1 Einleitung

Der ‚individualisierte‘ Unterricht hat in den letzten Jahren schulpolitisch und schulpädagogisch einen prominenten Platz erhalten. Wochenplanarbeit, Projektarbeit oder Freiarbeit als ‚offene‘ Unterrichtsformate gehören in vielen Grundschulklassen in Österreich und Deutschland zunehmend zur alltäglichen Praxis. Auch wenn sich die konkreten Umsetzungsformen unterscheiden, ist ihnen ein bestimmtes pädagogisch-programmatisches Verständnis von ‚Selbstständigkeit‘ gemeinsam: Das dezentrierte Lernen geht damit einher, dass jede Schülerin bzw. jeder Schüler an etwas anderem selbständig arbeiten und sich zu einem den eigenen Lernprozess steuernden Subjekt entwickeln soll (Bohl und Kucharz 2010). Unterstützt wird dies durch das Prinzip der Jahrgangsmischung, spezifische didaktische Arrangements und insbesondere durch vielfältige Lernmaterialien.

Die Lernmaterialien nehmen im individualisierten Unterricht eine zentrale Rolle ein. Neben den von der Bildungswirtschaft hergestellten didaktischen Objekten wie etwa Karteikarten, Lernspiele oder Experimentierkoffer kommen auch zahlreiche Arbeitsblätter zum Einsatz, an deren Produktion nicht selten auch die Lehrpersonen beteiligt sind. Es wird davon ausgegangen, dass diese Materialien „das individualisierte, ‚selbstständige‘ Lernen von Schülerinnen und Schülern ermöglichen, indem sie mehr oder weniger komplizierte Skripte enthalten, die die Erarbeitung bestimmter Themen anleiten“ (Breidenstein 2015, S. 18). Der konkrete Umgang mit diesen Materialien wurde jedoch bislang kaum empirisch untersucht. Es lässt sich zwar ein zunehmendes Forschungsinteresse an der Materialität schulischen Lernens registrieren (Kalthoff 2011; Sørensen 2009) und es finden sich einzelne empirische Arbeiten zu außerschulischer Modellierung von Lernobjekten (Lange 2017; Wiesemann und Lange 2015) und ihrem schulischen Gebrauch (Breidenstein 2015; Fetzer 2015; Röhl 2013). Wie sie jedoch zur Konstitution schulischen Wissens und Lernens im individualisierten Unterricht in Beziehung stehen, ist noch wenig bekannt. Dies gilt insbesondere für den Grundschulunterricht. Im Fokus dieses Beitrags steht ein solches, für die selbständige Arbeit im individualisierten Grundschulunterricht gemachtes Lernmaterial: das sogenannte „Pinguin-Buch“, das ein Heft mit kopierten Arbeitsblättern zur Erarbeitung des Buchstaben P darstellt. Der Beitrag nimmt die konkrete Bearbeitung des „Pinguin-Buchs“ durch eine Schülerin der ersten Schulstufe ethnographisch in den Blick und analysiert, welcher Logik diese Bearbeitung folgt. Der genaue Analysefokus richtet sich darauf, wie, um mit Röhl (2013, S. 164) zu sprechen, die „Eigenständigkeit“ des Materials mit der „Eigensinnigkeit“ der Schülerin korrespondiert und wie beides durch didaktische Formatierungen der Lehrperson gebändigt wird.

Wir gehen dabei folgendermaßen vor: Nach einer Einführung in die aktuelle Unterrichtsforschung zum Gebrauch der Lernmaterialien im schulischen Unterricht (Abschn. 2), beschreiben wir unser empirisches Datenmaterial und das methodische Vorgehen (Abschn. 3). Daran anschließend rekonstruieren wir verschiedene Handlungslogiken, die in der Arbeit mit dem im Fokus stehenden didaktischen Material hervortreten: zum einen die Aufgabenlogik, die in die Struktur des Materials eingelassen ist, zum anderen die Handlungslogiken, die sich in der Bearbeitung dieses Materials durch eine Schülerin und ihre Lehrerin beobachten lassen (Abschn. 4). In einem letzten Schritt diskutieren wir die Ergebnisse unserer Analyse und fragen danach, was die rekonstruierten Handlungslogiken für die Konstitution von Wissen im Kontext individualisierten Grundschulunterrichts bedeuten (Abschn. 5). In der didaktischen Formatierung individualisierter Arbeitsprozesse der Schüler und Schülerinnen durch die Lehrperson werden – so unser Argument – Prozesse der Vereindeutigung und semantischen Stabilisierung schulischen Wissens als handlungspraktisches Problem des Unterrichts deutlich. Sie tragen zur Entwicklung eines geschulten Blicks auf das Lernmaterial und die in ihm repräsentierten fachlichen Sachverhalte bei, der mit der Kultivierung einer disziplinierten Arbeitshaltung einhergeht und insbesondere für den Grundschulunterricht von entscheidender Bedeutung zu sein scheint.

2 Lernmaterialien als Wissensobjekte

Aus der Perspektive einer sozio-materiellen Bildungsforschung (Alkemeyer et al. 2015; Kalthoff 2011), an die dieser Beitrag anknüpft, treten Lernmaterialien im schulischen Unterricht als die „materiellen Träger des Wissens“ (Röhl 2013, S. 25) auf, die schulisches Wissen zugleich repräsentieren und präfigurieren. Als Mittel der Veranschaulichung, Verdeutlichung und Demonstration bringen sie schulisches Wissen zur Darstellung: Sie operieren als ‚Repräsentanten‘ des Wissens. Gleichzeitig sind sie selbst aktiv daran beteiligt, was im Unterricht als ‚Wissen‘ überhaupt erst konstituiert wird: Sie rahmen und strukturieren das Wissen. Diese doppelte Rolle der Lernmaterialien im Unterricht erschließt sich jedoch erst in den Praktiken ihres Gebrauchs. Die neueren praxeologischen Untersuchungen, die sich die sozio-materielle Heuristik zunutze machen, zielen in erster Linie darauf, die wechselseitige Beziehung zwischen den beiden Dimensionen unterrichtlicher Praxis – der materiellen Ordnung didaktischer Wissensobjekte und der sozialen Dimension der Interaktionsordnung – zu beschreiben (Breidenstein 2015; Fetzer 2015).

Dass Wissensobjekte – seien es Lernobjekte schulischen Unterrichts (Lynch und Macbeth 1998), Exponate naturwissenschaftlicher Museen (Hemmings et al. 2000) oder Objekte wissenschaftlicher Labors (Garfinkel et al. 1981) – ihre Bedeutung erst in der Interaktion erhalten, machten vor allem ethnomethodologische Studien deutlich. Lynch und Macbeth (1998) zeigen dies anhand der videographierten Unterrichtsstunden im Fach Physik in der Grundschule, die sie mit dem Fokus auf die Spezifik der Produktion fachlichen Wissens während der Demonstration physischer Experimente untersuchen. Die Analyse zeigt, wie Schüler und Schülerinnen immer wieder dazu angehalten werden, das vor ihren Augen durchgeführte „wissenschaftliche Spektakel“ (ebd., S. 270) kollektiv zu bezeugen und das Beobachtete in einer wissenschaftlichen Sprache zu beschreiben. Mit ihren gestischen und diskursiven Anweisungen schaffen die Lehrpersonen ein „phänomenales Feld“ (ebd., S. 277) der Wahrnehmung, durch welches die Schüler und Schülerinnen das Geschehen als materielle Darstellung bestimmter physischer Prozesse sehen und dadurch eine ‚disziplinäre Sicht‘ entwickeln sollen. Die disziplinäre Sicht ist immer ein diszipliniertes Sehen. Der Unterricht wird orchestriert als eine progressive Kultivierung einer wissenschaftlichen Art und Weise zu sehen und zu sprechen (ebd., S. 290): Erst mit der Überführung in die Sprache der schulischen Wissensdisziplin erfahren die manipulierten Gegenstände und die an ihnen zu zeigenden physischen Phänomene ihre wissenschaftliche Bestimmung.

In den Analysen von Röhl (2013) zum Gebrauch der „Dinge des Wissens“ im Physik- und Mathematikunterricht der gymnasialen Sekundarstufe wird die Verflechtung der beiden Ordnungen in besonderer Weise sichtbar: Damit ein materieller Gegenstand zu einem didaktischen Wissensobjekt wird, muss er in die „Dramaturgie des Unterrichtens“ (ebd., S. 154) eingebunden werden – in die Praktiken des Operierens, Zeigens und Kommentierens. Röhls Untersuchungen machen dabei auf einen wesentlichen Aspekt unterrichtlichen Gebrauchs schulischer Wissensobjekte aufmerksam: ihre didaktische Zurichtung, die schon in die Gestaltung der Lernmaterialien seitens der Lehrmittelindustrie eingelassen ist (Lange 2017) und vor allem in einer Vereinfachung und Vereindeutigung der Objekte besteht. Ziel der Vereindeutigungsbemühungen ist die Verdeutlichung der fachlich relevanten Sachverhalte und die Ausblendung des fachlich Irrelevanten. Gleichzeitig weist Röhl darauf hin, dass sich Dinge gegen eine eindeutige Verwendung auch sperren können: „in ihrem Aufforderungscharakter sind sie mehr- und vieldeutig. Dementsprechend fordern sie zu ganz unterschiedlichen Gebrauchsweisen auf“ (2013, S. 151). In Röhls Analysen wird die potenzielle Vieldeutigkeit der Dinge vor allem an den Szenen veranschaulicht, in denen die für Demonstrationszwecke in den Unterricht eingebrachten Objekte aufgrund ihrer Gestaltung die Schüler und Schülerinnen zu einem ‚unangemessen‘ Gebrauch anregen. Auch die ‚Eigensinnigkeit‘ der Schüler und Schülerinnen, die sich des schulisch angemessenen didaktischen Gebrauchs der Dinge durchaus bewusst sein können, kann zu ihrem ‚Missbrauch‘ führen, etwa indem die Dinge zum Objekt eines (diskursiven) Spiels umfunktioniert werden.

Diesen beiden Aspekten – der potenziellen Vieldeutigkeit schulischer Wissensobjekte einerseits und dem eigensinnigen Umgang mit ihnen seitens der Schüler und Schülerinnen andererseits – möchten wir in diesem Beitrag genauer nachgehen. Im Unterschied zu Röhls Untersuchungen steht im Mittelpunkt unserer Analyse nicht ein Ding aus dem naturwissenschaftlichen Unterrichtskontext, das zum Anzeigen bestimmter Sachverhalte vor dem klassenöffentlichen Publikum gedacht wurde, sondern ein Lernmaterial aus dem individualisierten Schreibunterricht, das zur eigenständigen Bearbeitung durch die Schüler und Schülerinnen konzipiert wurde. Man kann davon ausgehen, dass in dieses Material ein spezifisches didaktisches Wissen bereits eingegangen ist, das nicht nur bestimmte fachliche Inhalte verkörpert, sondern auch deren selbständige Bearbeitung anleiten soll. Wie steht dieses in das Material eingelassene Wissen zu der Praxis der konkreten Arbeit mit dem Material? Wir fragen also nach der Spezifik der Gestaltung und des Gebrauchs der für den individualisierten Unterricht konzipierten Lernmaterialien.

Wir haben es ferner mit einem Material zu tun, das aus dem Bereich der Grundschule stammt, dem Bereich, in dem nicht nur die Einsozialisierung in die Interaktionsordnung des Unterrichts stattfinden soll (Mehan 1979), sondern auch das erstmalige Erlernen des ‚richtigen‘ Umgangs mit den materiellen Wissensobjekten der Institution Schule. Die Analysen von Breidenstein und Rademacher (2017) zeigen, dass vor allem für den Gebrauch von Montessori-Materialien eine – meist ziemlich detaillierte – Einführung durch die Lehrperson notwendig ist, die es den Schülern und Schülerinnen erst ermöglicht, mit diesen Materialien zu handeln. In seiner Analyse eines solchen Montessori-Materials, der so genannten „Apotheke“, zeigt Breidenstein (2015), wie ein Drittklässler mit diesem komplexen didaktischen Objekt, das die Divisionsaufgaben im Tausenderraum bereits den Grundschulkindern zu ‚lösen‘ erlaubt, versiert operieren kann. Gleichzeitig wird deutlich, dass ein eingeübter Umgang mit dem Material durchaus in Spannung zum Verständnis der mathematischen Operationen stehen kann: In der exakten Ausführung der vorgesehen Arbeitsschritte bleibt der mathematische Vorgang „kaum noch (kognitiv) repräsentiert“ (ebd., S. 25). Zu einer ähnlichen Einschätzung kommt auch Budde (2013) in Bezug auf Arbeitsblätter: Das Verstehen der Logik des Arbeitsblattes und nicht das der fachlichen Sachverhalte dominiert die Arbeit der Schüler und Schülerinnen mit diesem Material. Die Beobachtung, dass die Sache gerade im individualisierten Unterricht aus dem Blick geraten kann, lässt Breidenstein nach der Bedeutung von Lernmaterialien jenseits der ihnen zugeschriebenen didaktischen Funktionen fragen. Diese liegt aus seiner Sicht in dem Problem der „Darstellbarkeit des ‚Lernens‘“ (Breidenstein 2015, S. 27). Dieses Problem wird im individualisierten Unterricht durch die Inszenierung der Arbeit mit den Lernmaterialien gelöst. Die Lernmaterialien ermöglichen somit nicht nur die Organisation von ‚Selbständigkeit‘, sondern sie stellen auch ein Mittel dar, das ‚Lernen‘ dokumentierbar zu machen.

Breidensteins Beobachtungen richten sich auf einen Grundschüler, der die Handhabung eines artifiziellen didaktischen Wissensobjekts bereits routiniert beherrscht (jedenfalls in praktischer Hinsicht) und eine disziplinierte Haltung gegenüber dem Material demonstrieren kann. Und auch die Schüler und Schülerinnen aus der Studie von Budde zeigen einen unproblematischen Umgang mit den Arbeitsblättern. Im Vergleich dazu scheint die Haltung der Erstklässlerin in unserem Fall noch weitgehend instabil zu sein: Ihre ‚selbständige‘ Bearbeitung des Arbeitshefts wird – wie wir im Folgenden zeigen – immer wieder durch die eingreifenden Anweisungen seitens der Lehrperson begleitet, mit denen das Arbeiten mit dem Material in die didaktisch gewünschte Richtung geschult wird. Hinsichtlich dieser didaktischen Formatierungen fragen wir grundlegend danach, was sie für die Konstitution schulischen Wissens leisten. Ethnomethodologisch gewendet ist dies die Frage danach, wie ein bestimmtes Wissen in den unterrichtlichen Praktiken des Operierens mit dem Material konstituiert wird, indem die Unterrichtsteilnehmenden es auf eine bestimmte Weise verstehen und bearbeiten.

3 Darstellung der Szene und methodisches Vorgehen

Das folgende empirische Material stammt aus dem ethnographischen Projekt „Chancen und Herausforderungen eines individualisierten Unterrichts“, welches in sechs Grundschulklassen im Westen Österreichs im Zeitraum 2018 bis 2021 mittels der teilnehmenden Beobachtung durchgeführt wurde und sich den Praktiken der Umsetzung des individualisierten Unterrichts widmete (Raggl et al. 2021). Vier der untersuchten Klassen sind jahrgangsgemischte Klassen, in denen der Unterricht vorwiegend in Form von Freiarbeit organisiert wird. Über den Beobachtungszeitraum von einem halben Jahr, mit insgesamt zehn Beobachtungstagen in einer Klasse, wurde das anfangs offene Forschungsinteresse immer mehr auf die konkrete Bearbeitung von Lernaufgaben durch die Schüler und Schülerinnen fokussiert. Im Forschungsprojekt wurden folgende ethnographische Datengewinnungsstrategien genutzt: teilnehmende Beobachtungen, die zunächst als Feldnotizen verschriftlicht und anschließend in Protokolle transformiert wurden; ethnographische Interviews mit den Lehrpersonen zu Fragen der Unterrichtsgestaltung; Fotos, in denen Produkte der Arbeit von Schülern und Schülerinnen festgehalten wurden.

Die für die Analyse ausgewählte Szene zeigt eine Schülerin der ersten Schulstufe bei der Arbeit am „Pinguin-Buch“, einem didaktischen Material, das ein Heft mit kopierten Arbeitsblättern rund um den Buchstaben P darstellt und im Kontext des Erstlese- und Schreibunterrichts in einer der untersuchten Klassen als zentrales Lernmittel zur weitgehend selbständigen Buchstabenerarbeitung verwendet wird. Das leicht gekürzte Beobachtungsprotokoll dokumentiert die Arbeit an einem der Arbeitsblätter aus dem „Pinguin-Buch“ und steht zusammen mit dem Bild des bearbeiteten Arbeitsblatts (Abb. 1) im Fokus der Analyse.

„Alisa hat das ‚Pinguin-Buch‘ vor sich liegen. Auf der aufgeschlagenen Seite ist großer Pinguin in der Mitte zu erkennen und einige Abbildungen rund herum. […] Alisa kritzelt auf einem kleinen Blatt. Dann zeichnet sie auf ihrem Pinguin-Arbeitsblatt ein größeres Kästchen, darunter drei kleinere Kästchen. In das größere Kästchen malt sie etwas, das aussieht wie ein Puzzle-Stück. Dann schreibt sie ‚PAX‘, jeweils einen Buchstaben in die drei Kästchen.

Die Lehrerin kommt zu Alisa, schaut sich das Blatt an und sagt zu ihr: ‚PAX ist ein Kleiderschrank bei IKEA‘. Dann zeigt sie auf eine weitere Abbildung auf dem Arbeitsblatt, sagt ‚Pizza‘ und fragt Alisa: ‚Wo hörst du das P?‘. Alisa deutet auf das erste Kästchen und schreibt dort ein P hinein. Die Lehrerin zeigt auf die nächste Abbildung und sagt: ‚Popcorn‘. Dann geht die Lehrerin zu einem Jungen, der gerade laut ist und ermahnt ihn: ‚Jonas!‘. In der Zwischenzeit malt Alisa ein Smiley neben das Pizzastück, kommentiert dies mit ‚lecker‘ und schreibt ‚LÄKA‘ neben das Bild. Danach malt sie auch neben die Abbildung von ‚Popcorn‘ ein Smiley und ein ‚LÄKA‘. Die Lehrerin setzt sich wieder zu Alisa, zeigt auf eine weitere Abbildung, sagt ‚Palme‘ und fragt Alisa: ‚Wo hörst du das P?‘. Alisa schreibt ein P in das erste Kästchen. Dann ist die Lehrerin wieder vorn bei Jonas.

Alisa malt nun den Pinguin selbst an: zuerst die Flügel, dann die Füße. Dann blättert sie eine Seite im ‚Pinguin-Buch‘ weiter. […] Die Lehrerin sieht sich das Arbeitsblatt an und fragt Alisa: ‚Was ist das?‘, antwortet aber sofort selbst: ‚Pirat‘ und fragt anschließend: ‚Wo hörst du das P?‘. Alisa macht im ersten der drei Kästchen einen Strich. Die Lehrerin kommentiert: ‚Super. Du kannst es ja.‘ Dann zeigt sie auf das nächste Bild und sagt ‚Papier‘ dazu. Alisa hat einen Strich in das mittlere Kästchen gesetzt. Die Lehrerin fragt nach: ‚Was hast du gemeint, was das ist?‘. Alisa leise: ‚Flieger‘. Dann zeigt die Lehrerin auf weitere Wörter und sagt gleich dazu, was die Bilder darstellen: ‚Pyramide‘, ‚Papagei‘. Dann fragt sie Alisa: ‚Und da?‘ Alisa sagt leise: ‚Stiege‘. Lehrerin: ‚Nicht Stiege, sondern Treppe.‘“

Abb. 1
figure 1

Das Pinguin-Arbeitsblatt

Unser methodologischer Zugang kann als „ethnomethodologisch informierte Ethnographie“ (Randall et al. 2021) bezeichnet werden. Dieser Forschungsansatz fokussiert auf die Analyse der sozialen Praktiken in ihrer kulturellen Spezifik mit dem ethnomethodologischen Interesse an den jeweils spezifischen Verfahren, mit denen die Sinnhaftigkeit der Alltagshandlungen – ihre Rationalität, Geordnetheit und Nachvollziehbarkeit – interaktiv konstituiert und dargestellt werden (Garfinkel 1967). Während im Fokus der meisten ethnomethodologischen Studien im Bereich der Bildungsforschung vor allem die formalen Eigenschaften der interaktiven Organisation des Unterrichts als soziale Praxis stehen, zielt die ethnomethodologisch informierte Ethnographie auf die Verbindung der Analyse der organisationalen Interaktionsprozesse mit der Analyse der inhaltsbezogenen Aspekte der Interaktion. Die Analyse beinhaltet zwei aufeinander aufbauende Teile: zum einen eine didaktische Analyse des Arbeitsblatts und zum anderen die praxeologische Analyse dessen, wie die Teilnehmenden mit diesem Objekt interagieren. Dies bringt die methodische Herausforderung mit sich, wie die beiden Analysen miteinander verknüpft werden können. Wir lösen dieses Problem zum einen, indem wir das Arbeitsblatt als Dokument betrachten, das „institutionalisierte Spuren“ hat, aus denen „legitimerweise Schlussfolgerungen über Aktivitäten, Absichten und Erwägungen ihrer Verfasser […] gezogen werden können“ (Wolff 2000, S. 503). Auf diese Weise wird die Rekonstruktion der didaktisch implizierten Bearbeitungslogik des Materials möglich. Zum anderen konsultieren wir für die Rekonstruktion der didaktischen Logik des Arbeitsblatts dessen konkrete Handhabung durch die Teilnehmenden, indem wir analysieren, wie sie das Arbeitsblatt deuten und wie diese Deutungsweise mit der immanenten Bearbeitungslogik des Materials korrespondiert oder divergiert. Der Analyse liegt also ein Verständnis vom didaktischen Material als „aktiver Text“ (Smith 1986) zugrunde, dessen Bedeutung sich zwar erst in seinem Gebrauch erschließt, der jedoch eine bestimmte Deutungsweise als präferiert nahelegt. Im Folgenden rekonstruieren wir zunächst die Strukturlogik des didaktischen Materials und die Bearbeitungslogik, welche das Arbeitsblatt impliziert. Wir analysieren dann, welcher Logik die Schülerin bei der selbständigen Bearbeitung des Materials folgt und schließlich welche Handlungslogik etabliert wird, wenn das Arbeitsblatt gemeinsam mit der Lehrerin bearbeitet wird.

4 Analyse

Wir danken Michael Ritter für wertvolle Hinweise aus deutschdidaktischer Sicht, von denen die Analyse der Szene wesentlich profitiert hat.

4.1 Aufgabenlogik didaktischen Materials

Das „Pinguin-Buch“ stellt ein schriftliches Material dar, dem eine bestimmte unterrichtliche Aufgabe zugedacht wurde, die in der Struktur des im Analysefokus stehenden Arbeitsblatts (Abb. 1) graphisch visualisiert ist. Es geht um das Lernen einzelner Buchstaben – in dem vorliegenden Fall des Buchstaben P – nach dem Prinzip der Anlauttabelle (z. B. Bohnenkamp 2015). Das Arbeitsblatt ist mit Zeichen und Symbolen versehen, die sich grob in zwei Gruppen aufteilen lassen: zum einen die Abbildungen verschiedener Objekte in den Kästchen, die sich im und um den in der Mitte des Blatts abgebildeten Pinguin befinden und jeweils drei kleinere leere Kästchen beinhalten, und zum anderen drei Symbole in der oberen rechten Ecke des Arbeitsblatts, die ein ‚Ohr‘, einen ‚Stift‘ und ein ‚Kreuz‘ (‚x‘) darstellen sollen. Diese drei Symbole repräsentieren eine anschauliche Instruktion, die den Schülern und Schülerinnen nahelegen soll, wie das Arbeitsblatt zu bearbeiten ist: Sie sollen das Objekt auf der Abbildung identifizieren, es benennen, das Wort analysieren und herausfinden, an welcher Stelle es in seiner Lautgestalt den gesuchten Laut (ein /p/) enthält. Der identifizierte Laut soll anschließend mit einem Kreuz als An‑, In- bzw. Auslaut in dem jeweiligen leeren Kästchen unter der Abbildung markiert werden, je nachdem wo man /p/ hört: am Anfang, in der Mitte oder am Ende des jeweiligen Wortes. In der didaktischen Logik der Aufgabe heißt es, dass in dieser Phase des Schriftspracherwerbs die so genannte alphabetische Strategie erworben werden sollte, d. h., aus dem gesprochenen Wort durch Zerlegung und Lautidentifizierung die einzelnen Phoneme herauszuarbeiten, denen man dann durch die Graphem-Zuordnung Buchstaben zuweist und aufschreibt (Hackbarth und Mehlem 2019, S. 36). Man lernt das P kennen, indem man merkt, dass das ‚Paprika-/p/‘ das Gleiche ist wie das ‚Teppich-/p/‘.

Hier deutet sich bereits ein Problem an, das die Differenz zwischen einem explizit intendierten, in der Anweisung enthaltenen Wissen und einem impliziten, auf der Fähigkeit der Umwandlung der Anweisung in die konkrete Handlung basierenden Wissen evident macht. Eine Differenz, die weniger einen Mangel, als vielmehr eine konstitutive Eigenschaft der Befolgung von Anweisungen darstellt. Wie Suchman (2007, S. 112) in diesem Zusammenhang bemerkt: Die Anweisungen beruhen auf der Fähigkeit des Handelnden, die implizite Arbeit der Verknüpfung der Beschreibungen mit konkreten Objekten und Handlungen zu leisten. Diese Arbeit bleibt implizit, solange die Verknüpfung reibungslos verläuft. In dem analysierten Fall zielt die Markierungslogik des Arbeitsblatts auf das Hören des An‑, In- bzw. Auslauts. Sie operiert dabei mit der implizit bleibenden Erwartung (einer Erwartung, die erst durch die Rahmung der Aufgabenbearbeitung durch die Lehrerin deutlich wird, siehe Abschn. 4.3.2), dass man wissen muss, dass immer Wörter mit P zu den Abbildungen gesucht werden sollen. Dass die im ‚Ohr‘, ‚Stift‘ und ‚Kreuz‘ symbolisierte Materialisierung der Anweisung dafür nicht reicht und dass man eine bestimmte Verbindung zwischen dem gesuchten Wort und dem Bild herstellen können muss, machen ein der Bearbeitungsprozedur inhärentes Wissen und eine Mitspielkompetenz relevant, über welche die Schüler und Schülerinnen verfügen müssen, um die Aufgabe sachgemäß bearbeiten zu können.

Eine weitere materielle Quelle für dieses Problem liegt in der potenziellen Vieldeutigkeit einiger Abbildungen, die verschiedene Deutungen zulassen. So kann der ‚Pirat‘ auch als ‚Ritter‘ verstanden werden (Abb. 2) und das ‚Paket‘ ist so geschnürt, dass es auch als ‚Geschenk‘ interpretiert werden könnte (Abb. 3). Dass man auf der Abbildung einen ‚Pirat‘ und keinen ‚Ritter‘ sieht, ist weniger das Ergebnis der Entzifferung der Abbildung als vielmehr die Leistung eines geschulten Sehens, das eine der didaktisch intendierten Aufgabe (Erarbeitung des P) passende Verbindung zwischen dem Bild und Wort herstellt und so auf dem Wissen der Prozedur der Bearbeitung solcher Aufgaben beruht. Dieses – man könnte sagen: prozedurale – Wissen stellt den nötigen Rahmen für die Identifizierung des graphischen Objekts dar. Die interpretativen Schwierigkeiten, die der Uneindeutigkeit der Abbildungen entspringen, machen so entsprechende Rahmungen im Moment der Überführung eines grafischen Objekts in ein sprachliches notwendig, um in das Material eingeschriebenes fachliches Wissen zu stabilisieren. Wir kommen darauf zurück.

Abb. 2
figure 2

Pirat | Ritter

Abb. 3
figure 3

Paket | Geschenk

4.2 Selbstständige Bearbeitung der Aufgabe durch die Schülerin

Wie korrespondiert die Logik der Aufgabenbearbeitung der Schülerin mit der Logik, die die Aufgabe intendiert? Zunächst kann festgehalten werden, dass es nicht ganz klar ist, inwiefern die Funktion der Anweisungssymbole für Alisa in ihrer Bearbeitung des Arbeitsblatts von Relevanz ist. Alisa markiert die entsprechenden Kästchen mit einem Strich (‚/‘), sie schreibt aber auch das P in die Kästchen hinein und streicht einige der Abbildungen, die sie bearbeitet hat, durch. Bei einigen Abbildungen schreibt die Schülerin auch Wörter hinein, die vermutlich die abgebildeten Objekte (wie etwa ‚Polizei‘ und ‚Pizza‘) benennen sollen (Abb. 4).

Abb. 4
figure 4

Varianten der Markierung

Alisa malt auch zusätzliche Kästchen und setzt Symbole, wie z. B. ein Puzzle-Stück und ‚Pax‘, in die selbst gemalten Kästchen rein (Abb. 5).

Abb. 5
figure 5

Pax

Es lassen sich also grob zwei Bearbeitungsweisen unterscheiden, die in gewisser Konkurrenz zueinanderstehen: Die Suche nach An‑, In- und Auslauten und deren Markierung mit ‚x‘ (bzw. in Alisas Ausführung mit ‚/‘ oder ‚P‘), wie dies die Symbole des Arbeitsblatts implizieren, und die Suche nach Wörtern, die in die drei leeren Kästchen geschrieben werden, wie dies die Schülerin zum Teil praktiziert – eine Bearbeitungsstrategie, die der Schülerin vermutlich aus einem anderen typischen Aufgabenformat (‚Verschriftlichung von Wörtern‘) bekannt ist und die sich mit der aktuellen Aufgabe überlagert.

Alisa arbeitet auch viel assoziativ, indem sie einige Abbildungen ergänzt und kommentiert (eine Sprechblase für ‚Papagei‘; ‚LÄKA‘ für ‚Pizza‘ und ‚Popcorn‘, Abb. 6).

Abb. 6
figure 6

Kommentare

Diese von der Bearbeitungslogik der Aufgabe abweichende Arbeitsweise wird von der Lehrperson – wie wir im Folgenden zeigen – sanft unterbunden.

4.3 Die Bearbeitung der Aufgabe gemeinsam mit der Lehrerin

4.3.1 Akzeptierung einer alternativen Arbeitsweise

„Die Lehrerin kommt zu Alisa, schaut sich das Blatt an und sagt zu ihr: ‚PAX ist ein Kleiderschrank bei IKEA‘. Dann zeigt sie auf eine weitere Abbildung auf dem Arbeitsblatt […]“

Abb. 7
figure 7

Pax

Der Protokollausschnitt dokumentiert den Moment, in dem die bis dahin selbständig stattgefundene Bearbeitung des Arbeitsblatts durch die Schülerin von der Lehrperson begutachtet wird. Dabei fällt auf, dass die Lehrerin zwar ‚Pax‘ kommentiert aber nicht weiter thematisiert. Auf das dazu gemalte Symbol, das einem Puzzlestück ähnelt, geht sie nicht ein. ‚Pax‘ könnte ein Versuch sein, ‚Puzzle‘ zu verschriftlichen (siehe Abb. 7). Interaktionslogisch wäre in dieser Situation eine Evaluation erwartbar: Die Lehrerin könnte entweder Alisa auf die Aufgabenstellung zurückverweisen oder versuchen herauszufinden, wie Alisa die Aufgabenstellung adaptiert. Stattdessen kommentiert die Lehrerin das selbstgemalte Kästchen, ohne es jedoch interaktiv weiter einzubinden. Die Lehrerin lässt die Arbeitsweise von Alisa zunächst stehen.

4.3.2 Etablierung einer Arbeitsroutine

„Dann zeigt sie auf eine weitere Abbildung auf dem Arbeitsblatt, sagt ‚Pizza‘ und fragt Alisa: ‚Wo hörst du das P?‘. Alisa deutet auf das erste Kästchen und schreibt dort ein P hinein. […] [Die Lehrerin] zeigt auf eine weitere Abbildung, sagt ‚Palme‘ und fragt Alisa: ‚Wo hörst du das P?‘. Alisa schreibt ein P in das erste Kästchen.“

Mit der Akzeptierung der alternativen Arbeitsweise geht die Überleitung zur Bearbeitungsprozedur einher, wie sie von der didaktischen Logik der Aufgabe vorgesehen ist. Die Lehrperson stellt zwar nicht infrage, was Alisa macht, sie richtet jedoch ihre Aufmerksamkeit auf die abgebildeten Kästchen und leitet zur Aufgabestellung über, die mit dem Arbeitsblatt intendiert ist: Benennen des Bildes und Identifizieren der Lautposition.

Diese Überleitung zum intendierten Bearbeitungsmodus etabliert eine Arbeitsroutine, die die Aufgabenbearbeitung beschleunigt und formatiert. Zwei Schritte lassen sich dabei festmachen: Die Lehrerin beginnt mit dem Vorsagen des ‚richtigen‘ Wortes, um dann die Schülerin nach der Position des Lautes zu fragen („Wo hörst du das P?“). Auf diese Weise schafft sie zum einen andere Relevanzen, die einer sachgemäßen Bearbeitung des Arbeitsblatts entsprechen und dem eigensinnigen Arbeitsmodus der Schülerin entgegenwirken. Zum anderen arbeitet die Lehrerin auch gegen die potenzielle Vieldeutigkeit der Abbildungen, wie dies im folgenden Ausschnitt noch deutlicher wird:

„Die Lehrerin sieht sich das Arbeitsblatt an und fragt Alisa: ‚Was ist das?‘, antwortet aber sofort selbst: ‚Pirat‘ und fragt anschließend: ‚Wo hörst du das P?‘. Alisa macht im ersten der drei Kästchen einen Strich. Die Lehrerin kommentiert: ‚Super. Du kannst es ja.‘“

Abb. 8
figure 8

Pirat

Hier folgt zunächst die Frage „Was ist das?“ (die wiederum von der Lehrerin selbst beantwortet wird), als würde die Lehrerin antizipieren, dass der Schwierigkeitsgrad bei der Identifizierung dieser Abbildung höher ist: Das abgebildete Objekt könnte, wie oben erwähnt, sowohl als ‚Pirat‘ als auch als ‚Ritter‘ gedeutet werden (siehe Abb. 8). Die Lehrerin umgeht die Vieldeutigkeit der Abbildung, indem sie die ‚richtige‘, die Bearbeitungslogik des Arbeitsblatts unterstützende Deutung vorgibt. Auf diese Weise übernimmt die Lehrerin die semantische Identifikation der Abbildungen, sodass sich die Schülerin darauf konzentrieren kann, worum es in der Aufgabe eigentlich geht, nämlich die Identifizierung des Lautes /p/. Die Lehrerin führt so die Schülerin zur didaktisch vorgesehenen Form des Vorgangs über: das Wort auszusprechen und sich dann zu fragen: Wo höre ich das P? Die Schülerin soll jetzt in der Lage sein, das Arbeitsblatt nach dem angezeigten Muster zu bearbeiten. Wie die Szene zeigt, kann Alisa dem didaktisch intendierten Muster folgen: Die Identifizierung des Lautes und die Markierung auf dem Arbeitsblatt übernimmt sie selbstständig. Der Kommentar „Super. Du kannst es ja“ deutet allerdings darauf hin, dass es früher Zweifel daran gegeben hat. Wie der Protokollverlauf zeigt, arbeitet Alisa nur dann an der Aufgabenstellung, wenn die Lehrerin kommt und sie dazu auffordert, und in dem Moment, in dem sie Alisa verlässt, macht Alisa irgendetwas anderes – sie malt. Der evaluative Akt bedeutet in dieser Hinsicht: „Du kannst es ja, dann mach es auch, arbeite selbstständig und nicht nur mit meiner Hilfe“. Er evoziert und fordert eine disziplinierte Haltung gegenüber der Aufgabe.

4.3.3 Klärung des Problemfalls

Die Szene enthält auch zwei Momente, in denen die Identifizierung und Markierung zum Problem werden. Einen dieser Momente dokumentiert der folgende Protokollausschnitt:

„Dann zeigt sie auf das nächste Bild und sagt ‚Papier‘ dazu. Alisa hat einen Strich in das mittlere Kästchen gesetzt. Die Lehrerin fragt nach: ‚Was hast du gemeint, was das ist?‘. Alisa leise: ‚Flieger‘. Dann zeigt die Lehrerin auf weitere Wörter […]“

Abb. 9
figure 9

Papierflieger

Aus der Sicht der Lehrerin liegt hier ein Fehler vor: Alisa hat die Mitte markiert, obwohl das Wort ‚Papier‘ bzw. ‚Papierflieger‘ auch ein /p/ als Anlaut hat (siehe Abb. 9). Die Lehrerin hat zunächst den didaktisch vorgesehenen Arbeitsmodus etabliert und sich vergewissert, dass Alisa keine Probleme mit der Aufgabenstellung hat („Du kannst es ja“). Nun soll geklärt werden, wie diese mittlere Markierung zustande kommt („Was hast du gemeint, was das ist?“). Der Klärungsprozess übergeht dabei die potenzielle Vieldeutigkeit der Abbildung, die zur Differenz in der Bezeichnung führt. In der Frage der Lehrerin wird die potenzielle Vieldeutigkeit des abgebildeten Objekts als mögliche Quelle für das Problem zwar angedeutet, aber sie wird auf zweierlei Art entproblematisiert: zum einen durch das Vorsagen des ‚richtigen‘ Wortes („Papier“), zum anderen dadurch, dass die ‚falsche‘ Bezeichnung („Flieger“) unthematisiert bleibt.

Dass die Überführung eines graphischen Objekts in ein sprachliches kein bloßes ‚Lesen‘ von Zeichen darstellt, sondern mit der Fähigkeit verknüpft ist, ein bereits erworbenes sprachliches Wissen zu mobilisieren und situativ passend umzusetzen, wird im weiteren Protokollverlauf besonders deutlich:

„Dann zeigt die Lehrerin auf weitere Wörter und sagt gleich dazu, was die Bilder darstellen: ‚Pyramide‘, ‚Papagei‘. Dann fragt sie Alisa: ‚Und da?‘ Alisa sagt leise: ‚Stiege‘. Lehrerin: ‚Nicht Stiege, sondern Treppe.‘“

Das Problem entsteht hier nicht aus der Möglichkeit, das abgebildete Objekt unterschiedlich zu deuten, sondern es resultiert vor allem aus den sprachlich-kulturellen Unterschieden in der Bezeichnung: ‚Stiege‘ bezieht sich auf das gleiche Objekt wie ‚Treppe‘, wird jedoch hauptsächlich im österreichischen und süddeutschen Sprachraum verwendet. Die Identifizierung eines graphischen Objekts erfordert so die Orientierung an der Aufgabenstellung (Suche nach Wörtern mit P) als Bezugsrahmen bei der Wahl einer sprachlichen Bezeichnung – eine Kompetenz, die auf der Verknüpfung des sprachlich-kulturellen Wissens mit dem prozeduralen Wissen der Aufgabenbearbeitung basiert und erst durch die Teilnahme an der Praxis entwickelt wird.

5 Fazit

Im Fokus dieses Beitrags stand die Bearbeitung eines für selbständiges Lernen im Rahmen individualisierten Grundschulunterrichts konzipierten Lernmaterials. In der exemplarischen Analyse dessen unterrichtlicher Handhabung haben wir verschiedene Handlungslogiken rekonstruiert und danach gefragt, was sie für die Konstitution schulischen Wissens bedeuten. Wie lassen sich unsere empirischen Ergebnisse im Hinblick auf diese Frage bilanzieren?

Zunächst sei betont, dass es bei dieser Art von Materialien gerade dann, wenn der Lehr-Lern-Prozess im Unterricht ‚individualisiert‘ organisiert wird, um ein hohes Maß an Standardisierung bei den Aufgabenstellungen geht (Breidenstein und Rademacher 2017). Sie findet ihren Niederschlag in der materiellen Konfiguration des Lernmaterials und vor allem in der Prozedur der Aufgabenbearbeitung. Die Prozedur der Bearbeitung des Arbeitsblatts soll der Schülerin aus der analysierten Szene bekannt sein: Man kann vermuten, dass sie ähnlich strukturierte Arbeitsblätter zu anderen Buchstaben auf ähnliche Weise bereits durchgearbeitet hat, und es zeigt sich bei ihrer Erarbeitung des Buchstaben P, dass sie damit etwas anfangen kann. Gleichzeitig wird die der didaktischen Logik der Aufgabe folgende Beschäftigung mit dem Material an vielen Stellen gebrochen und bleibt instabil. Diese Instabilität hat zwei Quellen: eine materielle, die in der potenziellen Vieldeutigkeit der Abbildungen auf dem Arbeitsblatt liegt, und eine personelle, die aus der Eigensinnigkeit der Schülerin resultiert. Dagegen arbeiten die formatierenden Anweisungen der Lehrperson: Durch die Etablierung einer standardisierten, mit dem Arbeitsblatt intendierten Bearbeitungsprozedur wird die Grundschülerin auf die didaktische Logik der Aufgabe konsequenter verpflichtet.

Die den laufenden Bearbeitungsprozess der Schülerin anleitenden Anweisungen der Lehrperson sorgen dafür, dass die Überführung eines graphischen Objekts in ein sprachliches kontrolliert verläuft, dass also die fach-didaktisch relevanten Elemente schulischer Wissensobjekte vor dem fachlich Irrelevanten Vorrang bekommen. Die unvermeidbare Vieldeutigkeit des Bildmaterials stellt dabei ein Handlungsproblem (freilich nicht nur des individualisierten Unterrichts) dar, dessen praktische Lösung darin besteht, so zu tun, als ob das Material in seiner materiellen und semantischen Figuration eindeutig wäre. Diese Fiktion scheint im schulischen Unterricht notwendig, um überhaupt die Kategorien ‚richtig‘ und ‚falsch‘ einführen zu können. Dabei bestimmt die Logik der Aufgabenbearbeitung die ‚Richtigkeit‘ des Wortes für die Bezeichnung eines graphischen Objekts auf dem Arbeitsblatt. Das Material wird dann zum Problem, wenn es in der Prozedur seiner Bearbeitung nicht eindeutig genug ist. Die Herstellung von Eindeutigkeit und Etablierung von Arbeitsroutinen sind in dieser Hinsicht wesentliche Voraussetzungen, die Unterrichtsmaterialien überhaupt erst bearbeitbar zu machen und die Schüler und Schülerinnen auf eine mit der didaktischen Logik der Aufgabe intendierte Arbeitsweise zu verpflichten. Auf diese Weise tragen sie zur Stabilisierung schulischer Praxis der Aufgabenbearbeitung und somit auch schulischen Wissens bei.

In dieser Hinsicht sprechen die Ergebnisse unserer Fallanalyse für die in der qualitativen empirischen Forschung zum individualisierten Unterricht verbreitete These der Standardisierung und Formalisierung der Bezüge auf die fachlichen Inhalte (Martens 2018). Der individualisierte Unterricht leistet in diesem Sinne die gleiche Arbeit wie auch die anderen Unterrichtsformate. Lange und Wiesemann (2019, S. 141) bemerken in diesem Zusammenhang: „Schülerinnen und Schüler lernen im Laufe ihrer unterrichtlichen Sozialisation, (Text)Aufgaben für die Bearbeitung spezifisch zu interpretieren, bestimmte Aspekte zu ergänzen oder auszublenden“. Und Steenpaß (2014, S. 43) spricht in Bezug auf den Mathematikunterricht von „konventionalisierten Deutungsweisen“ als Ergebnis der „Interaktionskultur, die auf die Eindeutigkeit mathematischer Darstellungen ausgerichtet ist“.

Auf der anderen Seite scheint es uns – zumindest in Bezug auf die analysierte Szene – zutreffender, von der Disziplinierung der Sicht auf fachliche Sachverhalte als von der „Entfachlichung des Lehrens und Lernens“ (Martens 2018, S. 218) zu sprechen. In der Szene konnten verschiedene Arten von Wissen, nämlich fachbezogenes, prozedurales und sprachlich-kulturelles Wissen, analytisch unterschieden werden, die in die Bearbeitung des Materials involviert sind und aufeinander aufbauen: Das zu erwerbende fachbezogene Wissen beruht auf einem (bereits erworbenen) sprachlich-kulturellen Wissen und wird durch ein der Bearbeitungsprozedur inhärentes Wissen formatiert, das seinerseits durch die didaktischen Zurichtungen des Materials und die laufenden Anweisungen der Lehrperson gerahmt wird. Die spezifische Verknüpfung dieser verschiedenen Wissensformen in der analysierten Szene scheint zu einem guten Teil implizit zu verlaufen: Sie wird weniger durch explikative Erläuterungen als vielmehr im Laufe der Arbeit mit dem Material handlungspraktisch vermittelt und zielt auf die Kultivierung eines geschulten Blicks auf fachliche Sachverhalte.

Die hier dargestellte Analyse hat auch ihre Grenzen. Die erste Limitation liegt im Fallcharakter der Studie und somit in der Grenzweite ihrer analytischen Aussagen. Es bedarf weiterer Untersuchungen, die vor allem den Zusammenhang von Interaktionsordnung und Aspekten fachlichen Lernens im individualisierten Unterricht – stärker als bisher und unter Einbezug der praxeologischen und fachdidaktischen Perspektiven (Breidenstein und Tyagunova 2020) – ins Zentrum des Forschungsinteresses stellen. Eine weitere Limitation betrifft die Fokussierung auf die situative Bearbeitung des Materials im Rahmen einer Unterrichtssequenz. Wie das Arbeitsblatt entstanden ist und auch in welchem Verhältnis es zu den anderen, ähnlich strukturierten Arbeitsmaterialien im analysierten Unterricht steht, bleibt unklar. Vor diesem Hintergrund könnten im Sinne einer „trans-sequentiellen Analyse“ (Scheffer 2013) zum einen Praktiken der Fertigung von Unterrichtsmaterialien in den Blick genommen und hinsichtlich ihrer Wechselwirkungen mit den Praktiken der situativen Aufgabenbearbeitung genauer untersucht werden (Lange und Wiesemann 2019). Zum anderen könnte der Fokus auf mehrere Sequenzen der Bearbeitung desselben oder ähnlichen Materials gerichtet und so nach formierenden Effekten der Arbeit mit einem bestimmten Typ von Aufgaben gefragt werden.