1 Einführung

Krisen in Schule und Unterricht sind spätestens seit den Ergebnissen der internationalen Leistungsvergleichsstudien PISA (für den Sekundarbereich) und IGLU/PIRLS (für den Primarbereich) sowie den nationalen Bildungsberichten (Ländervergleiche, Bildungstrends) des IQB in Deutschland ein Dauerthema. Denn durch diese Studien bzw. Daten ist deutlich geworden, wie sehr die Leistungen der deutschen Schüler:innen im internationalen Vergleich teilweise zu wünschen übrig lassen und im nationalen Vergleich der Bundesländer sowie im Vergleich verschiedener Schülergruppen sehr heterogen sind. Seit einigen Jahren kommen (auch im Elementarbereich) weitere Probleme hinzu: der erhebliche Erzieher:innen- und Lehrkräftemangel, Probleme bei der Integration von Kindern mit Migrationshintergrund und aktuell die seit der Corona-Pandemie verstärkt wahrnehmbaren Versäumnisse bei der Digitalisierung. Die derzeit sich geradezu kumulierenden Herausforderungen könnten Anlass geben zu der Vermutung, dass die aktuellen Krisen im Bildungssystem historisch einzigartig seien. Eine solche Vermutung ist jedoch unangebracht, denn im Rückblick ist festzustellen, dass starke, sich überlagernde Krisen sowie intensive begleitende Debatten nichts Außergewöhnliches sind. Krisen waren in WestdeutschlandFootnote 1 nicht zuletzt kennzeichnend für die 1960er-/1970er-Jahre, die zu einer weitreichenden Bildungsreform führten. In einem Rückblick sollen insbesondere Hintergründe und Merkmale der Krisen jener Zeit sowie wesentliche Maßnahmen zur Überwindung der Krisen („Bildungsreform“) dargestellt und diskutiert werden – auch mit Blick auf die Frage ihrer Relevanz für gegenwärtige Krisen.

Nachfolgend werden gesellschaftliche und bildungspolitische Hintergründe für die Krisen im Elementar- und Primarbereich der 1960er-/1970er-Jahre in Westdeutschland auf der Grundlage von zunächst dargelegten krisentheoretischen Annahmen beschrieben und die daran anschließenden Reformen skizziert. Dies geschieht mithilfe einer Sekundäranalyse aus Dokumenten, die mit Blick auf Publikationen, die für die und in der Phase der Bildungsreform besonders relevant waren (2). Danach werden diese für den Elementarbereich (2.1) und für den Primarbereich (2.2) mit Bezug auf krisentheoretische Merkmale dargestellt und analysiert. Im abschließenden Kapitel (3) werden spezifische Merkmale der damaligen Krisen diskutiert, und es wird die Frage gestellt, inwiefern die gegenwärtigen Krisen neu sind und ob Erfahrungen aus der damaligen Bildungsreform für die Bewältigung heutiger Krisen und des Reformbedarfs übernommen werden können.

2 Gesellschaftliche und bildungspolitische Entwicklungen und Krisen in den 1960er- und 1970er-Jahren

In diesem Beitrag wird für die theoretische Verortung von „Krise“ der Ansatz der Sozialwissenschaften verwendet, da in ihnen Krisen in ihren vielschichtigen gesellschaftlichen Zusammenhängen diskutiert und eingeordnet werden. Vielschichtige gesellschaftliche und soziale Probleme waren auch Ursachen für die Krisen in den 1960er-Jahren, auf die die Politik mit einer Bildungsreform reagierte. Der Terminus „Krise“ ist in den Sozialwissenschaften – wie auch im Alltagssprachgebrauch – nicht eindeutig bestimmt („einmalige semantische Vieldeutigkeit“, Steg 2020, S. 424) – vielfach wird er inflationär verwendet. Es „existiert weder eine allseits anerkannte Definition des Krisenbegriffs noch ein allgemeingültiges Verständnis über Entstehungsbedingungen, Ursachen, Abläufe und Auswirkungen von Krisen“ (Steg 2020, S. 423). Einigkeit besteht in der sozialwissenschaftlichen Fachliteratur zumindest darüber, dass Krisen in der Regel komplexe und vielschichtige, sich überlagernde Ursachen haben („Interdependenzen“) (Kilper 2020). Krisen werden im Alltag, aber auch in den Wissenschaften überwiegend negativ konnotiert, sie können jedoch durchaus auch als Chance betrachtet werden, die als kritisch identifizierte Lage zu überwinden (ebd.; auch: Wrana et al. 2022, S. 363 f.). Abgesehen von manchen Zuschreibungen von Krisen als Dauerzustand („normale Anomalie“, Wrana et al. 2022, S. 364; „Krise als Normalität“, Steg 2020, S. 427 f.) werden Krisen aber vor allem als „Übergansphänomene“ (Ricœur 1986, S. 39) bzw. als „Ausnahmezustand“ gesehen (Salomon und Weiß 2013, S. 9, mit Bezug auf Böckenförde 1986).

Im Unterschied zur Katastrophe, die eine „Niedergangsdynamik“ kennzeichnet, stellt nach Harmsen und Iber die Krise „einen radikal offenen Prozess“ dar (2023, S. 30), was es schwierig macht, sie genau in ihrer Vielschichtigkeit zu erfassen und zu beschreiben. So kann man den exakten Beginn einer Krise oft kaum ausmachen. Die der Krise zugrunde liegenden Probleme sind an der Oberfläche zunächst oft kaum erkennbar (latent) und auch vielschichtig, da unterschiedliche Gruppen und Systeme in den Krisenprozess eingebunden sind („multiple Krisen“, ebd., S. 29 f.). Wenn die Probleme nur unterschwellig vorhanden sind, bieten sie zunächst Latenzschutz (ebd., S. 32, mit Bezug auf Nassehi). Dieser Latenzschutz ist aber nicht mehr gegeben, wenn Probleme an die Oberfläche dringen. Dies geschieht oftmals durch spezifische Auslöser, durch einen „heißen Reiz“, der die zugrunde liegenden Probleme offenbart. Die bestehenden Strukturen werden nicht mehr als geeignet angesehen, die Probleme zu lösen („Sinnkollaps“, ebd., S. 30 f.). Die oft markanten Auslöser sind es dann, die zu Maßnahmen führen um die als defizitär erkannten Probleme anzugehen.

Aber nicht nur der Beginn der Krise, auch das Ende ist wegen ihrer Offenheit meist nicht genau zu spezifizieren. Aufgrund ihrer Offenheit und Vielschichtigkeit, von der in der Regel zahlreiche Institutionen, Personen und Gruppen mit ihren unterschiedlichen Interessen und Problemen betroffen sind, finden die Maßnahmen, die zur Überwindung der Krise getroffen werden, kaum von allen Gruppen eine uneingeschränkte Zustimmung. Von daher ist mit Kritik, Konflikten und Widerstand in der Reformphase zu rechnen.

Mit Blick auf beschriebene sozialwissenschaftliche Kennzeichen von Krisen stellt die bildungspolitische Situation in Westdeutschland in den 1960er-Jahren eine manifeste Krise dar, die sowohl den Kindergarten als auch die Grundschule betraf. Auch zu jener Zeit waren die Probleme, die schließlich zu einer umfassenden Bildungsreform führten, bereits längere Zeit vorhandenen. Und es gab auch in jener bildungspolitischen Phase konkrete Auslöser, die vielfältige Veränderungen in Gang setzten.

Ein Vorläufer für Reformen im bildungspolitischen Sektor in Westdeutschland waren die Reaktionen der USA auf den Sputnik-Schock (1957: erster künstlicher Erdsatellit durch die Sowjetunion) – sah man sich in den USA bzw. der westlichen Welt bis dahin doch als uneingeschränkter und uneinholbarer Vorreiter in der wissenschaftlich-technologischen Entwicklung. Dieser Auslöser führte in den USA zu zahlreichen Reformen: Bildung sollte vom frühen Kindesalter an gefördert werden, insbesondere sollten bildungsbenachteiligte Kinder bereits im Vorschulalter intensiver unterstützt werden (kompensatorische Erziehung). Es wurden Curriculum-Reformen mit dem Ziel der Modernisierung der Lehrpläne initiiert; durch die Formulierung konkreter, möglichst kleinschrittiger Lernziele für jede Unterrichtsstunde sollten bessere Lernerfolge der Schüler:innen erzielt und im Anschluss überprüft werden (Robinsohn 1967; Mager 1978). Bruner forderte eine „kognitive Wende“ in der Schulpolitik. Er betonte die Bedeutung der „Vermittlung von grundlegenden Begriffen und Strukturen“ (fundamental ideas) der Wissenschaften für den Lernprozess. Sein Satz, dass „jedes Kind (…) auf jeder Entwicklungsstufe jeder Lehrgegenstand in einer intellektuell ehrlichen Form gelehrt werden“ könne (Bruner 1972, S. 44), galt als das neue Credo der Lernpsychologie.

Der Sputnik-Schock und seine Folgen in den USA schwappten auch auf Westdeutschland über. Ein konkreter Auslöser war der Band „Die Deutsche Bildungskatastrophe“ von Picht (1965). In diesem prangerte er die Rückständigkeit des deutschen Bildungssystems im Vergleich zu Bildungssystemen anderer westlicher Industrienationen an: die viel zu geringen Ausgaben für Bildung, die viel zu niedrige Abiturientenquote und den dramatischen Lehrermangel. Picht forderte die Verdopplung der Abiturientenzahlen (S. 19); im Vergleich mit anderen OECD-Ländern liege Deutschland (West) am unteren Ende (S. 18). Moderne Industrie benötige mehr hoch qualifizierten Nachwuchs. Vor allem das „katholische Bildungsdefizit in Deutschland“ kritisierte Picht. Das „katholische Arbeitermädchen vom Land“ – sowohl eine Kunstfigur als auch massenhaft Realität – galt als eine besonders vernachlässigte Gruppe und wurde ein markantes Schlagwort für die damalige Bildungsoffensive. Die durchaus vorhandenen Begabungsreserven sollten besser ausgeschöpft werden. Der Band von Dahrendorf „Bildung ist Bürgerrecht“ (1965) unterstrich die Bedeutung von Bildung für die kulturelle und ökonomische Entwicklung der Gesellschaft. Er fordert eine aktive Bildungspolitik, die sich vor allem an bestimmte soziale Gruppen richten solle: Landkinder, Arbeiterkinder, Mädchen und „mit erheblichen Einschränkungen“ katholische Kinder (S. 65; dazu auch Fend 2006, S. 39).

Das ökonomische Argument der voranzutreibenden Modernisierung sowie die Sicherstellung der für ein modernes Wirtschaftssystem erforderlichen Qualifikationen der nachwachsenden Generationen (Fend 2006, S. 37, 1974, 1980) und das sozialpolitische Argument der verbesserten Chancengleichheit zusammengenommen bildeten den Hintergrund für die Bildungsreformära der 1960er- und 1970er-Jahre. Zur Überwindung der komplexen, als kritisch apostrophierten gesellschaftspolitischen Lage wurden zahlreiche strukturelle gesellschafts- und bildungspolitische sowie pädagogische Maßnahmen ergriffen; insbesondere kam es durch den Ausbau der höheren Bildungswege zu einer erheblichen Bildungsexpansion. Mit Blick auf den Elementar- und Primarbereich breitete sich eine nie dagewesene Bildungseuphorie aus, der ein nahezu uneingeschränkter Begabungsoptimismus zugrunde lag, nicht zuletzt bedingt durch die Erkenntnisse der Lernpsychologie und Sozialisationsforschung. Wie in den USA wurde die Förderung insbesondere jüngerer Kinder eine zentrale Aufgabe der Bildungspolitik.Footnote 2 Die bereits lange Zeit vor der Bildungsreform latent vorhandenen Krisen hatten vielschichtige Ursachen, ihre Bekämpfung wurde bildungspolitisch, gesellschaftspolitisch, aber nicht zuletzt auch ökonomisch begründet. Die nachfolgende Darstellung und Analyse der Krisen und Reformvorhaben im Elementar- und Primarbereich bezieht sich auf Schwerpunkte, die in der Bildungspolitik und in der Wissenschaft in ihren entsprechenden Schriften als besonders reformbedürftig ausgewiesen wurden. Die zahlreichen reformorientierten Initiativen, die zunächst eher einen „privaten“ Ursprung hatten, können hier nicht berücksichtigt werden (z. B. Elternselbsthilfekindergärten, Frühleseinitiativen, Integration von Kindern mit besonderem Förderbedarf). Methodisch erfolgt eine Sekundäranalyse von Schriften, die wesentlich die Hintergründe für die Krisen dargelegt, die Bildungsreformen im Elementar- und Primarbereich begründet, initiiert (hier insbesondere die von der Bildungspolitik seinerzeit herausgegebenen Schriften) und umgesetzt sowie von Schriften, die die Reform wissenschaftlich untermauert und begleitet haben.

2.1 Elementarbereich

In Westdeutschland war der institutionalisierte Elementarbereich bis zu den 1960er-Jahren nur rudimentär ausgebaut. Er spielte in der Bildungspolitik allenfalls eine marginale Rolle. „Soweit sich der Rückstand des Bildungswesens der BRD in Zahlen fassen läßt, findet er seinen stärksten Ausdruck in der Vorschulerziehung“ (Schwartz 1970a, S. 139). Nur etwa 33 % der Kinder von drei bis sechs Jahren besuchten einen Kindergarten (Deutscher Bildungsrat. Die Bildungskommission 1975, S. 39 f.), Krippen spielten nahezu keine Rolle. In den 1970er-Jahren wurde vom Bundesministerium für Familie, Jugend und Gesundheit das „Modellprojekt Tagesmütter“ initiiert; Kinder berufstätiger Frauen sollten von Müttern, die eine Kurzausbildung erhielten, in einer Tagespflege betreut werden – neben ihrem eigenen Kind drei bis maximal vier Kinder. Dieses Projekt führte zu Konflikten zwischen verschiedenen Gruppen, insbesondere mit renommierten Kinderärzten: junge Eltern würden von ihren Kindern entfremdet, Kinder würden durch die Fremdbetreuung Schaden nehmen (Arbeitsgruppe Tagesmütter 1980; Hassenstein 1975). Kindergärten galten als „Bewahranstalten für Kinder arbeitender Mütter“ (Schwartz 1970a, S. 139). Eigentlicher Ort für Kinder vor dem Grundschulalter war die Familie, die Mutter galt als natürliche Erzieherin, der Kindergarten als Einrichtung der Familienergänzung (Deutscher Ausschuss für das Erziehungs- und Bildungswesen 1966, S. 33 ff.). In dem vom Deutschen Ausschuss für das Erziehungs- und Bildungswesen formulierten „Gutachten zur Erziehung im frühen Kindesalter“ (Juli 1957, zit. in 1966) wird der Elementarbereich als eigenständiger Bereich frühkindlicher Bildung gar nicht genannt. Das junge Kind soll „mit einfachen Mitteln frei spielen und seinen Kräften gemäß etwas gestalten können“ (S. 36). Auch wenn im Kindergarten die Fünfjährigen in „Vermittlungsgruppen“ zusammengefasst würden, sollte auf keinen Fall der Schule vorgegriffen werden (ebd.). Für die noch nicht schulreifen schulpflichtigen Kinder sollten an Schulen Schulkindergärten eingerichtet werden. Auch in diesen Einrichtungen sollte den Inhalten des ersten Schuljahres nicht vorgegriffen werden (Deutscher Ausschuss 1966, S. 42–46).

Diese Bewertung der pädagogischen Arbeit im Elementarbereich änderte sich ab der Mitte der 1960er-Jahre grundlegend; das neue Denken manifestierte sich im „Strukturplan für das Bildungswesen“ (Deutscher Bildungsrat 1970). Der Deutsche Bildungsrat war 1965 von Bund und Ländern gegründet worden, um Bedarfs- und Entwicklungspläne für das deutsche Bildungswesen zu entwerfen, Strukturvorschläge zu machen, den Finanzrahmen zu berechnen und Empfehlungen für langfristige Planungen auszusprechen. Der Strukturplan war ein wesentlicher Auslöser für die Reformen im Elementarbereich. Er widmet diesem ein eigenes Kapitel (S. 102–122), und es wird ihm eine vorrangige Bedeutung zugewiesen. Im Strukturplan werden Struktur, Konzept und Praxis des Kindergartens beschrieben, vor allem aber seine Defizite benannt und es werden Entwicklungsperspektiven aufgeführt: zu wenige Kindergartenplätze, die überwiegend von den Fünf- bis Sechsjährigen oder von vom Schulbesuch zurück gestellten Siebenjährigen belegt waren, zu wenige und schlecht ausgebildete Erzieherinnen, zu große Gruppen (25 Kinder je Gruppe). Vor allem wird darauf verwiesen, dass das pädagogische Konzept zu wenig die Lernmöglichkeiten der Kinder ausschöpfe, zu sehr dem Reifungsgedanken anhänge; die neueren lern- und entwicklungspsychologischen Erkenntnisse müssten stärker berücksichtigt, Lernprozesse aktiv angeregt werden. Bis zur Veröffentlichung des Strukturplans, der ja erhebliche Reformmaßnahmen einforderte, genoss der Elementarbereich noch „Latenzschutz“. Doch dieser war jetzt nicht mehr gegeben. Aufgrund der erkannten Krisen räumte auch die Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung (BLK) in ihren „Vorschläge(n) zur Durchführung vordringlicher Maßnahmen“ (1972) dem Elementarbereich bei den Planungen zur Weiterentwicklung des Bildungssystems Priorität ein – hinsichtlich des Ausbaus, der Ausstattung, der Quantität und Qualität des Personals sowie der curricularen Angebote.Footnote 3 Es sollten neue Strukturen geschaffen und die Inhalte und Qualität der Bildungsangebote reformiert werden. Neuere Erkenntnisse der Lern- und Entwicklungspsychologie, denen zufolge Kinder im jungen Alter besonders aufnahmefähig seien, haben ebenso die Veränderungen angeregt wie das Head Start-Programm für benachteiligte Kinder in den USA. Auch in ihrem Bildungsgesamtplan I (1974 [1973]) führt die BKL an, welche Maßnahmen in welchem Umfang getroffen werden sollen: Personal (Weiterbildung), Ausstattung und curriculare Entwicklungen. In zahlreichen Bundesländern wurde die Einschätzung, dass die pädagogische Arbeit im Elementarbereich unzureichend sei, geteilt. Es wurden vereinzelt pädagogische Maßnahmen initiiert, u. a. eine Frühlesebewegung für Kinder im Vorschulalter; in den Kindergärten wurden von den Fünfjährigen mehrmals pro Woche Vorschulmappen mit schulvorbereitenden Aufgaben bearbeitet.

Entscheidende Reformvorhaben waren hingegen struktureller Art. Diese betrafen die Frage, in welcher Einrichtung Kinder im Vorschulalter am besten gefördert werden könnten – als Vorschulgruppen in Kindergärten, in Vorklassen, die den Grundschulen zugeordnet werden sollten, oder in einer Eingangsstufe, in der die Fünfjährigen und die erste Jahrgangsstufe der Grundschule zwar als getrennte Jahrgänge, jedoch als eine pädagogische Einheit gefasst werden sollten (Deutscher Bildungsrat 1973). Durch ein verpflichtendes Vorschuljahr könnte, so die Überlegung, die Grundschulzeit um ein Jahr verkürzt werden. Durch Modellversuche sollte die Frage der Zuordnung der Fünfjährigen empirisch untersucht und dadurch eine Entscheidung legitimiert werden. In Nordrhein-Westfalen wurde ein besonders umfangreiches Modellprojekt, das „Bildungsexperiment Vorklasse und Modellkindergarten“, erprobt und von verschiedenen Forschergruppen untersucht. Auf der Grundlage der Ergebnisse sollte über „eine generelle Einführung der Vorklassen und eine Vorverlegung der Bildungspflicht um ein Jahr entschieden werden“ (Winkelmann et al. 1977, S. 50). Es wurden in 50 Modellkindergärten (die Fünfjährigen blieben in den Kindergärten) und in 50 Vorklassen die Fünfjährigen über 8,5 Monate speziell gefördert. Diese wurden im Vergleich mit Vorschulkindern aus Regelkindergärten ohne spezielle Förderung hinsichtlich verschiedener schulrelevanter Entwicklungsdimensionen längsschnittlich untersucht. Die geförderten Kinder aus den beiden Versuchsgruppen wiesen bessere Ergebnisse auf als die Kinder aus den Regelkindergärten. Doch hinsichtlich der Einschätzung, welche der beiden vorschulischen Varianten besser sei, sind die Autor:inen sehr zurückhaltend und geben keine bildungspolitischen Empfehlungen ab für eine Entscheidung mit Blick auf die institutionelle Zuordnung der Fünfjährigen (Winkelmann et al. 1977, S. 163 ff.). In einer zusammenfassenden Darstellung der Ergebnisse aus insgesamt 49 Modellversuchen in Kindergärten, Vorklassen und Eingangsstufen, die für eine abschließende Analyse ausgewertet wurden, stellt die BLK fest: „Die empirisch-statistischen Befunde der wissenschaftlichen Begleituntersuchungen, die empirisch-deskriptiv gewonnenen Erfahrungen sowie die Angaben der Projektleiter stimmen darin überein, dass sich die innovativen Bemühungen aller Modellversuche günstig auf die Gesamtentwicklung der Kinder ausgewirkt haben.“ Der entscheidende Satz lautet: „Signifikante Unterschiede aufgrund der Institutionen sind dabei nicht feststellbar.“ (Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung 1976, S. 69 ff.) Aufgrund dieses Fazits wurde die bildungspolitische Vorstellung, die Fünfjährigen dem Primarbereich institutionell zuzuordnen, aufgegeben.

In dieser Reformphase gab es verschiedene Kritiker der Modellversuche und der vorgesehenen Veränderungen. Es wurden beispielsweise bei den Kindern u. a. neurotische Fehlentwicklungen befürchtet. Im Deutschen Ärzteblatt wurde im Zusammenhang mit der Früheinschulung von Fünfjährigen sogar gefordert: „Man sollte diese Wahnsinnigen wegen Kindesmißhandlung vor Gericht stellen.“ (Zit. in: Modellversuch Vorklasse in NW 1978, S. 47) Auch die Kindergärten wehrten sich vehement gegen die geplanten strukturellen Reformen. So kam die Tatsache, dass die empirischen Erhebungen keine signifikanten, vor allem keine längerfristigen Unterschiede zwischen den Versuchsgruppen hinsichtlich der Entwicklungsförderung erbracht hatten, diesen sehr gelegen, hatten sie doch Sorge, dass sie bei einer flächendeckenden Einrichtung von Vorklassen oder Eingangsstufen zu „Schrumpfkindergärten“ für Drei- bis Vierjährige reduziert worden wären und deshalb ihre Einrichtungen erheblich an Bedeutung verloren hätten. Auf der Basis der Ergebnisse aus den Modellversuchen wurde der „Streit um die Fünfjährigen“ dahingehend gelöst, dass keine weiteren organisatorischen Veränderungen im Elementarbereich vorgenommen werden sollten. Die Fünfjährigen verblieben im Kindergarten, zumal sich auch die Träger (in der Regel kirchliche oder private) vehement für deren Verbleib eingesetzt hatten. Diese Entscheidung wurde insgesamt begrüßt, zumal die Bildungseuphorie in der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre deutlich abflaute. Ergebnisse aus der empirischen Bildungsforschung bildeten die Grundlage für eine bildungspolitische Entscheidung; das war historisch neu.

Es wurden allerdings in allen Bundesländern neue Kindergartenpläne erarbeitet, in denen die Förderung der Kinder einen wesentlichen Stellenwert einnahm (vgl. exemplarisch die Materialien zum Kindergartengesetz in NRW: Diözesan-Caritasverband 1975). Der bildungspolitische Verzicht auf die Einrichtung von Vorklassen und Eingangsstufen führte dazu, dass Kooperationen zwischen Kindergärten und Grundschulen empfohlen wurden. Diese Kooperationsempfehlungen blieben jedoch unverbindlich. Anstelle der geplanten strukturellen Veränderungen im Elementarbereich wurden nur sehr kleine institutionelle Maßnahmen getroffen, die zudem nicht verbindlich wurden. In curricularer Hinsicht wurde in den 1970er-Jahren für die Kindergärten von einer Arbeitsgruppe des Deutschen Jugendinstituts (DJI) eine neue pädagogisches Konzeption entwickelt: der Situationsansatz. Dieser nimmt nicht disziplinbezogene Trainings in den Fokus, sondern Lebenssituation aus dem Alltag der Kinder bilden den Ausgangspunkt von projektartigen Lerneinheiten. Das soziale Lernen wurde als zentrale Entwicklungsaufgabe für die Kinder dieser Altersgruppe angesehen. Der Situationsansatz gilt nach wie vor als zentrales Konzept der Kindergartenpädagogik.

Die in den 1960er-/1970er-Jahren von der Bildungspolitik als gravierend eingeschätzten Krisen im Elementarbereich, die durch strukturelle Reformen gelöst werden sollten, aber nicht umgesetzt wurden, sollten nunmehr durch dezentrale pädagogische Maßnahmen eingedämmt werden. Anders als in den 1970er-Jahren sind in der gegenwärtigen Krise strukturelle Reformen im Elementarbereich trotz der vielfältigen Krisen und weitergehenden herausfordernden Aufgaben (z. B. Migration, Inklusion), wohl nicht zuletzt auch aufgrund der Erfahrungen aus der Zeit der Bildungsreform, derzeit allerdings nicht geplant.

2.2 Primarbereich

Nach dem Zweiten Weltkrieg schien es auch im Primarbereich zunächst keine Krise zu geben. Die Grundschule knüpfte in Westdeutschland in ihrem pädagogischen Profil nahtlos an die Konzeption der Reformpädagogik der 1920er-Jahre an: Gesamtunterricht mit dem heimatkundlichen Anschauungsunterricht war das dominierende grundschulpädagogische Prinzip – an die Lebenswelt der Kinder anknüpfen, die Kinder nicht überfordern. So attestierte der Deutsche Ausschuss für das Erziehungs- und Bildungswesen noch Anfang der 1960er-Jahre in seinen Empfehlungen und Gutachten der Grundschule ein nahezu uneingeschränkt positives Zeugnis: „Eindrucksvoller als andere Stufen unseres Schulwesens hat die Grundschule in der bisherigen Entwicklung ihre eigene Form gefunden.“ (…) „Die Grundschule hat eine pädagogische Haltung und unterrichtliche Verfahren gewonnen, die zwar der weiteren Ausgestaltung und Festigung, aber keiner grundsätzlichen Wandlung mehr bedürfen.“ (Deutscher Ausschuss für das Erziehungs- und Bildungswesen 1966, S. 253) Diese unkritisch positive Sicht auf die Grundschule erfuhr ab Mitte der 1960er-Jahre eine grundlegend neue Bewertung. In ihrer „Analyse der Schulwirklichkeit“ an den Grundschulen beschreibt Neuhaus (1974, S. 118 ff., auch: 1994) auf der Grundlage einer Vielzahl empirischer Erhebungen und statistischer Daten von Schulen aus den 1960er-Jahren zum einen, dass die Grundschule durchaus nicht das von der Weimarer Grundschule vorgesehene Konzept praktiziere, dem zufolge alle Schüler die gleichen Bildungschancen erhalten, sondern dass nach wie vor bildungsprivilegierte Kinder bevorzugt auf weiterführende Schulen empfohlen würden und dass die grundlegende Bildung als Kernaufgabe der Grundschule nicht allen Schülern die gleiche Chance eröffne. Anhand von Daten über Schülerzahlen pro Klasse zeigt sie auf, dass an Grundschulen 10–15 Kinder mehr pro Lehrkraft unterrichtet würden im Vergleich zu Gymnasien.

Angesichts dieser Verhältnisse, die bereits von Picht (1965) als eine Katastrophe (d. h. fundamentale Krise) problematisiert worden waren, war der Reform- und Modernisierungsdruck enorm. Dieser wurde durch verschiedene Impulse („heiße Reize“) insbesondere aus der Wissenschaft und aus der Bildungspolitik befördert. In der Wissenschaft war es Erwin Schwartz, der eine erhebliche Breitenwirkung entfaltete: durch seine veröffentlichten Beiträge (1966, 1969), in denen er eine Vielzahl an Argumenten für notwenige Reformen anführte, vor allem aber durch den 1969 in Frankfurt/M. durchgeführten ersten Grundschulkongress (Schwartz 1970a, b, c, d). Namhafte Wissenschaftler:innen diskutierten die seinerzeit aktuellen Themen zu Begabung und Lernen, zur Schulreife, zur Vorschulerziehung, zur kompensatorischen Erziehung etc. Und nicht zuletzt wurden auch die viel zu hohen Schülerzahlen pro Klasse, der Lehrermangel und die Situation an den Landschulen angeprangert: mehrere Jahrgangsstufen (in einzelnen Fällen sogar die Klassen 1–8) wurden in einem Klassenverband unterrichtet.

Ein entscheidender bildungspolitischer Impuls für Reformen in der Grundschule wurde aber durch den vom Deutschen Bildungsrat herausgegebenen „Strukturplan für das Bildungswesen“ (1970) ausgelöst. Der Deutsche Bildungsrat kam zu einer völlig anderen Einschätzung der Situation an Grundschulen als der Deutsche Ausschuss für das Erziehungs- und Bildungswesen. Das pädagogische Stichwort für eine Neuorientierung und Neugestaltung der Grundschule war der Terminus Wissenschaftsorientierung: „Die Wissenschaftsorientiertheit von Lerngegenstand und Lernmethode gilt für den Unterricht auf jeder Altersstufe.“ (Deutscher Bildungsrat 1970, S. 33) Neuere Forschungsergebnisse zu Begabung und Lernen bildeten den Hintergrund für diesen neuen Schwerpunkt. Die Bedeutung anregender Lernanlässe für die geistige (und damit auch schulische) Entwicklung wurde ins Zentrum gerückt: begabt werden statt begabt sein, inspiriert von Bruners o. g. These. In dem von Roth herausgegebenen Band „Begabung und Lernen“ (1970) werden aus unterschiedlicher fachlicher Perspektive vor allem die Möglichkeiten, aber auch Grenzen des Begabens herausgearbeitet. Die den meisten Artikeln zugrunde liegende bildungsoptimistische Sicht lieferte die Begründungen für die vielschichtigen Veränderungsimpulse.

Die Empfehlungen der Ständigen Konferenz der Kultusminister zur Arbeit in der Grundschule (KMK-Empfehlungen vom 02.07.1970) hinsichtlich erforderlicher Modernisierungsprozesse der Grundschule wiesen in die gleiche Richtung wie die des Deutschen Bildungsrats. Nicht zuletzt wurde die Gleichheit der Bildungschancen angemahnt. Um diese besser zu erreichen, wurden in mehreren Bundesländern vom Beginn der 1970er-Jahre an auch strukturelle Maßnahmen durchgeführt: die Einrichtung der Orientierungsstufe, in der die Schüler:innen der 5. und 6. Jahrgangsstufen im Klassenverband weitgehend nicht nach Leistung differenziert unterrichtet wurden. Eine weitere bildungspolitische Maßnahme war die Abschaffung der ein- oder zweiklassigen Landschulen durch Zusammenlegungen in umliegenden Ortschaften.

Auch in den Fachdidaktiken und Unterrichtsfächern wurden die Reformimpulse des Strukturplans zur Wissenschafts- und Lernzielorientierung aufgenommen. Exemplarisch sollen die Entwicklungen anhand der Unterrichtsfächer Mathematik und Sachunterricht kurz nachgezeichnet werden, zumal diese besonders nachdrücklich die Vorgaben berücksichtigt haben. Im Fach Mathematik sollte in der Grundschule nicht mehr der traditionelle Rechenunterricht im Zentrum stehen, sondern die Mengenlehre. Durch sie sollte die Basis für wissenschaftliches, mathematisches Denken gelegt werden. Auf der Kultusministerkonferenz vom 3. Oktober 1968 wurde die flächendeckende Einführung der Neuen Mathematik für alle Schulformen ab dem Schuljahr 1972/73 beschlossen (Wittmann 2014). Es sollten nicht nur Rechenfertigkeiten vermittelt werden, sondern auch logisches Denken, Modellieren und Abstrahieren sollten gefördert werden. „Logische Blöcke“ (verschiedene geometrische Formen) und Mengendiagramme sollten diese Fähigkeiten fördern. Diese Reform stieß nach wenigen Jahren auf erheblichen Widerstand von Lehrkräften und Eltern, der in der Öffentlichkeit zudem vehement aufgegriffen wurde. Einen Eindruck über den Unmut und die nahezu hysterischen Debatten vermittelte „Der Spiegel“ (vom 25. März 1974), der der Reform unter der bemerkenswerten Schlagzeile „Macht Mengenlehre krank?“ seine Titelseite widmete. Der erhebliche öffentliche Druck, nicht zuletzt auch der Eltern, die ihre Kinder bei den Hausaufgaben nicht mehr unterstützen konnten, aber auch der Lehrkräfte, die mit dem neuen Ansatz nicht vertraut waren und sich nicht hinreichend vorbereitet fühlten, führte dazu, dass die Neue Mathematik zu Beginn der 1980er-Jahre wieder abgeschafft wurde (vgl. zur vehementen Kritik an der Mengenlehre: Wittmann 2014).

Im Fach Sachunterricht, das vor der Reform Heimatkunde hieß, wurden wissenschaftsorientierte Curricula vor allem für den naturwissenschaftlichen Sachunterricht entwickelt. Zwei Ansätze nahmen nahezu idealtypisch das Konzept der Wissenschaftsorientierung auf. Im Programm „Science – A Process Approach“ (S-APA), das Anfang der 1960er-Jahre in den USA entwickelt und von der Arbeitsgruppe für Unterrichtsforschung (AFU) ab 1969 adaptiert worden war, sollten nicht vorrangig sachunterrichtliche Inhalte vermittelt werden, sondern naturwissenschaftliche Arbeitsweisen, mit deren Hilfe neue Inhalte (eigenständig) erschlossen werden sollten. Es sollten acht grundlegende (z. B. Beobachten, Messen) und fünf komplexe Verfahren (z. B. Hypothesen formulieren, Experimentieren) im Verlauf der Grundschuljahre erarbeitet werden. Ein zweiter Ansatz („Science Curriculum Improvement Study“, SCIS), auch Anfang der 1960er-Jahre in den USA entwickelt und von Spreckelsen adaptiert, orientierte sich an Bruners Schlüsselkonzepten, die die Grundlagen jeglicher Naturwissenschaft seien: Teilchenkonzept, Wechselwirkungskonzept und Erhaltungskonzept. Diese Konzepte sollten in den vier Jahrgangsstufen der Grundschule in Form eines Spiralcurriculums erarbeitet werden (vgl. Thomas 2022, S. 255 ff.).

Die Reformeuphorie der 1960er- und frühen 1970er-Jahre ebbte etwa Mitte der 1970er-Jahre ab (vgl. z. B. Hüfner et al. 1986); ein genauer Zeitpunkt für das Ende der Bildungsreform lässt sich nicht festmachen. Verschiedene Ursachen für die „Reformwende“ können genannt werden, die nicht zuletzt die gesellschaftliche Ebene betrafen: die Ölkrise und die dadurch ausgelösten wirtschaftlichen Probleme, der Bericht des Club of Rome über die Grenzen des Wachstums, die Abkehr von der Wiederaufbau- und Reformpolitik hin zu einer Politik des wirtschaftsorientierten Krisenmanagements. Der in den 1960ern in Westdeutschland noch gegebene politische Konsens bezüglich der Notwendigkeit von weitreichender Bildungsreform zerbrach. Der ursprüngliche Wissenschaftsoptimismus löste sich angesichts der Erfahrung erster Schwierigkeiten bei der Umsetzung von Reformen auf, zum Ende der 1970er-Jahre zeichnete sich zudem eine massive, langanhaltende Lehrerarbeitslosigkeit ab. Damit verschwanden Schulreform und Bildungspolitik aus dem Aufmerksamkeitshorizont der Politik (Zedler 1985). Die Reformambitionen wurden nunmehr dezentral und basisorientiert; zentral und „von oben“ gesteuerte Reformen der Curricula wurden durch offene und praxisnahe Curriculum-Arbeit ersetzt (z. B. „Offener Unterricht“, Projektunterricht).

3 Nichts Neues? Abschließende Bemerkungen

Krisen im Elementar- und Primarbereich stellen derzeit erhebliche Probleme für die Bildungspolitik, die Elementar- und Grundschulpädagogik und nicht zuletzt für die Praxis in den entsprechenden Einrichtungen dar. Doch sind sie neu? Diese Frage wurde im Titel dieses Beitrags gestellt. Sie lässt sich allerdings nicht mit einem einfachen Nein oder Ja beantworten. Auch wenn an dieser Stelle keine umfassende Analyse der gegenwärtigen Krisen erfolgen kann, so sollen doch einige Merkmale vergleichend gegenübergestellt werden:

Nein, zahlreiche Krisen sind nicht neu: Probleme der 1960er-Jahre sind, wenn auch nicht deckungsgleich, so doch ähnlich und ähnlich gravierend:

  • Gesellschaftliche und ökonomische Modernisierungserfordernisse

  • Lehrkräftemangel; zusätzlich jetzt ein erheblicher Mangel an Erzieher:innen

  • Mangel an Kindergartenplätzen; jetzt verstärkt durch einen Mangel an Krippenplätzen

  • Veraltete pädagogische und lernpsychologische Konzepte bzw. heute: Problem des Transfers von Forschungsergebnissen in die Praxis (jetzt z. B. zur Kompetenzorientierung und zur Evidenzbasierung)

  • Ungleiche Bildungschancen

  • Unzureichende schulische Bildungserfolge

Die skizzierten Krisen der 1960er-Jahre führten seinerzeit zu gravierenden bildungspolitischen Veränderungen sowie zu pädagogischen und curricularen Reformen. Es gab konkrete Auslöser (z. B. Picht, Schwartz, Strukturplan) für die anschließenden strukturellen und curricularen Reformvorhaben. Ein wesentliches Kennzeichen war, dass sie überwiegend „von oben“ geplant, angeordnet und umgesetzt wurden. Die noch junge Bildungsforschung versprach, die wissenschaftlichen Grundlagen für die weitreichenden, staatlich gesteuerten Bildungsreformen zu liefern. Von einer solchen wissenschaftsgestützten und politisch gewollten Modernisierung versprach man sich möglichst rasche Verbesserungen und eine Überwindung der Krisen.

Es zeigen sind mit Blick auf die gegenwärtigen Krisen im Vergleich zu den 1960er-/1970er-Jahren aber auch erhebliche Unterschiede.

Ja, die Krisen sind neu: Die gegenwärtigen Krisen haben z. T. andere Ursachen, sind erheblich komplexer; Hintergründe sind:

  • Größere Heterogenität in den Kindergartengruppen und Klassen durch Migration: Die sprachlichen, kulturellen und sozialen Voraussetzungen und Vorerfahrungen der Kinder sind äußerst unterschiedlich.

  • Gewachsene Vielfalt in den Klassen durch Inklusion: Die im Jahre 2009 von Deutschland ratifizierte Behindertenrechtskonvention verpflichtet zu einer Inklusion von Kindern mit körperlichen oder geistigen Einschränkungen.

  • Erzieher:innen- und Lehrkräftemangel: Erhöhte Frauenerwerbstätigkeit und das Recht auf einen Kita-Platz für Kinder ab dem vollendeten ersten Lebensjahr, sowie der höhere Anteil an Grundschüler:innen, die Ganztagsangebote nutzen (wollen) (Hort, Ganztagsgrundschule) erhöht den Bedarf an pädagogischem Personal zusätzlich erheblich.

  • Prozessqualität in den Kitas: Die große Heterogenität in den Kindergartengruppen erfordert adaptive sprachlich anregende Interaktionen zwischen den Erzieher:innen und Kindern.

  • Unterrichtsqualität: Der Einsatz von kaum pädagogisch ausgebildetem Personal (Seiteneinsteiger, Quereinsteiger); der Unterricht erfolgt zu wenig nach derzeitigen pädagogischen und didaktischen Standards (Differenzierung/Individualisierung; Evidenzbasierung).

  • Seit der Corona-Pandemie offensichtlich: Unterricht mit digitalen Medien ist unzureichend.

Neben den genannten Aspekten ist ein anderer Unterschied zu den 1960er‑/1970er-Jahren entscheidend. Wegen der Reformeuphorie und des Bildungsoptimismus konnten strukturelle und auch curriculare Reformen zunächst ohne gravierende Widerstände initiiert und erprobt werden. Die Krise wurde gesellschaftspolitisch auch als Chance gesehen für manifeste Verbesserungen im Elementar- und Primarbereich, die als besonders reformbedürftig betrachtet wurden. Die Interdependenzen von ökonomischen, gesellschaftspolitischen und bildungspolitischen Herausforderungen führten zusammen mit den neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen (z. B. in der Lernpsychologie, Curriculumtheorie) zu den als notwendig erachteten Reformen. Das historisch spezifische Zeitfenster wurde genutzt, um die latent bereits seit längerer Zeit vorhandenen Krisen anzupacken. Die genannten Auslöser für die Reformen markierten somit in der Krise die „Spitze des Eisberges“ (Harmsen und Ibert 2023, S. 36), der darunter liegende Berg sollte durch die Reformmaßnahmen abgetragen werden.

Doch die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die seinerzeit die Bildungsreformen ermöglichten, unterscheiden sich derzeit gravierend von den heutigen. Aktuell ist nicht einfach nur eine Reformmüdigkeit zu verzeichnen, sondern schon eher eine Reformabwehr oder gar eine Widerständigkeit. Dies gilt gewissermaßen für die ganze Gesellschaft, denn der von außen sich andrängende Wandel und die mannigfachen Krisenerscheinungen (Klima, Corona, Kriege etc., neben der Krise im Bildungssystem) sind derart gravierend, dass die Energie für gezielte, anspruchsvolle Reformen fehlt. Lehrkräfte und Erzieher:innen fühlen sich bereits durch die alltäglichen vielschichtigen Aufgaben und den Mangel an Fachkräften erheblich überlastet und artikulieren Widerstand gegen Reformen (vgl. Terhart 2013). Zudem hat sich aufgrund des seit vielen Jahren zunehmend schlechteren Abschneidens der Grundschüler:innen bei den nationalen und internationalen Leistungsvergleichsuntersuchungen der Druck auf die Lehrkräfte und Erzieher:innen nochmals erhöht (zuletzt IQB-Studie, Stanat et al. 2022). Die von der KMK eingesetzte Ständige Wissenschaftliche Kommission (SWK) formuliert in ihrem umfangreichen Gutachten für die Grundschule, das auch ein Kapitel zum Elementarbereich enthält, insgesamt 20 konkrete Empfehlungen, zahlreiche auch für die frühkindliche Bildung. Bei den vorgeschlagenen Maßnahmen geht es u. a. um eine bessere Qualifizierung des pädagogischen Personals für Diagnose und Förderung und vor allem um eine Verbesserung der Unterrichtsqualität – alles Aufgaben, die für die Betroffenen zusätzliche Belastungen darstellen. Zu ihrer Durchsetzung sei es jedoch erforderlich, so die SWK, dass nicht nur Einzelmaßnahmen vorgenommen würden, sondern eine Strategie entwickelt werde, „die das gesamte System von der Schule über die Schulaufsicht bis zu den Kultusministerien in die Verantwortung nimmt. Nur so kann die Grundschule ihrem Bildungsauftrag nachkommen“ (Ständige wissenschaftliche Kommission 2022). Die Berechtigung der Forderungen der SWK wird in der bildungspolitischen Öffentlich zwar nicht infrage gestellt, doch wie diese Forderungen angesichts des eklatanten Lehrkräfte- und Fachkräftemangels realisiert werden sollen, dazu ist derzeit keine große, einheitliche Lösung in Sicht. Zahlreiche Kindergärten haben sogar aufgrund der Personaldefizite Gruppen zusammengelegt oder geschlossen.

Mit Blick auf die damaligen und jetzigen spezifischen Bedingungen können die Bildungsreformen der 1960 und frühen 1970er-Jahre sowie die in dieser Krise gemachten Erfahrungen nicht oder nur bedingt als eine Art Masterplan herangezogen werden, um aktuelle Reformprozesse anzuleiten bzw. möglichst erfolgreich zu gestalten. Immerhin kann man aber angesichts der damals gemachten Erfahrungen vor dem Glauben warnen, dass Ergebnisse der Bildungsforschung eindeutig sind, und dass man aus ihnen klare Schlüsse für Verbesserungen und deren praktische Umsetzung ziehen kann, die dann auch zum Erfolg führen. Umfassendere oder gar bundesländer-einheitliche strukturelle bildungspolitische Veränderungen zur Überwindung der Krisen sind aus den genannten Gründen, aber auch wegen der Erfahrungen aus vorangegangenen geplanten bzw. auch durchgeführten, dann jedoch gescheiterten bzw. weitestgehend wieder zurückgenommen Reformvorhaben, wie sie im schulischen Bereich initiiert worden waren, in absehbarer Zeit eher nicht zu erwarten. Erinnert sei an fehlgeschlagene Reformen der jüngeren Zeit:

  • Die in verschiedenen Bundesländern eingeführten Orientierungsstufen wurden ab den 2000er-Jahren wieder rückgängig gemacht.

  • In Hamburg beschloss im Jahre 2009 die damalige schwarz-grüne Landesregierung, die sechsjährige Primarschule einzuführen. Ein Volksentscheid, der von Elterngruppen initiiert worden war, verhinderte dies. Die Befürworter der sechsjährigen Primarschule erwarteten dadurch mehr Bildungsgerechtigkeit. Das Argument der Gegner war, die leistungsstarken Kinder würden durch einen weiteren Verbleib in der Grundschule benachteiligt.

  • In den meisten westdeutschen Bundesländern wurde zwischen 2012 und 2015 das achtjährige Gymnasium (G 8) eingeführt. Vor allem aufgrund des Drucks der Eltern wurde nach und nach die G 8 weitgehend wieder rückgängig gemacht, obwohl in ostdeutschen Bundesländern die G 8 nach der Wende beibehalten wurde.

Umfassendere bildungspolitische Reformmaßnahmen „von oben“ haben derzeit kaum eine realistische Chance der Umsetzung. So werden in Grundschulen in den Bundesländern nur eher kleine Maßnahmen zur Verbesserung der als besonders problematisch identifizierten Krisen angeordnet, z. B. in Bayern die Erhöhung der Unterrichtsstunden in den Fächern Deutch und Mathematik um je eine Schulstunde – auf Kosten von Unterrichtszeit in musisch-kreativen Fächern. In Baden-Württemberg plant das Kultusministerium, für Kinder mit nicht hinreichenden Sprachkenntnissen eine Vorklasse („Junior-Klasse“) einzuführen (Strobl 2024). Bereits diese eher kleinteiligen Veränderungen führen schon zu erheblichen Widerständen. Generell scheinen Beharrungskräfte und Überforderungsängste ein wesentliches Reformverhinderungsmotiv zu sein. Von daher wird zur Überwindung der Krisen wohl auf absehbare Zeit nur mit Notfallmaßnahmen reagiert (Maßnahmen zur Behebung des Lehrkräftemangels z. B.: Beschäftigung von Seiten- und Quereinsteigern ohne grundlegende pädagogische Ausbildung, Unterricht von Studierenden; minimale Veränderungen bei den Stundenkontingenten) und generell nur „auf Sicht“ gefahren. Weitergehende oder gar strukturelle Maßnahmen bildungspolitischer Art sind nicht zu erwarten. Bildungsreformen insgesamt sowie auch einzelne Reformprojekte sind wohl eher im Sinne eines langlaufenden Kulturwandels mit inneren Widersprüchen und Ambivalenzen zu verstehen, die letztendlich nur bei hoher Akzeptanz und hoher Motivation auf Seiten der sie tragenden Akteure, der pädagogischen Praktiker:innen, gelingen können.