Einführung

Als Pierre de Coubertin, Gründer der Olympischen Spiele der Neuzeit, den Olympismus als „religio athletae“ predigte, widmete er sein pädagogisches Projekt der Jugend.Footnote 1 Die Olympischen Spiele sollten wie eine Messe zu Ehren der jungen Generation, ein Fest des „menschlichen Frühlings“, in einem strengen Rhythmus von vier Jahren wie in der Antike gefeiert werden. „Le printemps humain s’exprime dans le jeune adulte“ (Der menschliche Frühling äußert sich im jungen Erwachsenen), erklärte er 1935, ein Jahr vor den Olympischen Spielen in Berlin, in seiner berühmten Rede im Weltradio unter dem Titel „Les assises philosophiques de l’olympisme moderne“. Er fasste zusammen (in deutscher Übersetzung): „Wie könnte man ihn (den jugendlichen Erwachsenen, MK) besser ehren, als dadurch, als dass man seinetwegen in regelmäßig festgesetzten Abständen das vorübergehende Aufhören aller Streitigkeiten, Meinungsverschiedenheiten und Missverständnisse verkündet!“ (de Coubertin 1935, S. 13 (französisch) und S. 21 deutsch).

Es gibt weitere Belege für die These, dass Jugend und Jugendlichkeit neben Sport und Sportlichkeit prägende Merkmale des frühen 20. Jahrhunderts wurden. Die schwedische Autorin Ellen Key (1849–1926) eröffnete das 20. Jahrhundert mit ihrem Buch „Barnets århundrade“, das als „Das Jahrhundert des Kindes“ (Key 2000/1902) ins Deutsche übersetzt wurde. 1896 erschien erstmals in München die Zeitschrift „Jugend“ (http://www.jugend-wochenschrift.de/index.php?id=20, zugegriffen: 5. Feb. 2021). Diese Zeitschrift schuf einen neuen, modernen Stil der schönen Künste, des Designs, der Architektur und der Literatur, der allgemein als Jugendstil bezeichnet wird und sich an Autoren und Leser einer jungen Avantgarde-Generation der bildungsbürgerlichen Eliten richtete.Footnote 2

Der Aufbruch der Jugend und die Hoffnungen, die sich auf sie als Garanten für eine bessere Zukunft richteten, sind ein deutlicher Unterschied zur aktuellen Situation der Jugend. Sie sind in der letzten Gruppe derer, die vor dem tödlichen Virus geimpft und geschützt werden. Sport von und für die Jugend ist weitgehend verboten worden.

Wenn im folgenden Beitrag von einer symbiotischen Beziehung zwischen Jugend und Sport zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Rede ist, ist damit gemeint, dass das eine nicht ohne das andere existiert: Die Jugend ist sportlich, und der Sport jugendlich – zumindest war dies zu Beginn des 20. Jahrhunderts der Fall, so die These. Der Beitrag ist im Rahmen von Forschungen zur europäischen Sportgeschichte der Zwischenkriegszeit entstanden und konzentriert sich auf die Sportentwicklung in Deutschland, mit besonderem Bezug zur Jugendkultur. Obwohl Jugend und Sport eine Einheit bildeten, lassen sich aus analytischen Gründen verschiedene Richtungen der Entwicklung dieser Beziehung unterscheiden:

Zum einen die Initiativen für Bildungsreformen, einschließlich der sogenannten Jugendbewegung sowie damit zusammenhängender sozialer und kultureller Bewegungen für „Lebensformen“, in denen Sport und Spiel eine wichtige Rolle spielten. Zum anderen ist die Sportbewegung in Deutschland selbst zu nennen, die das herrschende System der Körperkultur, nämlich Turnen und Gymnastik (Abb. 1), mit neuen, jugendlich-dynamischen Elementen, Inhalten und Formen des Spielens, körperlichen Übens, Wettkämpfens und Trainierens ergänzte.

Abb. 1
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Mädchen bei der Ballgymnastik – um 1930. (Foto: Bundesarchiv, Bild 146-1979-099-21A)

Für beide gesellschaftlichen und kulturellen Strömungen war die junge Generation das entscheidende Zielpublikum, und beide waren auf verschiedene Weise miteinander verbunden, ideologisch, politisch, institutionell und nicht zuletzt persönlich und individuell.

Reformen der körperlichen Erziehung und die (Selbst‑)Erfindung der Jugend als soziale Bewegung

Eine wesentliche Quelle für dieses Kapitel ist Neuendorff (1932, Band IV). Siehe außerdem die Forschungen von Eisenberg (1999), Becker (3,60,a, b), Schäfer (2011); zu den pädagogischen Reformen Herrmann (1987) und Oelkers (2010). Bewegung, Spiel und Sport an Schulen und außerhalb von Schulen in der Zivilgesellschaft werden ausführlich von Krüger (2020) behandelt. Siehe dort auch weitere Quellen und Belege.

Von Anfang an waren körperliche Übungen, Gymnastik oder Turnen – welchen Begriff man auch immer verwenden möchte – im Konzept der allgemeinen, verpflichtenden Bildung und Erziehung für alle in den sich entwickelnden Nationalstaaten seit dem 19. Jahrhundert enthalten. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde dieser Gedanke erweitert. Über instrumentelle Körperübungen hinaus galten Spiele, Leibesübungen, Turnen und Gymnastik als inspirierende, motivierende und expressive Inhalte einer fortschrittlichen, in die Zukunft weisenden allgemeinen Bildung und Erziehung. In Deutschland wurden Sportspiele und -übungen populär, zunächst jenseits staatlicher Schulen und Gymnasien in Vereinen und Verbänden, auch an den Hochschulen, sowie Schritt für Schritt an Gymnasien und allgemeinbildenden Schulen.

Zwei Reformrichtungen lassen sich für das System des traditionellen deutschen Turnens in der Schule unterscheiden. Eine wurde „Top-down“, von oben nach unten, von Politikern und Lehrern an Schulen initiiert. Die andere erfolgte jedoch „Bottom-up“, von unten nach oben, und ging von großen Teilen der bürgerlichen Jugend im Deutschen Kaiserreich und später zurzeit der Weimarer Republik aus. Diese Reformen der Körperkultur richteten sich nicht mehr nur an Jungen und junge erwachsene Männer. Sie betrafen zunehmend Mädchen und junge Frauen.

Dieser Aspekt des Beginns der weiblichen Emanzipation im Kaiserreich, das heißt vor allem der weiblichen Jugend, wird insbesondere von Hedwig Richter (2021) in ihrem neuen Blick auf das Kaiserreich betont. Die Turnbewegung begann sich von einer männlichen Domäne zu einer weiblichen Bewegung für gesunde Gymnastik und Freizeitspiele zu entwickeln. Darüber hinaus forderten Mädchen und Frauen die Teilnahme an Sportwettkämpfen für eine Vielzahl von Sportarten. Der Leistungs- und Wettkampfsport von Mädchen und jungen Frauen begann sich weltweit zu etablieren (Guttmann 1991). Heute gibt es keinen Sport, der nicht auch von Mädchen und (jungen) Frauen ausgeübt wird.

Top-down-Bildungsreformen

Die Reformen von Bildung und Erziehung sowie des Schulsports „von oben“ seit etwa 1900 sind durch spezifische Rahmenbedingungen gekennzeichnet. Erstens ermöglichte das föderale System des Deutschen Reiches und nach dem Ersten Weltkrieg der Weimarer Republik seit 1918/19 unabhängige und gleichzeitig konkurrierende Wege zur Verbesserung des deutschen Schulwesens bzw. Bildungssystems im Allgemeinen und insbesondere des Schulsports und der körperlichen Erziehung.Footnote 4 Nicht nur Preußen als wichtigstes und mächtigstes Land in Deutschland folgte dem Weg der Reformen, sondern auch Politiker und Bildungsexperten in den anderen deutschen Ländern wie Bayern, Württemberg, Baden, Sachsen, Hannover und weiteren kleineren Staaten. Das Königreich Hannover, um nur dieses eine Beispiel zu nennen, das traditionell mit Großbritannien und der königlichen Familie verbunden war, gehörte zu den Regionen des Reichs, in denen Sport und Spiel schon früh in den Schulen einbezogen wurden. Nicht zufällig waren die Turnlehrer Konrad Koch (1846–1911) und August Hermann (1835–1906) die ersten, die zusammen mit ihren Schülern Fußball spielten und als Unterrichtsgegenstand einführten. Sie gründeten Schülerclubs, ähnlich wie in Großbritannien, in denen nach Schulschluss Fußball gespielt werden konnte. 1874 bestellte Koch einen Fußball direkt aus England, um wie die „young boys“ an den „public schools“ mit seinen Schülern Fußball zu spielen.Footnote 5

Koch und Hermann waren prominente Vertreter von Organisationen und Institutionen für Gymnastik, Turnen, Spiele und Sport, die sich 1891 offiziell im „Zentralausschuss zur Förderung der Volks- und Jugendspiele“ zusammengeschlossen hatten. Dies geschah ein Jahr nach einer wichtigen Konferenz in Berlin über Bildungsreformen im Deutschen Kaiserreich, der so genannten Reichsschulkonferenz. Diese Konferenz und ihre Fortsetzung im Jahr 1920 setzten wichtige Impulse für Schul- und Bildungsreformen in Preußen und Deutschland, einschließlich der körperlichen Erziehung und des Schulsports (Heydorn und Koneffke 1973; Reichsschulkonferenz 1921).

Im „Zentralausschuss“ arbeiteten Philologen und Pädagogen, Ärzte, Turn- und Sportlehrer, Politiker und Beamte aus den Schul- und Erziehungsministerien sowie nicht zuletzt und überwiegend ehrenamtlich tätige Funktionäre in Turn- und Sportvereinen und -verbänden sowie Offiziere der Armeen der Länder zusammen (Prange 1991). Ein wichtiges politisches Ziel der Bildungs- und Erziehungsreformen in Bezug auf den Schulsport bestand darin, die körperliche Fitness und Stärke der (männlichen) Jugend als zukünftige Soldaten zu verbessern. Die militärischen bzw. wehrturnerischen und wehrsportlichen Zweige dieser verschiedenen Organisationen schlossen sich 1911 einem Sonderverband an, dem sogenannten Jungdeutschlandbund, um die militärische Ausbildung und den patriotisch-nationalen Geist der deutschen Jugend zu stärken (Jungdeutschland 1913; Schäfer 2011).

Über diese wehrpropädeutischen Funktionen hinaus standen im Zentralausschuss jedoch soziale und (sozial‑) pädagogische Herausforderungen wie die Gesundheitserziehung durch gesunde Spiele und Sport an der frischen Luft, Charakter- oder Teambildung im Vordergrund. Der nachhaltigste Teil der Arbeit des Zentralausschusses bestand neben der Veranstaltung von Vorträgen, Kongressen und Fortbildungen in der Veröffentlichung von Büchern und Zeitschriften, namentlich der „Jahrbücher für Volks- und Jugendspiele“.Footnote 6 Diese Bücher stellen die umfassendsten Quellen dar, die die Quantität und Qualität des physischen Lebens, der Spiele und des Sports in Deutschland dokumentieren, sowie die Zeitschriften der Verbände der Deutschen Turnerschaft, des Arbeiter-Turn- und Sportbundes und der Berufsverbände der Turnlehrer.Footnote 7

Bottom-up-Jugendbewegung

Gleichzeitig gingen von der jungen Generation unabhängig von ihren Eltern und Erziehern alternative Lebensweisen und neue, in der damaligen Zeit jugend-affine Formen sozialer Kommunikation aus. Sie entwickelten das kultur- und zivilisationskritische Wir-Gefühl einer neuen Generation, die aus der städtischen Umgebung fliehen und zur Natur und zu einem natürlichen Leben zurückkehren wollte. Dazu gehörten besonders die Bewegung und das freie Spiel in der freien Natur und an der frischen Luft. Die Jugend „erfand“ sich selbst neu, durchdrungen sowohl von einem neuen Geist als auch neuen, alternativen Formen des Zusammenseins und der Kommunikation. Zu dieser Jugendkultur-Bewegung gehörten das gemeinsame Singen und Musizieren mit der Gitarre (Klampfe), das Singen von „Volksliedern“, oft in Verbindung mit dem Wandern oder beim Lagerfeuer, das Feiern von Festen und nicht zuletzt körperliche Spiele und Übungen. Lieder wie „Aus grauer Städte Mauern, Zieh’n wir durch Wald und Feld, Wer bleibt der mag versauern, Wir ziehen in die Welt“ drückten die zentrale Motivation dieser Generation aus, nämlich aus der städtischen Zivilisation zu fliehen, die als eng und trostlos empfunden wurde. Anstatt zu Hause zu „versauern“, zogen sie es vor, die Grenzen der vertrauten, häuslichen Umgebung zu verlassen und wie die Handwerksjugend des Mittelalters auf Wanderschaft zu gehen; jedoch nicht, um eine Anstellung zu finden, sondern um ein freies und besseres, natur-nahes Leben zu führen.Footnote 8

Ein weiteres Beispiel für ein paradigmatisches Lied dieser Jugendbewegung war das Kultlied „Wenn wir schreiten Seit an Seit“, das aus der sozialistischen Arbeiterjugend stammte und den Geist der Solidarität unter der jüngeren Generation beschrieb. Das Lied wird bis heute am Ende jedes Parteitags der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) gesungen und endet mit dem Refrain: „Mit uns zieht die neue Zeit“. „Die neue Zeit“ war auch der Name einer Zeitschrift, die von 1883 bis 1923 von der sozialistischen Partei unter der Leitung ihres Parteiführers Karl Kautsky (1854–1938) herausgegeben wurde. Seit den 1920er-Jahren war „Die neue Zeit“ der Titel mehrerer Zeitschriften, die verschiedenen politischen und kulturellen Konzepten und Ideologien nahestanden, beginnend mit der Zeitschrift des Schweizer Lichtbunds, der zur Bewegung der Naturisten und Nudisten zählte, bis hin zu Zeitschriften der politischen Rechten. Jeder behauptete von sich „Die neue Zeit“ zu repräsentieren, einen „Neuen Menschen“ (Wedemeyer-Kolwe 2004) zu schaffen und wollte Teil eines neuen Zeitalters sein. Die „Jugend“ gab jedenfalls den Rhythmus vor (Klassik Stiftung Weimar – Über das Gesamtprojekt. http://www.jugend-wochenschrift.de/index.php?id=20, zugegriffen: 2. Mai 2021).

Was von den Historiker*innen als Jugendbewegung bezeichnet wird und sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Deutschland und Europa herausbildete, war zunächst eher diffus und unorganisiert. Es gehörte in den weiteren Kontext verschiedener Zweige der damaligen Körperkultur- und „Lebensreform“-Bewegung (Wedemeyer-Kolwe 2004, 2017; Buchholz et al. 2001). Der „neue Mensch“ (Wedemeyer-Kolwe 2004) war jung, sportlich und natürlich, tanzte und wanderte an der frischen Luft (Abb. 2). Schritt für Schritt organisierten sich verschiedene Jugendgruppen in Vereinen. Die erste Vereinsgründung hieß „Der Wandervogel“, initiiert vom ehemaligen Gymnasiasten Karl Fischer vom Gymnasium in Berlin-Steglitz. Weitere Clubs und Gruppen kamen rasch hinzu. Im Oktober 1913 trafen sich einige Gruppen auf dem sogenannten Ersten Freideutschen Jugendtag auf einem Berg namens „Hoher Meißner“ in Nordhessen (Abb. 3). Die rund 3000 Teilnehmer diskutierten eine Resolution mit der berühmten „Meißnerformel“: „Die Freideutsche Jugend will nach eigener Bestimmung, vor eigener Verantwortung, in innerer Wahrhaftigkeit ihr Leben gestalten. Für diese innere Freiheit tritt sie unter allen Umständen geschlossen ein.“Footnote 9

Abb. 2
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Reminiszenz des Bürgertums an die Lebensreformbewegung: Die „Tänzerin mit Tamburin“, um 1920 entstandenes Ölgemälde des Berliner Malers Hermann Seeger. (Foto: Van Ham Kunstauktionen, Köln, 2019. Gemälde in Berliner Privatbesitz (aus: Emanuel Hübner (2020))

Abb. 3
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Jugendgruppe im Oktober 1913 beim sogenannten Ersten Freideutschen Jugendtag auf dem Hohen Meißner in Nordhessen. (Foto: Archiv der deutschen Jugendbewegung, Burg Ludwigstein)

Edmund Neuendorff (1875–1961), Turnlehrer und Leibeserzieher in der Deutschen Turnerschaft und Schulleiter des Gymnasiums in Mülheim/Ruhr, wurde Vorsitzender des Wandervogels e. V., einer der verschiedenen und vielfältigen Organisationen der Jugendbewegung vor dem Ersten Weltkrieg. Neuendorff baute ebenso wie Konrad Koch eine Brücke zwischen den „Top-down“-Bildungsreformern einerseits und den „Bottom-up“-Jugendgruppen andererseits.

Die Jugendbewegung war nicht auf Deutschland beschränkt, sondern ein europäisches und internationales Phänomen. In Großbritannien verwirklichte der ehemalige Kolonialoffizier im Burenkrieg (1899), Robert Baden-Powell (1857–1941), seine Vision, Jungenbrigaden zu gründen. 1908 veröffentlichte er sein Buch „Scouting for Boys“, das den Beginn der Pfadfinderbewegung markiert und weltweit Verbreitung und Nachahmung fand (Baden-Powell 2004 [1908]). In der deutschsprachigen Pädagogik werden solche Konzepte im weitesten Sinn als Erlebnispädagogik bezeichnet. Derzeit ist die Pfadfinderbewegung weltweit organisiert, darunter Millionen junger Menschen in fast allen Ländern. In den USA sind die Pfadfinderverbände nach dem YMCA (Young Men’s Christian Association) die größten aller Jugend- (und Sport-)organisationen.

Inspiriert von der Jugendbewegung und ihren Ideen einer selbstbestimmten, erfahrungsorientierten Pädagogik wurden in Deutschland verschiedene Reformschulen gegründet, die von pädagogischen Reformern initiiert und durch private Sponsoren finanziert wurden. Unterstützt wurden sie in der Regel von reformpädagogisch motivierten, nicht selten auch jugendbewegten bürgerlichen Eliten der Mittel- und Oberschicht. Diese Visionen einer neuen Pädagogik wurden weltweit nachgeahmt und idealisiert, wie der Historiker und Pädagoge Jürgen Oelkers in zahlreichen Arbeiten zeigte (Oelkers 2005, 2010). Die Schulstiftungen von Hermann Lietz (1868–1919) und Gustav Wyneken (1875–1964) dienten als Vorbilder für zahlreiche ähnliche pädagogische Projekte. Wyneken nannte seine Schule „Freie Schulgemeinde Wickersdorf“. Der Name implizierte, dass die Ausbildung wie in einem pädagogischen Labor frei und unabhängig von staatlichen und anachronistischen Konventionen sein sollte. Die Schule sollte wie eine eigene „Polis“ organisiert sein und funktionieren, um einen der prominenten Vertreter der gegenwärtigen Reformpädagogik in Deutschland, Hartmut von Hentig (geb. 1925), zu zitieren (von Hentig 2003, S. 183–191). Dass in einer solchen Polis auch abscheuliche Dinge geschehen können, hat sich erst später herausgestellt.Footnote 10

Das nach dem Ersten Weltkrieg gegründete Eliteinternat von Kurt Hahn (1884–1986) im Schloss Salem am Bodensee war ein weiteres Bildungsreformprojekt von nachhaltiger Bedeutung. Es verband Einsichten der klassischen Gymnasialbildung mit der Ära der pädagogischen Reformen sowie den pädagogischen Folgerungen aus den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs. Gemeinsam mit Prinz Max von Baden (1867–1929), dem letzten Reichskanzler des Deutschen Reiches im Jahr 1918, sollte die Schule durch ihr Konzept der „outward-bound-education“, also einer Erziehung durch praktische Erfahrungen im wirklichen Leben draußen in der Natur, zur Friedenserziehung beitragen. Die Schule von Salem war ein Vorbild für weitere Schulstiftungen im Sinne dieser „outward-bound-Erziehung“ mit ähnlichen pädagogischen Konzepten. Prinz Philip, der jüngst verstorbene Ehemann von Queen Elizabeth, war Schüler Hahns in Salem und später in Gordonstoun in Schottland, wo die Schule nach dem erzwungenen Exil Hahns weitergeführt wurde. Auch Prinz Charles musste dort Teile seiner Erziehung erleben, allerdings mit weniger Begeisterung als der Vater (Schule Schloss Salem 1920–2020 2020).

Allen diesen Reformprojekten für eine fortschliche Erziehung und Bildung war ihr Fokus auf Körper und Körperbildung durch unmittelbare, leibliche und sinnliche Erfahrungen sowie Gymnastik, Turnen, Bewegung, Spiel und Sport gemeinsam. Der Körper oder Leib – ein typisch deutsches Wort der deutschen Geistes- und Bildungsgeschichte – wurde als Grundlage und Ausgangspunkt der Bildung und Erziehung im Allgemeinen angesehen. Leibeserziehung – physical education – war die Bezeichnung für dieses aus der Jugend- und Sportbewegung stammende Konzept von Gesamterziehung.Footnote 11 Ohne ausreichenden Respekt vor dem Körper könnten Bildung und Erziehung in einem ganzheitlichen Sinn nicht gelingen. Dies war ein Grundgedanke der Bildungsreformen, der Jugendbewegungen und der Lebensreform, und zwar sowohl „Top-down“ als auch „Bottom-up“.

Bildungsreformen und Jugendbewegung in den 1920er und 1930er-Jahren – verlorene Generationen

Als die politischen Spannungen zwischen den europäischen Mächten zu Beginn des 20. Jahrhunderts zurzeit des Imperialismus zunahmen und die „Schlafwandler“ in den Krieg zogen, um das berühmte Buch von Christopher Clark (2013) zu zitieren, überwog die militaristische Motivation die Arbeit des Zentralausschusses für Volks- und Jugendspiele. Der Erste Weltkrieg bedeutete jedoch lediglich eine Unterbrechung der zunehmenden Vielfalt und Blüte von Körperkultur, Gymnastik, Turnen, Spiel und Sport seit der Jahrhundertwende. Als der Krieg vorbei war und einige der Jungen, die dem Ruf ihres Kaisers, auf die Schlachtfelder zu ziehen, so begeistert gefolgt waren, nach Hause zurückkehrten, wurde eine neue Generation geboren. Wie Ernest Hemingway (1899–1961) seinerzeit schrieb, war es eine „verlorene Generation“.Footnote 12 Er prägte diesen Begriff für diejenigen, die durch entsetzliche geistige, körperliche und seelische Schäden während und infolge des Ersten Weltkriegs gezeichnet waren und diese Erfahrungen ins 20. Jahrhundert mitnahmen.

Nach dem Ersten Weltkrieg bewegten sich die verschiedenen Zweige der organisierten Jugend in verschiedene Richtungen. Aus der freien Jugendbewegung wurde die „bündische Jugend“ (Ahrens 2015), also eine in unterschiedlichen Bünden organisierte Jugend (Jungen und Mädchen), die sich über ihre generationelle Gemeinsamkeit hinaus unterschiedlichen politisch-ideologischen Lagern zuordnen ließ. Die Angehörigen der Jugendbewegung, die durch den Krieg zur „verlorenen Generation“ geworden waren, knüpften zwar an die Reformen und Erfahrungen seit etwa 1900 an, aber sie taten dies auf unterschiedliche Weise und in völlig veränderten Kontexten. Zu den Erfahrungen des verlorenen Kriegs kamen Gefühle von Scham und Schuld, aber auch Rache und Vergeltung hinzu. Viele Deutsche empfanden den Friedensvertrag von Versailles als Demütigung, sportlich gesagt als unfair. Revisionisten und Revanchisten riefen dazu auf, sowohl die Verbündeten als auch die neue Republik Weimar für die Niederlage und die Demütigungen des Versailler Vertrags zur Rechenschaft zu ziehen, einschließlich ihrer republikanischen Eliten und demokratischen Parteien wie der Sozialisten und Sozialdemokraten. Eine starke Gruppe von Revisionisten und Revanchisten erfand den einflussreichen Mythos des „Dolchstoßes“. Diese Legende besagte, dass die deutschen Armeen nicht auf den Schlachtfeldern besiegt, sondern von der Heimatfront meuchlings durch Republikaner und Demokraten am Sieg gehindert worden seien (Winkler 2002). Eine der Absichten der Alliierten war es zwar, die Deutschen zu befrieden und die Nation zu friedlichen Beziehungen mit ihren Nachbarn zurückzuführen, aber die Realität war das Gegenteil. Das revisionistische und militaristische Denken und Handeln nahmen in allen drei Bereichen von Kultur, Gesellschaft und Politik in Deutschland zu. Sport und Spiel wurden als Ersatz für das Fehlen einer Armee angesehen. Darüber hinaus konnten Hunderttausende besiegter, zurückkehrender Soldaten keine zivilen Jobs finden (Winkler 2002).

Die Jugend, die sich vor dem Weltkrieg als frei und unabhängig von der Erwachsenenwelt gesehen hatte, stand im Zentrum der zunehmenden Spannungen und Spaltungen der Gesellschaft. Sport und Spiele der Jugend verzeichneten ein großes Wachstum. Darüber hinaus wurden Sport und Spiel in verschiedenen paramilitärischen Organisationen der politischen Parteien und ihren radikalen Flügeln wie den nationalistischen Freicorps und – im linken, kommunistischen Lager – dem Roten Frontkämpferbund (Liga der Roten Kämpfer an der Front) betrieben. Mit anderen Worten, die Jugend wurde von politischen und militärischen Führern und Parteien instrumentalisiert. Die „Meißner-Formel“ von 1913 über eine freie und unabhängige Position von Jugendlichen und Jugendorganisationen war überholt. Sport und Spiel wurden als Ersatz für die Abschaffung der Wehrpflicht und die Reduzierung der Armee auf 100.000 Soldaten angesehen. Die Radikalisierung und Militarisierung von Gesellschaft und Politik nahm gegen Ende der 1920er und zu Beginn der 1930er-Jahre zu, als schließlich die rassistische und antisemitische Partei Adolf Hitlers die Macht in Deutschland übernahm.

Wie Norbert Elias angedeutet hatte, bildeten die Gruppen sowohl des Hitlerregimes als auch des bolschewistischen Regimes in der Sowjetunion die jüngsten Generationen des 20. Jahrhunderts (Elias und Schröter 1990, S. 320), die politische Macht ausübten. Die nationalsozialistische deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) war straff organisiert und konnte auf die Unterstützung einer starken Parteijugend zählen. Ihre „Führer“ waren in der Mehrzahl selbst noch eher junge Männer. Militärsport und sportliche Übungen gehörten zum Standardprogramm der Jugenderziehung in der Hitlerbewegung. Die sogenannte Hitlerjugend wurde 1926 gegründet und schwor dem Parteiführer ewige „Treue“.

Nach 1933, als die NSDAP in Deutschland an die Macht gekommen war, institutionalisierten ihre Führer nicht nur eine autoritäre politische Herrschaft, sondern auch eine Erziehungsdiktatur mit dem Ziel, die Jugend zu indoktrinieren. Anfangs ist dies auch in weiten Teilen gelungen, aber nach und nach wich die Begeisterung einer Atmosphäre von Angst und Terror.

1936 erhielt die Hitlerjugend den offiziellen Status der Staatsjugend, nach dem Vorbild der faschistischen Jugend von Hitlers Idol Mussolini in Italien. Es gab jedoch auch einen mehr oder weniger direkten Weg „vom Wandervogel bis zur Hitlerjugend“ – um den Buchtitel des Pädagogen und Historikers Hermann Giesecke (geb. 1932) zu zitieren, der selbst die Hitlerjugend erlebt hatte. Ab 1936 musste jeder Junge in Deutschland an den Treffen und Veranstaltungen der Hitlerjugend teilnehmen, und jedes Mädchen im Bund Deutscher Mädel (Giesecke 1981). Die Jugend sollte völlig indoktriniert werden, wie Hitler und seine Spindoktoren immer gepredigt hatten. Erika Mann (1905–1969) hatte im US-Exil dieses System der Erziehung von „Barbaren“ schon früh beschrieben. 1938 erschien ihr Buch auch in deutscher Sprache unter dem Titel „Zehn Millionen Kinder“ (Mann 2002 [1938]), mit einem Vorwort von Thomas Mann.

Die Sportbewegung als Jugendbewegung

Wie oben erwähnt, war die Sportbewegung in Deutschland per se eine Jugendbewegung. Sie bildete in gewisser Weise einen Gegensatz zur etablierten Turn- und Gymnastikbewegung in Vereinen und Verbänden. Trotz konservativer Strukturen und Einstellungen waren Staat, Gesellschaft und Kultur in Deutschland zurzeit des Kaiserreichs und der Weimarer Republik jedoch flexibel genug, um kulturelle Adaptationen und Transfers des britischen Sports und der britischen Spiele in Deutschland zu ermöglichen, wie Christiane Eisenberg in ihrer Arbeit zeigte (Eisenberg 1999; Eisenberg und Gestrich 2012). Im Unterschied zu anderen europäischen Nationalstaaten wurden in Deutschland Sport und Spiele einerseits an das deutsche Vereinssystem einschließlich seiner regionalen und föderalen Institutionen angepasst, andererseits haben Sport und Spiele die traditionelle Turn- und Gymnastikkultur in jeder Hinsicht inspiriert und vitalisiert. Neue Formen der Bewegung und Körperkultur wurden populär, ein neuer Stil, sportlicher Habitus und Körpergefühl verbreiteten sich in deutschen Städten und Regionen, neue Zielgruppen, insbesondere Mädchen und junge Frauen waren begeistert vom Sport sowie von Bewegungs- und Sportspielen. In der Summe wurde das bestehende Fundament der Körperkultur aus Turnen und Gymnastik erweitert, breiter und vielfältiger. Dieser Prozess der Versportung oder Sportisierung begann bereits um 1900 und forcierte sich nach dem Ersten Weltkrieg in der Zeit der Weimarer Republik.

Als der Krieg vorbei war und das Parlament das verfassungsmäßige Wahlrecht der Frauen festgelegt hatte, nahm die Teilnahme von Mädchen und Frauen an Turnen, Spiel und Sport insgesamt rasch zu. Insgesamt war das Wachstum sowohl der verschiedenen Turn- und Sportvereine als auch der Mitgliederzahlen in diesen Jahren so stark, dass es legitim erscheint, vom Sport als einer relevanten Volks- und Massenbewegung zu sprechen, die Millionen von Menschen sowohl als aktive Turnerinnen und Turner als auch als Sportlerinnen und Sportler einschloss und letztendlich auch das Publikum von Sportveranstaltungen aller Art inspirierte.

Noch während des Krieges 1917 änderte der damalige Deutsche Reichsausschuss für Olympische Spiele (DRAFOS), der die abgesagten Olympischen Spiele 1916 in Berlin hätte organisieren sollen, seinen Namen (und seine Funktion) in Deutscher Reichsausschuss für Leibesübungen (DRA). Das heißt, der Schwerpunkt seiner Tätigkeit sollte nicht mehr auf den internationalen Olympischen Spielen liegen, zu denen Deutschland als Schuldiger am Krieg zunächst nicht eingeladen wurde, sondern auf dem Ausbau der Strukturen von Gymnastik, Turnen, Spiel und Sport in Deutschland. Die Aktivitäten des DRA in zahlreichen Bereichen des Sports und der Sportwissenschaft sind von dessen Generalsekretär Carl Diem selbst gut dokumentiert worden (Diem et al. 1923; Diem 1974). Sie dienen als wesentliche Quelle für die Körperkultur von Turnen, Gymnastik, Sport und Spielen in Vereinen und Verbänden, sowohl in Quantität als auch Qualität zu dieser Blütezeit des Sports während der Weimarer Republik (Abb. 4). Darüber hinaus fungierte der DRA als Lobbyist für Leibesübungen, Gymnastik, Turnen und Sport in Kultur, Bildung und Gesellschaft sowohl in staatlicher Verwaltung und Verantwortung als auch in zivilgesellschaftlichen Institutionen. Die Initiativen Diems und des DRA-Präsidenten Lewald für den täglichen Sport an Schulen, für mehr und bessere Sportplätze, Stadien, Gymnastik- oder Turnhallen, und nicht zuletzt für Schwimmbäder in Städten und Gemeinden, die auch in parlamentarischen Petitionen und Debatten gefordert wurden, entfalteten in den eigentlich politisch zuständigen Ländern der Republik große Auswirkungen für die Sport‑, Kultur- und nicht zuletzt Jugendpolitik.

Abb. 4
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Die deutsche Jugend treibt Sport – Fotocollage im Sammelband „Deutscher Sport“ (zwei Bände), herausgegeben vom Deutschen Reichsausschuss für Leibesübungen (DRA) im Deutschen Sport-Verlag Berlin, o.J. [1926] mit folgender Originalunterschrift: „Oben: Bei den Bismarckspielen der höheren Lehranstalten Berlins gewann das Reform-Realgymnasium Reinickendorf den Bismarckschild zum 3. Mal. – Rechts: Ein vierjähriger ‚Klassespieler‘. – Mitte: (von links nach rechts): Mädchen-Handball, Knaben in erbitterten Fußball-Zweikämpfen. – Unten: Medizinball-Werfen der Knaben.“. (Quelle: Deutscher Sport, Bd. 2, S. 7)

Die meisten dieser Initiativen wurden gemeinsam oder von ähnlichen Aktivitäten der Dachorganisation der Arbeitersportbewegung durchgeführt und unterstützt, die in den ersten Jahren der Weimarer Republik, als Sozialisten und Sozialdemokraten in einigen Regierungen und Verwaltungen der Republik die Verantwortung trugen, großen Einfluss hatten.Footnote 13 Der erste Präsident der Republik war bekanntlich der Sozialdemokrat und Handwerker (Sattler) Friedrich Ebert. Zusätzlich wurden in den 1920er-Jahren Sportvereine und -abteilungen von beiden Kirchen in Deutschland gegründet, von den Katholiken die Deutsche Jugendkraft (DJK) und den Protestanten die CVJM-Vereine, die sich international mit den YMCA-Organisationen zusammenschlossen. Jüdische Turner*innen und Sportler*innen organisierten sich entweder in deutschen oder in eigenen Vereinen im zionistischen Kontext der Maccabi-Organisationen. Alle diese und weitere Sportorganisationen wurden von jungen Männern und Frauen getragen und beeinflusst. Mädchen und junge Frauen trugen die moderne Tanz- und Gymnastikbewegung, die gesundheitlich und ästhetisch motiviert war. Die Tanz- und Gymnastikbewegung gewann viele Anhänger*innen beider oder verschiedener Geschlechter (Diem 1930, 1991). Der Film des Regisseurs Wilhelm Prager mit dem Titel „Wege zu Kraft und Schönheit“ aus dem Jahr 1925 gibt einen visuellen Eindruck von dieser Blüte und Vielfalt der Körperkultur jener Zeit.

Der Fall der Deutschen Turnerschaft (DT) und der deutschen Turnerjugend

Die Deutsche Turnerschaft (DT), die älteste und damals größte Organisation für Leibesübungen in Deutschland, ist ein Beispiel für die zunehmende Macht der Jugend in den Sportorganisationen im Allgemeinen. Im Wesentlichen von Edmund Neuendorff und der Jugendbewegung des „Wandervogels“ beeinflusst, kamen die Vertreter der Vereine und des Vorstandes der DT der Forderung von Neuendorff und den von ihm vertretenen jugendlichen Turnern in der DT nach, als Teil der Deutschen Turnerschaft in der DT unabhängig und formell vertreten zu sein, wie es dann in der Satzung der DT und der Turnerjugend verankert wurde (Dieckert 1968; Neuendorff 1923). Bald darauf erhielten auch Mädchen und junge Frauen einen ähnlichen Status.

Die Turnerjugend wurde von Neuendorff und seinem sogenannten Jugendführerring geprägt und beherrscht (Neuendorff 1923). Neuendorff sympathisierte von Anfang an mit der nationalsozialistischen Ideologie und Bewegung; er war ein Teil von ihr. In der Deutschen Turnerschaft versuchten er und seine Anhänger immer entschiedener, die demokratischen und durch Satzung parlamentarisch geregelten Prinzipien der Turnerschaft zu ändern. Die traditionelle Satzung der DT beinhaltete seit ihrer Gründung 1860 bzw. 1868 den Grundsatz der politischen Unabhängigkeit der Turner-Organisationen und die Konzentration ihrer Aktivitäten auf Körperkultur und soziale Kommunikation. Edmund Neuendorff sah das jedoch anders. Er drängte auf eine Änderung des Prinzips der politischen Neutralität der DT. Er setzte den Vorstand der DT immer stärker unter Druck, seine politische Unabhängigkeit aufzugeben und die Hitler-Bewegung zu unterstützen. Die meisten älteren Vertreter der DT, die in der Turnbewegung des Kaiserreichs sozialisiert worden waren, darunter der Vorsitzende Alexander Dominicus (1873–1945), konnten diesem Druck lange, im Grunde bis zur „Machtergreifung“ Hitlers und der NSDAP widerstehen. Nach dem 30. Januar 1933 brachen dann jedoch alle Dämme. Innerhalb weniger Wochen und Monate war die deutsche Gesellschaft im Sinne und Geist des Hitlerismus „gleichgeschaltet“.Footnote 14 In der DT proklamierten sich Edmund Neuendorff und sein verschwörerischer Kreis junger Führer der Turner-Jugend zum neuen Führer der Turner-Bewegung (nach Krüger 2020).

Neuendorff scheiterte jedoch auf ganzer Linie. Zum 75. Jahrestag der DT wurde die weltweit älteste und größte Vereinigung für Leibesübungen aufgelöst. Neuendorff verlor (zunächst) seine Ämter und Funktionen. Gleichzeitig wurde die Hitlerjugend (HJ) zur obligatorischen Jugendbewegung, und den Turn- und Sportvereinen war es verboten, Turnen, Spiel und Sport für Kinder und Jugendliche anzubieten. Die „Jugendarbeit“ lag gänzlich in den Händen des NS-Staats. Der Traum von Freiheit, Unabhängigkeit und Selbstbestimmung der Jugend war vorbei. Nach der massiven Täuschung der Jugend im Verlauf des Ersten Weltkriegs wurde die Jugend erneut vom Hitlerismus betrogen.Footnote 15

Tatsächlich mussten sich die Jugendlichen vieler anderer Länder ähnlichen Schicksalen stellen. Sowohl faschistische Regime wie Italien oder Spanien als auch kommunistische Diktaturen wie China, Nordkorea und die Sowjetunion sowie ihren abhängigen Staaten hinter dem Eisernen Vorhang, einschließlich der DDR, haben die Jugend für ihre Zwecke entdeckt und benutzt, um ihre politischen Ziele und Ambitionen zu erreichen. Sie gaben vor, für die junge Generation zu handeln. In Wirklichkeit installierten sie Erziehungsdiktaturen und tyrannische Regime. Die Jugend der Welt, die durch Sport und Olympische Spiele gefeiert und gefördert werden sollte, zahlte einen hohen Preis für die von den Älteren verursachten Katastrophen des 20. Jahrhunderts. Zugleich hat sie selbst ihren Teil dazu beigetragen.

Ausblick

Der Gelehrte Norbert Elias beschrieb und interpretierte die Geschichte der Deutschen im 20. Jahrhundert unter anderem als Machtkämpfe zwischen den Generationen (Elias und Schröter 1990). Nach zwei Weltkriegen mit katastrophalen Folgen und zahllosen Opfern wurden Macht, Autorität und Legitimität der älteren, insbesondere männlich geprägten Generationen erheblich geschwächt. Wie Elias schrieb, hat sich der Prozess der Verringerung des Machtgefälles zwischen jungen und älteren Generationen beschleunigt (Elias und Schröter 1990). Einige Indikatoren verdeutlichen diesen Prozess. Schritt für Schritt konnten autoritäre Erziehungsstile an Schulen und Hochschulen nicht mehr praktiziert werden, spätestens seit den 1960er-Jahren war die körperliche Bestrafung von Kindern an Schulen verboten. Die Rechte von Kindern und Jugendlichen wurden gestärkt. 1972 wurde das Wahlrecht für junge Erwachsene von 21 auf 18 Jahre gesenkt. Die Beziehung zwischen Eltern und ihren Kindern hat sich egalisiert und informalisiert. Informellere Verhaltensweisen und Kommunikationsformen zwischen den Generationen haben sich etabliert. Und schließlich durchdringt ein sportlich-jugendlicher Stil Leben und Verhalten aller Altersgruppen und Geschlechter. Sport ist heute kein Privileg der Jugend mehr – er ist „Sport für alle“ (Jütting und Krüger 2017).

Die Beziehung zwischen Jugend und Sport hat jedoch ihren symbiotischen Charakter verloren. Der Sport ist nicht mehr jugendlich, und die Jugend nicht mehr zwangsläufig sportlich, zumindest nicht mehr im selben Sinn, wie dies zu Beginn des 20. Jahrhunderts der Fall war. Der Sport selbst als gesellschaftliches und kulturelles Phänomen der Moderne scheint seine jugendliche Kraft und Dynamik eingebüßt zu haben. Bewegung, Spiel und Sport werden heute der Gesundheit und Figur wegen betrieben. Sie sind das vorherrschende Motiv des Sporttreibens unserer Zeit. Die Sorge um die Alten, die Angst vor der Zukunft, vor Tod und Niedergang, Klimakatastrophe und Dekadenz scheint die Stimmung unserer Zeit zu treffen, und nicht wie vor 100 Jahren, der Aufbruch der Jugend in eine bessere Welt, die so nicht gekommen ist, wie man weiß.