Frühe topographische Kartenwerke können eine wichtige Quelle für die kulturgeographische Analyse von Landschaften zu verschiedenen Zeiträumen bilden. Sie enthalten zahlreiche landschaftliche Informationen, die nicht nur einen Vergleich der heutigen Situation mit der Hochindustrialisierungsphase sondern auch mit dem vorindustriellen Zustand ermöglichen. Erste Detailstudien zu frühen topographischen Karten haben das Potenzial bereits deutlich gemacht, die solche historischen Darstellungen in landeskundlicher bzw. in kulturräumlicher Hinsicht besitzen (Lorek und Medyńska-Gulij 2019; Lorek 2010; Nilson und Lehmkuhl 2007; Römermann 2004). So lassen sich Transformationsprozesse seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts detailreich nachzeichnen und z.T. auch quantifizieren. Dazu zählen vor allem die Verstädterung in den Montangebieten, der Rückgang von Heide- und Brachflächen auf der einen Seite, aber auch großräumige Aufforstungsmaßnahmen auf der anderen Seite.
Die Auswertung multitemporaler Karteninformationen unterstützt die Rekonstruktion von historischen Zuständen der Kulturlandschaft in ihrer gesamten Komplexität von Gelände, Siedlungen, Verkehrswegen und Bodennutzung (Stams 2001) und schafft Voraussetzungen zur Aufarbeitung der kulturlandschaftlichen Entwicklung einer Region. Im Gegensatz zu nur isoliert und dispers über den Raum vorhandenen baulichen Artefakten, Bildmaterialien, Archivalien oder sonstigen Textquellen, bildet das Medium „Karte“ den Raum homogen ab und erzeugt aufgrund des großen Maßstabs „ein detailliertes Abbild der Wirklichkeit“ (Stams 1968, S.235). Topographische Karten erfassen die Erdoberfläche infolge kartographischer (klassifizierter) Erfassungskriterien und Normierungen in einer gleichbleibenden Informationsdichte. Dadurch sind nicht nur qualitative, sondern mit Hilfe der Analyse-Werkzeuge Geographischer Informationssysteme auch quantitative Aussagen über räumliche Veränderungen möglich (Wielebski und Medyńska-Gulij 2019). Der dadurch entstehende Eindruck der kulturräumlichen Situation zu einem Zeitraum des frühen 19. Jahrhunderts erlaubt es, nicht nur ehemalige Landschaftstypen zu identifizieren, sondern die heutige räumliche Situation vor dem historischen Zustand zu bewerten und Konzepte für den künftigen Umgang der Landschaft zu entwickeln (Walz und Schumacher 2011).
Historische topographische Kartenwerke können in der Aufarbeitung der landschaftlichen Entwicklung eine Schlüsselfunktion einnehmen, da sie die landschaftliche Situation zu verschiedenen Zeitpunkten oder -räumen wiedergeben (Crom 2016a, Walz und Schumacher 2011; Medyńska-Gulij und Lorek 2008). Die Blätter der heutigen Kartenwerke unterscheiden sich hinsichtlich der mathematisch-geodätischen Grundlagen zwar von denen der älteren Karten (s. Abb. 1), doch sind die Abweichungen für kulturgeographische Vergleiche kaum relevant. Topographische Karten verfügen zudem über einen großen Umfang deckungsgleicher Rauminformationen, selbst wenn sie aus verschiedenen Zeitperioden stammen und mit unterschiedlicher Technologie erstellt wurden. Daher stellen sie grundsätzlich eine geeignete Quelle zur Untersuchung der Veränderung der Flächennutzung, des Straßennetzes oder der Siedlungsstruktur dar. Voraussetzung ist jedoch die fachwissenschaftliche Berücksichtigung der unterschiedlichen Legendenklassifikationen (Qualitäten), Raumbezugssysteme (Quantitäten), Gestaltungsformen (Graphik) und gesellschaftlichen Entstehungskontexte (Zeit). Vor einer inhaltlichen Auswertung müssen daher entsprechende Anpassungen vorgenommen werden, um vergleichbare Übereinstimmungen des dargestellten Inhalts zu erzielen. Das heißt, in thematischer Hinsicht ist zum Beispiel zu klären, was in einem frühen Kartenwerk exakt unter dem in der Zeichenerklärung genannten Begriff „Wald“verstanden wird. Darüber hinaus ist in geometrischer Hinsicht wiederum zu gewährleisten, dass Lage und Größe von Waldflächen zwischen den zeitlich unterschiedlich anzusetzenden Kartenwerken vergleichbar sind (ausführlicher bei Lorek et al. 2018, S.8 f.).
Kartengrundlagen
Die wichtigsten Quellenmaterialien für die systematische Untersuchung der kulturlandschaftlichen Entwicklung sind topographische Kartenwerke, die drei Zustände der räumlichen Ordnung seit den 1820er Jahren bis heute widerspiegeln:
- (a)
die frühe preußische topographische Landeskarte im Maßstab 1:25.000, die später sogenannten „Urmesstischblätter“ mit dem Zustand des topographischen Raumes der späten 1820er Jahre für den westlichen und zentralen Teil des Oberschlesischen Industriegebietes (16 Blätter) und für das Ruhrgebiet der 1830er und 1840er Jahre (20 Blätter);
- (b)
die nachfolgende preußische topographische Neuaufnahme im Maßstab 1:25.000 („Messtischblätter“), die den Zustand des topographischen Raumes in den 1880er Jahren wiedergibt;
- (c)
das aktuelle deutsche topographische Landeskartenwerk (Digitale Topographische Karte 1:50.000, DTK 50) mit dem Stand um 2015 sowie die polnische topographische Landeskarte im Koordinatensystem (WGS-84) für das oberschlesische Industriegebiet (Metropolregion GOP) im Maßstab 1:50.000 mit dem Stand von 2011.
Der Vorteil auch älterer Landeskartenwerke liegt in der hohen Vergleichbarkeit der einzelnen Blätter untereinander, da für ihre Herstellung eine weitgehend einheitliche Legende genutzt wurde. Karteninformationen eines Kartenblatts aus Oberschlesien wurden nach den gleichen Regeln mit Hilfe von Kartenzeichen kodiert wie die aus dem Ruhrgebiet. Dies verdeutlicht die Abb. 2, in der die Ausschnitte der Urmesstischblätter der heutigen Stadt Bytom (ehem. Beuthen) im Oberschlesischen Industrierevier und der Ruhrgebietsstadt Bochum aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wiedergegeben werden.
Aufgrund dieser Karten- bzw. Geodatenbestände, die flächendeckend zur Verfügung stehen, können für eine kulturgeographische Auswertung folgende Zeiträume analysiert werden (vgl.a. Kleinn 1977):
Vorindustrielle Phase Beginn des 19. Jh. (ca. 1822–50)
Hochindustrielle Phase Ende 19. Jh. (ca. 1890)
Alt- bzw. postindustrielle Phase (Gegenwart)
Zur Zeit der ersten genaueren kartographischen Erfassung des preußischen Staats ab 1822 standen weite Gebiete des heutigen Polens unter preußischer Herrschaft. Sie wurden folglich in die frühe Form der topographischen Landesaufnahme einbezogen, die den gesamten damaligen Staat Preußen umfasste. Unter der Leitung des damaligen preußischen Generalstabschefs, Karl von Müffling, wurden für die flächendeckende topographische Erfassung und Kartierung des Geländes umfassende Messtisch-Aufnahmen durchgeführt, mit denen rund 2000 Kartenblätter erstellt wurden (Schroeder-Hohenwarth 1958). Die Kartenherstellung stützte sich auf ein vergleichsweise grobes Netz von Triangulationspunkten. Als Nullmeridian der geographischen Koordinaten diente dabei noch die kanarische Insel Ferro (heute El Hierro). Heute steht ein grenzübergreifendes und vergleichsweise exaktes historisches Kartenwerk zu Verfügung, das den Landschaftszustand noch weitgehend vor dem Beginn der Industrialisierung dokumentiert (Klemp 2000) (Abb. 3, 4).
Bis zur Wiedervereinigung Deutschlands wurden die „Urmesstischblätter“ an verschiedenen Stellen in West- und Ostdeutschland gelagert. Eine intensivere wissenschaftliche Aufarbeitung war daher nur sehr begrenzt möglich. Umgekehrt bestand auch für polnische Nutzer keine Zugriffsmöglichkeit auf das vollständige Kartenwerk. Bei den einzelnen Blättern des über 2000 Exemplare umfassenden Gesamtbestands, der zwischen 1822 und 1850 erstellt wurde, handelt es sich um handgezeichnete und mit Wasserfarben kolorierte Unikate, die zunächst ausschließlich militärischen Zwecken dienten und nicht zur Veröffentlichung vorgesehen waren. Wie damals in ganz Europa üblich (Medyńska-Gulij und Zuchowski 2018), sollten sie lediglich als Grundlage für die Erstellung eines kleinmaßstäbigeren Kartenwerks dienen (Kleinn 1977; vgl. a. Zögner und Zögner 1981; Schroeder-Hohenwarth 1958).
Erst seit der politischen Wende zu Beginn der 1990er Jahre besteht uneingeschränkter Zugriff auf die kolorierten Originalkarten der Urmesstischblätter (s. Abb. 1 bis 4). Vor der Übertragung an die Stiftung Preußischer Kulturbesitz standen die Kartenblätter nur in begrenztem Umfang und zudem lediglich als Schwarz-Weiß-Kopien für Nutzer aus dem Westen zur Verfügung (Kleinn 1977; Kraus 1969; Engelmann 1968). Heute befinden sie sich in der Staatsbibliothek Berlin und werden seit den 1990er Jahren nach und nach auch farbig reproduziert. Für die Bearbeitung konnten auf hochauflösende Kartenvorlagen des Fachinformationsdienstes Kartographie und Geobasisdaten der Kartenabteilung der Staatsbibliothek Berlin (Crom 2016b) zurückgegriffen werden sowie auf die jüngsten (digitalen) topographischen Karten aus Nordrhein-Westfalen und Oberschlesien.
Während vergleichbare frühe topographische Kartenwerke, etwa Tranchot/von Müffling-Karten für die preußische Rheinprovinz (Rheinland) bereits Gegenstand quellenkritischer Analysen und Dokumentationen (insbesondere von Müller-Miny 1975, 1980 und Schmidt 1973) und intensiverer kultur- und siedlungsgeschichtlicher Auswertungen (Kuphal 1930) oder auch physischgeographischer Analysen (Nilson und Lehmkuhl 2007; Nilson 2006; Römermann 2004) waren, wurde der Gesamtbestand der frühen preußischen topographischen Karten bisher kaum inhaltlich ausgewertet. Exakte Untersuchungen finden sich oft nur zu einzelnen Kartenblättern (Kleinn 1976), nicht jedoch zu themenfokussierten Auswertungen, z.B. zur quantitativen Erfassung des kultur- und sozialräumlichen Wandels ganzer Regionen. Insbesondere die topographischen Karten der preußischen Uraufnahme, die sogenannten „Urmesstischblätter“, aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts stellen ein Kartenarchiv dar, das bisher vergleichsweise wenig in kartographischer Hinsicht untersucht oder unter kulturgeographischen Aspekten ausgewertet wurde (Konias 2010; Engelmann 1968). Erst in jüngerer Zeit rücken die preußischen Urmesstischblätter stärker in das Blickfeld kartographischer Forschung (Lorek et al. 2018; Lorek 2011).
Aufbereitung historischer Karten
Von großem Vorteil für die wissenschaftliche Auswertung sind der große Maßstab (1:25 000) und die vergleichsweise hohe geometrische Exaktheit, die die frühen preußischen Karten bereits kennzeichnen. Dennoch sind für eine vergleichende Auswertung, die sich auf das zentrale Ruhrgebiet bzw. das westliche und mittlere Oberschlesische Industriegebiet konzentriert, umfangreiche Digitalisierungsarbeiten wie Georeferenzierungen, Vektorisierungen und Generalisierungen notwendig, um Kartenschichten übereinander anordnen und somit auch quantitative Vergleiche zwischen historischen und heutigen Landschaftssituationen vornehmen zu können (Abb. 5 und 6) (vgl. a. Schröder 2013).
Die inhaltliche Auswertung erfolgte quellenimmanent, d.h. nach thematischen Kriterien, die sich aus dem topographischen Inhalt der ausgewerteten Karten unmittelbar erschließen lassen, insbesondere Angaben zur Flächennutzung, Verkehrsstruktur und Bebauung. Um eine gemeinsame Legende für die Referenzkarten zu erstellen, wurden Legendenzeichen der verwendeten Unterlagenkarten zusammengeführt. Die Urmesstischblätter mit den ältesten Informationen (Mindestinformationen) bildeten die Grundlage für die Entwicklung einer zeitphasenübergreifenden Legende. Charakteristische Elemente—wie etwa Straßenverläufe des Landschaftszustandes aus der Zeit um 1830—wurden dazu jeweils auf den Karten in den beiden folgenden Zeitschnitten 1890 und 2015 identifiziert. Die Unterscheidung mehrerer Straßentypen ermöglichte es beispielsweise, bereits auf den Urmesstischblättern eine Kategorisierung der Straßen vorzunehmen
Die verbesserten Aufnahme- und Vervielfältigungstechniken in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts führten dazu, dass die Messtischblätter der preußischen Neuaufnahme wesentlich filigraner ausgeführte Kartengraphik enthalten konnten. Auch aufgrund des größeren Aufnahmeaufwandes, der nun betrieben werden konnte, sind deutlich mehr topographische Klein-Elemente enthalten als in den handgezeichneten Urmesstischblättern (Abb. 1). Diese abbildungsbedingte Differenz im Informationsangebot führt dazu, dass sich quantitative Vergleiche auf Objektgruppen wie Siedlungs- und Waldflächen oder auch auf größere Straßen- und Gewässerlinien beschränken müssen. Die Abfolge der Vektorisierungs- und Generalisierungsschritte der topographischen Linien- und Flächenelemente erfolgte zeitlich rückschreitend und aufgrund der heute für die polnische Region zur Verfügung stehenden topographischen Karten im Maßstab 1:50.000. Beginnend mit den heutigen Kartenwerken erfolgte also zunächst ein Abgleich mit den Messtischblättern der preußischen Neuaufnahme, anschließend mit den älteren Urmesstischblättern. Im Mittelpunkt stand die Erstellung einer Referenzkarte, die über gleiche kartographische Eigenschaften und topographische Inhalte für das deutsche und das polnische Gebiet verfügt (Abb. 7). Sie bildet die Basis, auf der räumliche Vergleiche der Kulturlandschaft zwischen 1830, 1890 und 2015 vorgenommen werden können.
Insgesamt wurden somit für die Aufbereitung der Kartengrundlagen und für die Schaffung einer Referenzkarte mehrere Schritte notwendig (nach Lorek et al. 2018):
Integration von „Urmesstischblättern“und „Messtischblättern“(Neuaufnahme) in ein Geographisches Informationssystem;
Georeferenzierung der Einzelbätter (blattschnittfreie Zusammenstellung);
Selektion kartenwerkübergreifender topographischer Inhalte;
Konzeption einer Referenzkarte (1: 50.000);
Vektorisierung und Generalisierung ausgewählter topographischer Inhalte im Maßstab 1: 50.000 für die Erstellung einer Referenzkarte.