1 Einleitung

„Ihr macht den Versuch, dann schreibt ihr auf, was ihr beobachtet habt.“ So lautet eine auf Primarschulstufe alltägliche Aufgabe im naturwissenschaftlichen Unterricht (im Folgenden: NaWi-Unterricht). Wie Bleiker (2020) aufgezeigt hat, scheinen Lehrkräfte ihre Aufmerksamkeit oft vorwiegend auf den ersten Teil der Aufgabe, die Versuchsdurchführung, zu richten. Der vorliegende Beitrag fokussiert dagegen das Potenzial des zweiten Teils, des kooperativen Verschriftlichens, für den Aufbau naturwissenschaftlicher Konzepte und (bildungs-)sprachlicher Kompetenzen. Dabei wird „Verschriftlichen“ in einem weiten Sinn verstanden: Es geht um die Transformation von konkret-handelnder (enaktiver) Versuchsdurchführung zu bildlichen (ikonischen) und sprachlichen (symbolischen) Repräsentationsformen, die die Verschriftlichung eines Versuchs erfordert. Oft stellen Lehrkräfte und Schüler:innen erst dann fest, wo noch inhaltlicher und/oder sprachlicher Klärungsbedarf besteht (Leisen 2015). Denn wie ein Schüler im Korpus des vorliegenden Beitrags zu seinem Arbeitspartner sagt: „Wenn man es aufschreibt, muss es richtig sein!“

Wellington und Osborne formulierten die enge Verflechtung von sprachlichem und fachlichem Lernen prägnant:

„Almost all of what we customarily call ‚knowledge‘ is language, which means that the key to understanding a subject is to understand its language. […] This means, of course, that every teacher is a language teacher.“ (Wellington und Osborne 2001, S. 3)

Der vorliegende Beitrag geht der Frage nach, in welcher Weise sich Bezüge zwischen sprachlichem und fachbezogenem Lernen nicht nur postulieren, sondern auf empirischer Basis rekonstruieren lassen. Die Datenbasis bilden Videoaufnahmen authentischer Schulstunden (3., 4. und 5. Primarklasse, total rund 50 Zeitstunden) eines ForschungsprojektsFootnote 1 zur Schnittstelle zwischen medialer Mündlichkeit und medialer Schriftlichkeit im NaWi-Unterricht, die in den gefilmten Schulstunden entstandenen schriftlichen Produkte sowie die abschließende schriftliche Prüfung.

Der Beitrag ist wie folgt strukturiert: Den Ausgangspunkt bildet ein Überblick über Studien zum Thema „Schreiben im NaWi-Unterricht“, die für die nachfolgenden Ausführungen zentral sind (Abschn. 2). Im anschließenden Hauptkapitel (Abschn. 3) wird dargelegt, wie sich sprachliche Anforderungen im NaWi-Unterricht der Primarschule, welcher das Ziel eines Conceptual Change (vgl. z. B. Möller 2015) bei den Schüler:innen anstrebt, konkret darstellen. Das geschieht zunächst mittels eines Blicks in den Schweizer Volksschullehrplan und in ein auf dessen Basis neu entstandenes, vielerorts obligatorisches LehrmittelFootnote 2. Danach wird unter der oben formulierten Fragestellung ein konkretes Unterrichtsbeispiel analysiert und aufgezeigt, wie Schüler:innen dadurch, dass sie etwas gemeinsam schriftlich festhalten müssen, fachliche Inhalte diskutieren, elaborieren und verändern. Im letzten Teil (Abschn. 4) werden die Analyseergebnisse zusammengefasst, mit Befunden aus der Schreib- und Naturwissenschaftsdidaktik (Conceptual Change, Lernen mit Modellen) verknüpft sowie diskutiert, inwiefern sprachliche Herausforderungen insbesondere in der Form kooperativen Schreibens eine Chance für tiefgehendes fachliches Lernen sein können und wie dies methodisch erfasst werden kann.

2 Forschungsüberblick: Schreiben im NaWi-Unterricht

2.1 Writing-to-learn und Learning-to-write

Schreiben im NaWi-Unterricht kann funktional unterschiedlich eingesetzt werden: (1) dokumentierend, (2) konservierend, (3) epistemisch und (4) reflexiv (vgl. Lindauer et al. 2013; Sturm und Beerenwinkel 2020; Thürmann et al. 2017). Die erste Funktion hat als Hauptziel, gewonnene Erkenntnisse für andere sichtbar zu machen, die zweite die Entlastung des Gedächtnisses, die dritte und vierte die Erkenntnisgewinnung. Besonders im angelsächsischen Sprachraum hat Schreiben im NaWi-Unterricht in den letzten Jahren eine Veränderung erlebt, die Huerta und Garza (2019) als Verschiebung vom Schreiben als Mittel zur Wissensdemonstration zum Schreiben als Mittel zur Wissenskonstruktion beschreiben. Die noch wenigen Studien aus dem deutschsprachigen Raum weisen jedoch darauf hin, dass Schreiben im NaWi-Unterricht hier nach wie vor v. a. konservierende und dokumentierende Zwecke erfüllt, epistemisches oder reflexives Schreiben kommen kaum vor (Sturm und Beerenwinkel 2020; Thürmann et al. 2015).

Seit den 1960er-Jahren wird postuliert, dass Schreiben das Lernen unterstütze. Während die Effekte von Schreiben als Werkzeug des Lernens („Writing-to-learn“) zunächst rein spekulativ waren, werden inzwischen für die Wirksamkeit dieses Ansatzes zahlreiche kognitionstheoretische Argumente ins Feld geführt: Schreibende wissen zu Beginn oft nicht genau, was sie sagen wollen, sondern Semantik und Syntax der Sprache formen diesen Prozess (Britton 1982), viele Konzepte sind implizit und erst das Versprachlichen ermöglicht den Schreibenden einen Zugang dazu (Galbraith und Baaijen 2018), Schreiben provoziert unterschiedliche geistige Handlungen (strukturieren, elaborieren, transformieren etc.), die die Abspeicherung von Informationen im Langzeitgedächtnis verbessern (Silva und Limongi 2019), Schüler:innen wenden beim Schreiben Strategien an (Wichtiges auswählen, Gedanken strukturieren etc.), die das Lernen allgemein unterstützen (Graham und Hebert 2011) etc. Angesichts dieser kognitionstheoretischen Argumente überraschen jedoch die empirischen Befunde: Mehrere Meta-Studien (Bangert-Drowns et al. 2004; Graham et al. 2020; Graham und Perin 2007) stellten zwar positive Effekte fest, allerdings sind die ermittelten durchschnittlichen Effektstärken mit 0,17 (Bangert-Drowns et al. 2004), 0,23 (Graham und Perin 2007) und 0,30 (Graham et al. 2020) gering und variieren zwischen den in den drei Meta-Studien berücksichtigten Studien stark, ohne dass sich die Varianz aus vermuteten moderierenden Faktoren (Klassenstufe, Art der Schreibaktivität, Art der Leistungsmessung) erklären ließen. In rund 20 % der Studien zeigten sich sogar negative Effekte (Graham et al. 2020). Graham et al. (2020) folgern daraus, dass die kognitionstheoretischen Zugänge durch soziokulturelle, wie sie das Writing-Within-Communities-Modell (WWC-Modell, Graham 2018) vorschlägt, ergänzt werden müssten. Ob Schreiben das Lernen verbessere, könnte auch von Zielen, Werten, Identitäten, Erwartungen und Überzeugungen der Schreibenden abhängen (Graham 2018; Graham et al. 2020). Um die Gründe dafür zu eruieren, warum Writing-to-learn manchmal keine oder negative Effekte auf das Lernen erzeugt und die Effekte so stark variieren und stärker situationsbedingt sind, als das die konsistenten Befunde der zitierten Meta-Studien vermuten lassen, braucht es also Studien, die Schreiben und Lernen nicht nur als kognitives Phänomen, sondern in ihrer sozio-kulturellen Situiertheit erfassen (Bleiker 2022; Graham 2018). Graham et al. (2020, S. 214) fordern dazu „rich descriptions“. Einen Beitrag in dieser Richtung leistet die vorliegende Studie.

Ob Schreiben im NaWi-Unterricht das fachliche Lernen fördert, hängt auch von den Sprach- und Schreibkompetenzen der Schüler:innen ab. Diese wirken sich zweifach auf den Lernerfolg aus: Zum einen wird jemand, der beispielsweise über geringe hierarchieniedrige Schreibfähigkeiten (Handschrift/Tastaturschreiben, Rechtschreibung, flüssiges Formulieren) verfügt, während der Lernphase Schreiben kaum nutzen können, um sein Wissen zu strukturieren, zu elaborieren etc., weil die Verschriftung zu viele kognitive Ressourcen absorbiert (u. a. Sturm und Schneider 2019). Zum andern hängt der Erfolg in der Überprüfungsphase davon ab, ob es den Schüler:innen gelingt, als Antwort auf eine Frage einen Text zu schreiben, aus dem die bewertende Lehrkraft schließt, dass das infrage stehende naturwissenschaftliche Konzept verstanden wurde. Vor diesem Hintergrund überrascht es, dass in Grahams WWC-Modell Sprach- und Schreibkompetenzen als möglicher moderierender Faktor nicht erscheinen. Der vorliegende Beitrag dagegen fokussiert das Zusammenspiel von fachlichem und sprachlichem Lernen durch das Schreiben.

Während der Writing-to-learn-Zugang das Fachlernen ins Zentrum rückt, verfolgt die Schreibdidaktik die entgegengesetzte Perspektive („Learning-to-write“): Schreibaufträge im NaWi-Unterricht bieten aus schreibdidaktischer Perspektive großes Potenzial für den Ausbau literaler Kompetenzen (u. a. Bleiker 2020; Senn und Sturm 2008). Bleiker (2020) nennt sechs „Chancen für andere Zugänge zu literaler Kompetenz“: (1) Schreibaufgaben im NaWi-Unterricht sind ohne Kunstgriffe situierbar, (2) Texte im NaWi-Unterricht sind multimodal, (3) Schreiben im NaWi-Unterricht umfasst ein anderes Textsortenspektrum als (traditionellerweise) im Fach Deutsch, (4) Naturwissenschaften bieten andere Identifikationspotenziale als das Fach Deutsch, (5) im NaWi-Unterricht ist kooperatives Schreiben besonders naheliegend und (6) Schreiben im NaWi-Unterricht erhöht die absolute Schreibzeit von Schüler:innen. Thürmann et al. (2015) sprechen in Bezug auf das Schreiben im NaWi-Unterricht deshalb von einem „schlafenden Riesen“, der geweckt werden könne und solle. Dazu dürften sich Schreibaufgaben im NaWi-Unterricht aber erstens nicht auf das Abschreiben von Wörtern und Merksätzen beschränken und zweitens müssten sie auch im NaWi-Unterricht unter schreibdidaktischer Perspektive betrachtet und angeleitet werden (Bleiker 2020; Thürmann et al. 2015).

2.2 Kooperatives Schreiben

Das Projekt, aus dem die vorliegende Studie stammt, untersucht kooperatives Schreiben. Kooperatives Schreiben liegt vor, „wenn zwei oder mehr Personen bei der Textproduktion zusammenarbeiten“ (Lehnen 2017, S. 299). Die Zusammenarbeit kann einzelne Teile oder den gesamten Schreibprozess (Planen, Formulieren, Überarbeiten) umfassen. Ersteres nennen Becker-Mrotzek und Böttcher (2006, S. 42) und später u. a. auch Beisswenger (2017, S. 162) „schrittweises kooperatives Schreiben“, letzteres „gemeinsames kooperatives Schreiben“. Davon wiederum bilden Settings, in denen sich die Schreibenden in einer Face-to-face-Situation gemeinsam einer Schreibaufgabe widmen, eine weitere Untergruppe. In der Literatur wird diese Form auch unter dem Terminus „konversationelle Schreibinteraktionen“ beschrieben (Dausendschön-Gay et al. 1992; Lehnen 2000, 2017; Lehnen und Gülich 1997; Schindler 2017). Um diese Form kooperativen Schreibens handelt es sich im vorliegenden Beitrag.

Für diese Wahl gibt es eine naturwissenschaftsdidaktische, eine schreibdidaktische und eine forschungsmethodische Begründung. Die naturwissenschaftsdidaktische liegt darin, dass im naturwissenschaftsdidaktischen Diskurs Schülervorstellungen und deren Weiterentwicklung eine große Rolle spielen (Adamina et al. 2018). Möller (2010) überschreibt eine ihrer Publikationen zur Konzeptforschung: „Lernen von Naturwissenschaften heißt: Konzepte verändern“. Nach dem Grundgedanken des moderaten Konstruktivismus wird Wissenserwerb verstanden als eigenaktiv, situiert und in sozialer Konstruktion erarbeitet (Haider et al. 2012). Für den Auf- und Ausbau tragfähiger sachlich-fachlicher Konzepte sind also (u. a.) Interaktionen im Unterricht relevant (Adamina et al. 2018). Die schreibdidaktische Begründung liegt darin, dass kooperatives Schreiben eine der wirksamsten Schreibfördermaßnahmen überhaupt zu sein scheint (Graham und Perin 2007; Philipp 2019). Auch wenn das Ziel des Schreibunterrichts ausreichende Schreibkompetenzen jedes individuellen Kindes sind, beinhaltet kooperatives Schreiben als „Brückentechnologie“ doch großes Potenzial (Philipp 2019, S. 117–122). Aus methodischer Sicht bietet kooperatives Schreiben für Forschende den Vorteil, dass Beschaffenheit, Auf- und Umbau fachlicher Konzepte im Prozess beobachtbar(er) werden. Denn beim kooperativen Schreiben müssen Lernende ihre Vorstellungen sprachlich (oder auch mit Handlungen oder Skizzen) zum Ausdruck bringen und miteinander abgleichen, um gemeinsam etwas zu Papier zu bringen. Damit wird partiell sichtbar, wie sich Lernende Sachen vorstellen und wie sich diese Vorstellungen während der Verschriftlichung verändern (oder häufig auch nicht, vgl. Adamina et al. 2018; Skorsetz et al. 2021).

3 Sprachlernen und Fachlernen: Fallstudie zum Thema „Muskeln“

Im Folgenden wird in Form einer Fallstudie aufgezeigt, wie sich beim kooperativen Schreiben im NaWi-Unterricht (5. Klasse, Thema „Muskeln“) fachliche und sprachliche Anforderungen verbinden. Dazu wird zunächst dargestellt, welche Ziele der aktuelle Deutschschweizer Volksschullehrplan („Lehrplan 21“) sowie ein auf dessen Basis neu entstandenes, in vielen Kantonen obligatorisches Lehrmittel („NaTech“Footnote 3) zu diesem Thema formulieren (Abschn. 3.1). Anschließend wird eine konkrete Unterrichtssequenz analysiert (Abschn. 3.2).

3.1 Muskeln im Lehrplan 21 und im Lehrmittel NaTech

Der Lehrplan 21 führt das Thema „Muskeln“ als verbindlichen Inhalt auf. Die Kompetenzbeschreibungen dazu (Abb. 1) beinhalten fast durchgehend sprachliche Handlungen: Für „nennen“, „beschreiben“ und „erklären“ ist das offensichtlich, aber auch „beobachten“, „erfassen“ und „erkennen“ können ohne Sprache kaum sichtbar gemacht werden. Das gilt sowohl für die Erarbeitungsphase als auch für die Überprüfung der Kompetenzen in einer Prüfung.

Abb. 1
figure 1

Kompetenzbeschreibung NMG. 1.4 im Schweizer Volksschullehrplan. (Deutschschweizer Erziehungsdirektoren-Konferenz 2016)

Die gleichen Beobachtungen lassen sich in Bezug auf die Lernziele formulieren, die das Lehrmittel NaTech zum Thema Muskeln aufführt (Abb. 2): Außer in Kriterium 1 („zeigen“) werden ausschließlich sprachliche Handlungen genannt.

Abb. 2
figure 2

Kompetenzbeschreibungen Lehrmittel NaTech 5/6, Thema „Muskeln“. (Schulverlag plus AG)

Wie sich das bereits in den Kompetenzbeschreibungen manifeste Abhängigkeitsverhältnis zwischen Konzept-Lernen und Sprachlernen im konkreten Unterricht präsentiert, zeigt sich in der folgenden Analyse.

3.2 Unterrichtssequenz zum Thema „Muskeln“

3.2.1 Datenbasis und methodischer Zugang

Die DatenbasisFootnote 4 des vorliegenden Beitrags bilden Videoaufnahmen authentischer Schulstunden (3., 4. und 5. Primarklasse, total rund 50 Zeitstunden) eines Forschungsprojekts zur Schnittstelle zwischen medialer Mündlichkeit und medialer Schriftlichkeit im NaWi-Unterricht, die in den gefilmten Schulstunden entstandenen schriftlichen Produkte sowie die abschließende schriftliche Prüfung (inkl. Bewertung). Bei der Auswahl der Klassen wurde angesichts der explorativen Zielsetzung des Projekts darauf geachtet, ein großes Spektrum hinsichtlich des Faktors ‚sprachliche Homogenität/Heterogenität‘ der Schüler:innen abzudecken. Außerdem wurden Klassen gewählt, bei denen alle Kinder teilnahmen, so dass der Unterricht ohne Anpassungen an die Aufnahmesituation durchgeführt werden konnte. Im Klassenraum waren drei Kameras platziert, und alle Schüler:innen sowie die Lehrkraft waren mit Audioaufnahmegeräten ausgestattet. Für alle Schreibgruppen wurde die beste Bildspur mit den Tonspuren der betreffenden Schüler:innen kombiniert. Daraus resultierten Videoclips, in denen alle Schüleräußerungen, sogar geflüsterte, verständlich und damit der Analyse zugänglich sind.

Von insgesamt 33 videografierten Lektionen (Stand 02/2020) findet in 20 Lektionen kooperatives Schreiben statt. Unter ‚kooperatives Schreiben‘ werden sowohl kooperatives Schreiben unter Peers als auch Unterrichtsphasen gefasst, in denen die Schüler:innen im Plenumsunterricht mit Unterstützung der Lehrkraft Formulierungen erarbeiten und aufschreiben. Letzteres findet sich jedoch lediglich in 4 der 20 Lektionen und nur bei einer Lehrkraft. Von den 20 Lektionen wurden detaillierte „Gesprächsinventare“ (Deppermann 2008) erstellt. Alle Lektionsteile, in denen sich kooperatives Schreiben findet, wurden nach GAT 2 (Selting et al. 2009) transkribiert.

Die Datenanalyse für den vorliegenden Beitrag war explorativ-qualitativ und dem Thema „Sprache in fachlichen Kontexten“ entsprechend interdisziplinär ausgerichtet (Deutschdidaktik – Naturwissenschaftsdidaktik): Das interdisziplinäre Autorenteam analysierte in gemeinsamen Data Sessions die Videos, die Transkripte und die schriftlichen Produkte mit einer Kombination aus inhalts- und linguistisch-gesprächsanalytischen Zugängen (vgl. Heller und Morek 2018; Schindler 2017). Die Analyse erstreckte sich über eine gesamte Unterrichtssequenz hinweg, beginnend mit dem Start in das neue Thema „Muskeln“ (vgl. Abschn. 3.2.2) und endend in der schriftlichen Prüfung (vgl. Abb. 4). Der Hauptfokus lag auf der interaktiven Erarbeitung und Verschriftlichung von zentralen naturwissenschaftlichen Konzepten (Muskel – anspannen – entspannen – strecken – beugen – Spieler – Gegenspieler) in Form konversationeller Schreibinteraktionen (9 ZweiergruppenFootnote 5).

3.2.2 Situierung der Schreibinteraktionen

Die analysierten Schreibinteraktionen situieren sich innerhalb der Unterrichtssequenz wie folgt: Lehrkraft und Klasse sitzen im Stuhlkreis. Die Lehrkraft kündigt das neue Thema „Muskeln und Sehnen“ an. Die Klasse erhält ein Arbeitsblatt (Abb. 3Footnote 6). Der Text darauf wird erschlossen, indem jede:r Schüler:in reihum einen Satz vorliest und die Lehrkraft gelegentlich unterbricht, um das Gelesene zu paraphrasieren, zu kommentieren und Fragen zu stellen. Außerdem wird das Beugen und Strecken am Beispiel des Beins ausprobiert und besprochen. Dabei verwendet die Lehrkraft mehrfach folgende zentralen Begriffe: „in die Länge gedrückt werden“ (sic), „kürzer werden“, „sich verkürzen“, „strecken“, „anziehen“. Aus den Wortmeldungen der Schüler:innen wird deutlich, dass nicht alle das Konzept ‚bei der Beugung/Streckung des Beins verkürzt sich der Beuger/Strecker‘ verstanden haben. Die Lehrkraft holt ein Gummiband und zieht dieses mit den Worten „das Gleiche habe ich ja bei diesem Gummiband“ in die Länge. Nun beschreiben die Kinder das Gummiband zutreffend mit den Begriffen „länger“, „dünner“, „kürzer“ und „dicker“. Schließlich liest die Lehrkraft der Klasse den auf dem Arbeitsblatt gelb hinterlegten Auftrag vor und demonstriert gleichzeitig die beschriebene Bewegung. Mit ihrer abschließenden Äußerung (Bsp. 1) wird daraus eine kooperativ zu bearbeitende Schreibaufgabe.

Abb. 3
figure 3

Arbeitsblatt (Ramon), von der Lehrkraft auf der Basis des Lehrmittels NaTech erstellt

Bsp. 1 Schreibaufgabe (Fl_UB_NMG7_LK, Z 301-305, 5. Klasse)

LK = Lehrkraft (w)

301 LK: auch WIEDer (-) mit deinem sitznachbarn deiner sitznachbarin, 302 verSUCHen zu beschreiben wAs passiert- 303 <<vorzeigend> du hast ETwas mit wenig gewicht in der hAnd, 304 und machst diese beWEGung>, 305 und versuchst einmal zu beschreiben WAS da passiert;

3.2.3 Ergebnisse: Vier Modi kooperativen Schreibens – unterschiedliche Lernpotenziale

Die induktiven Analysen der Peer-Schreibinteraktionen in der beschriebenen Unterrichtssequenz führten zum Ergebnis, dass sich vier Modi kooperativen Schreibens abstrahieren lassen, die mit unterschiedlichen Potenzialen für das fachliche und sprachliche Lernen verbunden zu sein scheinen. Diese Modi werden – der theoretischen Basis der linguistischen Gesprächsanalyse entsprechend – nicht als individuelle Persönlichkeitsmerkmale der Kinder verstanden, sondern als interaktiv in der aktuellen Schreibsituation etabliert und ausgehandelt: Je nach Partnerkonstellation, Aufgabeninhalt, Zeitbudget etc. agiert dasselbe Kind in konversationellen Schreibinteraktionen unterschiedlich. Im Folgenden werden die vier Modi zusammenfassend beschrieben.Footnote 7

Erster Modus: schon-wissend (Gruppe A)

Einige Kinder äußern bereits zu Beginn der Gruppenarbeit explizit, dass sie überzeugt sind zu wissen, was beim Versuch herauskommt („ich weiss es schon“). Das formt ihren Arbeitsmodus: Sie diskutieren beim kooperativen Verschriftlichen nicht inhaltliche Punkte, sondern wägen unterschiedliche Formulierungs- und orthografische Varianten gegeneinander ab. Gruppe A arbeitet sich beispielsweise über mehrere Stufen hinweg von einer alltagssprachlichen Formulierung zu einer als „bildungssprachlich“ (u. a. Feilke 2012; Morek und Heller 2012) zu kategorisierenden Formulierung vor:

Gruppe A

„Arm raufnehmen“ → „Arm heraufziehen“ → „Arm in den 90°-Winkel bringen“ → „Arm in die 90°-Position bringen“ → „in den Rechten Winkel bringen“ → „in die 90°-Position bringen“.

In solchen Gruppen wird der Hauptanteil der Arbeitszeit also für Optimierungen auf der Ebene der sprachlichen Darstellung verwendet. Der Lernfortschritt dürfte deshalb v. a. auf der sprachlichen Ebene liegen.

Zweiter Modus: antagonistisch (Gruppe C)

Dieser Modus kooperativen Schreibens ist charakterisiert durch einen Antagonismus der Schreibpartner:innen: Beide wollen sich bezüglich Arbeitsweise, Inhalten und Formulierungen durchsetzen. Bei Gruppe C beginnt das mit der Wahl des Gegenstands für den Versuch (S1: „nimm einmal mein Etui“ – S2: „nein, mein Hausaufgabending ist schwerer“), wiederholt sich auf der Ebene der Arbeitsorganisation (S1: „noch nicht auf das Arbeitsblatt schreiben, wir machen zuerst einen Entwurf“ – S2: „nein, nein, nein, nein, nein, sonst sind wir langsam“), setzt sich auf der inhaltlichen Ebene fort (S1: „das stimmt nicht einmal“ – S2: „doch, sicher“), umfasst auch die Formulierungsebene (S1 liest seinen bereits aufgeschriebenen Satz vor – S2: „das ist zu lang“) und führt im Fall von Gruppe C am Ende auch zu Abwertungen des einen Kindes durch das andere (S1: „du weißt ja nicht einmal in welche Richtung“). Jedes Kind bleibt inhaltlich und sprachlich in allen Punkten bei seiner Version. Dass sich beide – anders als die meisten anderen Kinder – im anschließenden Plenum (vgl. Abschn. 3.2.4) nicht melden, um ihren Text vorzulesen, kann als Hinweis interpretiert werden, dass beide von ihrem Resultat nicht überzeugt sind. Vielmehr radiert S1 seinen Text bereits aus, noch bevor das erste Kind vorzulesen beginnt.

In diesem Modus wird das kooperativ angelegte Schreibsetting nicht für interaktive Weiterentwicklungen von Konzepten oder Formulierungen genutzt. Die konversationellen Schreibinteraktionen lassen weder fachliches noch sprachliches Lernen erkennen.

Dritter Modus: nicht-diskutierend (Gruppe D)

Eine Gruppe spricht zu Beginn kein Wort miteinander, sondern jedes Kind führt den Versuch vom andern Kind abgewandt allein durch. Anschließend äußert jedes Kind einen Satz, der unverändert notiert wird.

S1 ist zwar mit dem Satz von S2 zuerst nicht einverstanden. Er signalisiert das, indem er als Reaktion auf den Lösungsvorschlag von S2 die Frage auf dem Arbeitsblatt nochmals vorliest und seinen eigenen Satz („es wird dicker“) wiederholt. Den Vorschlag von S2, den Satz von S1 mit „und angespannt“ zu ergänzen, lehnt er ab, indem er seinen Arm streckt, seinen Bizeps berührt und behauptet: „angespannt ist das“. Wortlos beginnt darauf S2, den Satz von S1 zu notieren. Als S2 dann fragt, ob auch ihr Satz noch aufgeschrieben werden könne, antwortet S1 mit einem kurzen Ja. Sie notieren den Satz, indem S2 beim Schreiben mitspricht und ihren Satz so S1 diktiert. Diskutiert wird darüber trotz inhaltlicher Meinungsverschiedenheit nicht mehr.

Auch in diesem Modus wird also das kooperativ angelegte Schreibsetting nicht für interaktive Weiterentwicklungen von Konzepten oder Formulierungen genutzt, und es lässt sich weder fachliches noch sprachliches Lernen erkennen.

Vierter Modus: konstruierend-reflektierend (Gruppen B, E, F, G, H, I)

Diese Gruppen starten mit einem Abwägen, welcher Gegenstand sich für den Versuch eignet. Dann führen sie den Versuch durch und versprachlichen parallel dazu ihre Beobachtungen. Während des Verschriftlichens tauchen wiederholt inhaltliche Zweifel auf; deshalb wiederholen sie den Versuch mehrfach. Die meisten Gruppen können ihre Zweifel so ausräumen (Gruppen B, E, F, G). Gruppe I holt sich zusätzlich inhaltliche Unterstützung bei der Lehrkraft. Gruppe H ist am Ende der Gruppenphase verwirrter als zu Beginn und wirkt dadurch umso aufmerksamer während der Auswertung im Plenum.

Gruppen mit konstruierend-reflektierendem Arbeitsmodus verschriftlichen also tatsächlich ihre Beobachtungen während des Versuchs und nicht ihr Vorwissen. Inhaltliche Erarbeitung und Verschriftlichung laufen zeitlich überlappend ab. Während des Verschriftlichens werden die folgenden Änderungen vorgenommen.

Gruppe B

S1: „die Haut wird dicker“ → S2: „wir haben gefühlt, wie …“ → S1: „wir haben getastet, wie …“, S2: „wie die Haut dicker wird“ → S1: „wie die Muskeln sich anspannen“

Diese Veränderungen sind bemerkenswert: Erstens wird auf der konzeptuellen Ebene ausgehandelt, dass nicht die Haut dicker wird, sondern der Muskel. Zweitens wird die Art der Erkenntnisfindung (Ertasten) explizit gemacht.

Gruppe E

S1: „der Oberarm spannt sich an“ → S2: „wenn man aso zu beugt“ → S1: „wenn man den Unterarm beugt“ → S2: „wenn du den Unterarm beugst, spannt sich der Oberarm“.

Diese Veränderung erhöht den Dekontextualisierungsgrad des Satzes: Während die erste Formulierung für die Wiedergabe des Sachverhalts auf die Frage auf dem Arbeitsblatt („Was passiert da?“) angewiesen ist, formuliert das Endprodukt einen Wenn-dann-Zusammenhang, der auch außerhalb der konkreten Situation verständlich ist – ein typisches Merkmal „konzeptioneller Schriftlichkeit“ (Koch und Oesterreicher 1986). Dass die Begrifflichkeiten noch nicht präzise sind (es ist ja nicht der Unterarm, der sich beugt, und was sich anspannt, ist der vordere Oberarmmuskel), ist ein Problem auf der sprachlichen Ebene, das die beiden (wie die Lehrmittelautor:innen, vgl. Fußnote 6) noch nicht wahrnehmen.

Gruppe G (vgl. Abb. 3)

(1) S1: „grösser“ → S2: „dicker“

(2) S2: „das nach oben halten“ → S1: „den Arm biegen“

(3) S2: „wenn man den Arm gestreckt hat“ → S2: „wenn der Arm gestreckt ist“

(4) S2: „ist es unten flach und oben dick“ → S1: „ist es genau das Gegenteil“

Veränderungen (1) und (2) erhöhen die begriffliche Präzision, (3) stellt eine Verdichtung und (4) eine Abstraktion dar. Auch das sind Merkmale, die in der Literatur als konzeptionell schriftlich oder bildungssprachlich beschrieben werden (s. oben).

Gruppe I

S1: „der untere Muskel zieht sich, wenn man die Hand unten hat, zusammen“ → S2: „wenn man den Unterarm beugt, dann spannt sich der Muskel“ → S1: „der untere Muskel an“ → S2: „wenn man den Unterarm beugt, dehnt sich der untere Muskel“

Aus dem Video wird klar, dass S1 einen Satz zum Trizeps (= unterer Muskel, wenn der Arm mit der Handfläche nach oben ausgestreckt wird) formuliert. S2 dagegen beugt während der Äußerung des Alternativvorschlags den Arm und betastet den sich anspannenden Bizeps. Beide ersten Formulierungsvorschläge sind also inhaltlich korrekt, aber ohne begleitende Gestik nicht verständlich. S1 möchte den ersten Formulierungsvorschlag von S2 präzisieren (welcher Muskel spannt sich an?), spricht aber weiterhin über den Trizeps. S2 merkt das, übernimmt die Satzperspektive von S1 und nimmt gleichzeitig die nötigen Anpassungen vor, damit der Satz inhaltlich richtig bleibt („spannt sich an“ → „dehnt sich“). S2 scheint das Konzept so gut verstanden zu haben, dass sie zu einem Perspektivenwechsel fähig ist. Beiden Kindern fehlen aber offensichtlich die Begriffe „Bizeps“ und „Trizeps“: Sie bemühen sich um „Explizitformen“ (Feilke 2012), was erneut ein Merkmal von Bildungssprache ist, verfügen aber nicht über die sprachlichen Mittel dafür.

In den erwähnten Gruppen (B, E, G, I) verteilen sich die Weiterentwicklungen von Konzepten und Formulierungen auf jeweils beide Kinder. Man könnte den Grund dafür darin vermuten, dass sie über ähnlich gute deutsche Sprachkompetenzen verfügen (zumindest fallen im Korpus diesbezüglich keine Asymmetrien auf). Es finden sich jedoch auch Beispiele dafür, dass der konstruierend-reflektierende Modus auch in bezüglich deutscher Sprachkompetenzen asymmetrischen Konstellationen realisiert werden kann: Die Gruppen F und H bestehen aus je einem Kind, das erst seit einem Jahr Deutsch lernt, und einem Kind deutscher Erstsprache. Zwar leistet das Kind mit Erstsprache Deutsch während der Versuchsdurchführung und der Verschriftlichung den Großteil der Versprachlichung. Es schreibt aber nicht, ohne jeweils die Zustimmung des zweiten Kindes einzuholen, womit dieses an der Arbeit beteiligt wird. Auch in diesen Konstellationen ist beobachtbar, wie Formulierungen während der Verschriftlichung präzisiert werden. In Gruppe F gehen die Präzisierungen nur von einem Kind aus („es tut sich zusammenziehen“ → „der Oberarm zieht sich zusammen“ → „der Oberarmmuskel zieht sich zusammen“). In Gruppe H dagegen beteiligen sich beide Kinder an der Diskussion: S1: „wir vermuten“ → S1: „wir haben beobachtet“ → S1: „wir haben gesehen“ – S2: „aber man sieht es ja nicht“ → S2: „wir haben gespürt“ → S1: „wir spüren, dass“. Diese Diskussion nimmt einen Input aus einer früheren Lektion auf: Die Lehrkraft hatte wenige Tage zuvor mit der Klasse geübt, Vermutungen mit der TextprozedurFootnote 8 „ich vermute, dass“ und Beobachtungen mit „ich habe beobachtet, dass“ einzuleiten – eine sprachliche Differenzierung, die im NaWi-Unterricht von hoher Relevanz ist (vgl. Bleiker 2022). Diese Kinder (und auch Gruppe B, s. oben) scheinen sich daran zu erinnern und das Erworbene anzuwenden. An diesem Beispiel zeigt sich, wie die passende sprachliche Vorbereitung einer NaWi-Schreibaufgabe auch einem Kind mit geringeren Deutschkompetenzen ermöglicht, an deren Lösung aktiv zu partizipieren.

Der Mehrzahl der Gruppen mit diesem Modus reicht die zur Verfügung stehende Zeit nicht: Sie schreiben noch weiter, während die ersten Kinder bereits ihre Ergebnisse präsentieren. Orthografie-Fragen werden wohl auch deshalb kaum (Gruppen B, F) oder gar nicht (Gruppen E, G, H, I) diskutiert.

Insgesamt lässt sich festhalten: Bei diesem Modus kooperativen Schreibens scheinen Arbeit am Konzept und Arbeit an Formulierungen Hand in Hand zu gehen. Das kooperative Verschriftlichen unterstützt die Konzeptbildung, weil die Kinder sich dabei um präzise Formulierungen bemühen und dadurch inhaltliche Unsicherheiten leichter erkennen.

Die Vermutung, dass kooperatives Schreiben im NaWi-Unterricht besonders viel Potenzial für fachliches und sprachliches Lernen beinhaltet, wenn es im konstruierend-reflektierenden Modus geschieht, wird auch gestützt durch einen Blick darauf, welche Gruppen wie viel Zeit für die Versuchsdurchführung (ohne Schreiben) und für die Verschriftlichung aufwenden (vgl. Tab. 1). Dieses Verhältnis ist in den Gruppen mit konstruierend-reflektierendem Modus relativ ausgeglichen, während in den Gruppen mit schon-wissendem und antagonistischem Modus überdurchschnittlich rasch zur Verschriftlichung übergegangen und kaum über inhaltliche Aspekte diskutiert wird.

Tab. 1 Verhältnis Zeit (in Sekunden) von Versuchsdurchführung (ohne Schreiben) zu Verschriftlichungsphase

3.2.4 Abschließende Verschriftlichung im Plenum

Nach der Gruppenarbeitsphase lesen mehrere Schüler:innen ihre Texte im Plenum vor. Die Lehrkraft greift fehlerhafte und vage Konzepte auf und regt im Unterrichtsgespräch Weiterentwicklungen an. Schließlich fragt sie nach einer Formulierung, die auf dem Visualizer notiert werden kann, damit alle sie auf ihrem Arbeitsblatt ergänzen können. Mehrere Schüler:innen melden sich. Dina, die Schreibpartnerin von Ramon (Abb. 3), darf vorlesen (Bsp. 2).

Bsp. 2 Sehr gute Formulierung! (Fl_UB_NMG7_LK, Z 411–413, 5. Klasse)

LK = Lehrkraft (w), Di = Dina (L1 = Deutsch)

411 Di: <<vorlesend> wenn der arm geSTRECKT ist (.) ist es oben FLACH und unten: dick (-) wenn man den arm biegt; 412 dann ist es genau das GEgenteil>; 413 LK: h/ ou (.) SEHR gute formulierung;

Die Lehrkraft notiert Dinas/Ramons Satz als Musterlösung. Zwei Änderungen nimmt sie jedoch vor: Sie ersetzt „biegt“ (Z 411) durch „beugt“, und „oben/unten“ (Z 411) durch „vorne/hinten“ (vgl. Abb. 3). Die erste Anpassung thematisiert sie nicht, die zweite erklärt sie der Klasse damit, dass „oben und unten so ein bisschen unklar“ seien. Auch hier zeigt sich also, dass die Verschriftlichung dazu führt, dass sich die Schreibenden um präzisere Formulierungen bemühen.

3.2.5 Analogien können aus sprachlichen Gründen irreführen

In dieser Unterrichtssequenz soll ein Konzept für „Muskeln“ aufgebaut werden. Als Unterstützung wird von Lehrmittel und Lehrkraft eine AnalogieFootnote 9 verwendet: das Gummiband. Diese Analogie trifft zu in Bezug darauf, dass für Gummiband und Muskel gilt: je länger, desto dünner und je kürzer, desto dicker. In einem zentralen Punkt unterscheiden sich Gummiband und Muskel aber: Wenn sich ein Muskel zusammenzieht, spricht man von „anspannen“. Das Gummiband dagegen wird durch „Anspannen“ länger. Auf der sprachlichen Ebene ist in beiden Fällen von „anspannen“ die Rede.

In der analysierten Unterrichtssequenz führt die Gummiband-Analogie sogar dazu, dass Ramons anfänglich korrektes Muskel-Konzept brüchig wird (vgl. Bsp. 3).

Bsp. 3 Analogie führt zu Fehlkonzept (Fl_UB_NMG7_LK, Z 396-401, 5. Klasse)

LK = Lehrkraft (w), Ra = Ramon (L1 = Deutsch)

396 Ra: <<den Arm ausstreckend> aso wenn man: (-) den arm SO hält (-)> <<den Bizeps berührend> ist s HIER flach und> (--) aso ANgespannt>- 397 <<den Arm beugend> und wenn man ihn SO hält ist er (---) me/ äh entSPANNT>; 398 (-) 399 LK: <<p> geNAU>; 400 ((Ramon senkt den Arm, die LK das Gummiband, 1 Sek.)) 401 LK: SEHR gut;

Ramon erklärt der Klasse de facto, wie ein Gummiband funktioniert und nicht die Funktionsweise von Bizeps und Trizeps (Z 396–397). Seine Aussagen, in welcher Armposition der Bizeps angespannt bzw. entspannt ist, sind falsch. Die Sprechpausen (‑-), Hesitationspartikeln („aso“, „äh“) und der Wortabbruch („me/“) vor den Begriffen „angespannt“ (Z 396) und „entspannt“ (Z 397) deuten auf ein Wahrnehmen hin, dass mit dem Wortpaar „angespannt/entspannt“ etwas nicht stimmt. Auch die Lehrkraft realisiert Unsicherheitssignale, indem sie die Evaluation von Ramons Aussage auffallend leise äußert (Z 399) und eine Sprechpause macht, bevor sie die Sequenz mit „sehr gut“ (Z 401) beendet.

An diesem Beispiel werden zwei Dinge deutlich: (1) Analogien erstrecken sich oft nicht auf ein ganzes Konzept, sondern nur auf Teile davon. Das kann zu Verwirrung führen. (2) Sprache kann Ursache und Kristallisationspunkt solcher Konfusionen sein. Also müssen Analogien auch auf damit verbundene sprachliche Fallstricke überprüft werden, damit sie die Konzeptbildung unterstützen und nicht erschweren.

In der Prüfung werden die Gummiband-Muskel-Analogie und das Bizeps-Trizeps-Konzept in zwei getrennten Fragen erfragt – und weder die Schüler:innen noch der von der Lehrkraft für die Korrektur verfasste Lösungsschlüssel (vgl. Abb. 4) erwähnen in der Bizeps-Trizeps-Frage das Gummiband. Auch das zeigt: Diese Analogie hat das Konzeptlernen wohl nicht unterstützt.

Abb. 4
figure 4

Prüfungsfrage zum Thema „Muskeln“ (Lösungsschlüssel der Lehrkraft)

4 Zusammenfassung und Diskussion der Ergebnisse

Die zentralen Ergebnisse der Fallanalyse in Abschnitt 3 lassen sich in folgenden drei Punkten zusammenfassen:

  1. 1.

    Eine entscheidende Rolle für das Lernpotenzial kooperativen Schreibens im NaWi-Unterricht scheint der Modus der konversationellen Schreibinteraktionen zu spielen: Ein konstruierend-reflektierender Arbeitsmodus scheint für fachliches und sprachliches Lernen förderlicher zu sein als schon-wissende, antagonistische oder nicht-diskutierende Vorgehensweisen.

  2. 2.

    Schreibende verändern Formulierungen während der kooperativen Verschriftlichung in eine Richtung, die oft unter den Konzepten „konzeptionelle Schriftlichkeit“ oder „Bildungssprache“ beschrieben wird: Sie erhöhen den Explizitheits- und Abstraktionsgrad, verdichten und präzisieren Formulierungen. Solche Operationen sind auch für naturwissenschaftliches Denken zentral.

  3. 3.

    Modelle und Analogien müssen vor dem Einsatz im NaWi-Unterricht auch auf mögliche sprachliche Fallstricke untersucht werden, damit sie den Aufbau naturwissenschaftlicher Konzepte unterstützen können.

Insgesamt lässt sich also feststellen, dass sich durch die Untersuchung kooperativen Schreibens konkrete Bezüge zwischen fachlichem und sprachlichem Lernen im NaWi-Unterricht auf empirischer Basis rekonstruieren lassen. Im vorliegenden Beitrag wurde das in Form einer Fallstudie anhand eines ausgewählten Themas exemplarisch demonstriert.

Aus methodischer Perspektive lassen sich zusätzlich folgende Erkenntnisse formulieren:

  1. 1.

    Es braucht einen sehr genauen Blick auf das tatsächliche Unterrichtsgeschehen, um – wie in diesem Beispiel – zu rekonstruieren, wo und wie Konzepterweiterung und sprachliches Lernen stattfinden, aber auch wie und wo Konfusionen entstehen.

  2. 2.

    Wenn solche Mechanismen erkannt und verstanden werden sollen, sind interdisziplinäre Forschungsteams unabdingbar (vgl. auch Bleiker 2021).

  3. 3.

    Ein umfassendes Korpus, wie es für die vorliegende Studie zur Verfügung stand (Videoaufnahmen, Transkripte, Lehrmaterialien wie Schulbücher, Arbeitsblätter, Modelle, Schaubilder), ermöglicht, dass möglichst viele der Ressourcen, auf die sich die Schüler:innen für die Konzeptbildung bzw. für die sprachliche Umsetzung stützen können, den Forschenden bekannt sind und für die Analyse zueinander in Beziehung gesetzt werden können.

Die Kehrseite dieses Vorgehens liegt auf der Hand: Die Anzahl der Fälle, die so berücksichtigt werden können, ist geringer. Die hier dargestellten Phänomene finden sich jedoch auch in den restlichen Daten des Korpus (vgl. Abschn. 3.2.1) und stellen insofern keine Einzelphänomene dar. Dennoch sei ausdrücklich betont, dass es sich bei der vorliegenden Studie um eine explorative Analyse von Daten einer Schulklasse handelt, so dass die Ergebnisse und Folgerungen als datengestützte Hypothesen und nicht als generalisierbare Befunde zu interpretieren sind.

Setzt man die Befunde der vorliegenden Studie in Beziehung zum Fazit der Metastudie von Graham et al. (2020), dass Schreiben ein wirksames Lerninstrument auf allen Schulstufen und in allen Sachfächern sei, dies aber nur in rund 80 % der Studien bestätigt werde, weshalb der konkreten Gestaltung des Schreibens mehr Aufmerksamkeit zu schenken sei, um Erklärungsansätze für dieses Phänomen zu finden, dann kann die vorliegende Studie beanspruchen, durch ihren detaillierten, qualitativen Zugang einen kleinen Beitrag in diese Richtung zu leisten. Dasselbe gilt für die Feststellung, kooperatives Schreiben sei eine der wirksamsten Schreibfördermaßnahmen: Der realisierte Arbeitsmodus beim kooperativen Verschriftlichen dürfte eine große Rolle spielen. Weiterführende Studien mit ähnlicher Ausrichtung und Methodik sind also nicht nur wünschenswert, sondern notwendig.

Welche Implikationen ergeben sich nun aus diesen Befunden für die Schreib- und Naturwissenschaftsdidaktik auf der Primarschulstufe? Kooperatives Schreiben als Chance sowohl für tiefergehendes naturwissenschaftliches als auch für (bildungs- und fach-)sprachliches Lernen scheint besonders vielversprechend zu sein, wenn Gruppen in einem Arbeitsmodus schreiben, der im vorliegenden Beitrag als „konstruierend-reflektierend“ bezeichnet wurde. Dieser setzt erstens eine Aufgabe voraus, die für alle Schüler:innen kognitiv herausfordernd genug ist, dass sie ein Konstruieren und Reflektieren tatsächlich erfordert (und nicht den „schon-wissenden“ Arbeitsmodus aktiviert). Zweitens sollten Kinder zusammenarbeiten, die sich gut verstehen (und möglichst nicht den „antagonistischen“ Arbeitsmodus etablieren, vgl. dazu auch Lipowsky et al. 2013). Drittens muss den Schüler:innen genügend Zeit zur Verfügung stehen, damit einmal Geäußertes oder sogar schon Notiertes auch tatsächlich inhaltlich und sprachlich nochmals infrage gestellt und revidiert werden kann, ohne dass die Schüler:innen befürchten müssen: „Sonst sind wir langsam“ (wie im vorgestellten Fallbeispiel ein Kind in Gruppe C). Diesen Voraussetzungen sollte die Lehrkraft genügend Aufmerksamkeit schenken, damit Schreiben im naturwissenschaftlichen Unterricht sein Potenzial für fachliches und sprachliches Lernen entfalten kann.