„Willst Du, dass wir mit hinein

In das Haus Dich bauen,

Lass es Dir gefallen, Stein,

Dass wir Dich behauen.“Footnote 1

Mit der gleichförmigen „Behauenheit“ der Mitglieder von Religions- und Kulturgemeinschaften sind wir schon mittendrin im gemeinsamen Grund der beiden Abstrakta Religion und Kultur. Ich möchte in einem ersten Teil die Differenzen zwischen beiden Qualitäten hervorheben, die als Unter- und Oberkategorie eigentlich nicht miteinander zu verhandeln sind. Es ist eher der heute so angespannten Diskurslage in den Geistes- und Sozialwissenschaften geschuldet, dass nun auch Antworten zu Problemen eingefordert werden, die traditionsgemäß getrennt bearbeitet wurden. Religionswissenschaften und Kulturwissenschaften gingen sich gewöhnlich und mit Erfolg aus dem Weg, weil sie unterschiedliche Sprachen gebrauchen und mit dem Fokus auf das Irrationale im Menschenbild einerseits und dem Managementauftrag der ästhetischen Gestaltung von Öffentlichkeit andererseits völlig konträren Zielvorstellungen folgten. Die Ethnologie mit ihrem holistischen Anspruch muss sich aber von beiden Seiten angesprochen fühlen, gibt es nach Meinung des Seniors der amerikanischen Kulturanthropologie Alfred Louis Kroeber (1876–1960) doch nahezu nichts, was unsere Disziplin nicht tangieren würde (1915, S. 283).

Im zweiten Teil möchte ich die Gemeinsamkeiten der beiden ungleichen Kategorien beleuchten, von denen wir mit dem Aspekt der notwendigen Behauung, Zurichtung, Beschneidung und Disziplinierung der Mitglieder schon einen wesentlichen Punkt in Friedrich Rückerts Vierzeiler kennengelernt haben. Die Ethnologie als kulturbezogene Kleingruppenforschung hat, was Bindekräfte und Dynamik in Face-to-face-Zusammenhängen betrifft, einen besseren Zugang als die an den Schriftreligionen orientierte Religionswissenschaft oder die für die moderne Massengesellschaft arbeitende Kulturwissenschaft. Dazu werde ich den fast vergessenen Klassiker unseres Fachs, William Graham Sumner (1840–1910) mit seinen 1906 veröffentlichten Folkways ebenso zu Rate ziehen wie die – nach eigenem Bekunden – letzte große Schrift meines Lehrers Klaus E. Müller, das er Verhängnis Kultur (2018) nennt und in dem der universal beschlagene Ethnologe die Strafe für den Austritt der Gesellschaft aus der frühagrarischen Geschlossenheit zu definieren versucht, nämlich den Untergang in der selbst verschuldeten Katastrophe.

Religion und Kultur haben mit ihren vielfältigen Techniken des Überlebens und Überzeugens den Ausgang aus dem Gefängnis der natürlichen Evolution erlaubt, auch wenn die verbliebene Anstaltskleidung der vergleichsweise spät Zivilisierten ihre Herkunft immer noch nachhaltig verrät. Die Zivilisation selbst, hier als Oberbegriff der in sich schon hierarchisch geordneten Kategorien Religion und Kultur verstanden, scheint aber, wie nicht erst heutige Universalhistoriker vom Schlage eines Michel Onfray (2017) nachzuweisen sich bemüht haben, dem natürlichen Rhythmus von Aufstieg und Niedergang Folge leisten zu müssen. Religion und Kultur, die hier zu vergleichenden Kategorien zwischenmenschlicher Verständigung und Vertrauensbildung, entstanden beide als Versprechen gegen dieses Schicksal der Auflösung: Wenn sie nur rein gehalten würden, dürften ihre Bindekräfte alle Anfechtungen von außen wie innen überdauern. Dass es sich bei diesen Sinnsetzungen um Illusionen handelt, merken die Gruppenangehörigen erst im Niedergang, wie Onfray an vielen Beispielen der abendländischen Geschichte aufzeigt. Zerfall und Desillusionierung – sind der Schwindel und seine Aufdeckung weitere Gemeinsamkeiten von Religion und Kultur? Doch bleiben wir zunächst beim Trennenden.

1 Kultur ohne Religion, Religion ohne Kultur?

Wenn es wahrscheinlich mehr Religions- als Kulturdefinitionen gibt, liegt das weniger an einer Überlegenheit der geistlichen über die weltlichen Bindungen, als eher an der ungleichen akademischen Zuwendung. Im breiten Strom der geisteswissenschaftlichen Gründerdisziplin Theologie, die andere Bemühungen um Wirklichkeitsdeutung lange als „ancillae“, also Mägde benutzt oder geduldet hat, machten sich eine ungleich größere Zahl von Gelehrten an das Rätsel Religion, als an die ohnehin erst mit der Renaissance ins Blickfeld gerückte „cultura“. Und mit der Herkunft des Begriffs aus dem römischen Landbau haftete ihm von Anfang an ein erdiger Geruch an: Kultur ist das, was Menschen der chaotischen Wildnis abringen. Es wird dabei abgeräumt, um Raum zu schaffen für ein geordnetes Leben und Überleben. Bindungen an eine Transzendenz gehören – insbesondere wegen der Endlichkeit des Lebens – zwar auch zu dieser Rodungsarbeit, ist aber nur ein Aspekt von vielen. Erst kommt das Fressen, dann die Moral, sagen bekanntlich alle Materialisten.

Entsprechend hat die vergleichsweise junge Universitätsdisziplin Ethnologie ihren Lehrkanon in der Regel materialistisch geordnet. Nach der dinglichen Kultur kommt als erste die Wirtschaft als Grundlage allen Zusammenlebens und Bedingung aller höheren Tätigkeiten. An zweiter Stelle folgen die Regeln des Zusammenlebens, wie sie die nach Geschlechtern getrennte Krisensequenz von Geburt, Pubertät, Heirat und Tod erforderlich machen. Dieses oft als Gesellschaft zusammengefasste Regelwerk schließt auch die Formen des informellen wie formalisierten Rechts ein, der internen wie externen Konfliktlösung und den Umgang mit Abweichlern. Dann, gleichsam als dritte und abgehobenste Ebene, rückt die Sphäre des Religiösen in den Mittelpunkt – in vielen ethnologischen Stammesmonographien ans Ende verschoben und, wie wir zugeben müssen, oft mit ziemlich unzulänglichem Vokabular bzw. Verständnis beschrieben. Denn dem rationalen Verstand schwindet die analytische Kraft mit dem Rückgang der Messbarkeit. Moderne Ethnographien stützen sich beim Thema Religion lieber auf leicht erhältliche Taufregister,Footnote 2 bevor sie sich in den unheimlichen Abgründen der immer hierarchisch aufgebauten Lebenswirklichkeiten des homo religiosus verlieren.Footnote 3

Die Ethnologie hat sich mit ihrer mühsam erkämpften Daseinsberechtigung durch Expertise für marginalisierte Gruppen deswegen für die Kultur und gegen die Religion als Dachbegriff entschieden. Zwar bieten beide Kategorien große Schwierigkeiten, was Definition und Abgrenzung zu konkurrierenden Begriffsgestaltungen betrifft, Religion erschien aber, insbesondere durch die Übermacht der verfassten, organisierten und dogmatisierten Varianten geprägt, immer als die spezifischere und engere Form der sinnhaften Vergemeinschaftung gegenüber der in ihrer Vagheit und rationalen Unbestimmtheit eben unschlagbaren Kultur – solange sie im ethnologischen Sinn als die Summe von Techniken zur kollektiven Daseinsbewältigung verwendet wird und nicht, wie in der bürgerlichen Gesellschaft, auf die Kulturseite der Tageszeitung, ins Kulturressort der Haushaltsplanung oder gänzlich auf Adornos Kulturindustrie reduziert wird (vgl. Adorno 1973). Nach über 200-jähriger Forschung vornehmlich in außereuropäischen Regionen weiß die Ethnologie, dass sich Kulturen nicht organisieren lassen, während die Religion dafür eine Überzahl an Beispielen liefert. Kulturpäpste gibt es erst in der bürgerlichen Ausdifferenzierung der Gesellschaft, vorher herrscht eher ein Durcheinander unterschiedlicher Kräfte, die allein durch ihren Dienst an der Tradition zusammengehalten werden. Johann Gottfried Herder (1744–1803), einer der hellsichtigsten Gründerväter unseres Fachs, sprach bekanntlich von „unpolizierten Nationen“ (Herder 1935, S. 38) als dem Gegenstand der damals sich noch undeutlich abzeichnenden Ethnologie.Footnote 4

So haben wir es bei den geschichtlichen Erscheinungen oft mit religiöser Kultur zu tun, die sich auch rasch wandeln kann – etwa beim Übergang „vom Kirchenstaat zur Staatskirche“, wie Enno Bünz (2016) die Reformation im 16. Jh. zusammengefasst hat – nie aber mit kultureller Religion, was keinen Sinn gibt. Zur Religion gehören der Kult, das Ritual, die Versammlung um das Mysterium, es gibt aber keine kulturfreie Religion (auch wenn das von Missionaren aus durchsichtigen Gründen behauptet wird; vgl. Streck 2013, Kap. XV), wogegen die Kultur selbst durchaus religionsferne Domänen kennt und mit der Säkularisierungsthese sogar ein Rückgang des religiösen Anteils an der Gesamtkultur angenommen wird. Inwieweit der lange Weg vom Bärenkult zur Zivilreligion oder vom heilsamen Töten zur allumfassenden Weltethik diese Annahme stützen kann, bietet unendlich viel Diskussionsstoff, ändert für Ethnologen aber nichts an der kategorialen Unterordnung der mit Glaube und Moral verbundenen Religion unter die dem kollektiven Überleben schlechthin verpflichteten KulturFootnote 5 – vielleicht im Sinn einer raffinierten Überlistung der Natur (Sloterdijk 2016).

2 Die Kraft der Bindung und das Ideal der Reinheit

Stellen wir nun, wie angekündigt, die durch das Abstraktionsgefälle bedingten Differenzen zwischen den beiden Sammelkategorien hintenan und fragen nach den Gemeinsamkeiten, so sind wir durch das von dem Dichter der Kindertotenlieder (1833) Friedrich Rückert besungene und eingangs zitierte Intitiationsgeschehen wohl bereits auf dem richtigen Weg: Kultur ist wie Religion eine Anstrengung, den humanen Wildwuchs sozialverträglich zu formen. Erstere vermittelt durch Margaret Meads Enkulturation (vgl. Mead 1950) das Arsenal von Techniken, groß zu werden, ohne dem Nächsten dabei allzu sehr weh zu tun. Die Religion meint den irrationalen Anteil in diesem Werkzeugkasten, also die Zaubermittel, die Erklärungsmuster, die über den Alltag hinausreichen, und die Vorbilder wie Vorschriften, existenziellen Gefährdungen zu begegnen. Beides sind – darüber hat insbesondere die Psychologie intensiv geforscht – Bevormundungen der Jungen durch die Alten, und in den so erfolgreich expandierten Monotheismen ist Gott immer ein Greis als Haupt der Bevormunder.

In Klaus E. Müllers Rekonstruktion der frühagrarischen Gesellschaft wird Gott auf Erden durch den Gearchen, den Erdherren vertreten, dem die Ältesten der alteingesessenen Sippen beistehen. Was Malinowski (1986 [1942]) im europäischen Interbellum als Protodemokratie zu preisen versuchte, gleicht in den Ethnographien anderer Forschungstraditionen eher einer recht autoritären Gerontokratie oder Altenherrschaft, die nun in der Tat noch keine Unterscheidung von Kultur und Religion nötig hat. In der Todlebensgemeinschaft etwa von Leo Frobenius herrscht Pansakralität (1954 [1933], S. 202, 207, 241). Jede Handlung ist Gottesdienst, „imitatio dei“, von den Ahnen über die Ältesten den Heranwachsenden in verpflichtender Notwendigkeit weitergegeben oder vorgeschrieben „avant la lettre“. Die Figur des Rechtschaffenen ist bekanntlich der Gegenstand jeder gelungenen Ethnographie. Sie wurde erfragt von kundigen Gewährsmännern, die über alles Bescheid wissen und in ihren Reden immer das Sollen dem Sein vorziehen, ohne den Unterschied von Kultur und Religion zu kennen.

Der Rechtschaffene hält sich an die internalisierten Gebote der Reinheit, der Reinigung und der Reinhaltung. Wer ebenso denkt und handelt wie er, mit dem ist er verbunden und bildet die Gemeinschaft der sich gegenseitig Vertrauenden. Da immer neue Menschen heranwachsen oder auch von außen dazukommen, ist der Prozess der Vergemeinschaftung und Vertrauensstiftung nie abgeschlossen – in der heutigen Massengesellschaft heißt er Integration und verliert mit der Übersichtlichkeit den Realitätsbezug. Dass die Eingliederung ins Ungegliederte mit dem Verzicht auf eigene Gruppenzugehörigkeit bezahlt werden muss, wird den Neuankömmlingen verschwiegen.Footnote 6 Auch die moderne Gesellschaft verlangt gleichförmige Rechtschaffenwerdung aller Dazugehörigen und exkommuniziert Kulturverweigerer, wie es „heiße Religionen“ (Safranski 2010) mit Ungläubigen halten, weil ihre Mysterien, Schamschranken und Tabuzonen nicht verhandelbar sind (vgl. Steiner 1967 [1956]).

Dass diese Bemühungen um Bindung durch Reinheit immer viel Theatralik erfordern, ist in der Ethnologie relativ spät entdeckt oder bekannt worden. Lange schenkte man den Gewährsmännern und ihrer idealisierenden Rhetorik bedingungslosen Glauben. Der in unserer Disziplin vor allem von außen nachgesagte Primordialismus ist erst durch die Theaterethnologie (vgl. Schmidt und Münzel 1998) und die rhetorische Ethnologie (vgl. Meyer und Girke 2011) etwas aufgebrochen worden und hat dann den analytischen Blick auch hinter die Kulissen erlaubt. Seither haben Religion und Kultur noch mehr Gemeinsamkeiten bekommen: Beide erscheinen wie Mäntel und Schleier, Theorien und Ideologien, die die Praxis kunstvoll verdecken und das auch müssen (vgl. Streck 2007). Oben war von Onfrays Geschichtspessimismus die Rede: Der Schwindel einer Zivilisation wird in ihrem Niedergang offenbar. Dieses Gesetz gilt selbstredend für Kultur und Religion gleichermaßen. Der raffiniert gewobene Brokatmantel wird umso verkrampfter zusammengehalten, je hinfälliger die unter ihm verdeckte Nacktheit geworden ist.

Bindung und Reinheit sind also kulturelle oder religiöse Versprechen, die Vergemeinschaftung erlauben, allerdings nur, solange die Bemäntelung überzeugt und funktioniert. Bindung weicht früher oder später der Lösung, der Auflösung der Dissidenten, der Auswanderer und Ausgestoßenen, von den inneren Auflösungserscheinungen ganz zu schweigen, die sich schon in jeder missglückten Sozialisation zeigen, in jeder Mesalliance, in jedem Nachbarschaftskonflikt, in jedem Bürgerkrieg. Die in Religion wie Kultur hoch geachtete Reinheit ist oft nichts anderes als durchsichtiges Flickwerk und oberflächliches Machwerk. Die aus dem verschmutzten Europa ausgewanderten „Reinen“ (Puritaner) mussten sich in Genozid der Autochthonen und Versklavung der Importierten bewähren. Der gute Schein hat gehalten, später sogar Dresden, Hiroshima und Bagdad ausgehalten und kann Büchel wie Ramstein rechtfertigen. Irgendwann aber nimmt in jeder Kultur die Verschmutzung überhand, die Reinigungsmittel gehen aus, Vermischungen lassen sich nicht mehr vermeiden, chaotische Verhältnisse machen sich breit, wie sie heute in allen Massengesellschaften charakteristisch geworden sind (vgl. Baumann 1996), deren immer aufwendiger werdenden Ummäntelungen leicht der Lächerlichkeit preisgegeben werden können. Im 19. Jh. wurde das Naturgesetz der Entropie entdeckt, das den allmählichen Verbrauch der Energien in den Blick bekam. Paradoxerweise hat diese Entdeckung den Optimismus der Evolutionisten kaum trüben können. Auch in unserem Fach haben sich allenfalls Außenseiter wie Adolf Ellegard Jensen (1899–1965) oder der hier schon genannte Klaus E. Müller damit ernsthaft auseinandergesetzt, dass die Anstrengungen in Richtung Bindung und Reinheit in Kultur und Religion quasi naturgesetzlich im Erlahmen enden.

3 Schlussfolgerungen

Kehren wir schließlich noch einmal zu dem Wunder der Vergemeinschaftung zurück und fragen den Urfolkloristen William Graham Sumner, wie er in der damaligen Transformation zur multizentrischen Industriegesellschaft und zum multikulturellen, aber mono- weil anglophonen Empire auf die Folkways kam, der kleinzelligen Gemeinschaftsbildung über geteilte Sitten. Sumner verstand sein Alterswerk, das von der Soziologie Herbert Spencers (1820–1903) und der Sozialanthropologie Otto Ammons (1842–1916) – beides hervorragende Sozialdarwinisten – beeinflusst war, als Streitschrift gegen den Internationalismus der Kathedersozialisten und ihrer protoglobalistischen Entgrenzungsideologie. Solidarität gibt es, wie Sumner immer wieder kämpferisch betont, nur in der Wir-Gruppe und diese braucht als Existenzvoraussetzung die Abgrenzung zu den anderen, zur Out-Group, zu den Fremden.

Das Geheimnis der Sumnerschen Wir-Gruppe ist das Versprechen: „per aspera ad astra“ oder: durch Mühen zu den Sternen. Die Mühen sind die selbst auferlegten Disziplinierungen, die Sterne das kollektive Glück, das die jeweilige Gemeinschaft allen anderen überlegen erscheinen lässt. Die Folkways sind also voll von Mühsal und permanenter gegenseitiger Überredung aller, dass sich die Mühen lohnten. Dazu müssen die anderen, die andere Wege gehen, herabgesetzt werden. Das Selbstwertgefühl kann nur gedeihen, wenn es Überlegenheit verspricht und Unterlegenheit benennt. Sumner nennt dieses Kollektivbewußtsein „popular mania“, also Massenwahn im Kleinen. Die Gruppenmitglieder folgen einer Art Schwarmlogik: dabei sein, Schritt halten können, nicht abhängen, nicht abdrängen lassen – dem heutigen TV-Konsumenten kommen dazu Bilder einer Tierherde, vielleicht von Gnus in der Serengeti, die mit Macht und alles zertrampelnd einem ungewissen Ziel zueilen – für Sumners Folkgruppen sind das „goodness and happiness“. Denn: „the mass wants to act together“ (1906, S. 8).

Der Religion oder Kultur genannte Wahn, der eine Gruppe erfolgreich zusammenhält, muss Gewaltiges leisten. Er muss – zumindest in Krisenfällen – die internen Bruchlinien zukleistern, die inneren Fremdheiten etwa zwischen Vaterfamilie und Mutterfamilie, zwischen Jungen und Alten, zwischen den Geschlechtern, zwischen denen in der Mitte und denen am Rande, zwischen den im Prestige unterschiedlichen Kultgruppen und Traditionslinien. Alle Kulturen oder Folkways sind nach Sumner synkretistisch, Zusammenstellungen von Fremdheiten, und der Klebstoff zwischen den heterogenen Teilen hält immer nur eine Zeit lang. Solange er aber hält, ist er voller Pathos. Die Größe einer Kultur ist ihr pathetischer Charakter und damit auch ihre Distanz zu Wahrheit oder Realität, die meist mehrbödig und widersprüchlich ist, was aber übertönt und übertüncht werden muss. Der Rede von Heiligkeit und Heldentum, die immer einhergeht mit Verdammung von Scheinheiligkeit und Nichtswürdigkeit, lebt von ihrer Suggestivkraft, die alles überstrahlen kann, doch nie unendlich wirkt.

Sumner ist kein Volkstümler oder Kleingruppenidealist. Wenn er das „pathos of democracy“ in den zeitgenössischen USA durchschaut, flieht er nicht in außereuropäische Räume, wo noch wahre Menschlichkeit zu finden wäre. Den Arbeiten des St. Petersburger Afrikareisenden Wilhelm Junker (1840–1892) entnimmt er: „Three man cannot be sent on a journey together for fear two of them may combine and sell the third“ (Junker 1891, nach Sumner 1906, S. 266). Afrikas Kultur war für Sumner durch jahrhundertelange innere Sklaverei geprägt, so wie alle größeren Zusammenhänge – also Hochkulturen – durch das Kastenwesen. Auch das christliche Abendland hätte die Bildung einer Priesterkaste nur durch das – widernatürliche – Zölibat verhindern können. Doch bietet das Weiheritual noch ausreichend Stoff für „Wirbewußtsein“ (vgl. Streck 1992) und Abgrenzung von den „Ungeweihten“ im Kirchenschiff, die allerdings unter sich andere, mehr „weltliche“ Adelsprädikate tragen können. Alle von Folkways erfassten Menschen sind irgendwie Eingeweihte und hüten ihr Geheimnis vor Unwürdigen und Fremden.Footnote 7 Für Sumner sieht die Aussicht auf gesamtmenschlichen Fortschritt damit recht düster aus; allenfalls ein Gleichgewicht zwischen den konkurrierenden Anstrengungen um Sinnhaftigkeit wäre denkbar. Auch wenn diese Zukunftsvision allzu sehr das Weltbild von Konkurrenzkapitalismus und Wirtschaftsliberalismus spiegelt, muss es für eine realistische Gegenwartsanalyse nicht falsch sein.

Wenn es nach Desillusionierung und Entlarvung der Schleier und Blendwirkungen von Kultur und Religion nichts mehr zu verteidigen gibt, wäre in der heutigen, auf Gleichförmigkeit und genetische wie mimetische Panmixie zueilenden Zeit aber immer noch der Respekt anzumahnen vor den stets neu unternommenen Anstrengungen, die zwischenmenschliche Existenz im überschaubaren Kollektiv zu kostümieren, zu schminken und auszuschmückenFootnote 8 – und an dieser althergebrachten „raison d’être“ unserer Ethnologie hat sich im Grunde genommen wenig geändert. Was die „kritische“ Soziologie „Verblendungszusammenhang“ (Adorno 1973) nannte und sich für pro- wie antifreudische Psychologen als ein Ensemble „kollektiver Halluzinationen“ (Onfray 2017) darstellt, ist für Ethnologen immer noch verlockend genug, sich dem Zauber vor seiner Entzauberung eine Zeit lang auszusetzen, um ihn zu beschreiben. Gleichsam als bündige Antwort auf die hier aufgeworfene Frage nach dem Schwindel in Kultur und Religion seien diese Ausführungen mit einem Zitat des Volkskundlers Dietmar Kamper (1936–2001) beschlossen, mit dem dieser die ebenso kulturelle wie religiöse Erscheinung der „Schwarzen Madonna“ kommentierte: „Es stimmt, dass der Schein trügt. Es stimmt aber auch, dass er trägt“ (1997, S. 10).