1 Einführung

Distanzwissen ist eine wichtige Grundlage zur Abschätzung räumlicher Entfernungen in der Navigation (Kerst et al. 1987), zur Ausprägung von Landmarken-Konfigurationen (Sadalla et al. 1980) sowie zur Bemessung der Zeit, die für die Überbrückung von Strecken zwischen zwei Objekten notwendig ist (Baum and Jonides 1979). Karten übernehmen dabei eine wichtige Rolle, konnte doch gezeigt werden, dass die Schätzung von direkten Entfernungen zwischen zwei Orten mit Hilfe von Karten besser erfolgt als durch die direkte Erfahrung in der Realität (Thorndyke and Hayes-Roth 1982). Erfolgt die Aneignung von Distanzwissen kartenbasiert, dienen Maßstabsangaben—insbesondere graphische Längenmaßstäbe (Maßstabsbalken)—als Hilfsmittel, die eine bessere Einschätzung von Distanzen zwischen Kartenobjekten ermöglichen sollen (s. bspw. Monmonier 1993: 31). Erst wenig geklärt ist die Frage, ob regelmäßige Gitterstrukturen, die einer Karte auflagert sind, bei der Schätzung von Entfernungen einen leistungsfördernden Einfluss auf das Gedächtnis ausüben. Relevant wird dies bei Distanzschätzungen zwischen zwei Orten über größere Areale einer Karte hinweg. Im Folgenden werden die Ergebnisse einer empirischen Studie zu möglichen Effekten vorgestellt, die Gitter auf die Distanzschätzung haben.

2 Kognitionsstudien zu Distanzschätzungen in Karten

Bei der kognitiven Verarbeitung von (Karten-) Grafik ist grundlegend zu berücksichtigen, dass die Wahrnehmung und Aneignung räumlicher Lageinformationen Verzerrungseffekten unterliegen kann (McNamara 1986; Tversky 1981; Stevens and Coupe 1978; s. auch Dickmann et al. 2013). Bereits in den letzten Jahrzehnten haben Kartographen, Geographen und Kognitionspsychologen der Raumkognitionsforschung einen erhöhten Stellenwert beigemessen (s. bspw. Omer 2018, Kuchinke et al. 2016; Montello 2002; Lloyd 2000). Die Bedeutung der Erforschung kognitiver Strukturen für die Kartennutzung wird in aktuellen Studien (s. bspw. Keil et al. 2019; Çöltekin et al. 2017; Dickmann et al. 2017; Šašinka et al. 2017) und Handbüchern (Griffin 2018; Montello et al. 2018) zur Kartographie regelmäßig herausgestellt.

Erkenntnisse aus der Kognitionspsychologie zeigen, dass eine Reihe (karto-)graphischer Faktoren zu Fehleinschätzungen von Distanzen auf der Karte führen können (s. Newcombe and Liben 1982, Thorndyke 1981, Kosslyn et al. 1974). Experimentelle Studien belegen beispielsweise, dass Objekte, die eine unterschiedliche Auffälligkeit (Salienz) besitzen, zu einer Beeinträchtigung der Schätzung der zwischen ihnen befindlichen Distanz führen. Die Distanz, ausgehend von einem salienten Objekt (Landmarke) hin zu einem weniger salienten Objekt, wird überschätzt (Newcombe et al. 1999). Darüber hinaus zeigt sich, dass euklidische Distanzen zwischen graphisch mit einander verbundenen Kartenobjekten, z.B. zwei mit einer Straße verbundene Orte als Folge der Wirkung von Gestaltfaktoren (der „Nähe“ bzw. der „Kontinuität“) kürzer geschätzt werden als Distanzen zwischen unverbundenen Objekten, sog. „route effect“ ( s. Klippel et al., 2004; McNamara et al. 1984).

Weitere graphische Elemente mit verzerrendem Einfluss auf Distanzwissen sind visuelle Unterbrechungen, die sich auf oder entlang einer zu schätzenden Strecke befinden. Dies können administrative Grenzverläufe sein oder auch punkt- bzw. flächenhafte Objekte, wie bspw. Städte, Straßenkreuzungen oder Landmarken, die der verkürzenden Wirkung des „route effects“ entgegenwirken und zu einer deutlichen Überschätzung führen (Thorndyke 1981, Sadalla and Magel 1980, Sadalla and Staplin 1980). Die Überschätzung von Routen nimmt mit der Anzahl der Abbiegungen, Wegekreuzungen („route segmentation“, Downs and Stea 1973) und Richtungsänderungen („route-angularity effect“, Sadalla and Magel 1980; Sadalla and Staplin 1980; Byrne 1979) zu. Liegen solche „Barrieren“ vor, werden Distanzen (Segmente) zwischen zwei (Routen-) Punkten tendenziell länger eingeschätzt (Kosslyn et al. 1974, s. auch Newcombe and Liben 1982) (s. Abb. 1). Thorndyke (1981) stellte fest, dass hohe visuelle Komplexität einer Abbildung (clutter) grundsätzlich einen Effekt auf die Länge einer Routenschätzung hat. Auch eine größere Anzahl an Objekten entlang einer Route erhöht die Länge einer Routenschätzung.

Abb. 1
figure 1

Schätzungsleistung von Distanzen in regionalisierten Kartenarealen: Tendenz zur Überschätzung: ab („route segmentation“); Tendenz zur Unterschätzung: ef („route effect“); ohne Fehlschätzung: cd und gh (eigene Darstellung; s. Text)

Im Gegensatz zu routenbasierten Distanzschätzungen scheinen diese Effekte jedoch interessanterweise nicht aufzutreten, wenn sich eine Strecke, deren Länge geschätzt werden soll, zwischen zwei graphisch unverbundenen Objekten befindet. Dies zeigt die Untersuchung von Hurts (2005) zu Distanzschätzungen zwischen zwei Orten, die unterschiedlichen Regionen angehören, jedoch nicht auf einer Route liegen. Obschon die zu schätzende Strecke in seiner Studie durch den Verlauf von (Regions-)Grenzen unterbrochen wurden, zeigte sich hier keine Verzerrung in der Distanzschätzung (Abb. 2).

Abb. 2
figure 2

Distanzschätzung zwischen graphisch unverbundenen Objekten wird in unregelmäßigen (z.B. administrative Grenzen) und regelmäßig strukturierten (aufgelagerte Gitter) Kartenarealen nicht beeinträchtigt (eigene Darstellung; s. Text)

Bestgen et al. (2017b) stellten fest, dass Fragmente aufgelagerter Gitternetzlinien, die eine Schätzstrecke kreuzen, ebenfalls keinen nachteiligen Effekt auf die Schätzung von Distanzen haben. Untersucht wurden Strecken zwischen zwei frei gelegenen Punkten in einer Karte, die nicht Teil eines Routenverlaufs waren. Distanzen, die über eine einzelne (Gitter-) Linie hinweg geschätzt werden, wiesen keine Verzerrungseffekte auf. Begründet werden die abweichenden Effekte mit einer unterschiedlichen Belastung der Arbeitskapazität des Gedächtnisses (Jansen-Osmann and Wiedenbauer 2004). Siegel and White (1975) sowie Kosslyn et al. (1974) führen die Tendenz zur Überschätzung von Routendistanzen darauf zurück, dass hier während der kognitiven Verarbeitung nicht nur perzeptive, sondern in größerem Umfang auch gedächtnisbasierte Prozesse einbezogen werden. Bei Routeninformationen müssen insgesamt mehr Informationseinheiten verarbeitet bzw. gespeichert werden (Milgram 1973 nach Jansen-Osmann and Wiedenbauer 2004, S.791). Dafür spricht, dass die kognitive Belastung umso höher wird, je mehr Bedeutung (Informationen) einem Referenzpunkt (Unterbrechung) zugewiesen werden kann, z.B. Kreuzungen mit geläufigen und leicht zu merkenden Straßennamen (Sadalla and Staplin 1980; Sadalla et al. 1979).

Dass Gedächtnisprozesse in diesem Zusammenhang eine Rolle spielen, deutet die Untersuchung von Hirtle and Jonides (1985) an. Hier sollten Probanden auf einer Karte die Distanz zwischen Orten eines städtischen Raumausschnitts schätzen, der ihnen bekannt war. Die Probanden konnten einzelne Raumelementen somit mit Bedeutungen verknüpfen und letztlich auf Vorwissen zurückgreifen. Obschon die Orte in der Karte nicht Teil einer Route waren, kam es dennoch zu Überschätzungen der Distanzen. Offensichtlich wird der Schätzvorgang durch Gedächtnisprozesse überlagert und erschwert. Die Ergebnisse von Hurts (2005) für Regionsgrenzen und jüngst Bestgen et al. (2017b) für Gitterlinienfragmente deuten darauf hin, dass bei der Schätzung von Strecken in Raumausschnitten, die den Probanden nicht bekannt sind, und die auch nicht Bestandteil einer Route sind (z.B. Luftlinienentfernungen zwischen zwei Kartenobjekten) solche gedächtnisbasierten Prozesse eine weniger starke Rolle spielen und somit nicht zu einer Überschätzung beitragen. Dies weist darauf hin, dass Distanzschätzungen auf Karten unterschiedlich beeinflusst werden, je nachdem, ob sich die Schätzung auf eine graphisch unverbundene Strecke (Luftlinie) bezieht oder auf eine Strecke, die Teil einer Route ist.

Diese Differenzierung eröffnet neue Perspektiven in der Kartengestaltung. Offensichtlich wird die Gewinnung von Distanzinformationen nicht per se verzerrt, wenn graphische Unterbrechungen entlang einer Strecke, etwa durch Überlagerung mehrerer Kartenzeichen, auftreten, deren Länge geschätzt werden soll. In kartographischer Sicht bedeutet dies, dass beim Kartenentwurf z.B. Regionsgrenzen oder regelmäßige Gitterstrukturen in Karten eingetragen werden können, ohne Nachteile für die Lesbarkeit von Karten (graphische Dichte/Überlastung) befürchten zu müssen. Verzerrungen sind lediglich bei Distanzschätzungen von Routenabschnitten zu erwarten, nicht jedoch von Strecken zwischen anderen topographischen Objekten auf einer Karte.

Gerade der Einsatz von Gitternetzstrukturen in Karten ist insofern von Vorteil, als wiederholt festgestellt wurde, dass sie positive Effekte auf die Gedächtnisleistung haben. So konnte gezeigt werden, dass Gitterzellen als raumreferenzierende Einheiten (spatial chunks) die Genauigkeit steigern, mit der Objekte im zweidimensionalen Raum verortet werden können (Edler et al. 2014a, 2015, 2018a, Bestgen et al. 2017a; Dickmann et al. 2017, Leifert 2011).

Ursächlich für diesen Effekt der Gitter könnten systematische Blickauslenkungsvorgänge sein, die durch die Gitterzellgrenzen hervorgerufen werden (Kuchinke et al. 2016, Dickmann et al. 2015). Auch wenn die Grenzen der Gitter selbst kaum direkt vom Betrachtenden fixiert werden, wirken sie doch offensichtlich als Referenzflächen im Kartenbild und bieten mit ihren Grenzlinien für die Blickbewegung einen Anhalterahmen für die weitere Detailsuche von Objekten. Die systematische Untergliederung des Kartenlayouts in Teilareale scheint beim Informationsabruf von Ortspositionen aus dem Gedächtnis als kleinräumige Orientierungs- und Referenzierungshilfe Einfluss zu nehmen.

3 Gitterstrukturen als Schätzhilfe bei Distanzen?

Im Folgenden werden die Ergebnisse einer empirischen Studie über den Einfluss von Gitterstrukturen auf Entfernungsschätzungen vorgestellt. Untersucht wurden Distanzen, die sich vollständig über quadratische Gitterzellen hinweg erstrecken. Neben Verhaltensdaten wurden auch Daten zur Blickbewegungsmessungen erhoben, um zu ermitteln, ob und welche Kartenelemente beim Schätzvorgang Berücksichtigung finden.

Grundlage bilden die Ergebnisse von Bestgen et al. (2017b), die die visuelle Barriere-Wirkung einzelner (Gitter-) Linien zwischen zwei Objekten untersuchten. Die Einzellinien, die die Schätzstrecke kreuzten, bleiben interessanterweise ohne störenden Effekt auf die Entfernungsschätzung. Das heißt, der „clutter effect“ (Thorndyke 1981), der üblicherweise zu Überschätzungen von Distanzen führt, trat nicht in Erscheinung. Auch im Blickverhalten rief die Anwesenheit der Linie keine signifikanten Veränderungen hervor.

Offen ist, ob sich dieser Befund über diese Detailbetrachtung hinaus auf das gesamte Gefüge einer Karte übertragen lässt, d.h. auf eine Darstellung, die vollständig durch Grenzverläufe oder Gitterzellen aufgegliedert ist. Gegen diese Annahme spricht, dass aufgrund der in diesem Fall höheren graphischen Dichte („Belastung“) des Kartenbildes infolge der Vielzahl auflagernder Linien deutlich mehr Voraussetzungen für die Ausprägung eines „clutter effects“ gegeben sind. Streckendistanzen müssten somit über deutlich mehr graphische Unterbrechungen hinweg geschätzt werden, was die Gefahr von Fehlschätzungen (Überschätzungen) fördern würde (Sadalla and Magel 1980, Kosslyn et al. 1974, Downs and Stea 1973).

Allerdings gibt es zunehmend Hinweise dafür, dass sich die Anordnung geometrisch regelmäßig ausgeprägter Gitterzellen als Referenzhilfe über längere Strecken verzerrungsmildernd auf die mentale Repräsentation auswirken und somit die Distanzschätzung unterstützen könnte. Dies lässt sich den bereits o.a. Studien entnehmen, die zeigen, dass die Verwendung von regelmäßigen Gitterstrukturen in Karten zu verbesserten Gedächtnisleistungen führt (Edler et al. 2014a, 2018b, Dickmann et al. 2013). Da auch das Lernen von (Orts-) Positionen mit der Berücksichtigung von Distanzen verbunden ist, z.B. zwischen zwei Orten oder von einem Ort zum Kartenrand, ist zu vermuten, dass sich Referenzhilfen, wie Gitterstrukturen, ebenso positiv auf das Schätzverhalten von Distanzen auswirken könnten. Untermauert wird dieser Ansatz durch eine Studie zur imaginären Wirkung von Gitterlinien (Dickmann et al. 2017). Hier konnte gezeigt werden, dass selbst Gitterstrukturen, die unvollständig oder nur angedeutet in Karten eingetragen sind, eine Steigerung der Gedächtnisleistung für Objektpositionen hervorrufen. In einem unvollständigen Kartengefüge scheint das geometrische Muster der Gitterzellen von Kartennutzern imaginär komplettiert und für die Verortung von Raumobjekten in Kartenarealen genutzt zu werden. Offensichtlich wird die Anordnung von Gitterzellen, selbst wenn sie nicht oder nur teilweise sichtbar sind, vom Betrachter auf gitterfreie Areale der Karte übertragen bzw. interpoliert. Die gedankliche Übertragung von Gitterzellen in gitterfreie Kartenareale basiert dabei auf regelhaften bzw. äquidistanten Mustern. Nur dann besteht die Möglichkeit, Positionen von Objekten auf der Karte geometrisch korrekt zu en- und dekodieren. Bei diesem Prozess der Objektverortung bildet der äquidistante Aufbau der Gitter ein entscheidendes Gerüst, dessen positive Wirkung sich auch bei expliziten Distanzschätzungen zeigen könnte.

4 Methodik

4.1 Stichprobe

Insgesamt nahmen 66 Versuchspersonen an der Studie teil. Die Teilnehmer waren Geographie-Studierende der Ruhr-Universität Bochum (RUB), im Alter zwischen 20 und 31 Jahren (M = 25,6, SD = 2,3). Diese waren nicht in das Ziel der Studie eingeweiht und gaben Selbstauskunft über eine normale oder korrigierte Sehkraft ohne Farbenfehlsichtigkeit. Die Teilnahme erfolgte auf freiwilliger Basis. Es wurden nur die Datensätze der Probanden in die Analysen übernommen, die eine Mindestaufzeichnungsrate (tracking ratio) von 75% der Blickbewegung (Mittelwert in dieser Studie: 91,7%) umfassten (vgl. Bojko 2013: 208f.). Aufgrund dieses standardisierten Kriteriums entfielen die Daten von vier Versuchspersonen für weitere Auswertungen.

Die 62 Versuchspersonen wurden nach dem Zufall in zwei Testgruppen unterteilt. Die Gruppen innerhalb des Zwischensubjekt-Designs unterschieden sich hinsichtlich der Darstellung des Kartengitters (Gitter vs. kein Gitter). Beide Testgruppen bestanden folglich aus 31 Versuchspersonen, davon waren in der Testgruppe der Karten mit zwischengeschalteten Gittern 13 weibliche und 18 männliche Versuchspersonen. Die Testgruppe ohne Gitternetzlinien umfasste 12 weibliche und 19 männliche Versuchspersonen. Demnach bestand eine ähnliche Geschlechterverteilung in beiden Testgruppen.

4.2 Materialien/Stimuli

Das eingesetzte Kartenmaterial wurde aus den einschlägigen Objektarten des—als „Open Data“ angebotenen (https://open.nrw/suche)—ATKIS® Basis-DLM von Nordrhein-Westfalen (NRW) abgeleitet. Insgesamt entstanden 12 Kartenvorlagen im Maßstab 1:10.000, die die Topographie verschiedener ländlicher Orte des Münsterlands repräsentierten. Alle Karten hatten das identische Format von 30 cm in der Breite auf 20 cm in der Höhe. In jeder Karte wurden auf 600 cm2 folglich 6 km2 der realen Topographie kartographisch wiedergegeben. Die in der aktuellen Variante der DTK10-NRW standardmäßig enthaltene Kartenschrift wurde entfernt, um mögliche Assoziationen der Versuchspersonen mit geographischen Namen zu vermeiden.

Die abgeleiteten Karten zu den 12 Orten wurden darüber hinaus mit zwei Punktobjekten, sogenannten „critical pairs“, graphisch angereichert und separat abgespeichert (Abb. 3). Ein critical pair bestand jeweils aus zwei violetten Kreissignaturen (R: 225, G: 0, B: 200; d = 0,5 cm). Das Zentrum der Signaturen wurde mit einem schwarzen Punkt gekennzeichnet. Dieser markierte Mittelpunkt diente als Referenzpunkt für Distanzschätzungen. Jede Kartenvorlage wurde für jeweils 9 critical pairs individuell abgespeichert, sodass insgesamt 108 unterschiedliche Kartenstimuli für die Studie (54 pro Testgruppe) entstanden.

Abb. 3
figure 3

Beispiel eines „critical pair“ in beiden Bedingungen: Gitter (A) vs. kein Gitter (B)

Für eine der beiden Testgruppen wurden die Karten mit einem Gitternetz überlagert. Durch die schwarzen, 0,18 Zentimeter breiten Gitternetzlinien (s. Empfehlungen nach Maling (1992, S. 153) mit 5 cm Abstand in horizontale und vertikale Richtung (vgl. Edler et al. 2014b), entstanden flächendeckend gleich große quadratische Gitterzellen (s. Abb. 3, oben).

Die critical pairs zeichneten sich durch unterschiedliche Längen aus. Die euklidische Distanz zwischen den beiden Punkten verlief stets durch eine vollständige quadratische Gitterzelle. Um den Einfluss der Gitterstruktur auf die Distanzschätzung zu messen, wurden Kartendistanzen mit Referenzlängen verglichen. Die Versuchspersonen erhielten die Aufgabe einzuschätzen, ob Kartendistanzen im Verhältnis zu unmittelbar vorher gelernten Referenzlängen kleiner, größer oder gleich ausfielen. Es wurden vier Standardlängen für die Referenzstrecken festgelegt: 8,5 cm, 9,0 cm, 9,5 cm und 10 cm. Die Kartenstrecken wurden um 15, 25 und 35 Prozent der zuvor gezeigten Referenzstrecken verlängert, verkürzt oder entsprachen der identischen Länge. Das Mindestmaß für die Längenmodifikationen der Referenzstrecken richtet sich nach dem Weber-Fechner-Gesetz, das eine differentielle Wahrnehmbarkeitsschwelle bei der Bewertung von Linienelementen beschreibt. Danach können Menschen Veränderungen ab etwa einem Zehntel Längenveränderung bemerken bzw. kognitiv verarbeiten (s. Boothe 2006: 81–83). In den 108 Kartenstimuli befanden sich jeweils 36 kürzere, längere oder gleiche Kartendistanzen (s. Abb. 4). Die Kartendistanzen lagen in einem Intervall zwischen 5,53 cm (65 Prozent von 8,5 cm) und 13,5 cm (135 Prozent von 10 cm; vgl. Abb. 5).

Abb. 4
figure 4

Unterteilung der 108 Kartenstimuli nach Veränderungen

Abb. 5
figure 5

Minimum- und Maximum der Kartendistanz im Verhältnis zu Gitterzellen

4.3 Testumgebung und Durchführung

Die Testungen fanden in einem stationären Labor im Geographischen Institut der Ruhr-Universität Bochum statt. Das Labor verfügt über einen ortsfesten Eye-Tracker Tobii Pro TX300, der Tobii Technology AB, mit einem Analysemonitor von 23 Zoll.

Neben dem Monitor standen den Probanden eine modifizierte Tastatur mit drei Tasten zur Verfügung, die mit den Benennungen „ < “, „  „= “ und   „> “ präpariert wurden. Diese Modifizierung der Tastatur wurde vorgenommen, damit die Probanden während der Testung nicht andere, ohne Code belegte Tasten betätigen. Der Eye-Tracker befand sich auf einem Tisch, dessen Entfernung und Höhe über eine Schieberegelung individuell auf jeden Probanden angepasst werden konnte.

Nach der individuellen Kalibrierung des Eye-Trackers über eine 9-Punkt-Methode erhielt jeder Proband eine Einführung zum Testablauf. Dabei sollten sich die Probanden an die Aufgaben und den Ablauf des sich folglich 108 Mal wiederholenden Testdurchgangs gewöhnen. Jeder Testdurchgang bestand aus vier Phasen: 1. Einnehmen des Startfixationspunkts (1 Sek.), 2. Erfahrung der Referenzstrecke (3 Sek.), 3. Erfahrung der Kartendistanz (5 Sek.), 4. Einschätzung der Kartendistanz im Verhältnis zur Referenzstrecke (Tastendruck) (Abb. 6). Jede dieser Phasen wurde in der Slideshow-basierten Testsoftware Tobii Studio (v. 3.0) durch eine Abbildung repräsentiert. Die Reihenfolge der getesteten Karten erfolgte randomisiert über einen MATLAB-Algorithmus.

Abb. 6
figure 6

Ablaufschema eines sich 108 Mal wiederholenden Testdurchgangs

4.4 Statistische analyse

Sowohl die Verhaltensdaten als auch die Blickbewegungsdaten wurden mithilfe eines t Tests für unabhängige Stichproben mit SPSS (Version 25, IBM corp.) analysiert. Das Konfidenzintervall wurde auf p = 0,05 festgelegt. Als Gruppierungsvariable diente stets die Gitterbedingung (Gitter vs. kein Gitter). Die abhängigen Variablen wurden aus den erfassten Verhaltens- und Blickbewegungsdaten abgeleitet.

4.4.1 Verhaltensdaten

Die statistische Auswertung der Verhaltensdaten bezog sich auf die korrekte Einschätzung der Kartendistanzen im Vergleich zu den gelernten Referenzstrecken. Für jeden Probanden wurde aus der Anzahl der richtigen Treffer eine Trefferrate als abhängige Variable berechnet. Zudem wurde eine Fehleranalyse durchgeführt. Darin wurde untersucht, ob die Gruppe (Gitter vs. kein Gitter) bei Fehlschätzungen Effekte auf Über- und Unterschätzungen hat.

4.4.2 Blickbewegungsdaten

Die statistische Auswertung der Blickbewegungsdaten basierte auf Areas of Interests (AOIs), die über ein Programmmodul in der Testsoftware (Tobii Studio, v. 3.0) definiert wurden. AOIs dienen in Eye-Tracking-Analysen der räumlichen Eingrenzung visueller Stimuli. Mit ihnen lassen sich Blickbewegungsdaten räumlich filtern (s. weiterführend Bojko 2013, Holmqvist et al. 2011). In dieser Studie wurden—methodisch anknüpfend an Bestgen et al. (2017b)—vier AOIs bestimmt (s. Abb. 7).

Abb. 7
figure 7

Definition der vier AOIs zur Analyse der Eye-Tracking-Daten (Gitter-Kondition)

Die Minimalgröße einer AOI ist abhängig von der Genauigkeit des Eye-Trackers. Nach Holmqvist et al. (2011) ist eine Größe von 1–1,5° des visuellen Feldes sinnvoll, was etwa 1,2–1,8 cm bei einer gewöhnlichen Bildschirmentfernung des Probanden von 64 cm entspricht. Eine AOI wurde so platziert, dass ein Toleranzbereich um das zu analysierende Objekt entstand, um noch nahe Fixationen am Rand des Objektes, den inneren Bereich des parafovealen Sehens sowie den Ungenauigkeitsspielraum des Eye-Trackers berücksichtigen zu können (Bojko 2013: 196 ff.). Die AOIs wurden so auf den Karten positioniert, dass die Bereiche in den Fokus rücken, die für die Bearbeitung der Distanzschätzung relevant sind.

In den statistischen Analysen wurden Blickbewegungsdaten für die jeweils 5-sekündige Bearbeitungsdauer der Kartenstimuli zusammengefasst und hinsichtlich der Gruppierungsbedingungen gemittelt. Die Analyse verwendete die Messgrößen (abhängigen Variablen) Fixationsanzahl und Fixationsdauer, bezogen auf die AOIs 1–4 (s. Abb. 7).

Es wurde angenommen, dass Fixationen in der Blickbewegung aufmerksame Informationsverarbeitung an spezifischen Orten repräsentieren (Holmqvist et al. 2011). Die Anzahl und Dauer von Fixationen korreliert mit der Tiefe der kognitiven Informationsverarbeitung (Rayner 2009, Just and Carpenter 1976), wohingegen durch bzw. während Sakkaden keine Information erfasst und verarbeitet wird (Ross et al. 2001).

5 Ergebnisse

5.1 Verhaltensdaten

Ein t Tests für unabhängige Stichproben zum Anteil korrekt geschätzter Kartendistanzen zeigte einen signifikanten Unterschied in den Mittelwerten bei Karten mit (M = 73,4, SD = 9,0) und ohne Gitter (M = 65,4, SD = 8,0; t(60) = 3,67, p < 0,001; s. Abb. 8).

Abb. 8
figure 8

Gitter erhöhen die Trefferrate (***p < 0,001)

5.2 Blickbewegungsdaten (AOI-Analyse)

Die t Tests für unabhängige Stichproben zur Anzahl und Dauer von Fixationen in den AOIs 1–4 zeigten keine signifikanten Unterschiede (alle p’s > 0.05). Die Tabellen 1 und 2 enthalten Mittelwerte und Standardabweichungen.

Tab. 1 Fixationsanzahl und—dauern in AOIs 1, 2 und 3 (Gitter vs. kein Gitter)
Tab. 2 Fixationsanzahl und –dauern in AOI 4 (Gitter vs. kein Gitter)

6 Diskussion

Die Ergebnisse dieser kartenexperimentellen Studie lassen deutlich auf einen unterstützenden Einfluss von Gitterstrukturen auf die Lösung von Aufgaben zur Distanzschätzung schließen. Der Vergleich zwischen Karten mit Gittern und ohne Gitter zeigt unterschiedliche Ergebnisse bei den Probandengruppen. Die Gruppe, die bei der Schätzung der 5,5 bis 13,5 cm großen Kartenstrecken Karten mit Gittern zur Verfügung hatte, erzielte signifikant bessere, d.h. exaktere Schätzergebnisse (Trefferrate bei Distanzschätzungen) als die Kontrollgruppe, in deren Testkarten keine Gitter eingetragen waren. Kartennutzer können also von einem im Kartenfeld enthaltenen Kartengitter deutlich profitieren.

Wie erwartet, zeigen die Ergebnisse der Blickbewegungsregistrierung, dass Gitter bei der Distanzschätzung keinen Einfluss auf das Blickverhalten zu nehmen scheinen. Zumindest in den näher untersuchten AOI lassen sich keine signifikanten Unterschiede hinsichtlich der Dauer und der Anzahl der Fixationen erkennen. Dies gilt sowohl für die Identifizierung der AOIs (AOI 1 und AOI 2), zwischen denen die Distanz geschätzt werden sollte, als auch für die Kartenareale (AOI 4 und AOI 3), die sich unmittelbar um die Ausgangspunkte und dem dazwischen befindlichen Areal befinden. Dies bestätigt u.a. die Ergebnisse der Studie von Bestgen et al. (2017b), die ebenfalls keinen unmittelbaren Einfluss auf das Fixationsverhalten auf die untersuchten AOIs feststellen konnten (vgl. auch Hurts 2005).

Handelt es sich bei Distanzen, die beim Kartenlesen geschätzt werden sollen, nicht um Routensegmente, sondern um Entfernungen zwischen zwei nicht miteinander verbundenen Orten, scheinen graphische Unterbrechungen in Form der hier untersuchten Gitterlinien kaum verzerrende Wirkungen auf die Schätzleistung hervorzurufen (vgl. Bestgen et al. 2017b, Hurts 2005, Hommel et al. 2000). Im Gegensatz zu Routenschätzungen sind mit dem hier betrachteten Ansatz der Distanzschätzungen offensichtlich vorrangig perzeptive und weniger gedächtnisbasierte (wie bei der Routenschätzung) Vorgänge verbunden (Siegel and White 1975, Kosslyn et al. 1974). Dies hat unmittelbare Auswirkungen auf die kognitive Verarbeitung von Gittern beim Kartenlesen. Offensichtlich werden geometrisch regelmäßige Gitterstrukturen bei Kartennutzungsvorgängen wie der Distanzschätzung zwischen zwei Orten nicht derselben visuellen Inhaltsebene zugeordnet, in der sich die topographischen Informationen (Siedlungen, Waldflächen, Wege etc.) befinden. Die kognitive Verarbeitung (und Speicherung) scheint separat zu erfolgen. Beim Schätzvorgang von Entfernungen werden die raumbezogenen Inhalte der Karte möglicherweise losgelöst vom auflagernden Gitter betrachtet. Das heißt, die kleinteilige Topographie wird auf einer exakteren („fine-grained“/“coordinate“) Ebene, die auflagernde Gitterstruktur hingegen auf einer gröberen („kategorialen“) Ebene verarbeitet (vgl. auch van Asselen et al. 2008, Kosslyn et al. 1992, Huttenlocher et al. 1991). Der Gitterstruktur selbst wird demnach keine inhaltliche (topographische) Bedeutung zugewiesen (s. Abb. 9) und von ihr graphisch erzeugte Barrieren, die auf der Schätzstrecke liegen, werden anscheinend regelrecht „ausgeblendet“. Im Gegensatz zu Routenschätzungen können somit Segmentierungsprozesse entlang der Schätzstrecke entfallen und der Aufwand der kognitiven Verarbeitung insgesamt reduziert werden.

Abb. 9
figure 9

Separate Verarbeitung von Topographie und schätzungsunterstützender Gitterstruktur

Für diese Annahme spricht, dass die Gitterlinien selbst nur selten direkt fixiert werden (s. Abb. 10). Sie sind nicht Teil von Segmentierungsprozessen entlang der Schätzstrecke. Im Fokus der Blickbewegungen stehen fast ausschließlich topographische Elemente, d.h. insbesondere die für den Schätzvorgang miteinander in Beziehung zu setzenden Punktobjekte (schwarz umrandete violette Kreise). Auch wenn Gitter kaum Aufmerksamkeit in Form von längeren Fixationen erhalten, entfalten sie jedoch offensichtlich nachhaltige Wirkung als strukturierendes bzw. referenzierendes Kartenelement beim Prozess der Distanzschätzung. Die erzielten Ergebnisse zeigen, dass Gitterstrukturen beim Vorgang der Distanzschätzung eine positive Wirkung auf die Gedächtnisleistung haben.

Abb. 10
figure 10

Blickbewegungen werden während der Distanzschätzung kaum durch Gitterstrukturen beeinflusst; Vergleich der Fixationsdauer in der Bedingung ohne Gitter (links) und mit Gittern (rechts)

7 Fazit und Ausblick

Die Grundlage dieser Untersuchung zu Distanzschätzungen in Karten bildete ein wahrnehmungsorientiertes Testungsparadigma, das sich methodisch von stärker gedächtnisbasierten Methoden (s. bspw. Newcombe and Liben 1982; Thorndyke 1981; Kosslyn et al. 1974) unterscheidet. Während Routenschätzungen infolge graphischer Unterbrechungen (Abbiegungen, Kreuzungen) und gedächtnisbasierten Segmentierungsprozessen zu Überschätzungen führen, scheint dieser Effekt in der Perzeption von Kartendistanzen zwischen frei liegenden Objekten nicht einzutreten (Hurts 2005, Hommel et al. 2000).

Die vorliegende Studie macht deutlich, dass die Distanzschätzung in Karten durch den Einsatz von Gittern verbessert wird. In Erweiterung der kartenexperimentellen Arbeit zur Distanzschätzung von Bestgen et al. (2017b) zeigen die Ergebnisse der vorliegenden Studie, dass Gitterstrukturen nicht nur ohne nachteiligen Einfluss auf die Lesbarkeit von Karteninformationen bleiben, sondern darüber hinaus noch dazu führen, dass sich längere Distanzen in Karten—im getesteten Intervall von 5,53 cm bis 13,50 cm—signifikant akkurater schätzen lassen.

Trotz der höheren graphischen Belastung, die durch die Gitterauflage im Kartenbild entsteht, wird die Wahrnehmung nicht nachteilig beeinflusst. Dies belegen Blickbewegungsdaten, die für Karten mit Gitter und Karten ohne Gitter keinen Unterschied feststellen lassen (vgl. auch Bestgen et al. 2017b). Die Ergebnisse der Blickbewegungsregistrierung zeigen dabei, dass Gitterstrukturen selbst kaum fixiert werden. Dennoch tragen sie signifikant zur Verbesserung von Distanzschätzungen zwischen Ortspositionen in Karten bei. Das bedeutet, dass eine sehr kurze perzeptive Erfassung der Gitterstruktur ausreicht, um diese als eigenes „Objekt“ verarbeiten und für die weitere visuelle Inspektion der kartographischen Informationen (Topographie) effektiv nutzen zu können.

Dass Gitterlinien in Karten im Gegensatz zu topographischen Inhalten weitgehend ohne Einfluss auf die Blickbewegung bleiben, könnte darauf hindeuten, dass Gitternetzlinien auf Karten ein übergeordnetes (hierarchisches) und separat verarbeitetes Referenzkonstrukt bilden, das aufgrund seiner äquidistanten Struktur bei der Schätzung von Kartendistanzen unterstützend wirkt. Mögliche Störeffekte (graphische Unterbrechungen), die durch graphische Elemente entlang der Schätzstrecke hervorgerufen werden und die üblicherweise zu Überschätzungen führen (s. bspw. Kosslyn et al. 1974) werden demnach mehr als kompensiert. Dadurch, dass Gitterstrukturen das Kartenfeld in quadratische Areale einteilen, entsteht eine grafische Referenz- und Kalkulationshilfe für die Schätzung von Distanzen in Karten.

Folgestudien müssen die Ergebnisse jedoch absichern und weiter ausbauen. Noch ungeklärt ist, welchen Einfluss die Grafik- bzw. Objektdichte in der Karte auf den beobachteten Effekt hat. Die Ergebnisse der vorliegenden Studie beziehen sich ausschließlich auf ländliche Räume. Urbane Räume mit einer vergleichsweise höheren Objektdichte könnten die Distanzschätzung womöglich beeinflussen. Zudem stellt sich für die praktische Kartenkonstruktion die Frage, ab welcher Gitterweite der Effekt zum Tragen kommt, oder, wie die Referenzhilfen (Gitterstrukturen) selbst im Zusammenspiel mit anderen Kartenbestandteilen graphisch ausgestaltet und konfiguriert werden können, um die Effekte auf die Schätzleistung zu optimieren.

8 Anmerkungen

Die Studie wurde gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG, DI 771/7-2). Das Autorenteam bedankt sich bei der Bezirksregierung Köln für die Bereitstellung des ATKIS®-Basis-DLM als „Open Data“ (https://www.bezreg-koeln.nrw.de/brk_internet/geobasis/landschaftsmodelle/basis_dlm/index.html). Einschlägige Objektarten des Basis-Landschaftsmodells dienten der Erstellung der im Experiment eingesetzten Kartenmaterialien sowie der Abbildungen 3, 6, 7 und 10. Die Daten unterliegen der „Datenlizenz Deutschland—Namensnennung—Version 2.0“ (http://www.govdata.de/dl-de/by-2-0).