessenheit? Um den damaligen Leser in das Thema einzuführen, nutzt Oesterreich Berichte von Besessenheit des Neuen Testaments (z. B. Markus 9, 17–26). Diese frühesten detaillierten Zeugnisse ähneln modernen Besessenheitsberichten in ihren Grundcharakteristiken so stark, dass sie für Oesterreich ein Beleg der historischen Authentizität des Neuen Testaments sind. Jedoch stützt er sich vorwiegend auf moderne Berichte in seiner Analyse: Das Hauptmaterial besteht aus medizinisch-psychiatrischen Krankheitsjournalen, unter anderem der beiden Ärzte Justinus Kerner (1786–1862) und Carl August von Eschenmayer (1768–1852), die in der Spätromantik der 1830er-Jahre Besessenheitsfälle detailliert beschrieben, aber an ihrer dämonischen Ursache festhielten. Weitere Dokumente sind die nichtdämonische Beschreibung der Besessenheit und ihrer hypnotischen Heilung von Pierre Janet, veröffentlichte und teilweise noch aus dem 17. Jahrhundert stammende Berichte der Bibliothèque diabolique (s. Oesterreich 1921, S. 12–15).

Aus der Analyse dieser Berichte leitet Oesterreich vier Kardinalsymptome der äußeren Erscheinung von Besessenheit ab, die zunächst so scheinen, als ergreife eine andere Persönlichkeit Besitz.

  1. 1.

    Der Besessene erlebe physiognomische Veränderungen indem sich seine Gesichtszüge verändern oder verzerren können. Kerner (1836) beschreibt dies als die „scheußlichsten Fratzen der Hölle“ (zit. N. Oesterreich 1921, S. 16) und schildert auch, wie eine Person die Gesichtszüge eines Verstorbenen annahm, sobald dieser in sie einfuhr. Auch berühmte Persönlichkeiten werden in ihrer Gestik imitiert. Der Wechsel von normalen zu besessenen Gesichtszügen erfolge abrupt und schnell. Weitere physiognomische Veränderungen sind Körperhaltung und Gangart im Sinn des neuen Ichs.

  2. 2.

    Darüber hinaus treten gewaltige motorische Phänomene auf, die auf eine starke emotionale und motorische Übererregung des Besessenen zurückgehen. Solche Bewegungen seien nicht steuerbar für den Besessenen und somit auch nicht zweckgerichtet, wie z. B. wildes Herumschlagen, Verrenkungen, Verdrehungen oder Zusammenkrümmen des Körpers nach hinten. Diese schmerzhaften motorischen Symptome ähneln sehr stark Krampfanfällen, sodass Oesterreich auch den Begriff Besessenheitsanfälle gebraucht. Ein häufiges Thema in Besessenheitsberichten ist die Verbindung dieser Bewegungen mit großen Kräften – d. h. dass mehrere Personen nicht imstande seien, Besessene, darunter auch Kinder, festzuhalten.

  3. 3.

    Des Weiteren verändere sich die Stimme des Besessenen. Häufig betrifft dies die Stimmhöhe, indem eine tiefe Bassstimme auch aus dem Mund junger Mädchen auftrete. Auch kann es sein, dass sich die Intonation ändere, ein Akzent oder gar eine andere Sprache übernommen werde, der dem Charakter der sogenannten neuen Persönlichkeit entspreche.

  4. 4.

    Dies betrifft auch den Inhalt des Gesprochenen, der sich auf das neue Ich beziehe. Der Besessene zeige Sprache und Verhalten, das seinem normalen ethisch-religiösen Verständnisses diametral entgegenstehe. Dazu zählen z. B. Fluchen, Spotten, Verwünschungen der Bibel, Jesu oder öffentliches Urinieren.

Während die motorische Übererregung häufig auftrete, sei sie nicht unbedingt notwendig zur Diagnose der Besessenheit. Besessenheit trete in jedem Alter auf, es seien überwiegend Frauen und Ungebildete betroffen. Auch können die Symptome in einer so starken und langwierigen Form auftreten, dass eine autosuggestive Selbsttötung stattfinde.

In der Hinwendung von äußeren Symptomen zum inneren Erleben des Besessenen führt Oesterreich eine grundlegende Unterscheidung zwischen somnambuler und luzider Besessenheit ein. Während der an luzider Besessenheit Leidende den Besessenheitsanfall bewusst aber passiv wahrnimmt, ohne eine retrograde Amnesie auszubilden, so ist in der somnambulen Form kein Bewusstsein während des Anfalls sowie keine spätere Erinnerung an diesen vorhanden. Beiden Formen sei jedoch gemeinsam, dass in der Besessenheit eine fremde Persönlichkeit von sich in der Ich-Form spreche; häufig erzähle sie sogar eine Art Lebensgeschichte und beantworte Fragen, die immer auf Schuldgeständnisse hinauslaufen. Auch unterscheidet Oesterreich Formen der spontanen Besessenheit, was die große Mehrzahl seiner Berichte ausmacht und der induzierten Besessenheit, d. h. Schamanismus und Spiritismus als kontrollierte und ritualisierte Form der Besessenheit zu primär prophetischen Zwecken.

Die bis dato vorherrschende Erklärung der Besessenheit durch eine Spaltung oder Verdoppelung der Persönlichkeit ist für Oesterreich wissenschaftlich nicht tragbar. Noch 1906/1907 schloss er sich dieser Hypothese von Pierre Janet und Adolf von Harnack in Die Entfremdung der Wahrnehmungswelt an (Oesterreich 1907). In seiner weiteren Analyse von Persönlichkeitsprozessen in seiner Habilitation bricht Oesterreich drei Jahre später mit dieser Spaltungsthese und formuliert in Die Besessenheit eine alternative psychologische Erklärung. Zunächst sah Oesterreich in der Theorie der Persönlichkeitsspaltung eine Fortführung des alten Dämonen- und Geisterglaubens, dass eine andere Persönlichkeit in den Erkrankten eindringe. Jedoch sei die normale Persönlichkeit des Besessenen während des Anfalls nicht verschwunden, sondern die sogenannte neue Persönlichkeit besitze sehr detaillierte Kenntnisse des Erkrankten, was auf eine gesteigerte Gedächtnisleistung (Hypermnesie) v. a. hinsichtlich der eigenen Biographie im Besessenheitszustand zurückführen sei. Dies belege, dass der Besessene immer Erinnerung an seinen normalen Persönlichkeitszustand habe, aber keine Einsicht mehr darin, dass dies sein normaler Persönlichkeitszustand ist. Für Oesterreich ist es „ein und dasselbe Subjekt, das sich das eine Mal im normalen, das andere Mal in einem abnormalen Zustande befindet“ (S. 36). Ein weiterer Grund für die Ablehnung der Spaltungshypothese ist für Oesterreich die relative Stabilität der Persönlichkeit, die sich nur sehr langsam verändern könne, wohingegen ein Persönlichkeitswechsel im Besessenheitsanfall abrupt auftritt.

Somit herrsche keine Spaltung der Persönlichkeit, sondern des Bewusstseins vor (d. h. Gedächtnis und Wille), die das normale Persönlichkeitsbewusstsein durch ein zweites Persönlichkeitsbewusstsein ersetze, jedoch nicht eine Spaltung des Subjekts an sich im Sinn eines endogenen Entstehens einer zweiten Persönlichkeit, die dann Besitz von der normalen Persönlichkeit ergreife. Während das Subjekt ein und dasselbe bleibe, dränge sich eine andere, vom Subjekt imaginierte Individualität zwanghaft und zunehmend auf. Diese zweite Individualität ersetze schlussendlich das primäre Persönlichkeitsbewusstsein im Besessenheitsanfall, wobei dissoziative Zustände nicht nur Ursache (Bewusstseinsspaltung), sondern auch Folgebegleitungen der Besessenheit seien (Amnesie). Oesterreichs zentrale Hypothese der Besessenheit als zwangs- und gefühlsmäßigen Imitationszustand verifiziert er anhand zahlreicher internationaler Besessenheitsberichte. Auch die unwillkürlichen motorischen Besessenheitssymptome, wie das Verdrehen des Kopfes oder das Herausstrecken der Zunge sind für ihn zwanghafte Verhaltensweisen.

Die bereits angesprochene luzide Besessenheit eigne sich laut Oesterreich besonders gut für die Untersuchung der Entstehung der Besessenheit, da der Besessene wie ein passiver Zuschauer den Besessenheitsanfalls bewusst wahrnehme. So berichtet Oesterreich einen Fall von Janet, in der der Besessene nach dem Ausstoßen von blasphemischen Äußerungen sagte „Es ist nicht meine Schuld, wenn mein Mund diese schrecklichen Worte sagt […] ich presse die Lippen zusammen; damit die Worte nicht herauskönnen […], aber es hilft nichts“ (S. 41). Milde Formen dieses Zustands seien häufig und jedem Individuum bekannt, nämlich das gedankliche Unterhalten mit einer Person und dessen Antworten in der eigenen Phantasie, das Sich-Einfühlen und -Hineindenken in diese andere Person, mit ihren Charakterzügen, ihrem Lebensgefühl, ihrem Sprechstil, ihrer Mimik und Gestik. Solche eigentlich psychischen Nebenprozesse können zunehmen, wenn eine solche Nachahmung unkontrollierbar, d. h. zwanghaft werde. Dieses Aufdrängen der Nachahmung könne zunächst in eine luzide Besessenheit und später, wenn der Besessene sich mit dieser imaginierten Person vollständig identifiziere, in eine somnambule Besessenheit münden. Dieses vollständige somnambule Aufgehen in der anderen Person ist abhängig vom Willenswiderstand gegen diese Zwangsphänomene. Diese zeige sich v. a. bei Kindern und sogenannten primitiven Völkern, bei denen fast nie luzide Besessenheit auftrete, da sie stärker (auto-)suggestibel seien. Auch an diesem Aspekt macht Oesterreich deutlich, dass sich in der Besessenheit nicht eine andere Persönlichkeit aufdränge, sondern dass solche Seelenzustände anderer Personen vom Besessenen selbst imaginiert werden und somit eindeutig zu ihm, dem primären Individuum, gehören.

Differenzialdiagnostisch grenzt Oesterreich die Besessenheit von der halluzinatorischen Schizophrenie, von dissoziativen Symptomen der Psychasthenie und hysterischen Anfällen ab, da bei keiner dieser Störungen die Idee, von einer fremden Macht beherrscht zu werden, im Zentrum stehe. Andere Zwangsstörungen, in denen sich auch blasphemische Gedanken und Handlungen gegen den Willen der Person aufdrängen können, werden erst dann Besessenheit genannt, wenn sich die betroffene Person gespalten fühlt. Dieses Gespaltenheitsgefühl, das auch Basis für die Hypothese der Persönlichkeitsspaltung ist, wird bereits von Janet als ein Fehlurteil beschrieben, da das betroffene Individuum nicht mehr den Wechsel seiner psychischen Zustände erkenne. Anstelle dessen sehe der Betroffene in dem anderen Zustand, der seiner eigenen Person widerstrebt (z. B. aufgrund blasphemischer Äußerungen), eine andere Person, d. h. es finde „eine Personifizierung der Zwangsprozesse“ (S. 80) im Sinn von Dämonen oder Geistern statt. Zuletzt grenzt Oesterreich Besessenheit von der Wahnidee ab, besessen zu sein: Bei dieser seien keine Zwangsprozesse vordergründig, denn ausschließlich der Glaube an Besessenheit werde zur Wahnidee.

Kulturpsychologisch deckt Oesterreich auf, dass Besessenheit mit dem Glauben an Besessenheit stehe und falle – gerade Kulturen, die eine ausgeprägte Besessenheitsvorstellung pflegen, weisen viele Besessenheitsfälle auf (z. B. Sumerer in Mesopotamien, mittelalterliches Christentum, Renaissance, Romantik in Deutschland). Aber auch der allgemeine Glaube an einen dämonischen Ursprung aller Krankheit – nicht nur der Besessenheit – sei der Hauptauslöser der Besessenheit, so wie umgekehrt die medizinische Erklärung Besessenheit hemme. Ein weiterer Entstehungsfaktor für Besessenheit sei der Anblick und Umgang mit Besessenen, was ganze Besessenheitsepidemien auslösen könne. Jedoch betreffe diese Ansteckung in erster Linie exorzierende Priester, aber auch nahe zusammenlebenden Personen werden infiziert, so wie dies heute von anderen psychischen Störungen, z. B. der induzierten wahnhaften Störung, bekannt ist. Laut Oesterreich liegt dieser Ansteckung ebenso der Glaube an den dämonischen Charakter der Besessenheit zugrunde, aber auch Aufregung, Spannung und Angst können autosuggestiv wirken, sodass „analoge psychische Erlebnisse hervorzutreten beginnen“ (S. 185). Als eine dritte Quelle der Besessenheit werden sehr selten vorkommende Halluzinationen genannt, in der eine andere Person in den eigenen Körper eindringt. Schlussendlich sei ein weiterer Auslöser ein starkes Sündenkonzept, d. h. ein erwartetes auf Sünde folgendes Leiden, das imaginativ durch die eigene Beerdigung und Höllenqualen ausgeschmückt werde, die zwanghaft werden.

Sind die Entstehungsfaktoren der Besessenheit ergründet, so fragt sich Oesterreich, wie sie geheilt werden kann. So wie sich die Besessenheit durch Autosuggestionen – angetrieben durch Geister- und Dämonenglauben – manifestiere, so könne sie mittels Exorzismus fremdsuggestiv durch das direkte Ansprechen und Bedrohen des Dämons geheilt werden, aber auch das autosuggestive Moment des Glaubens an den Exorzismus trage zu einer Genesung bei. Der Exorzismus als „das genaue Gegenstück zur Entstehung der Besessenheit“ (S. 95) sei jedoch oft sehr langwierig, nicht immer erfolgreich und trage auch mitunter zum erneuten oder verstärkten Auftreten von Besessenheitsanfällen bei. Weitere Methoden sind gewaltsame Handlungen, z. B. das Schlagen auf den Kopf oder die Schulter, sodass der Dämon aus der blutigen Wunde ausfahren könne, oder die Androhung massiver Gewalt, z. B. Erschießen, Verbrennen. Da die Besessenheit häufig epidemische Züge annehme, sei auch die Isolation des Besessenen ein therapeutisches Mittel. Ein moderneres autosuggestives Verfahren ist die Hypnose, die das erste Mal erfolgreich bei einem Besessenen von Janet angewandt wurde.

Besessenheit und Exorzismusrituale, so Oesterreich gegen Ende seiner Analyse, kommen in allen Gesellschaften mehr oder weniger vor, aber besonders in denjenigen, die einen ausgeprägten Ahnen‑, Dämonen- und Besessenheitsglauben pflegen und vor allem auf niedrigeren Kulturstufen häufig epidemisch auftreten. Auch seien die Besessenheitssymptome über alle Kulturen und Zeitalter hinweg die gleichen, wenn auch mit kulturspezifischen Nuancen (z. B. Fuchsbesessenheit in Japan). In den entwickelten Kulturen von 1921 werden drei Kontexte, in denen Besessenheit vorkomme, genannt: der strenge Katholizismus, der Spiritismus sowie – jedoch wesentlich seltener – der rechte Flügel des Protestantismus. So waren es überwiegend aufgeklärte protestantische Theologen wie Johann Semler (1725–1791) und nicht zuletzt Friedrich Schleiermacher (1768–1834) die für eine Überwindung des Dämonen- und Besessenheitsglaubens eintraten und den Protestantismus damit nachhaltig beeinflussten.

Oesterreich schließt seine Studie mit einem Fazit zur religionspsychologischen Bedeutung der Besessenheit ab: Besessenheitszustände mit ihrem zentralen Gefühlsmoment des Schauerlichen, des „tremendum“ (vgl. Otto 2004 [1917]), lösten bereits sehr früh in der Menschheitsgeschichte religiöse Gefühle aus und führten zur Entwicklung und später zur Aufrechterhaltung des Jenseitsglaubens.

Ist Oesterreichs Studie zur Besessenheit den meisten Religionspsychologen und -psychologinnen der Gegenwart unbekannt, so erfreute sie sich in den 1920er-Jahren einer internationalen Beliebtheit und wurde in mehrere Sprachen, unter anderem ins Englische und Französische, übersetzt. Gerade der Bruch mit der Spaltungsthese und die Einführung der Zwangsthese, die von historischen und modernen Berichten aus der gesamten Welt belegt wird, machte dieses Werk für viele Forscher dieser Zeit wohl hochinteressant. Kritisch ist jedoch festzuhalten, dass die Zwangshypothese wohl auch der Versuch Oesterreichs war, die Besessenheit mit seinen anderen Forschungsthemen zu verbinden, denn z. B. auch Zungenrede, automatisches Schreiben, Ekstase teilen die postulierten dissoziativen Prozesse (vgl. Wolfradt und Demmrich 2016). Zusammenfassend kann gesagt werden, dass Oesterreichs Phänomenologie der Besessenheit mit seinem sowohl klinisch-psychologischen als auch kulturwissenschaftlichen Fokus gerade im Kontext einer erhöhten Nachfrage an Exorzismen in einigen europäischen Ländern hochrelevant bleibt. Oesterreich geht nicht nur wie ein moderner klinischer Psychologe vor, indem er Entstehungsfaktoren, Leitsymptome, Differenzialdiagnosen, Epidemiologie und Behandlungsmöglichkeiten der Besessenheit detailliert herausarbeitet, sondern seine kulturpsychologische Analyse historischer und aktueller Besessenheitsfälle kann uns auch Einblicke in kultur- und religionspychologische Dynamiken unserer heutigen Gesellschaft geben.

3 Die heutige Relevanz von Besessenheit und Exorzismus

Mehrere Tageszeitungen berichteten in der jüngsten Vergangenheit, dass sich die Exorzismusnachfrage in Italien seit Kurzem verdreifacht habe, was einer halben Million Fälle pro Jahr ausschließlich in Italien entsprichtFootnote 1. Auch Religionspsychologinnen und -psychologen im hochkatholischen Polen beobachten einen Anstieg an Besessenheitsfällen und Exorzismen – so wurde im Januar 2018 das mehrjährige und interdisziplinäre Forschungsprojekt der Analyse von Phänomenen und Symptomen der Besessenheit an der SWPS Universität in Warschau ins Leben gerufen. Laut Klerikern sei der Hauptgrund für vermehrte Besessenheit, dass infolge von wirtschaftlichen Krisen und steigender Arbeitslosigkeit immer mehr Menschen Wahrsager aufsuchen bzw. Okkultismus praktizieren und dies die Tür für den Teufel und Besessenheit eröffne.Footnote 2 Diese zunächst unwissenschaftlich klingende Hypothese ist im Kontext von Oesterreichs Analysen plausibel, worauf am Ende nochmals eingegangen wird.

Dachte man in Deutschland, dass Besessenheit dem Mittelalter angehöre, so war der Fall von Anneliese Michel, einer 23-jährigen Pädagogikstudentin, die nach 67 Exorzismen im Jahr 1976 entsprechend des Rituals der Katholischen Kirche von 1614 starb, besonders schockierend. Infolgedessen beauftragte die Deutsche Bischofskonferenz ein Gremium von Wissenschaftlern, den Fall Michel zu begutachten und „Folgerungen für zukünftige Gestaltung des Großen Exorzismus“ (zit. n. Mischo und Niemann 1983, S. 182) zu erarbeiten, die dann als Empfehlung nach Rom gesendet werden sollten. Ein solches Gutachten wurde vom Psychologen Johannes Mischo zusammen mit dem Neurologen Ulrich Niemann verfasst, in dem sie die grundlegende psychologisch und physiologische Erkrankung der Anneliese Michel herausarbeiteten und wie diese schwere Temporallappenepilepsie mit halluzinatorischen Begleitsymptomen in Michels sozialem Umfeld als Besessenheit gedeutet wurde. Dieses Umfeld habe mit seinem religiös-fundamentalistischen Weltbild psychotische Symptome, die Michel später ausprägte, fremdsuggestiv induziert. Sie übernahm diese Krankheitsdeutung, die autosuggestiv zu Symptomen somnambuler Besessenheit führte und diese fortlaufend verstärkte. Weiterhin wurden individuelle Konflikte in Michels Erwachsenwerden von ihrem streng-religiösen Umfeld unterdrückt; negative Emotionen wie Aggressionen durften jahrelang nicht zugelassen werden. Parallel zu Oesterreich (1921) sei es zur Dissoziation dieser unterdrückten Ich-Anteile gekommen, die nicht mehr der eigenen Person, sondern einer externen Kraft, nämlich dem Teufel, zugeschrieben und erst dann auslebbar wurden. Diese starken Spannungen beschrieb Michel als ein Gefühl der körperlichen und psychischen Auseinandergerissenheit. Infolgedessen stellte sich eine Selbstdestruktion ein, die in eine starke Magersucht mit Todesfolge endete. Mischo und Niemann analysieren, dass die Exorzismen durch die insistierende, imperative Befragung von Dämonen (z. B. Wer bist du? Sag deinen Namen? Bist du Judas?) fremdsuggestiv Michels Besessenheit verstärkten und einer Heilung entgegenstanden.

Die Empfehlung der Gutachter, solche insistierenden Ritualteile aus dem Großen Exorzismus auszuschließen, wurde jedoch für das überarbeitete Manual von 1999 vom Vatikan nicht ausreichend berücksichtigt. Über die psychologische Bedenklichkeit hinaus werden imperative Exorzismusformeln auch von katholischen Theologen wie Richter (2016) sowie Ruff und von der Stein (2010) kritisiert, die das damit propagierte dualistische Weltbild, in dem sich Gott und Satan auf gleicher Höhe bekämpfen, als theologisch unhaltbar deklarieren. Auch die Überzeugung, dass Satan und nicht der Mensch für sündiges Verhalten verantwortlich sei, könnte theoretisch entlastend wirkend, sei aber weder theologisch vertretbar (vgl. Markus 7, 21a) noch psychologisch ratsam, da eine solche Glaubensüberzeugung zu weiterer Dissoziation und demzufolge Verschlimmerung der Besessenheitssymptome führe, weil sich der Erkrankte aus der Verantwortung und somit Konfliktbewältigung entziehen könne. Eine erste empirische Studie aus dem oben genannten Warschauer Forschungsprojekt konnte darüber hinaus schwere Retraumatisierungen infolge von Exorzismen bei traumainduzierten dissoziativen Störungen aufdecken (vgl. Pietkiewicz und Lecoq-Bamboche 2017).

Zusammenfassend ist festzustellen, dass Oesterreich (1921) eine deutlich positivere Sicht auf den Exorzismus hatte. Es lässt sich jedoch bereits bei ihm herauslesen, dass sich nahezu jeder Exorzist beim Besessenen infiziere, Janet jedoch bei seiner hypnotischen Methode keine Besessenheitssymptome ausprägte. An diesem Punkt unterlässt es Oesterreich leider zu fragen, ob der Exorzismus tatsächlich das Mittel erster Wahl ist. Im Gegensatz dazu fragen heutige Psychologinnen, Psychologen, Theologinnen und Theologen „wozu Exorzismen sinnvoll und notwendig sein sollen“ (Ruff und von der Stein 2010) und lehnen sich in ihren Empfehlungen für den Umgang und die Therapie mit Besessenen ethnomedizinischen Grundprinzipien an. Diese Empfehlungen bestehen in erster Linie aus Vertrauensbildung zwischen Therapeut/Therapeutin und Patient/Patientin auf Basis einer koordinierten Vernetzung zwischen Therapeuten und Theologen (vgl. Mischo und Niemann 1983; Richter 2016) und dem respektvollen Einbeziehen lokaler Glaubensüberzeugungen in die Therapie. Diese koordinierte Vernetzung sollte aus Therapeuten und Therapeutinnen bestehen, die Experten für dissoziative Störungen und ihrer Behandlung sind, und Klerikern, die sehr gut über solche seltenen und häufig fehldiagnostizierten Störungen und deren Auslöser informiert sind (vgl. Pietkiewicz und Lecoq-Bamboche 2017). Die Psychotherapie kann dann durch religiöses Coping und Seelsorge – wie bei jeder anderen körperlichen oder psychischen Störung – von Klerikern unterstützt werden. Das Sakrament der Krankensalbung als Ausdruck kirchlicher Solidarität mit dem Erkrankten (vgl. Ruff und von der Stein 2010) oder auch eine Liturgie zur Befreiung vom Bösen (vgl. Richter 2016), die die imperativen Exorzismusanteile um die Segnung des Besessenen ersetzen möchte, scheinen sowohl psychologisch als auch theologisch vielversprechend.

Zum Abschluss ist noch zu hinterfragen, wieso Besessenheit und Exorzismus in Europa oder gar weltweit ansteigen. Oesterreich prognostizierte 1921 einen Rückgang von Besessenheitsfällen bei fortschreitendem aufgeklärtem Weltbild. Er räumte andererseits auch ein, dass sich dies ändern könne, sollte sich das Weltbild zugunsten des Spiritismus verschieben, quasi eine Wiederverzauberung der Welt (vgl. Berman 1983) stattfinden. Dass sich Menschen der westlichen Gesellschaft in den letzten Dekaden dem Thema Spiritualität und auch dem Glauben an böse Mächte stärker zuwenden, wird auch von einigen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern konstatiert (z. B. Graf 2007; Winseman 2004). In diese postmoderne Entwicklung ist auch das seit den 1960er-Jahren aufkommende Geistige Heilen einzuordnen, dem eine transempirische, häufig energetische Überzeugung von Krankheit und Heilung zugrunde liegt. Diese alternativen Heilverfahren stellen ähnlich wie der Besessenheitsglaube keine Randerscheinungen in unserer westlichen Gesellschaft mehr dar, sondern wurden seit den 2010er-Jahren zum Mainstream (vgl. Vincett und Woodhead 2016). Aber nicht nur transempirische Krankheitskonzepte, sondern auch dunkle Mächte sind (wieder) Teil unserer Alltagskultur – denken wir z. B. an bestimmte Formen der Heavy-Metal-Musik oder an Horror- und Fantasy-Filme, wie Game of Thrones. Laut einigen Religionssoziologinnen und -soziologen löst die stark ablehnende Haltung pentekostaler und katholischer Kleriker auf solche alltäglichen Formen, die dunklen Mächte thematisieren, eine selbsterfüllende Prophezeiung aus (vgl. Giordan und Possamai 2016). Denn durch den ständigen Fokus eben dieser Kleriker auf das allgegenwärtige Böse und dem gleichzeitigen Bereitstellen von immer mehr Exorzisten verändere sich die Wahrnehmung des Bösen, wodurch die Wahrscheinlichkeit steige, dass ein Gläubiger auch von Besessenheit überzeugt werde, und vermutlich auch, dass sich dadurch immer mehr Personen als besessen wahrnehmen.

Oesterreich (1921) hingegen sieht die Besessenheit und den zugrundeliegenden dämonischen Glauben wuchern, wenn ein höheres Glaubenssystem in einer Kultur zusammenbreche und neue Glaubensformen noch nicht ausgeprägt seien. Gerade auch Oesterreichs Analyse eines ausgeprägten Sündenkonzepts als Entstehungsfaktor der Besessenheit kann hier Aufschluss geben, da ein solches durch die Zuwendung zu Erlebens- und Verhaltensweisen, die in der Kirche als sündig gelten, intensiviert werde. Dies bestätigt eine aktuelle Studie, die aus mehr als 1000 Besessenheitsfällen schlussfolgerte, dass 51 % derjenigen, die einen Exorzisten aufsuchten, vorher in okkulten oder satanistischen Handlungen involviert waren (vgl. Giordan und Possamai 2016). Im Kontext eines intensiven individuellen Sündenkonzepts erscheint die vorherige Aussage von Klerikern, dass Menschen zunehmend besessen werden, weil sie sich dem Okkultismus zuwenden, durchaus wissenschaftlich. Diese durch Gewissensbisse ausgelösten Besessenheitsfälle sind laut Oesterreich kaum durch Exorzismen zu heilen und führen sogar häufig zum Tod des Erkrankten. Aus diesen Gründen ist zum jetzigen Zeitpunkt die Entwicklung ganzheitlicher Therapiekonzepte von größter Dringlichkeit, aber auch eine Aktualisierung der Kardinalsymptomatik und Differenzialdiagnostik, basierend auf Oesterreichs Vorarbeiten, könnten die derzeitig existierenden unspezifischen Konzeptualisierungen (siehe 300.15 des DSM V und F44.3 im ICD-10) der Besessenheit schärfen.