1 Einleitung

Seit Mitte der 2010er Jahre haben sich die Möglichkeiten der Geodatennutzung erneut grundlegend verändert. Die traditionellen Ressourcen amtlicher geodatenhaltender Stellen und privatwirtschaftlicher Geodatenanbieter (z. B. Google) werden durch Projekte, die auf Volunteered Geographic Information (VGI) und weitere Freizeitinitiativen aufbauen, erweitert. Allen voran hat das Projekt OpenStreetMap (bereits ab den 2000er Jahren) bewiesen, dass engagierte Freiwillige, die sich online vernetzen und Geodaten bzw. ihre Metadaten organisieren, der Öffentlichkeit durch weiteren raumbezogenen Input dienen können (s. bspw. Brandeis und Carrera Zamanillo 2017, Keil et al. 2021, Novack et al. 2018; für Übersichten: Goodchild 2007, Bill et al. 2022, Rienow 2022). Aktuell laufende Schwerpunktprojekte zur Grundlagenforschung, wie z. B. in der Kartographie (vgl. Burghardt 2022; Keil et al. 2022; Knura und Schiewe 2022; Mukherjee et al. 2022), verdeutlichen den Stellenwert dieses „Citizen Empowered Mapping“ (Leitner und Arsanjani 2017) in den Geoinformationswissenschaften. Solche Projekte nehmen einerseits Einfluss auf Entwicklungen zur Datentransparenz (vgl. Giraud 2022), was auch dazu geführt haben könnte, dass die in der Öffentlichkeit willkommenen Open-Initiativen amtlicher geodatenhaltender Stellen beschleunigt wurden. Zudem verdeutlichen sie der aktiven Online-Community, dass ehrenamtliche Arbeit zur Bereitstellung von Geodaten Einfluss nimmt, zu individuellen und gemeinschaftlichen Erfolgen führt und folglich auch Möglichkeiten anderer User erweitern kann.

Eine Folge aus diesem grundlegenden VGI-Projekt ist, dass kreative User animiert werden, auch anderweitige aufwendig generierte Daten mit Raumbezug online zu teilen und für weitere Ansätze bereitzustellen. Diese Kreativ-Community ist dabei längst nicht beschränkt auf User, die in erster Linie an der Schaffung von Geodaten, wie z. B. photorealistische 3D-Modellierung einer favorisierten urbanen Landmarke (Wahrzeichen, Sportstadion, Architektur-Highlights), interessiert sind (Edler et al. 2021). Sie schließt User mit ein, die in der Gestaltung von Spielelandschaften Unterhaltung sehen und, häufig weit entfernt von einem Arbeitskontext, Objekte bzw. Objektsammlungen entwerfen, die sich für andere User in anderen (privaten und beruflichen) Kontexten als raumbezogene Daten einsetzen lassen. Durch den freien Release der Unreal Engine ab Mitte der 2010er Jahre steht der breiten Öffentlichkeit zudem (auch gut für Einsteiger und Selbstlerner geeignete) Massen-Software zur Verfügung, die mit erschwinglichen Hardware-Systemen (z. B. PC, plus Virtual-Reality-Headsets) kombiniert werden kann.

Die Auswahl geeigneter Geodaten für (analytische) Fragestellungen und ihrer Visualisierung verbindet also verschiedene aktuelle Strömungen von Geodatengenerierung: Filterung amtlicher Quellen (zunehmend als offene Daten), kollektive VGI (v. a. OSM mit Standards) und kreative individualisierte Modellierungsansätze (häufig mit Entertainment-Zweck im Gaming-Kontext). Insbesondere die Berücksichtigung der letztgenannten Strömung als Geodatenressource verdeutlicht ein flexibilisiertes Verständnis von Geodaten, das über traditionell verankerte Definitionen hinausgeht. Es geht in diesem Geodatenverständnis nicht primär um die eindeutige Lagezuordnung bestimmter Geometrien auf der Erdoberfläche, sondern um raumbezogene Datenkonstrukte (einschließlich 3D-Modellierungen), die zur Repräsentation raumbezogener Sachverhalte verwendet werden können.

Dass Geodaten in diesem Umfang seit Mitte der 2010er zweckfremd entwickelt wurden und sich projektabhängig dennoch sehr eignen können, ist für die Geoinformationswissenschaften und speziell für die (3D-)Kartographie eine relativ junge Entwicklung. Dies stellt nicht nur neue und ggf. auch komplexere Anforderungen an den kompetenten Umgang mit diesen Geodatenressourcen (im Sinne einer angemessenen Geospatial Data Literacy, vgl. Edler und Dickmann 2023, Jürgens 2020), sondern deutet auf eine zunehmend neue Art der Kultur zur Schaffung, Verbreitung und Nutzung von Geodaten, die über Partizipationsansätze in der Kartographie aus der analogen und frühen digitalen Zeit hinausgeht. Diese neue Form der Geodatenkultur erweitert Partizipation hin zur Diversität. Diese Entwicklung hin zu einer Geodatenkultur der Diversität wird in diesem Artikel adressiert. Wissenschaftstheoretisch bietet dabei insbesondere der Neopragmatismus grundlegende Voraussetzungen, um diese Entwicklung zu charakterisieren. Schließlich betont der Neopragmatismus einerseits die Kontingenz von Welt (für die Diversität wiederum konstitutiv ist), andererseits verfolgt er – seinen pragmatischen Wurzeln folgend – nicht eine Suche nach absoluter Wahrheit, sondern das Streben nach Tauglichkeit in konkreten Situationen. Anders als beim Fokus der Pragmatik in der Kartenkonstruktion (vgl. Freitag 1971; Medyńska-Gulij 2013), handelt es sich beim Neopragmatismus um ein Forschungsprogramm, das – aus der Philosophie stammend – nun in anderen sozial- und geisteswissenschaftlichen Disziplinen zunehmend aufgegriffen wird. Als Panrelationismus (Rorty 2023) geht er davon aus, dass alles nur mittels Relation zu anderem Bedeutung erhält. Diese Relationen sind wiederum sprachlich gefasst. Entsprechend ist das, was als Wirklichkeit bezeichnet wird, das Ergebnis sprachlicher Fassungen, also eine soziale Konstruktion.

Kultur ist dabei ein schillernder, vielfältiger und widersprüchlicher Begriff, der bestimmte – in eher länger andauernden Prozessen entstehende – Gemeinsamkeiten repräsentiert. Folglich schließt er auch anderes aus. Mit der Praxis des Ausschlusses läuft er Gefahr, Lebenschancen (im Sinne von Dahrendorf 1979) zu verringern, indem er Optionen einschränkt und Ligaturen, also starke Bindungen, die insbesondere Normen verbindlich machen, stärkt. Lange Zeit dominierte ein essentialistischer Kulturbegriff. Es wurde angenommen, Kultur liege ein geteiltes Wesen zugrunde, das Erscheinungen verursache. Hier wird das Prinzip des Ausschlusses besonders deutlich: Eine Inklusion wird dadurch verhindert, dass das Andere als akzidentiell und nicht dem Wesen entsprechend von einer Teilhabe kategorisch ausgeschlossen wird. Dies reduziert Lebenschancen, weil Ligaturen als absolut und nicht verhandelbar gesetzt werden. Gerade in Bezug auf Daten wird der spekulative Gehalt eines solchen Verständnisses deutlich. Somit wird in diesem Aufsatz einem Kulturverständnis gefolgt, das von Kultur als wandlungsfähigem und dabei auch Vielfalt unterstützendem sozialem Konstrukt ausgeht. In Bezug auf Geodaten bezieht sich das Verständnis also auf ein Konstrukt, das sich mit prinzipiellen sozial geteilten Übereinkünften zur Erzeugung, Verbreitung, Speicherung und Darstellung von Daten – hier im Speziellen: Geodaten – befasst. Diese Übereinkünfte wiederum sind variabel und divers. Abweichungen von tradierten kulturellen Praxen können sich etwa als funktional erweisen, wenn sie etwa neue Perspektiven eröffnen. Ein Beispiel dafür wären innovative Ansätze der 3D-Modellierung aus benachbarten Disziplinen der Kartographie, welche die 3D-Landschaftsvisualisierung bereichern können. Auch könnten perspektivisch Geodaten, die durch künstliche Intelligenz (KI) generiert werden, neue Perspektiven für die Kartographie und Geoinformationswissenschaften bieten. Abweichungen können aber auch dysfunktional sein, wenn sie diese einschränken (Edler und Kühne 2022b). Dieser Artikel entwickelt ein Verständnis dieser aktuell sich neu ausbildenden Geodatenkultur der Diversität, speziell aus kartographischer Perspektive innerhalb der Geoinformationswissenschaften.

Aus einer theoretischen Aufarbeitung des Kulturbegriffs heraus wird im Folgenden zuerst ein Begriff von Datenkultur reflektiert. Auf der Grundlage einer neopragmatischen Wissenschaftsperspektive, die zunächst ein essentialistisches Verständnis von Welt ablehnt, um dann positivistische Zugänge der Kartographie um konstruktivistische Aspekte zu erweitern, wird nach dieser Begriffsreflexion ein Verständnis von (aktueller) Geodatenkultur abgeleitet. Dabei werden gegenwärtige Beispiele, die moderne Geodatenressourcen funktional verbinden, vorgestellt und diskutiert.

Nicht allein in Bezug auf Raum ist die sozial- und mehr noch kulturwissenschaftliche Forschung und Begriffsbildung – im Gegensatz zu naturwissenschaftlichem und technischem Denken – stark in unterschiedlichen Sprachen gefassten Denktraditionen verwurzelt (Korf 2021; Kühne und Berr 2022). Die Autoren dieses Artikels sind in der deutschsprachigen Tradition verwurzelt, insofern stammt das hier vorgetragene Verständnis von Kultur aus der deutschsprachigen philosophischen, sozial- und kulturwissenschaftlichen Begriffsbildung. Dies geschieht in dem Bewusstsein von deren Kontingenz, angesichts anderer Traditionen, die sich in anderen Sprachen entwickelt haben.

2 Verständnisse von Kultur: erste Annäherungen

Der Begriff der Datenkultur wird zwar an der einen oder anderen Stelle – und keiner konkreten akademischen Disziplin zugeordnet – verwendet. Allerdings wird das Verständnis von dem, was als Kultur verstanden wird, dabei nicht gemeinhin weiter bestimmt. Seine Verwendung legt eine Verwendung als Fahnenwort (Dieckmann 1975) nahe, einem Wort also, das neben einer positiven Grundcharakterisierung auch eine deontische – also auf das Sollen bezogene – Bedeutung aufweist. Darüber hinaus ist das Fahnenwort weitgehend voraussetzungslos positiv konnotiert und bringt zudem einen hohen ideologischen Wert zum Ausdruck (Klein 2005). Fahnenwörter neigen zudem dazu, einen sehr großen Bedeutungsumfang aufzuweisen. Dies ist verbunden mit der Folge, dass vieles darunter verstanden werden kann. Um den Begriff der Kultur für unseren Kontext zu operationalisieren, ist eine ausführliche Herleitung und Spezifizierung des im Weiteren verwendeten Verständnisses grundlegender Bestandteil dieses Aufsatzes. Dabei wird einem neopragmatischen Verständnis gefolgt. Das neopragmatische Verständnis erweitert die – u. a. in der Kartographie und den Natur- und Ingenieurswissenschaften allgemein grundlegende – positivistische Wissenschaftsperspektive um (sozial-)konstruktivistische Ansätze.

Der Begriff Natur wird in Wissenschaften und öffentlicher Diskussion in vielfältiger, uneinheitlicher und sich teilweise widersprechender Weise verwendet. Das Wort Kultur ist Teil einer Vielzahl von Komposita: Dabei kommt es sowohl als Grundwort (Determinatum) in Komposita vor, wie etwa in Fankultur oder Alltagskultur, als auch als Bestimmungswort (Determinans), wie in Kulturlandschaft oder Kulturpolitik. Der Bedeutung des Grundwortes entsprechend, werden, vor den Überlegungen zu Datenkulturen, Diskussionslinien um den Begriff der Kultur nachgezeichnet. Daraus wird ein für die weiteren Ausführungen taugliches Verständnis von Kultur entwickelt.

Der Begriff Kultur geht bereits auf das Lateinische colere zurück, das sich mit bewahren, hegen, schützen bzw. pflegen übersetzen lässt. Durch Arbeit wird ein Stück Land zum Acker, also kultiviert (Fisch 1992). Die Verbindung zwischen Land und Kultur wird auch in der mittelhochdeutschen Begriffsfacette des Wortes Landschaft deutlich, die als solche den kultivierten Bereich eines Raumes – diesseits der Wildnis – verstand und die – nachdem das Wort Landschaft auch mit ästhetischen Bedeutungskomponenten aufgeladen wurde – in der Moderne wieder als Kulturlandschaft auftrat (s. auch Berr und Kühne 2020; Berr und Schenk 2019; Müller 1977). Damit wird die Konstruktion des ersten Begriffsantagonismus deutlich: Kultur wurde (und wird in Teilen noch immer) als der Gegensatz zu Natur gestellt.

Ein zweites Gegensatzkonstrukt bezieht sich auf die Kultur versus Zivilisation: Während Kultur als das Authentische, Gewachsene und Wesenhafte umrissen wird, gilt Zivilisation als das Künstliche, das Akzidentielle, Gestaltete und Aufgesetzte. Kultur wird dabei dem Land, Zivilisation der Stadt zugeschrieben. Besondere Aktualität erfuhr dieses Gegensatzkonstrukt in der Abgrenzung zwischen der deutschen Kultur des Eigentlichen, in Abgrenzung zur französischen Zivilisation im Kontext des ersten Weltkrieges, die danach von beiden Seiten aus perpetuiert wurde (Dill 2011).

Eine dritte Gegensatzkonstruktion findet sich zwischen der einen Kultur und den anderen Kulturen, ein Denken, das auf Herder (1964) zurückgeht. Darin wird jede Kultur als in sich geschlossene Einheit verstanden, die sich gegenüber anderen Kulturen fundamental unterscheide (Fuchs 2012).

Ein vierter Gegensatz findet sich in der Konstruktion des Gegensatzes von Hochkultur versus Trivialkultur (wobei bei Ersterem auch ein Verständnis von Zivilisiertheit mitschwingt). Mit der Einführung des modernen postontologischen Verständnisses von Ästhetik als Lehre der sinnlichen Erkenntnis durch Alexander Baumgarten (2009 [1750–1758]) wurden die unterschiedlichen Künste wie Bildhauerei, Musik und Literatur unter dem Begriff der Kultur subsummiert, die sukzessive die Aufgabe der Verfeinerung des Lebensstils zugewiesen bekamen – in Abgrenzung zur Populärkultur (Fuchs 2011).

Die fünfte Konstruktion eines Gegensatzes geht mit der soziologischen Theoriebildung von Durkheim, Simmel, Weber oder Tönnies einher (Fuchs 2012; Nünning 2009), die Kultur als ein der Gesellschaft zugrunde liegendes Gewebe an Werten ansahen, das als Kontrastfolie für die Beobachtung gesellschaftlicher Entwicklungen diente (und bis heute dient). Besonders deutlich wird diese Vorstellung in der Systemtheorie von Talcott Parsons (1951), der das System der kulturellen Treuhand von den übrigen gesellschaftlichen Teilsystemen, wie der Wirtschaft, der Politik und der sozialen Gemeinschaft geschieden sah und ihm die Funktion des Latency zuwies. Das System der kulturellen Treuhand lässt sich damit als Einheit der Aufbewahrung der als Werte gedeuteten Vorstellung des Wahren, Guten und Schönen verstehen.

In diesen fünf Gegensatzkonstrukten wird die Logik des binären Denkens der Moderne in der Kategorie von Entweder-oder deutlich. Dieses Denken in Fundamentalkategorien (andere Beispiele: Mann und Frau, Subjekt und Objekt, Stadt und Land, Meer und Land) wird mit der Entwicklung postmodernen Denkens zunehmend in Hybriden aufgelöst (Lyotard 2005 [1984]; Vester 1993; Welsch 1987):

So setzt sich das Verständnis durch, Kultur und Natur durchdringen sich wechselseitig, und selbst der Mensch ist entsprechend als Natur-Kultur-Hybrid zu verstehen. Schon die Hybridisierung von Stadt und Land (etwa durch Suburbanisierung) verdeutlicht die Durchdringung der Vorstellungen von Zivilisation und Kultur. Die Vorstellung getrennter, essentiell voneinander geschiedener Kulturen wird nicht zuletzt von den Austauschbeziehungen und wechselseitigen Beeinflussungen im Zuge der Globalisierung aufgehoben (Bhabha 2012; Toro 2002, 2007). Die Konstruktion der Dichotomie von Hoch- und Trivialkultur wird nicht zuletzt durch die Veränderungen von ästhetischen Bewertungen obsolet: Ehemals als Teil der Hochkultur eingeordnete Objekte werden popularisiert und zum Gegenstand kitschiger Motivbildung. Ein prägnantes Beispiel ist die romantische Landschaftsmalerei. Zudem werden vormals profane Gegenstände durch künstlerische Aufladung zu hochkulturell aufgeladenen Gegenständen, etwa in Form von Ready-Made-Objekten, wie sie der Künstler Marcel Duchamp inszenierte (Büttner 2006, 2019; Illing 2006; Liessmann 2002, 2009; Spanier 2006). Darüber hinaus wird in der Postmodernedebatte von wechselseitigen Durchdringungen von unterschiedlichen gesellschaftlichen Subsystemen ausgegangen – es wird bspw. die Ökonomie kulturalisiert (etwa via Produktdesign), die Politik ökonomisiert (z. B. Bedeutung von Wahlkampfspenden; Vester 1993). Räume werden zunehmend (wieder) polyvalent genutzt. Nicht nur in urbanen Räumen ersetzen Funktionsdurchmischungen die Manifestationen der Vorstellung räumlicher Funktionstrennungen (Kühne 2006, 2018; Roßmeier und Weber 2021).

Wird der Ansicht gefolgt, Kultur bilde eine stark zu Persistenzen neigende Basis für kurzfristige gesellschaftliche Entwicklungen, wodurch sich diese wiederum von den kulturellen Grundlagen entfernen können (Ogburn 1957), besteht die Notwendigkeit, kulturell gebundene Werte und Normen in der Gesellschaft zu verbreiten. Ein Ansatz zum Verständnis dieses Prozesses ist das Konzept der Lebenschancen von Ralf Dahrendorf, hier insbesondere der Ligaturen (vgl. u. a. Edler und Kühne 2022a, b; Kühne et al. 2022a, b). Unter Ligaturen versteht Dahrendorf „strukturell vorgezeichnete Felder menschlichen Handelns. Der Einzelne wird kraft seiner sozialen Positionen und Rollen in Bindungen oder Ligaturen hineingestellt“ (Dahrendorf 1979, S. 51). Ligaturen bilden „gewissermaßen die Innenseite der Normen, die erst die sozialen Strukturen garantieren“ (Ackermann 2020, S. 141). Dabei sind sie emotional bzw. moralisch stark aufgeladen (Kühne et al. 2022a, b). Um Lebenschancen zu generieren verlangt es nach Optionen. Darunter versteht Dahrendorf „in sozialen Strukturen gegebene Wahlmöglichkeiten, Alternativen des Handelns“ (Dahrendorf 1979, S. 50). Freiheit ist für Dahrendorf eng an Optionen gebunden, denn sie bedeutet für ihn „die Chance, in einem differenzierten Angebot eine Auswahl zu treffen“ (Dahrendorf 1974, S. 9).

Optionen stellen den dynamischen und Ligaturen den statischen Aspekt von Lebenschancen dar. Somit lassen sich Ligaturen als Transmissionsriemen zwischen kulturellen Werten und Normen und dem Individuum verstehen. In traditionellen Gesellschaften sind Ligaturen absolut. Mit einer unbedingten Wirkung, mit der Modernisierung haben sie ihre gesamtgesellschaftliche Bindungswirkung verloren (Dahrendorf 1994). Ligaturen werden zunehmend subkulturell definiert und dann aber häufig mit einem außengerichteten Anspruch an Verallgemeinerung vorgetragen. Dadurch wird die Welt einer multiplen Dichotomisierung unterzogen: Identitäre Gruppierungen, die sich häufig subkulturell definieren, konstruieren die Gesellschaft binär in sich und den Rest der Gesellschaft. Daran werden moralische Ansprüche gerichtet, die häufig als Ligaturen formuliert werden (Ackermann 2022; Kühne et al. 2022a, b; Somek 2021). Dies ist verbunden mit dem Versuch der Auflösung des Denkens in Hybriditäten zugunsten der Konstruktion neuer – dieses Mal multipler gesellschaftlicher und kultureller – Dichotomien.

3 Datenkulturen: eine Annäherung aus den bisherigen Überlegungen zu Kultur

Die im vorangegangenen Abschnitt vorgestellten Verständnisse von Kultur werden im Folgenden mit dem Thema (Geo-)Daten in Beziehung gesetzt. Dadurch kann initial abgeschätzt werden, welche Verständnispotenziale in der Befassung mit Daten auf der Grundlage verschiedener Verständnisse von Kultur liegen. Dabei lassen sich Daten – in Bezug zu den in Kapitel 2 dargestellten fünf Differenzierungen – folgendermaßen interpretieren:

  1. 1.

    Daten können dabei eher der Sphäre der Nicht-Natur zugeordnet werden. Sie sind stets an materielle Kontexte gebunden (von Papierseiten in Statistischen Jahrbüchern bis hin zu elektronischen Speichermedien). Diese sind wiederum durch (materielle) Transformationsprozesse von vormals Natürlichem entstanden. Somit können sie auch als hybrid (darauf wird weiter unten eingegangen) oder auch als Assemblages oder Aktanten begriffen werden (in Grundzügen bei: Carter 2018; Desai et al. 2017). Jedoch sei auch betont, dass der Anspruch erhoben wird, mit Daten, Natur zu beschreiben (und im Anschluss daran analysieren, modellieren und visualisieren zu können).

  2. 2.

    Wird das Differenzschema Kultur versus Zivilisation auf das Thema Daten angewandt, liegt die Tendenz der Zuordnung auf Seiten der Kultur. Dabei entstehen Daten zur Beschreibung von Sachverhalten. Die Gestaltung von Datenkollektiven erfolgt eher unbewusst dargestellten fünf Differenzierungen. Sie dienen der Beschreibung (ggf. Analyse, Modellierung und Visualisierung), nicht aber etwa der distinktiven Verfeinerung des Zugriffs auf Welt. Sie sind (zunächst, darauf wird später weiter eingegangen) auch nicht daraufhin gewonnen, um in außergewöhnlichen Darstellungsformen eingesetzt zu werden.

  3. 3.

    Der Anschluss an die Zuordnung von Datenkulturen an die Vorstellung geschlossener kultureller Systeme im Sinne Herders fällt indes schwer: Daten entspringen in der Regel der Logik eines positivistischen Weltverständnisses, das jeden Essentialismus (wie den einer kulturellen Eigenart) im Grundsatz ablehnt. Anschlussfähig ist er indes an die Vorstellung von Hybridkulturen im Sinne von Bhaba – weniger, was die Erzeugung und Aufbewahrung von Daten betrifft, vielmehr, was ihre Darstellung anbelangt. Hier lassen sich bestimmte Traditionen kultureller Weltkonstruktion feststellen, die sich durchdringen. Ein Beispiel dafür sind Video- und Computerspiele, deren virtuelle Landschaften die Darstellung bestimmter, mit unterschiedlichen kulturellen Konnotationen verbundener Darstellungen enthalten, etwa von Pagodengebäuden oder Fachwerkhäusern im Spiel Civilization (Kühne et al. 2020; Kühne 2022) oder Objekten aus der Wikingerzeit im Spiel Valheim (vgl. Horbiński und Zagata 2021).

  4. 4.

    Hierbei wird auch deutlich, dass die Daten, um die es in diesem Beitrag geht (Geodaten), eher dem Pool der populären Kultur als der Hochkultur zugeordnet sind. Zugleich sind sie indes geeignet, der künstlerischen Inszenierung unterworfen zu werden.

  5. 5.

    Dedifferenzierungen des Systems der kulturellen Treuhand lassen sich bei Datenkulturen, mit einer zunehmenden Diversität von Datenquellen, Nutzungen und Darstellungen, feststellen. Diese können administrativ, privatwirtschaftlich, privat, aber auch künstlerisch sein. Besonders deutlich wird die Expansion des Kulturellen bei dem Bedeutungsgewinn der künstlerischen Gestaltung kartographischer Darstellungen, die sich über modernistische ästhetische Standards hinwegsetzt (Edler und Kühne 2022a; Kent 2018).

Insbesondere dieser letzte Punkt leitet zu dem Thema Ligaturen über. Wie oben angesprochen, nimmt die Allgemeinverbindlichkeit traditioneller Ligaturen (wie etwa religiöser) ab. Lange Zeit wurde davon ausgegangen, dass die Bindungswirkung von Ligaturen zurückging (Dahrendorf 1994). Im wissenschaftlichen Kontext etwa wurden methodische Ligaturen gelockert (Feyerabend 2010 [1975]). Der Umgang mit Daten, die Formen ihrer Gewinnung, Ordnung, Analyse, Modellierung und Darstellung wurden erweitert. Standardisierungen waren – in der Kartographie, beginnend mit der empirischen Kartographie zur Untersuchung funktional gestalteter Karten (Robinson 1952, vgl. auch Dickmann et al. 2013, Montello 2002, MacEachren 2004, S. 3–4) und forciert durch die kritische Kartographie (Crampton und Krygier 2005) – begründungsbedürftig geworden. Standardisierungen wurden zunehmend von devianten (Edler und Kühne 2022b), teilweise kreativen, Verfahren des Umgangs mit Daten ersetzt. Der Verlust an Verbindlichkeit von Ligaturen war verbunden mit dem Gewinn an Optionen, verbunden mit der Individualisierung von Begründung und Verantwortung (Bauman 1999, 2008). Der Eindruck des Geworfenseins in ein Meer der Optionen, ohne verbindliche Entscheidungshilfen, etwa zur Priorisierung, lässt den Bedarf an Ligaturen wiederum ansteigen. Da allerdings die Lebenslagen individualisiert bleiben und auch Diversität zunimmt und auch steigende gesellschaftliche Akzeptanz findet, bleiben auch mögliche Schnittmengen an Ligatureninteressen überschaubar. Es entstehen somit überschaubare Identitätskollektive, außerhalb, aber auch innerhalb der Wissenschaft, die auf eine Verallgemeinerung der eigenen Ligaturen drängen. Als ein solches überschaubares Identitätskollektiv lässt sich die kritische Kartographie verstehen (unter vielen: Harley 2002; Kim 2015; Wood 2003), deren Kernanliegen in der Abschaffung einer traditionellen positivistischen Kartographie durch professionelle Kartographen besteht, zugunsten eines Counter-Mappings durch Personen ohne Ausbildung oder Studium in der Kartographie bzw. Geomatik. An die Stelle einer Multioptionalität, vielfältige Möglichkeiten der Darstellung mit Daten zuzulassen, wird hier mittels einer außengerichteten moralischer Ligatur (Kühne, Berr, Jenal 2022) versucht, Menschen, die außerhalb des eigenen identitären Kollektivs stehen, die Ausübung des erlernten Berufs zu untersagen (detaillierter: Edler und Kühne 2022a; Kühne 2021; Kühne, Berr et al. 2021).

In Ableitung aus dem bis hier Dargelegten, werden Datenkulturen in diesem Aufsatz als ein Set von Werten und Normen zur Erfassung, Verwaltung, Analyse und Präsentation von Daten verstanden. Dieses Set wird durch Ligaturen für jene verbindlich, die sich auf bestimmte Art mit Daten befassen. Ligaturen tendieren zur Verallgemeinerung. Insofern entstehen bei der Differenzierung (wissenschaftlicher) Identitätskollektive alternative Ligaturen, die in Konkurrenz um Allgemeinverbindlichkeit stehen. Allgemeinverbindlichkeit wiederum steht Freiheit – im oben eingeführten Sinne von Ralf Dahrendorf – entgegen. Freiheit setzt ein großes differenziertes Angebot zur Auswahl voraus, keines, das durch moralische Ligaturen ohne Abschätzung einer möglichen Tauglichkeit der Angebote für den Umgang mit konkreten Herausforderungen, eingeschränkt wird. Dies leitet zum Neopragmatismus über.

4 Neopragmatische Überlegungen zu Datenkulturen

Zwar wurde bis zu diesem Punkt ein operationalisierbares Verständnis von (Geo-)Datenkulturen hergeleitet, jedoch hat sich auch gezeigt, dass essentialistische Residuen in der Formierung von Identitätskollektiven dysfunktionale Auswirkungen auf die Entwicklung von Datenkulturen aufweisen, die nicht zuletzt auf der gesinnungsethischen (Weber 2014 [1919]) Tendenz der Verallgemeinerung der in den jeweiligen Identitätskollektiven gebildeten Ligaturen beruhen. Im Folgenden wird ein Umgang mit Datenkulturen vorgeschlagen, der sich an der Tauglichkeit der erzielten Ergebnisse bemisst und auf neopragmatischen Überlegungen fußt. So vertritt der Neopragmatismus in Rückgriff auf den klassischen philosophischen Pragmatismus (Dewey 1917; James 1907; Peirce 1991) als Bewusstsein zum Handeln (Gethmann 1987) das Primat praktischer Kriterien gegenüber abstrakter Theorie. Als Kriterium für Wahrheit dient dem Pragmatismus der Erfolg von Ideen, „Interessen, Werten und Zielen“ (Barnes 2008, S. 1544). Kriterium ist nicht die – gesinnungsethische – widerspruchsfreie Herleitung von Ideen aus moralischen oder theoretischen Grundsätzen. Mit seinem Konzept der „warranted assertibility“ liefert John Dewey eine Spezifizierung des pragmatischen Wahrheitsbegriffs (Dewey 2016; vgl. Neubert 2004), indem ihm das als wahr gilt, was sich in dem Schnittpunkt findet, was sich bereits mittels wissenschaftlichen Methoden und Ergebnissen als tauglich ermittelt wurde und dem, was sich mittels der künftig zu entwickelnden Überlegungen, Methoden und Ergebnissen als tauglich herausstellen wird (Kühne und Berr 2021; vgl. Neubert 2004).

Diesen Kerngedanken übernimmt der Neopragmatismus und überführt ihn in einen sprachphilosophischen Kontext (Putnam 1995; Rorty 1982, 1997, 1998), in dem etwa Richard Rorty die Gedanken von Wittgenstein, Derrida und Foucault aufgreift. Die so entstandene Emergenz wird besonders an dem gewandelten Verständnis Rortys dessen deutlich, was häufig mit „Wahrheit“ bezeichnet wird. Er ersetzt dieses durch „Redeskription“, woraus erstens die konstitutive Bedeutung von Sprache bei der Erzeugung von Welt deutlich wird, und zweitens auch Kontingenz (ein zentraler Begriff bei Rorty). Diese Kontingenz bezieht sich auf Individuum, Gesellschaft und Sprache (Baltzer 2001). Freiheit entsteht für Rorty aus Einsicht in Kontingenz, was sich nicht auf philosophische Reflexion beschränkt: „Denn es reicht nicht aus, zu erkennen, dass neben dem eigenen auch noch eine Vielzahl anderer Vokabulare existiert; sondern man muss diese Beobachtung auf antifundamentalistische Konzeptionen von Sprache, Mensch und Welt beziehen, um die Diagnose der Kontingenz stellen zu können“ (Deines 2008, S. 158). Unter „Vokabularen“ versteht Rorty (1991) – in Rückgriff auf die „Sprachspiele“ Wittgensteins (1995 [1953]) – gemeinsame Plattformen sozialer Rechtfertigungspraxis, die wiederum auf den Kontext des Vokabulars einer konkreten Sprachgemeinschaft bezogen sind (Müller 2021). Die oben aufgeführten Identitätskollektive bilden konstitutiv geschlossene Vokabulare aus.

Redeskriptionen werden – wie Rorty (1997) ausführt – dann nötig, wenn ein altehrwürdiges Vokabular fraglich wird. Fraglichkeit entsteht dann, wenn ein Vokabular den Anspruch auf Tauglichkeit zur Deutung von Welt nicht mehr einlösen kann (Rorty 1997). Dies bedeutet: Es werden neue Regelungen nötig, die sich auf unlösbare Probleme und Konflikte bzw. unauflösbaren Anomalien beziehen. Redeskriptionen sind keine unvermittelt auftretenden Gebilde. Sie erzeugen vielmehr ein Gewebe, in dem althergebrachte Vokabulare in ein neues redeskriptives Vokabular umgewoben werden (Topper 1995). Reste alter Vokabulare werden somit einer Rezyklierung unterzogen (Kühne 2023; Rorty 1997; Topper 1995).

Die Qualität redeskriptiver Vokabulare lässt sich folglich an zwei Kriterien bemessen:

  1. 1.

    Redeskriptionen müssen zum Zeitpunkt ihrer Erzeugung (!) tauglich sein, Welt zu deuten.

  2. 2.

    Redeskriptionen müssen die Eignung haben, in Gewebe künftiger Redeskriptionen eingewoben werden zu können (Rorty 1997; Topper 1995).

Dies bedeutet auch, dass weder essentialistische Vorstellungen noch utopistische Weltdeutungen geeignet sind, in neopragmatischen Redeskriptionen verwoben zu werden. Schließlich ist die Voraussetzung für eine neopragmatische Redeskription (mindestens) die Akzeptanz von Kontingenz: „Denn es reicht nicht aus, zu erkennen, dass neben dem eigenen auch noch eine Vielzahl anderer Vokabulare existiert; sondern man muss diese Beobachtung auf antifundamentalistische Konzeptionen von Sprache, Mensch und Welt beziehen, um die Diagnose der Kontingenz stellen zu können“ (Deines 2008, S. 158). Ein für Kontingenzen sensibler neopragmatischer Umgang mit Daten lässt sich nicht zuletzt mittels der Nutzung des Stilmittels der Ironie bei Darstellungen verdeutlichen. Gerade hierbei wird Kontingenz, Vorläufigkeit und Revidierbarkeit von Redeskriptionen deutlich. Im Umgang mit Geodaten etwa in Form ironischer Kartographie (Edler und Kühne 2022b; Kühne et al. 2022a, b; Kühne und Jenal 2020).

Sowohl Freiheit im Verständnis von Ralf Dahrendorf als auch Kontingenz hat Diversität zur Voraussetzung. Freiheit umfasst eine möglichst große Vielfalt an Optionen, aus denen die handelnde Person auswählen kann – unter Berücksichtigung von freiwillig für sich als relevant und gültig verstandenen Ligaturen (s. hierzu ausführlicher: Kühne et al. 2023; Kühne und Koegst 2023). Wird die Diversität der Optionen eingeschränkt – etwa unter dem Druck von moralisch als allgemeinverbindlich erklärter Ligaturen – schwindet Freiheit. Auch ist Kontingenz an Diversität gebunden: Ohne eine Vielfalt an Perspektiven ist keine kontingente Weltdeutung möglich, unter denen ein Wettbewerb um Tauglichkeit stattfinden kann (Rorty 1991). Diversität, die nicht zuletzt auch aus Hybridbildungen entsteht, sieht sich stets von dem Streben nach Komplexitätsminderung, etwa durch das Durchsetzen zweiwertiger Logiken, eines klaren Entweder-oder, konfrontiert.

Aufgrund des in diesem Abschnitt Dargestellten wird deutlich, dass eine neopragmatische Konzeption von Datenkulturen diese stets als kontingent und auf die Maximierung von Diversität ausgerichtet auffasst. Daten sind entsprechend nicht nur – im rein positivistischen Verständnis – als Speichereinheiten der Realität gefasst, sondern als Angebote zur kontingenten Deutung von Welt. Dabei wird deutlich, dass Daten keinen Spiegel der Welt darstellen, sondern ihre Wurzeln in der Alltagssprache aufweisen und somit keinen Anspruch auf Abbildung der Realität haben (allmeiner hierzu: Putnam 1990). Gütekriterium wird stattdessen ihre Tauglichkeit zu kontingenten Redeskriptionen.

5 Die Entwicklung und Verfügbarkeit raumbezogener Daten: ein Vorschlag zu drei Paradigmen

Bevor, auf der Grundlage des Vorausgehenden, eine Synthese von Kulturverständnis und Geodatenressourcen abgeleitet wird, thematisiert dieser Abschnitt die Entwicklung zur Verfügbarmachung von Geodaten und neuen Emergenzen, die daraus entstehen. Die hier vorgestellten und diskutierten definierten Paradigmen der Geodatenverfügbarkeit orientieren sich an der Perspektive der Nutzerinnen und Nutzer:

Anfänge der Erfassung von raumbezogenen Daten und Informationen zur Erstellung früher Kartenwerke sind in der deutschen Kartographie- und Geodäsietradition mit der Preußischen Uraufnahme (1830–1865) verbunden. Die damalige Durchführung von Vermessungsarbeiten, mit anschließender Erstellung behördlich organisierter (topographischer) Kartenwerke, entspricht dem bis heute fortgesetzten und gesetzlich festgehaltenen Ansatz der Topographie als staatliche Aufgabe. Auch wenn einige privatwirtschaftliche Akteure mit der Vermessung und Kartographie eigene Geodaten erhoben, entstanden sie bis zu den 1980er Jahren fast ausschließlich durch staatliche Organisation. Ausbildung oder Studium, mit anschließendem Beruf, waren Voraussetzung für den reglementierten Beteiligungsprozess an Geodatenerfassung und -verarbeitung. Analoge Prozesse bestimmten das Geodatenmanagement, bis hin zur Veröffentlichung kartographischer Werke. Diese ca. 150 Jahre der analogen und weitgehend verstaatlichten Geodatenverfügbarkeit repräsentierte für die Nutzerinnen und Nutzer ein Paradigma einer Geodatenkultur der Abhängigkeit (ca. 1830–1980).

Eine grundlegende Veränderung dieses Paradigmas kann zeitlich in den 1980er Jahren verortet werden: Die 1980er stehen im Zeichen einer Demokratisierung von Technik. Damit verbunden war insbesondere die Verbreitung des Personal Computer. Die Computierisierung des Arbeitsmarktes und die Etablierung der Computer als Massenhardware (auch im privaten Bereich) erweiterte die analoge Mediengestaltung grundlegend. In der Kartographie und den Geoinformationswissenschaften führten u. a. Computer-Hardware, Grafik- bzw. Animationssoftware sowie fortschreitende Entwicklungen von Geographischen Informationssystemen (GIS) zu neuen (und zunehmend digitalen) Formen kartographischer Medien (Müller et al. 2001). Auch das staatliche Geodatenmanagement konnte durch neue Hardware- und Software-Möglichkeiten in neuen digitalen Geodateninfrastrukturen organisiert werden (vgl. Harbeck 1995, 2000; Frevel 1997). Entsprechend gaben technologische Innovationen neue Impulse, auf individuelle Bedarfe bei der Verwendung von Geodaten und kartographischen Medien einzugehen.

Die zunehmende – und technologisch unterstützte – Einkehr von Individualbedarfen an die Kartographie und den eingesetzten Geodaten veränderte ab den 1980er Jahren auch die Kommunikation dazu. Anfänge der Digitalisierung erleichterten den Austausch, vereinfachten Teilhabe und unterstützten eine kritischere Auseinandersetzung mit kartographischen Medien sowie ihren Daten und Entstehungs- bzw. Gestaltungsprozessen. Durch die kritische Kartographie konnte das technologiedominante und institutionalisierte Verständnis von Kartographie hinterfragt und ein Verständnis von Kartographie zur Schaffung von Ausdrucksformen sozialer Wirklichkeiten, auch unter Einbindung partizipativer Ansätze, etabliert werden (Harley 1992; Crampton 2010). Partizipation bezog sich dabei keineswegs auf die ausschließliche Einbindung von Expertinnen und Experten, sondern öffnete die Teilhabe für alle am Prozess Interessierten (Wood und Krygier 2009). Ab Mitte der 2000er Jahre, insbesondere durch Impulse des Projekts OpenStreetMap (OSM) erhielt Partizipation (mit Impulsen zur Stärkung von Interdisziplinarität) eine weitere Dimension. Geodatenerfassung – in Form von Volunteered Geographic Information (VGI) – erweitert die (meist) flächendeckende Verfügbarkeit von aktuellen Geodaten, einschließlich neuer Potenziale durch die hinterlegten (und nicht staatlich reglementierten) semantischen Attribute. Dadurch können auch „außergewöhnliche Informationen wie subjektive oder emotionale Eindrücke erfasst werden“ (Schiewe 2022, S. 87). Dies schuf wiederum neue Möglichkeiten zur Beantwortung analytischer (raumbezogener) Problemstellungen und für die kartographische Ergebnispräsentation. Zudem gab die Schaffung einer offenen und frei verfügbaren Weltkarte – zumindest indirekt – Impulse, dass amtliche Geodaten zunehmend offen und unter unkomplizierteren Lizenzbedingungen (z. B. Open-by-Default-Prinzip) bereitgestellt werden. Dabei stehen VGI-Ressourcen auch für den Wandel von konsumierten (institutionalisierten) Geodaten durch die Nutzerinnen und Nutzer, hin zu von Nutzerinnen und Nutzern konsumierten und produzierten Geodaten (prosumierte Geodaten). Zunehmende Geodatenverfügbarkeit seit den 1980er Jahren repräsentierte für die Nutzerinnen und Nutzer ein Paradigma einer Geodatenkultur der Teilhabe (ca. 1980–2020), das durch aktuelle Entwicklungen in einem weiteren Paradigma weiter ausdifferenziert werden kann.

Die in diesem Aufsatz getätigte Beschreibung der Paradigmen zur Entwicklung und Verfügbarkeit raumbezogener Daten basiert auf der Setzung, dass in diesem Kontext – nach einer etwa 150-jährigen Zeit der analogen Geodatenerfassung – Digitalisierung zwischen ihren Anfängen (Etablierung des Computers als Massenmedium) und ihrer Weiterentwicklung differenziert wird. Ab Mitte der 2010er Jahre – mit Effekten zum neuen Jahrzehnt – führen weitere digitale technologische Entwicklungen und auch datenpolitische Entscheidungen zu einer Steigerung der Individualisierung und Diversifizierung von Geodatenressourcen.

Auf technologischer Ebene ist die engere Bindung des Computer Gaming an die Kartographie und Geoinformationswissenschaften als grundlegende Entwicklung hervorzuheben. Durch die freie Bereitstellung ehemals proprietär genutzter Software, v. a. Game Engines, bestehen neue Optionen Daten – von einzelnen 2D- und 3D-Objekten mit direktem oder indirektem Raumbezug, bis hin zu virtuellen Landschaften (einschließlich Klanglandschaft, s. bspw. Hruby 2019; Tschirschwitz et al. 2019; Johnston et al. 2020; Keil et al. 2023) – zu erstellen. Diese dienen insbesondere zur 3D-Kartographie in (immersiver) Virtual Reality (VR) und Augmented Reality (AR). Über die Entwicklung dieser Geodaten hinaus kann über etablierte Kommunikations- und Austauschplattformen im Web die Verbreitung erhöht werden, wodurch auch die Teilhabeoptionen verändert werden können. Dadurch entsteht über staatlich gesteuerte Geodatenangebote und (früh) etablierte VGI-Plattformen (s. oben) hinaus ein weiterer Pool an Geodaten, verstärkt angetrieben aus Freizeitinteresse und mit hohem Kreativpotenzial – und ohne gesetzlichen Auftrag. Das Produzieren der Daten wird dabei v. a. durch Gaming-affine Freiwillige ausgeführt, was sich von der Teilhabe im früheren Verständnis deutlich unterscheidet. Wir möchten vorschlagen, diese spezifische Ausprägung an VGI als Gaming-related Volunteered Geographic Information (GVGI) zu bezeichnen.

Das Interesse an Gaming und den entstehenden raumbezogenen Daten wird auch durch die Etablierung von webbasierten Datenaustauschplattformen (Marketplaces) sichtbar. Hier haben die User die Möglichkeit, entsprechende Daten zu erwerben (kostenfrei, auch kommerziell), anzubieten, darüber zu kommunizieren und sich für eigene Projekte zu organisieren.

Über diese Entwicklungen hinaus entstehen Webtechnologie-basierte Programmierlösungen, die z. B. kartographische Medien nicht mehr als geschlossene Einheiten betrachten, sondern die Verknüpfung von webbasierten (Geo-)Datenressourcen ermöglichen. Als Beispiel kann die weltweit etablierte JavaScript-Library leaflet.js genannt werden, die Funktionen für webkartographische Anwendungen anbietet und zudem auf den kombinierten Möglichkeiten von HTML, CSS und JavaScript aufbaut. Die webkartographischen Anwendungen werden aus Code-Bausteinen generiert, die lokal gespeicherte oder in Webressourcen befindliche Geodaten verknüpfen (s. bspw. Edler und Vetter 2019; Horbiński und Lorek 2022). Dieser Ansatz basiert auf Simplicity, was ansprechende Web-Kartographie auch Nichtexpertinnen und -experten – wie auch zunehmend in der empirischen Kartographie berücksichtigt (s. bspw. Medyńska-Gulij und Zagata 2020) – ermöglicht. Kartographie umfasst dabei die Schaffung codebasierter Datenscheiben, die Ressourcen verknüpfen und synthetisieren, bevor in weiteren Schritten Standards der kartographischen Gestaltung angewandt werden.

Darüber hinaus sei betont, dass die Diversifizierung der Geodaten und ihrer Verfügbarkeit, mit Potenzialen für raumbezogene analytische und Darstellungsansätze, nicht allein auf technologischen Entwicklungen und deren Einsatz im Gaming beruht. Auch amtliche Geodatensätze, von Geobasisdaten bis hin zu sehr spezifischen kommunalen Geofachdatenbeständen, finden zunehmend Einkehr in Open-Data-Angebote. Politische Steuerungsmechanismen zu Open-Initiativen, ebenso wie fortlaufende VGI-Projekte, sind grundlegende Beiträge zur Diversifizierung des Angebots an Geodaten. In der Vergangenheit, v. a. durch die kritische Kartographie, geübte Kritik an Machtstrukturen durch staatliche Steuerung des Geoinformationswesens und der Kartographie wird durch die zunehmende Freigabe der Daten aufgeweicht. Durch vielfältigere Geodatenressourcen werden Lebenschancen (vgl. Dahrendorf 1979) unterstützt, was für einen Wandel von einer kritischen zu einer postkritischen Kartographie spricht (vgl. Edler und Kühne 2022b; Kühne 2021). Diese Diversifizierung der Geodatenverfügbarkeit führt zu einem Paradigma einer Geodatenkultur der Diversität (seit ca. 2020).

Die im Vorausgehenden diskutierten drei Paradigmen einer Geodatenkultur sind in Abb. 1 zusammengefasst. Die Erschließung der Potenziale umfasst das Handling der Geodaten, einschließlich vielfältiger Formate und Verarbeitungsoptionen. Im folgenden Kapitel soll an Beispielen aus VR- und AR-Anwendungen verdeutlicht werden, wie die vielfältigen Möglichkeiten in geographisch-relevanten Beispielen synthetisiert werden.

Abb. 1
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Paradigmen der Geodatenkultur. (Abbildung: Dennis Edler)

6 Neue Emergenzen: Virtual und Augmented Reality und die Notwendigkeit eines synthetischen Verständnisses in einer Geodatenkultur der Diversität

Die Schaffung virtueller 3D-Landschaften bietet große Potenziale, verschiedene Geodatenressourcen zur Vermittlung raumbezogener Sachverhalte zu integrieren und synthetisieren. Maßstabvariabilität, bedingt durch die Position des virtuellen Egos des Users (Avatar), erfordert sowohl Detailgenauigkeit (bei großen Maßstäben, wie bspw. Fußgängernavigation) als auch großflächige Informationsdichte (bei kleinen Maßstäben, wie bspw. Überflügen). Hinzu kommt die zeitliche Ebene, die – teilweise positionsabhängige – Interaktionen und (audiovisuelle) Animationen erfordert. Aus semantischer Sicht kommt die Herausforderung hinzu, bestehenden Sachinformationen einzelner Datensätze so zu verarbeiten, dass das 3D-Gesamtkonstrukt im Sinne des Themas Daten und Informationen abrufbar macht.

Das Beispiel in Abb. 2 zeigt eine VR-Umgebung eines Raumausschnitts der „Solarstadt“ Gelsenkirchen. Ziel der Anwendung ist die Vermittlung von gebäudespezifischen Solarkatasterdaten, bei gleichzeitiger Einbindung grundlegender Topographie (Straßen, Grünflächen und Baumstandorte) und der 3D-Gebäudemodelle, einschließlich ihrer Dächer und Ausrichtungen. Einzelne 3D-Gebäude können vom User nicht nur in 3D betrachtet werden, sondern auch ausgewählt werden, um Solarkatasterdaten abzurufen (Abb. 2) und Dächer mit Photovoltaik-Optionen individuell auszugestalten (Abb. 3). Daraus können energetische Fragen einzelner Immobilien analysiert und ein photorealistischer Gesamteindruck der Gebäude in Gegenwart und Zukunft gewonnen werden. Das Beispiel verknüpft verschiedene amtliche Geodatenressourcen aus Nordrhein-Westfalen (3D-Gebäudemodelle, ATKIS-Daten, ALKIS-Daten und Solarkatasterdaten) mit 3D-Assets, die aus der Gaming-Community zur Spiele-Engine Unreal Engine entstanden sind (Bäume, Straßentexturen, Photovoltaik-Module). Die Datensätze existieren als solitäre Angebote zum Download; der Mehrwert entsteht durch die Integration und Synthese in der Game-Engine.

Abb. 2
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Abruf von Solarenergiepotenzialen aus Solarkatasterdaten in einer VR-Anwendungen (basierend auf Unreal Engine) zu Gelsenkirchen. (Abbildung: Christopher Galla)

Abb. 3
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Eingerichtete Drag-and-Drop-Funktionalität und entsprechendes Kontextmenü zur virtuellen Installation von Photovoltaik-Modulen auf Hausdächern in VR. (Abbildung: Christopher Galla)

Ein Beispiel einer VR-Umgebungen, in der Gaming-basierte Geodaten eine höhere Bedeutung haben, zeigt Abb. 4. Ziel dieser Anwendung ist die (Endlos-)Simulation eines innerstädtischen Verkehrssystems, das verschiedene Mobilitätsformen (Fußgänger, Fahrradfahrer, motorisierter Individualverkehr, ÖPNV) und deren Verhalten zusammenbringt und lauffähig hält. Hinzu kommt der User, dessen Avatar verschiedene Mobilitätsansätze annehmen kann (Fußgänger aus Erwachsenenperspektive, Fußgänger aus Kindperspektive, Rollstuhlfahrer) und durch die entsprechende Fortbewegung Interaktion der durch KI gesteuerten Verkehrsteilnehmer erfordert – ohne Systemfehler mit Unfallfolge.

Abb. 4
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Interaktives innerstädtisches Verkehrssystem in VR (basierend auf Unity). (Abbildung: Marco Weißmann)

Neben der Interaktions- und Animationslogik basiert das Verkehrssystem ausschließlich auf Objekten, die für VR-Anwendungen erstellt wurden. Hinzu kommen 3D-Gebäudemodelle, die auf amtlichen 3D-Gebäudemodellen des Kölner Stadtgebiets aufbauen. Diese Geodatensynthese ermöglicht interaktionsorientierte Dynamik, bei gleichzeitig hochrealistischem Eindruck zu einer Kreuzungssituation in einer mitteleuropäischen Innenstadt (Abb. 5).

Abb. 5
figure 5

Bewusst verursachte Massenkarambolage in VR (basierend auf Unity). (Abbildung: Marco Weißmann)

Anders als in VR-Umgebungen, die ausschließlich durch virtuelle Objekte erzeugt werden, basieren Applikationen in Augmented Reality auf der physisch-materiellen Landschaft. Diese wird über ein projektionsfähiges mobiles Endgerät oder Headset (vgl. Dickmann et al. 2021; Keil et al. 2020; Stylianidis et al. 2020) virtuell und raumbezogen erweitert. Dabei können virtuelle 3D-Modelle in die Landschaft positioniert werden, was bspw. die Visualisierung von Zukunftsszenarien ermöglicht. Abb. 6 gibt ein Beispiel einer App-basierten AR-Visualisierung. Die App dient der Unterstützung partizipativer Ansätze in der Stadtplanung in Essen-Borbeck. Auf Quartiersebene können Vorschläge zu kleinräumigen Veränderungen dargestellt werden. Neben eigens visualisierten 3D-Modellen sind die Integration weiterer Geodatenressourcen (z. B. Landmarken aus dem amtlichen 3D-Stadtmodell oder 3D-Objekte, die für das Gaming aufwendig gestaltet wurden) in AR-Szenarien denkbar, um raumbezogene Szenarien zu visualisieren.

Abb. 6:
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Ein Blick in eine AR-App für Essen-Borbeck: Büchertauschbörse als kleinräumige Veränderung auf Quartiersebene. (Abbildung: Luca Zilt)

7 Schlussbetrachtung: Geodatenkultur – eine Synthese aus kulturbezogenen Reflexionen und der vielfältigen Entwicklung von Geodatenressourcen

Das in diesem Aufsatz ausgearbeitete Verständnis einer Geodatenkultur und dessen Paradigmen, von einer Geodatenkultur der Abhängigkeit, über eine Geodatenkultur der Teilhabe, bis hin zu einer jungen Geodatenkultur der Diversität, stehen in enger Verbindung mit Ligaturen. Diese lassen sich als Transmissionsmechanismus von Werten und Normen als Kultur zum Individuum (vermittelt durch das Soziale) verstehen. Ligaturen begrenzen einerseits Optionen. Andererseits geben sie ihnen auch erst Sinn. Insofern können sie funktional wie auch dysfunktional wirken:

Wird moralischen Ligaturen ohne Reflexion gefolgt, schränken sie die Diversität der Optionen ein. Freiheit wird entsprechend begrenzt. So wirken sie dysfunktional. Wird aber im Sinne einer Meta-Perspektive die Diversität der Ligaturen anerkannt und ist das eigene Befolgen von Ligaturen das Ergebnis eines abwägenden Reflexionsprozesses, sind sie in der Lage, funktional zu wirken.

In Bezug auf Geodaten bedeutet dies: Geodatenkulturen lassen sich anhand von Ligaturen in besonderer Weise untersuchen. Sie verraten häufig explizit, bisweilen implizit, wie Geodaten erfasst, verwaltet, analysiert und präsentiert sowie verbreitet werden können. Ligaturen indizieren so Normen und Werte des Umgangs mit Geodaten, wie sie kulturell gebunden sind, dort aber nicht offensichtlich zutage treten. Die Befassung mit Ligaturen im Kontext von Datenkulturen kann also auf unterschiedliche Art erfolgen: Erstens lässt sich die Ligaturenhaftigkeit kartographischer Konventionen untersuchen. Zweitens lassen sich die so zutage geförderten Ligaturen einer kritischen Prüfung unterziehen. Beides hat die kritische Kartographie vollzogen. Doch anstatt aus dieser kritischen Hinterfragung die Tauglichkeit von Ligaturen zu prüfen, um Optionen – und damit Diversität und Kontingenz – zu maximieren, hat sie selbst neue Ligaturen formuliert. Diese wiederum stützen sich nicht auf die Frage, ob taugliche Weltsichten generiert werden, sondern – dem klassischen Prinzip von Ligaturen folgend – auf Moral. Auch wenn unser Ansatz auf ligaturengestützten Konventionen basiert, die die Dekonstruktion nicht hinterfragen, ziehen wir den Schluss, Ligaturen der Kartographie anhand des Kriteriums ihrer Tauglichkeit zu prüfen – also ob sie funktional oder sogar metafunktional wirken.

Wie mit Ralf Dahrendorf begründet, entsteht Freiheit in der Vielfalt der Optionen und der Möglichkeit, unter diesen wählen zu können. Beides ist an Diversität gekoppelt, schließlich hat diese Wahl eine strukturelle und funktionale Dimension. Es geht nicht allein um die strukturelle Dimension der Vielfalt der Optionen, sondern darum, funktional in die Lage versetzt zu sein, auch verantwortungsvoll unter diesen wählen zu können. Diese Fähigkeit zur Verantwortung wiederum entsteht aus der Reflexion von Ligaturen, nicht in deren Einschränkung durch neue, für allgemeinverbindlich erklärte moralische Ligaturen. Insofern ist eine an der Darstellung und Erzeugung von Kontingenz ausgerichtete Kartographie – im neopragmatischen Sinne – konstitutiv an den Erhalt und den Ausbau von Diversität gebunden. In diesem Sinne verstandene Geodatenkulturen sind nicht auf die Konstruktion von Eindeutigkeiten oder Wesenhaftigkeiten ausgerichtet, sondern durch Hybriditäten und durch stete Veränderungen gekennzeichnet. Sie sind immer vorläufig, und ihre Ausrichtung auf Tauglichkeit bedeutet auch immer, dass sie bereit sind, sich in neuen Redeskription von Welt einweben zu lassen.

Die schließt ebenso ein, dass eine moderne Geodatenkultur auch durch Akteursvielfalt geprägt ist. Diese Akteure mögen, ihrem Interesse entsprechend, andere Vorstellungen und Normen in der Verarbeitung und Verbreitung von Geodaten vertreten: Amtliche geodatenhaltende Stellen verfolgen bspw. andere, in normative und professionelle Grundsätze gefasste Ziele als Hobby-Gamer und -Modellierer. Dennoch tragen alle dazu bei, eine Geodatenkultur der Diversität mitzugestalten. Die Aufgabe der Kartographie und Geoinformationswissenschaften liegt aktuell und in Zukunft darin, diesen wachsenden Pool an Optionen in seiner Vielfalt auszuschöpfen und dabei Geodaten aus unterschiedlichen Ressourcen zu synthetisieren. Bei allen Partizipationsmöglichkeiten sollte weiterhin die Qualität der entstehenden kartographischen Medien im Vordergrund stehen, was die Diskussion zur Schaffung zusätzlicher Qualitätssicherungsmechanismen weiter anregen sollte.