Das aktuelle Kriegsgeschehen in der Ukraine und im Nahen Osten hat die Problematik von Krieg, Gewalt und Frieden wie schon lange nicht mehr ins Zentrum der öffentlichen Debatte in Europa gerückt. Ähnlich wie während der Corona-Pandemie die Medizin sieht sich unter dem Eindruck der gegenwärtigen Zeitenwende nun auch die Friedens- und Konfliktforschung scharfen, teils polarisierenden und emotional geführten Kontroversen im öffentlichen Diskurs ausgesetzt. Dagegen sehen wir als Herausgeber*innen der ZeFKo die vorliegende Ausgabe als einen wichtigen Beitrag zur akademischen Auseinandersetzung zu relevanten Zeitfragen, die zudem auch die inhaltliche und disziplinäre Breite der Friedens- und Konfliktforschung widerspiegelt.

Im ersten Teil dieses Heftes veröffentlichen wir drei Forschungsbeiträge, die aus ganz unterschiedlicher disziplinärer Ausrichtung an bestehenden Debatten in der Friedens- und Konfliktforschung anknüpfen.

Mit den Überlegungen von Juliana Krohn und Christina Pauls zu einer dekolonial informierten Friedensbildung setzt die ZeFKo die bereits in früheren Ausgaben intensiv geführten Debatten über post- und dekoloniale Perspektiven in der Friedens- und Konfliktforschung fort. Den beiden Autorinnen geht es um eine „dekolonial informierte Friedensbildung“ als Prozess. Aus einer Auseinandersetzung mit post- und dekolonialen Theorien könnten Impulse für eine Friedensbildung abgeleitet werden, „die zu einer anderen Welt jenseits kolonialer Logiken beitragen“ könne. Die Autorinnen konkretisieren dieses Verständnis, indem sie die „Perpetuierung von Kolonialität“ angesichts der historischen Kontexte, der dominanten theoretischen Grundannahmen und der davon abgeleiteten Ansätze der Friedensbildung im deutschsprachigen Raum kritisieren. Zu den konkreten friedenstheoretischen Herausforderungen für eine dekolonial informierte Friedensbildung gehöre vor allem die Erweiterung des Gewaltbegriffs um das Konzept der epistemischen Gewalt. In Abgrenzung vom modernen Universalismus beruhe „Friedensbildung otherwise“ auf der ergebnisoffenen „Pluriversalisierung“ von Friedensverständnissen, die „die real gelebte Vielfalt von Friedensverständnissen sichtbar“ mache, ohne „das modern/koloniale Machtgefälle“ zu vergessen. Der Beitrag endet mit einigen praktischen Beispielen für eine dekolonial informierte Friedensbildung.

Einen festen Platz in der ZeFKo hat die naturwissenschaftlich-technische Friedens- und Konfliktforschung, die sich mit dem Konflikt- und Eskalationspotential militärisch genutzter Technologien, mit der technischen Unterstützung von Deeskalation, Rüstungskontrolle und Konfliktprävention und mit friedensfördernden Technologien befasst. Thomas Reinhold und Christian Reuter konstatieren in ihrem Beitrag zunächst, dass bislang geeignete Ansätze zur Friedenssicherung im Cyberspace fehlen. Sie betonen, dass Cyber-Aktivitäten von Streitkräften und Nachrichtendiensten kontrolliert und überprüfbar gemacht werden müssen, damit sie nicht missverstanden oder falsch interpretiert werden, was zu fehlgeleiteten Reaktionen mit der Folge einer Eskalation von Konflikten führen kann. Die beiden Autoren konzentrieren sich auf das Problem der Attribution, also der Herkunftszuordnung bösartige Cyberangriffe, und beschreiben, wie technische Maßnahmen staatliche Akteure in die Lage versetzen könnten, ihre militärischen Cyberspace-Aktivitäten gegenseitig zu kontrollieren. Konkret sollten sie überprüfbare Daten bereitstellen, mit denen die Nichtbeteiligung eines Staates an einem bestimmten früheren oder laufenden Cyber-Vorfall bewertet und überprüft werden könnte. Reinhold und Reuter setzen sich am Ende ihres Beitrags auch mit den politischen Voraussetzungen sowie den technischen Grenzen und offenen Fragen solcher vertrauensbildenden Maßnahmen im Cyber-Space auseinander.

Der Artikel von Anna Felfeli und Bernhard Stahl steht in der langen politikwissenschaftlichen Tradition der Friedens- und Konfliktforschung. Er verknüpft den Sozialkonstruktivismus der kritischen Sicherheitsforschung mit dem gradualistischen Ansatz der Entspannungspolitik. Im Mittelpunkt des Artikels steht das Konzept des diskursiven Abbaus von Versicherheitlichung (desecuritization). Ausgangspunkt dafür ist das Konzept der Versicherheitlichung als soziale Konstruktion des bedrohlichen Anderen, dem Felfeli und Stahl die desecuritization als Entspannung, als schrittweisen Abbau dieses Feindbildes und Herausbildung einer neuen kollektiven Identität in den bilateralen Beziehungen gegenüberstellen. Dieses Konzept veranschaulichen sie in einer diskursanalytischen Fallstudie zur Entspannungsdynamik zwischen den USA und Kuba während der Amtszeit von US-Präsident Obama. Sie arbeiten dabei nicht nur verschiedene diskursive Strategien der Entspannung heraus, sondern zeigen auch, dass eine Verankerung der Desecuritization-Diskurse in den politischen Öffentlichkeiten beider Länder jeweils half, Versuche einer erneuten Versicherheitlichung in beiden Ländern abzuwehren.

In dieser Ausgabe setzen wir zudem die bereits im Heft 2/2022 begonnene Special Section zu „Russlands Krieg in der Ukraine: Reflexionen aus der Friedens- und Konfliktforschung“ fort und veröffentlichen vier weitere Artikel dazu.

Sebastian Hoppe greift in seinem Beitrag verschiedene imperialismustheoretische Erklärungsansätze für Russlands Weg in den Krieg gegen die Ukraine auf. Er setzt sich zunächst kritisch mit bestehenden imperialismuskritischen Erklärungen auseinander. Diesen stellt er seinen eigenen Ansatz gegenüber, wonach sich in Russland vor dem Hintergrund einer ökonomischen und innenpolitischen Doppelkrise seit 2008 ein „regressives souveränistisches Projekt“ formiert habe. Dieses setze zur eigenen Reproduktion auf eine militaristische Außenpolitik.

Julia Strasheim beschäftigt sich mit der Frage, welche Motive Kriegsparteien dazu bewegen, während eines laufenden Krieges in Verhandlungen einzutreten. Sie betont, dass hinter solchen Verhandlungen nicht unbedingt das ernsthafte Interesse der Kriegsparteien an einer Verhandlungslösung stehen müsse, sondern auch andere politische und militärische Motive gegeben sein könnten. Die Plausibilität solcher alternativen Motive zeigt sie in ihrer Fallstudie zu den frühen Verhandlungsrunden zwischen russischen und ukrainischen Delegationen, die kurz nach Russlands Angriff auf die Ukraine im Februar und März 2022 stattfanden.

Thomas Reinhold und Christian Reuter analysieren die bislang öffentlich bekannten militärischen Aktivitäten im Cyberspace im Zusammenhang mit Russlands Krieg gegen die Ukraine. Sie fragen, wie sie militärisch zu bewerten sind und wie sie international eingehegt werden könnten.

Hendrik Hegemann und Martin Kahl sehen den Diskurs der Zeitenwende kritisch. Liberale Konzepte für nachhaltigen Frieden durch zwischengesellschaftliche Vernetzung und innergesellschaftliche Demokratisierung würden darin als realitätsblind und überholt dargestellt und stattdessen werde auf Abschreckung, Aufrüstung und Blockbildung gesetzt. Der Glaube an Fortschritt durch gesellschaftlichen Wandel sei verschwunden. Die beiden Autoren ordnen dieses Umschwenken des öffentlichen Diskurses in den breiteren Kontext einer grundlegenderen Krise liberalen Fortschrittsdenkens ein, die auch Teile der Friedens- und Konfliktforschung erfasse. Hegemann und Kahl halten dagegen an der Gültigkeit liberaler Friedensstrategien fest und skizzieren ihre Relevanz für den konkreten Fall des russischen Kriegs gegen die Ukraine.

Die ZeFKo freut sich weiterhin über Manuskripte aus der Friedens- und Konfliktforschung und bietet dafür eine Reihe von Formaten und Rubriken an. Neben den regulären Forschungsartikeln würden wir uns auch über Beiträge aus der akademischen Lehre in der Friedens- und Konfliktforschung für die Rubrik „ZeFKo Teach-In“, über Literaturberichte und über kürzere Research Papers freuen. Wir sind jederzeit offen für Kritik. Wir freuen uns auch über Anregungen, z. B. für aktuelle Foren oder für Themenschwerpunkte, bei denen wir uns gerne durch Gastherausgeber*innen unterstützen lassen.

Wir wünschen unseren Leserinnen und Lesern nun eine anregende Lektüre dieser Ausgabe und auch eine Vorfreude auf die kommenden Hefte der ZeFKo.