1 Theoretischer und empirischer Hintergrund

1.1 Zentrale Kennzeichen der Reichen-Konzeption

‚Lesen durch Schreiben‘ ist eine Konzeption für einen offenen Anfangsunterricht im Schriftspracherwerb, in der die Kinder mithilfe einer Anlauttabelle von Anfang an weitgehend selbstständig schreiben, um schlussendlich lesen zu lernen. Dezidierter Leseunterricht ist nicht erwünscht. Damit verbunden auch die strikte Abwehr gegen lautes Vorlesen in der Klasse, sofern es die Schüler:innen nicht selbst einfordern. Lesen soll sich allein durch die Zuordnung der Phoneme zu den einzelnen Graphemen während des Schreibens implizit entwickeln (Reichen 2008). Ebenso werden nicht alle orthografischen Fehlschreibungen von Beginn an korrigiert. Das vorrangige Ziel ist die phonetisch vollständige Verschriftung des Geschriebenen (Reichen 1988), sodass beispielsweise *<HNT> für <Hund> als fehlerhaft rückgemeldet wird, da das Phonem /u/ nicht verschriftet wurde, allerdings das Wort *<HUNT> als vollständige Wiedergabe der lautlichen Struktur des Wortes (vorerst) nicht verbessert wird. Die Konzeption wird vielfach kritisiert (z. B. Dürscheid 2011), insbesondere aufgrund der begrenzten Anstöße zur Reflexion weiterer (schrift-)sprachlicher Strukturen durch den Unterricht, sei es auf silbischer oder morphologischer Ebene. Zudem wird die Anlauttabelle als einziges Hilfsmittel bemängelt, weil eine eindeutige Lautorientierung suggeriert werde, wodurch der weitere Schriftspracherwerb auf falschen bzw. verzerrten Annahmen fuße (z. B. Schenk 2006). Dementsprechend kann vermutet werden, dass sich Schüler:innen, die nach der Methode ‚Lesen durch Schreiben‘ unterrichtet werden, weniger intensiv mit der Schriftsprache auseinandersetzen und deshalb auch schwächere Leistungen im Lesen und Rechtschreiben zeigen als Schüler:innen, die mit strukturorientierten Methoden, beispielsweise einem Fibellehrgang, durch dezidierte Übungen bewusst im Unterricht an die Schriftsprache herangeführt werden.

1.2 Forschungsstand zu Effekten auf Lese- und Rechtschreibleistung

Befunde zur schriftsprachlichen Leistungsentwicklung von Grundschüler:innen, die mit ‚Lesen durch Schreiben‘ unterrichtet wurden, unterstützen teilweise die angeführte Kritik. So zeigen Kuhl (2020) und Schründer-Lenzen und Mücke (2005) unter Kontrolle verschiedener Einflussfaktoren eine Überlegenheit eines fibelorientierten Ansatzes im Vergleich zu Reichens Konzeption im Hinblick auf die orthografischen Leistungen. Weitere Studien kommen zu vergleichbaren Ergebnissen (z. B. bei May und Balhorn 1991; May 1994), allerdings fand hier keine Kontrolle der Eingangsvoraussetzungen statt, „weshalb die durchschnittlichen Leistungsvorteile der Fibelklassen in der orthographischen Sicherheit nicht kausal auf die Lehr-Lern-Konzeption zurückgeführt werden können“ (May 1994, S. 11). Auch durch die Meta-Analyse von Funke (2014) wird deutlich, dass ein klarer Vorteil des Fibelunterrichts für die Rechtschreibleistungen am Ende der Grundschulzeit nicht festzumachen ist, wenn Studien herangezogen werden, die bedeutsame Einflussvariablen wie kognitive Eingangsvoraussetzungen oder Vorläuferfähigkeiten kontrollieren (z. B. Friedrich 2010; Weinhold 2006). Funke (2014) konstatiert, dass eine derartige Variablenkontrolle bisher nur selten vorgenommen wurde und in weiteren Studien berücksichtigt werden sollte (z. B. bei Hess et al. 2020).

Einige Studienergebnisse weisen sogar darauf hin, dass besonders zu Beginn des Schriftspracherwerbs die Lesen-durch-Schreiben-Klassen teilweise den anderen Unterrichtskonzeptionen überlegen sind (Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung München 2003; Weinhold 2006). Möglicherweise finden Lesen-durch-Schreiben-Kinder einen schnelleren Zugang zur Schrift (Scheerer-Neumann 2022), da sie beispielsweise von Anfang an mit dem gesamten Graphembestand des Deutschen in der Anlauttabelle arbeiten und schneller lautorientiert verschriften können. Dieser Vorsprung verschwindet dann aber in weiterführenden Klassenstufen, womöglich aufgrund der zu geringen Auseinandersetzung mit regelhaften orthografischen Strukturen neben der Lautorientierung (Weinhold 2009).

Nach der Metastudie von Funke (2014) lernen Schüler:innen im Anfangsunterricht mithilfe einer Fibel zunächst besser lesen als bei Reichen. Dies scheint wenig überraschend, da die Kinder in der Reichen-Konzeption keinerlei lesedidaktische Instruktionen erhalten. Allerdings sind am Ende der Grundschulzeit in einigen Studien, wie auch für die Rechtschreibleistungen, keine signifikanten Unterschiede mehr zwischen den didaktischen Konzeptionen feststellbar (Friedrich 2010; Funke 2014).

Insgesamt kann auf Basis des bisherigen Forschungsstands keine klare Empfehlung für eine konzeptionelle Ausrichtung des schriftsprachlichen Unterrichts ausgesprochen werden (Deimel und Schulte-Körne 2006; Funke 2014; Hanke und Schwippert 2005). Dies wird durch die Tatsache bestärkt, dass die Streuung der schriftsprachlichen Schüler:innenleistungen innerhalb einer Konzeption teilweise größer sind als zwischen den verschiedenen Ansätzen (Brügelmann et al. 1991; May 1994; Weinhold 2006).

1.3 Forschungsstand zu Effekten auf Selbstkonzept und motivationale Aspekte

Der bisherige Forschungsschwerpunkt zu Effekten schriftsprachlicher Konzeptionen liegt auf der Entwicklung der Schüler:innenleistungen. Deutlich seltener wurde untersucht, wie sich die Konzeption ‚Lesen durch Schreiben‘ im Vergleich zu anderen methodischen Ansätzen auf motivationale Aspekte sowie auf das Selbstkonzept auswirkt. Vereinzelte Ergebnisse deuten an, dass Grundschüler:innen unabhängig von der didaktischen Konzeption in Bezug auf den Schriftspracherwerb hochmotiviert sind (Kuhl 2020). Gleichzeitig kann aber auch davon ausgegangen werden, dass Schüler:innen in der ‚Lesen durch Schreiben‘-Konzeption motivierter sind als im Fibellehrgang, da sie im offenen Werkstattunterricht individualisiert und selbstbestimmt lernen können und dies zu einem höheren Interesse und höherer Lernmotivation führen kann (Deci und Ryan 1993; Hartinger 2006). Friedrich (2010) stellt fest, dass die Furcht vor Misserfolg in den lehrgangsorientierten Konzeptionen mit der Zeit zunimmt. Deshalb kann vermutet werden, dass Schüler:innen in einem Unterricht, in dem ‚Lesen durch Schreiben‘ eine große Rolle spielt, ein höheres Selbstkonzept in Bezug auf die eigenen Lese- und Schreibkompetenzen aufweisen. Möglicherweise hängt dies mit dem Verzicht auf das laute Vorlesen im Plenum sowie mit der eingeschränkten Korrektur orthografischer Fehler bei Reichens Konzeption zusammen.

1.4 Forschungsstand zu Effekten von Geschlecht und Vorläuferfertigkeiten auf Lese- und Rechtschreibleistung, Selbstkonzept und motivationale Aspekte

Zentrale Bedeutung für die Entwicklung schriftsprachlicher Fähigkeiten haben spezifische Vorläuferfertigkeiten, insbesondere die phonologische Informationsverarbeitung. Die darin integrierte phonologische Bewusstheit (z. B. Anlaute hören, Reime bilden) beeinflusst die Lesegeschwindigkeit, das Leseverständnis sowie insbesondere die orthografischen Leistungen (z. B. Ennemoser et al. 2012). Auch die Buchstabenkenntnis vor bzw. zu Beginn des Schuleintritts als Indikator für das frühe schriftsprachliche Wissen (Schneider 2017) erweist sich als wichtiger Prädiktor für spätere schriftsprachliche Leistungen, vor allem für die Rechtschreibleistungen (Miller und Mähler 2023; Caravolas et al. 2019; Schneider 2008).

In zahlreichen Studien wurde zudem die Bedeutung des Geschlechts auf die Lese- und Rechtschreibleistungen untersucht. Für beide Kompetenzbereiche liegen keine konsistenten Ergebnisse vor. So wird in zahlreichen Studien Mädchen ein Leistungsvorsprung sowohl im Lesen (z. B. Lorenz et al. 2023) als auch im Rechtschreiben (z. B. Blatt et al. 2016; Kowalski und Voss 2009) zugeschrieben. Gleichzeitig existieren aber auch einige Forschungsergebnisse, die nur auf geringe bzw. nicht signifikante Leistungsunterschiede hinweisen (für das Lesen: z. B. Zöller und Roos 2009; für das Rechtschreiben: z. B. Mücke und Schründer-Lenzen 2008; Röhr-Sendlmeier et al. 2007). Der Einfluss des Geschlechts ist deshalb möglicherweise insgesamt geringer als angenommen (Jiménez et al. 2011; Siegel und Smythe 2005). Zusammenfassend plädiert Schneider (2017) dennoch dafür, dass trotz der teilweise widersprüchlichen Ergebnisse das Geschlecht als möglicher Einflussfaktor in statistische Modelle einbezogen werden sollte.

Auch die Geschlechtszugehörigkeit kann für die emotional-motivationale Entwicklung im Lesen und Schreiben eine Rolle spielen. So zeigen kurz nach Schuleintritt zwar fast noch alle Kinder ein sehr positives akademisches Selbstbild (Helmke 1998). Im Laufe der Grundschulzeit entwickeln Mädchen jedoch auch unter Kontrolle der schulischen Leistung ein optimistischeres verbales Selbstkonzept als Jungen (z. B. Ehm et al. 2011). Auch in der IGLU-Studie 2021 (McElvany et al. 2023) weisen Mädchen ein höheres Selbstkonzept im Lesen auf als Jungen. Es liegen allerdings auch Studien vor, die keine oder nur geringe geschlechtsspezifische Unterschiede im (Lese‑)Selbstkonzept berichten (Kavanagh 2019; Tunmer et al. 2003). Als Vorläufer für das Selbstkonzept kann die Erfolgserwartung vor/zu Schulbeginn angesehen werden, die im Sinne des self-enhancement-Ansatzes insbesondere in der Zeit des Übergangs vom Kindergarten in die Grundschule auch zu positiven Effekten auf die Leistung führen kann (Helmke 1992).

Die Lernfreude bzw. -motivation ist bei Mädchen für das Lesen und Schreiben höher als bei Jungen (McElvany et al. 2023). Geschlechtsspezifische Unterschiede in der Lesemotivation bleiben in der Studie von Becker und McElvany (2018) in weiterführenden Klassenstufen auch unter Kontrolle von Hintergrundvariablen und Leistung bestehen. Sie können die besseren Leseleistungen der Mädchen teilweise erklären (Heyder et al. 2017).

Das Geschlecht erweist sich damit sowohl für das Selbstkonzept als auch für die Lernmotivation im Bereich des Schriftspracherwerbs als Einflussfaktor. Für die zuvor beschriebenen spezifischen Vorläuferfähigkeiten liegen diesbezüglich wenig Daten vor. Ergebnisse von Ehm et al. (2019) weisen darauf hin, dass die (Lese‑)Leistungen das Selbstkonzept der Grundschüler:innen beeinflussen, weshalb vermutet werden kann, dass Schüler:innen mit besseren Vorläuferfähigkeiten auch ein höheres Selbstkonzept haben. Gleiches gilt für motivationale Aspekte: Aufgrund der Korrelationen zwischen Motivation und schriftsprachlichen Leistungen (McBreen und Savage 2021; Schneider et al. 1997) ist davon auszugehen, dass gut entwickelte Vorläuferfähigkeiten ebenfalls die Lernmotivation beeinflussen und umgekehrt.

2 Fragestellungen

Die bisherigen Befunde zur Entwicklung der Lese- und Rechtschreibleistungen im Unterricht, der nach verschiedenen didaktischen Konzeptionen gestaltet ist, sind vor allem für die untersten Klassenstufen nicht eindeutig. Bisher gibt es zudem kaum Ergebnisse zu den Effekten schriftsprachlicher Konzeptionen auf das Selbstkonzept und die Lernfreude. Nur wenige Studien haben bedeutsame weitere individuelle Einflussfaktoren auf die Lese- und Rechtschreibleistungen kontrolliert und die Mehrebenenstruktur der Daten wurde in den bisherigen Studien nicht berücksichtigt. Der vorliegende Beitrag fokussiert daher auf folgende Fragen: Welche Effekte hat die Rolle, die die Konzeption ‚Lesen durch Schreiben‘ im Unterricht spielt, unter Kontrolle verschiedener Eingangsvoraussetzungen, auf …

  • … die Leseverständnisleistungen am Ende des 1. und 2. Schuljahres?

    (Fragestellung 1)

  • … die Rechtschreibleistungen am Ende des 1. und 2. Schuljahres?

    (Fragestellung 2)

  • … das Selbstkonzept im Lesen am Ende des 1. und 2. Schuljahres?

    (Fragestellung 3)

  • … das Selbstkonzept im Schreiben am Ende des 1. und 2. Schuljahres?

    (Fragestellung 4)

  • … die Lernfreude im Lesen und Schreiben am Ende des 2. Schuljahres?

    (Fragestellung 5)Footnote 1

Aufgrund des inkonsistenten Forschungsstands, insbesondere für die erste Jahrgangsstufe, werden für die Entwicklung der Lese- und Rechtschreibleistungen in Abhängigkeit von der Orientierung an ‚Lesen durch Schreiben‘ keine gerichteten Hypothesen formuliert. Aus theoretischer Sicht wären für ‚Lesen durch Schreiben‘ eher geringere Lese- und Rechtschreibleistungen erwartbar, da weder orthografische Regelvermittlung noch expliziter Leseunterricht erfolgen. Aus der Nicht-Korrektur von Fehlern und dem offenen und individualisierten Unterricht bei Lehrpersonen, die sich stärker an der Reichen-Konzeption orientieren, könnten aber höhere Werte in den fachspezifischen Selbstkonzepten und der Lernfreude resultieren. Da die Forschungslage zu affektiv-motivationalen Variablen aber sehr lückenhaft ist, werden aber auch hierzu keine Hypothesen formuliert.

3 Methode

3.1 Stichprobe und Forschungsdesign

Die Daten stammen aus der Längsschnittstudie PERLE (Lipowsky et al. 2013) zur Persönlichkeits- und Lernentwicklung von Grundschulkindern. Es handelt sich um ein mehrperspektivisches Design, in dem die Lehrkräfte, die Eltern und die Schüler:innen zu mehreren Zeitpunkten befragt und beobachtet wurden.

Die Stichprobe besteht aus 31 Klassen mit 507 Schüler:innen (♀ = 54 %). Der Großteil der 31 Lehrpersonen (♀ = 100 %) war zum Zeitpunkt der Lehrkräftebefragung zwischen 35 und 45 Jahre alt (16 % = bis 35 Jahre alt; 65 % = 35–45 Jahre alt; 16 % = 45–55 Jahre alt; 3 % = über 55 Jahre alt). Im Mittel verfügen die Lehrkräfte über 15,68 Jahre Berufserfahrung (Min = 1 Jahr, Max = 35 Jahre, SD = 11 Jahre).

Für diesen Beitrag werden Daten von verschiedenen Messzeitpunkten genutzt, die im Folgenden dargestellt werden (vgl. Abb. 1).

Abb. 1
figure 1

Ausschnitt aus der PERLE-Studie und verwendete Instrumente für den Beitrag

3.2 Instrumente und einbezogene Variablen

Angabe der Lehrpersonen zur Orientierung an der Konzeption ‚Lesen durch Schreiben‘

Im Rahmen einer Befragung der Lehrpersonen wurde erhoben, welche Rolle die Konzeption ‚Lesen durch Schreiben‘ für den eigenen Unterricht spielt (1 = „keine Rolle“, 2 = „geringe Rolle“, 3 = „wichtige Rolle“, 4 = „dominante Rolle“; vgl. Greb et al. 2011). Von den 31 befragten Lehrpersonen gaben 18 Lehrpersonen an, dass die Methode ‚Lesen durch Schreiben‘ nach Reichen keine Rolle oder eine untergeordnete Rolle in ihrem Unterricht spielt, während 13 Lehrpersonen angaben, dass die Methode eine wichtige oder dominante Rolle in ihrem Unterricht einnimmt (M = 2,10, SD = 1,01; vgl. Tab. 1; vgl. Hess et al. 2020, S. 323).

Tab. 1 Angaben aus dem Lehrkräftefragebogen zur Bedeutung der Methode ‚Lesen durch Schreiben‘

Zur Validierung der Lehrkräfteangaben zur Rolle von Lesen durch Schreiben (vgl. hierzu auch Hess und Denn im Druck) wurden diese mit weiteren Angaben zur Unterrichtsgestaltung korreliert. Dabei zeigt sich beispielsweise erwartungsgemäß, dass mit einer höheren Rolle von ‚Lesen durch Schreiben‘ seltener Fibeln genutzt werden (r = −0,52**) und häufiger Rechtschreibfehler zugelassen werden (r = 0,39*). Ergebnisse zu weiteren Zusammenhängen finden sich auch in Abschn. 5.1 zur Diskussion der Ergebnisse.

Vorläuferfertigkeiten

Zu Beginn des ersten Schuljahres wurden die schriftsprachlichen Vorläuferfertigkeiten mittels einer Adaption des LEst 4–7 erfasst. Für die phonologische Bewusstheit wird der Subtest „Anlaute hören“ und für die Buchstabenkenntnis der Subtest „Buchstaben lesen“ herangezogen. Die Lernenden wurden darin mit acht Bildern, deren Anlaute sie nennen sollten (z. B. „F“ für „Flöte“) und 20 Buchstaben konfrontiert, die von ihnen benannt werden sollten. Bei beiden Skalen wurde eine Rasch-Skalierung durchgeführt und WLE-Schätzer als Personenfähigkeitsparameter ausgelesen (vgl. Greb et al. 2011).

Leseverständnis

Die Leistungen im Lesen wurden mit dem ELFE-Test (Lenhard und Schneider 2006) erhoben, der die Subskalen Wort‑, Satz- und Textverständnis enthält. Der Gesamttest im Leseverständnis bestand aus einem Summenwert dieser Subskalen (vgl. Karst et al. 2011).

Rechtschreibung

Die Rechtschreibleistungen wurden mit dem Diktattest DERET 1–2 (Stock und Schneider 2008) erhoben. Um einen Wert für jedes Kind in der Rechtschreibleistung ermitteln zu können, wurde ein eindimensionales dichotomes Rasch Modell spezifiziert, aus dem Personenparameter mit WLE-Schätzern ausgelesen wurden (vgl. Karst et al. 2011).

Erfolgserwartung

Ebenfalls zu Beginn der ersten Klasse wurden die Kinder zu ihrer Erfolgserwartung im Lesen und Schreiben als Vorläufer des Selbstkonzepts befragt (z. B. „Was denkst du? Wirst du im Lesen in der Schule gut sein?“). Die Kinder sollten dies auf einer vierstufigen Skala (1 = „eher schlecht“; 2 = „nicht so gut“; 3 = „gut“; 4 = „sehr gut“) beantworten (Greb et al. 2011). Dieses Konstrukt wurde für die Analysen als Kontrollvariable zu Schulbeginn genutzt, da die Kinder direkt zu Schulbeginn – solange sie nicht lesen und schreiben konnten – noch nicht zu ihrem Selbstkonzept im Lesen und Schreiben befragt werden konnten.

Selbstkonzepte

Bei den Selbstkonzepten im Lesen sowie im Schreiben handelte es sich um zwei eigenentwickelte Skalen. Die Schüler:innen sollten verschiedene Fragen auf einer dreistufigen Skala beantworten (z. B. „Wie gut bist du beim Lesen?“; 1 = „nicht so gut“; 2 = „gut“; 3 = „sehr gut“; vgl. Greb et al. 2011; Karst et al. 2011).

Lernfreude

Die Lernfreude wurde für die Domänen Lesen und Schreiben gemeinsam betrachtet und zu Beginn der ersten und zum Ende der zweiten Klasse erhoben. Die Kinder sollten auf einer vierstufigen Skala verschiedene Fragen mit Smileys beantworten (Beispiel: „Liest du gerne?“; 1 = geringe Freude bis 4 = hohe Freude; vgl. Karst et al. 2011).

Informationen zur Reliabilität der Skalen sowie zu Mittelwerten und Standardabweichungen finden sich in Tab. 2. Bei Variablen, bei denen Eingangswerte zusätzlich als unabhängige Variablen genutzt wurden, werden auch diese Kennwerte tabellarisch aufgeführt.

Tab. 2 Überblick über die Kennwerte der abhängigen Variablen in der untersuchten Stichprobe

3.3 Analysemethoden und Interkorrelationen

Aufgrund der hierarchischen Datenstruktur wurden Mehrebenenanalysen in Mplus (Muthén und Muthén 2012) berechnet. Damit wird berücksichtigt, dass die Kinder innerhalb einer Klasse ähnlichen Umgebungsfaktoren ausgesetzt sind. Die Zentrierung erfolgte am Gesamtmittelwert der Stichprobe, um die Koeffizienten auf Ebene 2 unter Berücksichtigung der Kovariaten auf Ebene 1 zu schätzen, die bei der Zentrierung um den Gruppenmittelwert nicht kontrolliert werden (Enders und Tofighi 2007).

An den Interkorrelationen auf Ebene 1 (vgl. Tab. 3) zeigt sich, dass die Vorläuferfertigkeiten Anlaute hören als Aspekt der phonologischen Bewusstheit und die Buchstabenkenntnis eng miteinander korrelieren (r = 0,61*). Mädchen weisen höhere Werte im Anlaute hören auf als Jungen (r = 0,10*) und haben im Vergleich zu Jungen eine höhere Erfolgserwartung zu Beginn der ersten Klasse (r = 0,10*). Die Erfolgserwartung hängt positiv mit der Buchstabenkenntnis zusammen (r = 0,12*), nicht aber mit der Vorläuferfähigkeit im Anlaute hören (r = 0,06 ns).

Tab. 3 Interkorrelationen auf Ebene 1

4 Ergebnisse

Die Ergebnisse werden im Folgenden in der Reihenfolge der Fragestellungen dargestellt. Für alle Tabellen gilt: Die Rolle, die ‚Lesen durch Schreiben‘ für den Unterricht spielt, wurde als vierstufige Variable in die Modelle aufgenommen (1 = keine Rolle; 2 = geringe Rolle; 3 = wichtige Rolle; 4 = dominante Rolle). Das Geschlecht ging dichotom in die Analysen ein (0 = männlich; 1 = weiblich). Die Signifikanzniveaus werden mit exakten p-Werten angegeben und zusätzlich wie folgt markiert: p ≤ 0,001***; p ≤ 0,01**; p ≤ 0,05*; p ≤ 0,10+.

4.1 Effekte der Rolle des Konzepts ‚Lesen durch Schreiben‘ auf das Leseverständnis

Betrachtet man in Tab. 4 das Leseverständnis zum Ende der ersten Klasse als abhängige Variable (Modell 1), so weist von den individuellen Merkmalen lediglich die Buchstabenkenntnis als Vorläuferfertigkeit signifikant positive Effekte auf (β. = 0,50***; p ≤ 0,001). Die Rolle, die ‚Lesen durch Schreiben‘ spielt, hat unter Kontrolle der individuellen Variablen keinen Effekt. Die Modelle 2a–2c mit der abhängigen Variable des Leseverständnisses zum Ende des zweiten Schuljahres variieren in den Kontrollvariablen: Für das Geschlecht, das in allen Modellen kontrollierend berücksichtigt wurde, zeigen sich geringe, tendenziell signifikante Effekte (βModell2a = 0,09+; βModell2a = 0,09+; p ≤ 0,10), die darauf hindeuten, dass die Leseverständnisleistungen der Mädchen etwas positiver ausgeprägt sind. Während in Modell 2a durch die zusätzliche Kontrolle der Vorläuferfertigkeiten der Effekt von ‚Lesen durch Schreiben‘ über den Verlauf der ersten beiden Schuljahre betrachtet wird, wird in Modell 2b auch die Leseverständnisleistung zum Ende des ersten Schuljahres kontrolliert. In Modell 2c wird nur das Leseverständnis zum Ende des zweiten Schuljahres kontrolliert, sodass hier v. a. die Entwicklung im Laufe des zweiten Schuljahres betrachtet wird. Während die Buchstabenkenntnis auch in den Modellen 2a und 2b weiterhin signifikant positive Effekte hat, übt die Rolle von ‚Lesen durch Schreiben‘ in keinem der Modelle einen Einfluss auf das Leseverständnis aus (vgl. Tab. 4).

Tab. 4 Effekte der Rolle von ‚Lesen durch Schreiben‘ auf das Leseverständnis

4.2 Effekte der Rolle des Konzepts ‚Lesen durch Schreiben‘ auf die Rechtschreibleistungen

Die Modelle zur abhängigen Variable Rechtschreibleistung (vgl. Tab. 5) sind analog zu den Modellen zum Leseverständnis aufgebaut. Zu allen Messzeitpunkten zeigen sich signifikant negative Effekte der Rolle von ‚Lesen durch Schreiben‘: Je größer die Rolle von ‚Lesen durch Schreiben‘ im Unterricht, desto schlechter sind also die Rechtschreibleistungen ausgeprägt. Der Effekt zeigt sich bereits Ende des ersten Schuljahres und setzt sich im zweiten Schuljahr fort. Zusätzlich sind durchgehend über alle Modelle hinweg Mädchen etwas besser in der Rechtschreibung, wobei diese Effekte im zweiten Schuljahr noch deutlicher sind. Kinder, die bereits zu Schulanfang mehr Buchstaben kannten, erzielen ebenso bessere Rechtschreibleistungen.

Tab. 5 Effekte der Rolle von ‚Lesen durch Schreiben‘ auf die Rechtschreibung

4.3 Effekte der Rolle des Konzepts ‚Lesen durch Schreiben‘ auf das Selbstkonzept im Lesen

In den Modellen zum Selbstkonzept im Lesen werden neben Geschlecht und Vorläuferfertigkeiten die Leseverständnisleistungen zum Ende des ersten Schuljahres sowie die Erfolgserwartung zu Schulbeginn kontrollierend berücksichtigt (vgl. Tab. 6). Von diesen potenziell relevanten Einflussfaktoren haben die Buchstabenkenntnis zu Schulbeginn, das Leseverständnis sowie die Erfolgserwartung zu Schulbeginn positive Effekte. Die Rolle von ‚Lesen durch Schreiben‘ spielt – wie bereits für die Leistung – auch für das Selbstkonzept im Lesen keine bedeutsame Rolle.

Tab. 6 Effekte der Rolle von ‚Lesen durch Schreiben‘ auf das Selbstkonzept im Lesen am Ende des ersten Schuljahres

Auch für das Selbstkonzept im Lesen am Ende des zweiten Schuljahres zeigen sich keine Effekte der Rolle von ‚Lesen durch Schreiben‘ (vgl. Tab. 7). Der Einfluss der Kontrollvariablen auf individueller Ebene ist auch für das zweite Schuljahr vergleichbar. Die Erfolgserwartung, mit der die Kinder in die Grundschule starten, beeinflusst das Leseselbstkonzept zum Ende des zweiten Schuljahres unter Kontrolle der Leseverständnisleistung sogar deutlicher als es in den Modellen für das erste Schuljahr der Fall war.

Tab. 7 Effekte der Rolle von ‚Lesen durch Schreiben‘ auf das Selbstkonzept im Lesen am Ende des zweiten Schuljahres

4.4 Effekte der Rolle des Konzepts ‚Lesen durch Schreiben‘ auf das Selbstkonzept im Schreiben

Die Modelle zum Selbstkonzept im Schreiben sind analog zu den Modellen zum Leseselbstkonzept aufgebaut (vgl. Tab. 8 für das erste Schuljahr, Tab. 9 für das zweite Schuljahr).

Tab. 8 Effekte der Rolle von ‚Lesen durch Schreiben‘ auf das Selbstkonzept im Schreiben am Ende des ersten Schuljahres
Tab. 9 Effekte der Rolle von ‚Lesen durch Schreiben‘ auf das Selbstkonzept im Schreiben am Ende des zweiten Schuljahres

Während die Rolle der Konzeption ‚Lesen durch Schreiben‘ für den Unterricht zum Ende des ersten Schuljahres noch keine Effekte auf das Schreibselbstkonzept hat (vgl. Tab. 8), zeigen sich für das Ende des zweiten Schuljahres signifikant positive Effekte auf das Schreibselbstkonzept (vgl. Tab. 9), und das obwohl – wie in Abschn. 4.1 gezeigt wurde – die Rechtschreibleistungen signifikant geringer sind. Diese deutlichen Effekte ergeben sich sowohl für den Zeitraum von Schulbeginn bis zum Ende des zweiten Schuljahres (Modell 1a in Tab. 9) als auch für den Zeitraum zwischen Ende der ersten und Ende der zweiten Klasse (Modell 1c in Tab. 9). Während die Bedeutung von ‚Lesen durch Schreiben‘ in der ersten Klasse also noch keine Rolle für die Selbstkonzeptentwicklung im Bereich Schreiben spielt, sind die Effekte im zweiten Schuljahr positiv.

4.5 Effekte der Rolle des Konzepts ‚Lesen durch Schreiben‘ auf die Lernfreude im Lesen und Schreiben

In den Modellen zur Lernfreude im Lesen und Schreiben (vgl. Tab. 10) werden neben Geschlecht und Vorläuferfertigkeiten auch die Leistungen zum Ende des ersten Schuljahres sowie die Lernfreude zu Schulbeginn kontrolliert. Dabei fällt auf, dass nahezu alle diese Variablen Effekte auf die Lernfreude zum Ende des zweiten Schuljahres aufweisen. Eine Ausnahme bildet lediglich die Leseverständnisleistung zum Ende des ersten Schuljahres, die nicht mit der Lernfreude zusammenhängt. Für die Rolle von ‚Lesen durch Schreiben‘ zeigen sich Tendenzen zu einer positiveren Entwicklung der Lernfreude (p ≤ 0,10), allerdings nur in Modell b, in dem nur die Leistungen am Ende des ersten Schuljahres kontrolliert werden. Die Varianzaufklärung auf Ebene 2 ist jedoch gering.

Tab. 10 Effekte der Rolle von ‚Lesen durch Schreiben‘ auf die Lernfreude im Lesen und Schreiben am Ende des zweiten Schuljahres

5 Diskussion

5.1 Diskussion der Ergebnisse

Betrachtet man zunächst die Ergebnisse im Bereich Lesen, so zeigen sich für das Leseverständnis unter Kontrolle von Geschlecht und schriftsprachlichen Vorläuferfertigkeiten oder Leseverständnisleistung zum früheren Messzeitpunkt weder zum Ende des ersten noch zum Ende des zweiten Schuljahres bedeutsame Effekte der Rolle der Reichen-Methode, was mit den Ergebnissen von Funke (2014) für den Anfangsunterricht zunächst nicht korrespondiert. Man könnte diese Ergebnisse als Bestätigung von Reichens Vermutung interpretieren: Das Fehlen eines systematischen Leselehrgangs würde demnach nicht zu schlechteren Leseverständnisleistungen führen, da sich das Lesen durch das Schreibenlernen entwickelt. Dabei muss allerdings berücksichtigt werden, dass in der vorliegenden Studie die Orientierung der Lehrpersonen an der Konzeption ‚Lesen durch Schreiben‘ fokussiert wurde. Es wäre aber möglich, dass auch diejenigen Lehrpersonen, die angeben, sich in ihrem Unterricht an Reichen zu orientieren, dennoch systematisch das Lesen mit den Kindern üben und von Reichens Konzeption eventuell vorwiegend die Arbeit mit der Anlauttabelle und den Umgang mit orthografischen Fehlern umsetzen. Einige Hinweise hierfür finden sich tatsächlich in weiteren Daten des Projekts (für weitere Informationen vgl. Hess und Denn im Druck). So verzichten Lehrpersonen, die eine stärkere Orientierung an ‚Lesen durch Schreiben‘ aufweisen, zwar häufiger auf lautes Vorlesen, sie lassen die Kinder aber dennoch still lesen und verzichten somit nicht vollständig auf einen Leselehrgang. Da sich keine signifikanten Effekte auf die Leseverständnisleistung zeigen, wirkt es stimmig, dass auch keine Effekte auf das Leseselbstkonzept vorhanden sind. Zusätzlich könnte dies allerdings auch an der geringen Varianz im Leseselbstkonzept liegen, da sich die Kinder hier insgesamt sehr positiv einschätzen (vgl. auch Abschn. 3.2).

Anders stellen sich die Befunde für den Bereich Schreiben dar. Auf die Rechtschreibleistung ergeben sich in den Mehrebenenanalysen sowohl Ende des ersten Schuljahres (β = −0,46*; p ≤ 0,05) als auch Ende des zweiten Schuljahres deutlich signifikant negative Effekte (β = −0,47**; p ≤ 0,01) der Reichen-Konzeption, jeweils unter Kontrolle von Geschlecht und Vorläuferfertigkeiten oder Rechtschreibleistung zum früheren Messzeitpunkt. Die vorliegenden Ergebnisse stützen daher bisherige Befunde, die Nachteile in der Rechtschreibleistung für Kinder, die nach der Konzeption ‚Lesen durch Schreiben‘ unterrichtet werden, für den Anfangsunterricht aufzeigten (z. B. Funke 2014; Kuhl 2020), auch wenn individuelle Lernvoraussetzungen kontrolliert werden und die Mehrebenenstruktur der Daten berücksichtigt wird.

Besonders interessant sind vor dem Hintergrund der schlechteren Rechtschreibleistungen die Ergebnisse zum Selbstkonzept im Bereich Schreiben. Unter Kontrolle von Geschlecht, Vorläuferfertigkeiten und Erfolgserwartung zu Beginn des ersten Schuljahres hat die Rolle der Reichen-Konzeption zum Ende des ersten Schuljahres noch keinen bedeutsamen Effekt auf das Selbstkonzept im Bereich Schreiben der Kinder. Zum Ende des zweiten Schuljahres ist aber ein signifikant positiver Effekt nachweisbar (β = 0,43**; p ≤ 0,05). Dass die Effekte der ‚Lesen durch Schreiben‘-Konzeption auf das Selbstkonzept erst ab dem zweiten Schuljahr zutage treten, könnte daran liegen, dass im ersten Schuljahr insgesamt bei vielen Lehrpersonen das lautorientierte Schreiben noch im Fokus steht, sodass auch Lehrpersonen, die sich nach eigenen Angaben wenig an ‚Lesen durch Schreiben‘ orientieren, noch nicht alle Fehlschreibungen sofort korrigieren. Dass es dann aber zum Ende des zweiten Schuljahres positive Effekte auf das Selbstkonzept im Bereich Schreiben trotz schlechterer Rechtschreibleistungen gibt, könnte u. a. daran liegen, dass Kinder, deren Lehrpersonen sich an der Konzeption ‚Lesen durch Schreiben‘ orientieren, auch in der zweiten Klasse weiterhin selten kritische Rückmeldungen zu ihren Schreibungen erhalten. Darauf deuten auch Daten aus Videoanalysen und Unterrichtstagebüchern hin (vgl. Hess und Denn im Druck). Je stärker sich Lehrpersonen an der Reichen-Konzeption orientieren, desto eher lassen sie die Kinder selbstständig arbeiten und desto häufiger lassen sie Rechtschreibfehler zu. Auch zeigt sich über Analysen des videografierten Unterrichts, dass bei einer stärkeren Orientierung an ‚Lesen durch Schreiben‘ häufiger Differenzierung und Individualisierung stattfindet. Welche von diesen und weiteren Variablen der Unterrichtsgestaltung sich aber möglicherweise direkt auf die Entwicklung der Leistungen und der motivationalen Variablen auswirken, ist eine bedeutsame Frage für weitere vertiefende Analysen. Anhand einer differenzierteren Analyse der Unterrichtsgestaltung könnten dann eventuell auch die Tendenz erklärt werden, dass bei Lehrpersonen, für deren Unterricht die Konzeption ‚Lesen durch Schreiben‘ eine stärkere Rolle spielt, die Lernfreude der Kinder zum Ende des zweiten Schuljahres höher ausgeprägt ist als in Klassen, in denen die Konzeption ‚Lesen durch Schreiben‘ eine geringere Rolle spielt (β = 0,34+; p = 0,083).

Die diskrepanten Effekte auf Leistung und Selbstkonzept könnten teilweise auch darauf zurückgeführt werden, dass die Items zum Selbstkonzept auf das Schreiben insgesamt abzielen, nicht ausschließlich auf das Rechtschreiben (Items: „Wie gut bist Du beim Schreiben?“; „Fällt Dir das Schreiben leicht oder schwer?“; „Wie viele Fehler machst Du beim Schreiben?“; „Wie oft weißt Du beim Schreiben, wie es richtig geht?“). So können die Ergebnisse auch als Hinweis darauf gedeutet werden, dass Kinder, die mit einer eher offenen Konzeption wie ‚Lesen durch Schreiben‘ unterrichtet werden, in der von Beginn an viel selbst geschrieben wird, die kommunikative Funktion des Schreibens sehr unmittelbar wahrnehmen und ihre eigenen Fähigkeiten hierbei positiv einschätzen. Hier könnten differenziertere Analysen noch genaueren Aufschluss ermöglichen, indem statt der Gesamtskala zum Selbstkonzept im Schreiben die einzelnen Items genutzt werden.

5.2 Diskussion des methodischen Vorgehens und Ausblick

Als eine methodische Einschränkung der vorliegenden Studie muss die Stichprobengröße betrachtet werden. Da die Orientierung an der Konzeption ‚Lesen durch Schreiben‘ als eine von vielen weiteren Variablen im Kontext eines größeren Forschungsprojekts erhoben wurde, wurden zudem nicht gezielt Lehrpersonen gesucht, die der Konzeption eine sehr wichtige oder sehr unwichtige Rolle zuweisen, sondern es wurde die natürliche Variation innerhalb der Stichprobe für die Untersuchung genutzt. Die Erfassung der Orientierung an der Konzeption ‚Lesen durch Schreiben‘ als vierstufige anstatt als dichotome Variable trägt dabei dem Umstand Rechnung, dass nur wenige Lehrpersonen ausschließlich nach einer bestimmten Konzeption unterrichten. Dennoch könnten die hier untersuchten Effekte natürlich stärker ausfallen, wenn die Stichprobe mehr Lehrpersonen enthielte, die sich stark an der Konzeption orientieren würden. Insgesamt können die Ergebnisse daher nicht als repräsentativ betrachtet werden, sodass insbesondere zu Effekten auf die noch kaum untersuchten Bereiche des Selbstkonzepts und der Lernfreude weitere Studien nötig sind. Dies ist auch deshalb wichtig, da die hier untersuchte Stichprobe in Hinblick auf den sozio-ökonomischen Status nicht repräsentativ ist (vgl. Lipowsky et al. 2018), wenngleich sich gezeigt hat, dass die schriftspracherwerbsspezifischen Vorläuferfähigkeiten in der Stichprobe nicht systematisch mit dem sozio-ökonomischen Status variieren.

Um die in dieser Studie von den Lehrpersonen gemachten Angaben zur Orientierung an der Konzeption zu validieren, wurden von Hess und Denn (im Druck) umfangreiche Zusammenhangsanalysen zu weiteren Variablen der Unterrichtsgestaltung durchgeführt. Diese zeigen im Überblick, dass die Angaben der Lehrpersonen zu ihrer Orientierung an der Konzeption sehr stimmig sind. Es ergeben sich deutliche Zusammenhänge in der erwarteten Richtung z. B. zur Nutzung von Fibeln und Anlauttabellen oder zum Umgang mit orthografischen Fehlern. Daher ist davon auszugehen, dass die von den Lehrkräften berichtete Orientierung an der Reichen-Konzeption trotz der genannten Einschränkungen hinreichend valide ist (für nähere Informationen hierzu vgl. Hess und Denn im Druck).

Bezogen auf die abhängigen Variablen liegt eine Einschränkung darin, dass das Selbstkonzept der Kinder im Lesen und Schreiben in der hier untersuchten Stichprobe insgesamt sehr hoch ausgeprägt ist und dadurch die Skalen eine geringe Varianz aufweisen. Dies ist für das Alter der hier untersuchten Kinder zwar durchaus charakteristisch (zsf. Hellmich und Günther 2011), wurde durch die Erfassung des Selbstkonzepts mit einer nur dreistufigen Skala aber gegebenenfalls verstärkt und schränkt die Stärke der Effekte möglicherweise ein.

Bei der Interpretation der Ergebnisse muss auch beachtet werden, dass die Erhebungen, die den Analysen dieses Beitrags zugrunde liegen, bereits zwischen 2006 und 2008 erfolgten. Dies ist insbesondere bei der Interpretation der deskriptiven Werte zur Rolle von ‚Lesen durch Schreiben‘ für den Unterricht zu beachten, da sich deren Bedeutung auch aufgrund darauffolgender Forschungsergebnisse (z. B. Funke 2014) in den letzten Jahren verändert haben könnte. Auch die Komposition von Klassen, die Kompetenzen von Lehrkräften sowie Angebote von Verlagen (z. B. für Fibeln) u. ä. unterliegen Veränderungen über die Zeit, welche gegebenenfalls Einfluss auf die Zusammenhänge ausüben können. Da sich die Daten aus der Studie PERLE aufgrund ihrer Einbettung in ein längsschnittliches Design mit der Erhebung zahlreicher potenzieller Einflussvariablen auf das Lernen der Schüler:innen aber sehr gut eignen, um den bisherigen Forschungsstand zu ergänzen, erschien es dennoch lohnenswert, die bereits vor mehreren Jahren erhobenen Daten systematisch hinsichtlich der Fragestellung von Effekten der Konzeption ‚Lesen durch Schreiben‘ zu untersuchen, zumal es medial und bildungspolitisch auch aktuell immer wieder zu Auseinandersetzungen um die Effektivität verschiedener Methoden zum Lesen- und Schreibenlernen kommt.

Die besonderen Stärken der vorliegenden Studie liegen daher darin, dass sowohl leistungsbezogene als auch affektiv-motivationale Variablen untersucht wurden, dass verschiedene individuelle Variablen kontrolliert wurden und dass durch die Mehrebenenanalysen die Klassenebene in den Analysen berücksichtigt wurde. Mit der Konzeption ‚Lesen durch Schreiben‘ wurde zunächst eine zentrale unterrichtliche Orientierung in die Analysen einbezogen. Somit können hier noch nicht die volle Komplexität der Unterrichtsgestaltung oder potenzielle Wechselwirkungen zwischen verschiedenen unterrichtlichen Faktoren betrachtet werden. In weiterführenden Analysen sollen daher zusätzlich zur Orientierung an der Konzeption auch weitere ausgewählte Aspekte der Unterrichtsgestaltung im Schriftspracherwerb analysiert werden. So kann auch untersucht werden, welche Bedeutung der Orientierung an einer Konzeption im Vergleich zu konkreteren unterrichtlichen Gestaltungsaspekten zukommt (wie Differenzierungsmaßnahmen, Nutzung von bestimmten Unterrichtsmedien, Umgang mit Fehlern im Unterricht u. ä.). Ebenso erscheint es wichtig, zukünftig herauszuarbeiten, ob eine qualitätsvolle Unterrichtsgestaltung möglicherweise eine bedeutsamere Einflussgröße im Hinblick auf die schriftsprachliche Leistungs- sowie die emotional-motivationale Entwicklung darstellt als die zugrundeliegende schriftsprachliche Konzeption. In diesem Zuge wäre es auch interessant, etwaige Umsetzungs- sowie Qualitätsunterschiede in den Konzeptionen zu beleuchten. Solche und ähnliche Untersuchungen können schrittweise zu einer stärkeren Evidenzbasierung des schriftsprachlichen Unterrichts in der Grundschule beitragen.