1 Einleitung

Die Entwicklung des Kindergartens im Kanton Bern lässt sich grob in drei Phasen einteilen: Pionier‑, Annäherungs- und Integrationsphase. In der Pionierphase entwickelte sich das Kindergartenwesen Berns, wie Absatz 2 verdeutlicht, ähnlich wie in anderen europäischen Staaten. In der Nachkriegszeit schlug der Kanton Bern einen Sonderweg ein: Der Kindergarten näherte sich strukturell, professionell und curricular sukzessive der Primarschule an.Footnote 1 Im neuen Jahrtausend kam es zur Integration. Die Annäherungs- und Integrationsprozesse beschränkten sich dabei auf den Kindergarten. Andere Vorschulinstitutionen, etwa die Kindertagesstätten, waren – und sind – davon ausgenommen. Die Prozesse beschränkten sich jedoch nicht auf den Kanton Bern. Die Berner Kindergartenbewegung nahm schweizweit eine Vorreiterrolle ein. Überdies koordinierten die Kantone in der Nachkriegszeit zunehmend ihre Schulstrukturen und Bildungsziele.

Strukturell vollzog sich die Integration des Kindergartens in die Volksschule durch seine Verstaatlichung und die Einführung der Eingangsstufe (Absatz 3). Professionell erfolgte sie hinsichtlich der Ausbildung (Absatz 4) und Besoldung der Kindergärtnerinnen (Absatz 5) und curricular durch Erlass des Lehrplans 21 (Absatz 6). Materialbasis für die Untersuchung bilden Schul- und Kindergartenerlasse, amtliche Berichte, Lehrpläne des Kantons Bern und ausgewählte Forschungsergebnisse. Wie ist die Integration des Kindergartens in das Volksschulwesen einzuschätzen? Handelt es sich um eine Verschulung des Kindergartens? Oder um eine Verkindergartung der Primarschule? Was bleibt in der neuen Eingangsstufe vom Kindergarten übrig? Diese Fragen diskutiere ich in Absatz 7.

2 Gaumschule, Kleinkinderschule und Kindergarten vor 1945

Vom Beginn des 19. bis Mitte des 20. Jahrhunderts glich die Entwicklungsgeschichte des Kindergartens im Kanton Bern jener in Deutschland und andern europäischen Staaten (Konrad 2012). Seit Beginn des 19. Jahrhunderts gründeten Private und gemeinnützige Vereine Bewahranstalten für arme, uneheliche und verwahrloste Kinder: zunächst Gaumschulen mit ausgeprägt fürsorgerischer Zielsetzung, später Kleinkinderschulen, die auch pädagogische Ziele verfolgten. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erhielt die Kindergarten-Idee Friederich Fröbels besondere Beachtung. Neu daran waren geleitete Spiele als Bildungsmittel, die methodischen Grundsätze zur Kindergartenführung und die Forderung speziell ausgebildeter Lehrpersonen (Kellerhals 2018, S. 110–115). Die Ausbildung der Kindergärtnerinnen sollte deren kollektive Professionalisierung sichern, dem Kindergarten zu Bedeutung als Erziehungs- und Bildungsstätte für das Vorschulkind verhelfen und Distanz zum Modell der Kleinkinderschulen und Bewahranstalten schaffen (Nuspliger-Brand 1982, S. 68). 1873 nahm der erste Kindergarten in Thun seinen Betrieb auf. Ende des 19. Jahrhunderts ersetzten Kindergärten im ganzen Kanton die Gaum- und Kleinkinderschulen. Vorangetrieben wurde die Kindergartenidee durch die Gemeinnützige Gesellschaft (Nuspliger-Brand 1982, S. 61), durch Kindergartenvereine (Marcet 1982, S. 101–109) und durch eine „Dynastie“ (Nattiel-Soltermann 2010) von Kindergärtnerinnen und Seminarleiterinnen.

Durch Erlass des Primarschulgesetzes 1835 wurde der Primarschulunterricht im gesamten Kanton Bern unentgeltlich, weltlich und obligatorisch (siehe Tab. 1). Mit Art. 58 desselben Gesetzes unterstützte die liberale Regierung Berns die Errichtung neuer und die Finanzierung bestehender Vorschulinstitutionen. Bis 1848 beförderte auch die radikale Regierung diese – insbesondere die pädagogisch orientierten Kleinkinderschulen. Die Konservativen hingegen befürchteten schon bei der Einführung des Schulobligatoriums eine „Verschulung der Gesellschaft“, die Verstaatlichung der Erziehung (Scandola 1992, S. 24). Auch nach ihrem Sieg in den Neuwahlen 1850 wandten sie sich gegen die „Institutionalisierung öffentlicher Vorschulanstalten“ (Nuspliger-Brand 1982, S. 80) und verzichteten auf weitere Regelungen der Vorschulinstitutionen. Die Primarschulgesetze 1870 und 1894 regelten den Vorschulbereich nicht mehr. Der Staat überliess die Vorschulinstitutionen Privaten und gemeinnützigen Vereinen, wodurch diese ihre bildungspolitische Bedeutung bis weit ins 20. Jahrhundert hinein verloren (Nuspliger-Brand 1982, S. 78).

Tab. 1 Primarschul- und Kindergartengesetzgebung

Wie auch andernorts hing die Privatisierung der Berner Vorschulinstitutionen Ende des 19. Jahrhunderts mit bürgerlichen Familien- und Weiblichkeitsidealen zusammen (Reyer und Franke-Meyer 2021, S. 27–104). Vor allem Konservative drängten den Vorschul- in den „weiblichen Herrschaftsbereich“ (Nattiel-Soltermann 2010, S. 19). Zumindest im Vorschulbereich sollten Kinder von ihren Müttern erzogen werden, nicht von „Ersatzmüttern“ (Rogger 1992, S. 552). Selbst der Schweizerische Kindergartenverein, zunächst um ein stärkeres staatliches Engagement im Kindergartenwesen bemüht, begründete das Einstellen seiner Bemühungen in den 1880er-Jahren mit der Bedrohung der familiären Rechte und Freiheiten durch eine Verstaatlichung (Nuspliger-Brand 1982, S. 65). Die Kindergärten ihrerseits eröffneten fortan ein „interessantes Tätigkeitsfeld für die idealtypische Frau der bürgerlichen Zeit“ (Nattiel-Soltermann 2010, S. 14). Bis ins 20. Jahrhundert waren es vor allem besser situierte Frauen und Diakonissen, die sich im Kindergartenwesen Berns betätigten (Rogger 1992, S. 554). Und noch in den 1970er-Jahren gaben Kindergärtnerinnen ihren Beruf – dem bürgerlichen Weiblichkeitsideal entsprechend – im Schnitt zwei Jahre nach ihrer Heirat wieder auf (Nattiel-Soltermann 2010, S. 125).

Auch die Ausbildung der Kindergärtnerinnen erfolgte bis zum Zweiten Weltkrieg auf privater Basis. Zwar bildete die Neue Mädchenschule (NMS) ab 1877 in einjährigen Kursen Kindergärtnerinnen in der Stadt Bern aus. Mehrheitlich besuchten angehende Kindergärtnerinnen im Kanton Bern bis ins 20. Jahrhundert hinein jedoch nicht das Kindergärtnerinnenseminar, sondern „Schnellbleich-Kurse“ (Marcet 1982, S. 105) bei erfahrenen Kindergärtnerinnen.Footnote 2 1919 verlängerte die NMS den Ausbildungsgang auf eineinhalb Jahre. Im gleichen Jahr führte eine, von der Erziehungsdirektion eingesetzte, Kommission zum ersten Mal die Abschlussprüfungen für die Seminaristinnen durch. 1927 errichtete die Stadt Bern ein Kindergärtnerinnenseminar an der Höheren Mädchenschule Monbijou (ab 1948: Marzili). Dieses Seminar wurde von Emmy Walser geführt, die das Kindergartenwesen mit ihrer „Freien Arbeitsweise“ reformieren und massgeblich zu seiner Verbreitung und Tradierung im Kanton Bern und über die Kantonsgrenzen hinaus beitragen sollte (siehe Absatz 6). Ab 1930 dauerte die Ausbildung zur Kindergärtnerin an beiden Seminaren zwei Jahre.

3 Vom freiwilligen Kindergarten zur Eingangsstufe

In der Nachkriegszeit kam es im Kanton Bern zur „Expansion und Konsolidierung“ (Nattiel-Soltermann 2010, S. 45–85) des Kindergartens. Rogger spricht von einem „qualitativen und quantitativen Ausbau“ (1992, S. 559), Nuspliger-Brand von einem „Vorschul-Boom“ (1982, S. 83). Tatsächlich vervielfachte sich die Anzahl der Kindergärten, Kindergartenklassen und -kinder sowie der Kindergärtnerinnen in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg: Im Jahr 1881 besuchten 99-mal so viele Kinder eine Primar- oder Sekundarschule wie einen Kindergarten. Bis im Jahr 2020 reduzierte sich dieses Verhältnis – den obligatorischen Schuljahren entsprechend – auf rund neun zu zwei (siehe Tab. 2).

Tab. 2 Schülerinnen- und Schülerzahlen

Diese Expansion ist mitunter auf ein verstärktes Engagement des Staates in der Kindergartengesetzgebung zurückzuführen (siehe Tab. 1): Mit Inkrafttreten von Art. 9 Kindergartenverordnung 1945 ging die Oberaufsicht von den Einwohnergemeinden auf den Kanton – konkreter: auf die Primarschulinspektorate – über. Die umittelbare Aufsicht übernahmen Kindergartenkommissionen. Die Kindergartenverordnung 1945 und das Kindergartenreglement 1969 enthielten erste pädagogische und administrativ-organisatorische Grundsätze zur Kindergartenarbeit. Ab 1945 beteiligte sich der Staat überdies zunehmend an der Ausbildung und Besoldung der Kindergärtnerinnen (siehe Absätze 4 und 5). Es waren dies erste Schritte der Annäherung des Kindergartens an die Primarschule und der Verstaatlichung des Kindergartenwesens. Allmählich wandelten sich die Kindergärten von privaten Vorschulinstitutionen zu staatlich anerkannten, in das öffentliche Schulwesen integrierten, Bildungsstätten (Nuspliger-Brand 1982, S. 67). So räumten die Erziehungdirektion und der Grosse Rat dem Kindergarten bei der Gesamtrevision der Berner Bildungsgesetzgebung in den 1980er-Jahren den Rang einer eigenständigen Vorschulstufe ein. Das erste Kindergartengesetz vom 23. November 1983 verpflichtete die Gemeinden schliesslich zur Führung von Kindergärten. Fortan existierte ein Rechtsanspruch auf einjährigen, unentgeltlichen Kindergartenbesuch. Im Gegensatz zur Primarschule blieb der Besuch jedoch freiwillig.

In den 1990er-Jahren kam es im Kanton Bern zu einer umfassenden Strukturreform des Volksschulwesens, von der das Kindergartenwesen fast unberührt blieb.Footnote 3 Erst der Beitritt des Kantons Bern zur „Interkantonalen Vereinbarung über die Harmonisierung der Volksschule“ der Schweizerischen Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektorinnen und -direktoren (EDK) vom 14. Juni 2007 führte zur strukturellen Integration des Kindergartens in das Volksschulwesen.Footnote 4 Am 27. September 2009 stimmten 51,5 % der Berner Stimmberechtigten dem Betritt zu, trotz Widerstand konservativer Kräfte. Sieben Schweizer Kantone lehnten einen Beitritt ab – aus Frucht vor einer „Verschulung bzw. Verstaatlichung der Erziehung“ (EDK 2014, S. 10). 2012 hob der Grosse Rat in seiner Revision des Volkschulgesetzes 1992 das Kindergartengesetz 1983 auf (siehe Tab. 1). Seit dem 1. August 2013 gilt im Kanton Bern – wie in 14 weiteren Schweizer Kantonen – ein zweijähriges Kindergartenobligatorium. Die Volksschule dauert nun elf Jahre und ist eingeteilt in drei Zyklen: Zyklus 1 (Eingangsstufe) umfasst die ersten vier Schuljahre (zuvor Kindergarten bis zweite Klasse), Zyklus 2 (Primarstufe) die vormaligen dritten bis sechsten Klassen und Zyklus 3 (Sekundarstufe I) die siebten bis neunten Klassen.

Mit der Eingangsstufe wurde eine Idee verwirklicht, die bis in das 19. Jahrhundert zurück reicht: Bereits Fröbel schlug 1852 eine „Vermittlungsschule“ zwischen Kindergarten und der eigentlichen Lern- oder Begriffschule vor (Nuspliger-Brand 1982, S. 95). Diese sollte den Kindergarten mit der Lernschule verbinden, den Übergang vom Anschauungsunterricht zur abstrakten Denk-Auffassung schaffen. 1882 forderte auch Küttel eine Verbindung des Kindergartens mit der Primarschule: Kindergärten sollten in die Primarschule und ihre Gebäude und die Kindergärtnerinnen in die Lehrerkonferenz der Primarlehrer integriert werden (ebd.). Seit den 1990er-Jahren debattierten Schulpädagogik und Bildungspolitik in der Schweiz wieder verstärkt über eine Neuorganisation der Eingangsstufe. Grossrätin Morgenthaler forderte diese im Berner Parlament erstmalig im März 1998. Mittlerweile sind die Forderungen weitgehend eingelöst, auch die räumliche Integration und der Einbezug der Kindergartenlehrpersonen in die Kollegien der Volksschulen.

Besonders radikal umgesetzt wird die Idee der Eingangsstufe in der Basisstufe. Diese besuchen Kinder der ersten vier obligatorischen Schuljahre gemeinsam – wenn möglich je bei einer Kindergarten- und einer Primarlehrperson. Wie auch andere Kantonen sammelte der Kanton Bern ab Schuljahr 2005/06 zunächst in einem Schulversuch Erfahrungen mit der Basisstufe (EDK-Ost 2010, S. 46–52), bevor er auf den 1. August 2012 in ein Regelangebot überführt wurde. Über die Überführung berichtete der Regierungsrat im Verwaltungsbericht: „Mit der Möglichkeit der Einführung einer freiwilligen Basisstufe ermöglicht der Kanton Bern eine schweizerische Pionierleistung zugunsten einer pädagogisch optimalen Eingangsstufe“ (Finanzverwaltung des Kantons Bern 2013, S. 55). Weiterhin besuchen Kinder zwischen vier und acht Jahren im Kanton Bern mehrheitlich Kindergärten und die ersten beiden Klassen der Primarschule: Im Schuljahr 2021/22 gibt es im Kanton Bern 166 Basisstufen-Klassen in 56 Gemeinden (Bildungs- und Kulturdirektion des Kantons Bern 2021) – bei insgesamt rund 5500 Volksschul-Klassen. 100 dieser Klassen führen die, am Pilotversuch beteiligten, Gemeinden Bern und Köniz (ebd.).

4 Von der „Ersatzmutter“ zur Primarlehrerin

Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es im Kanton Bern zunächst zur strukturellen Annäherung an, schliesslich zur vollständigen Integration des Kindergartens in die Volksschule – und damit auch zu dessen Verstaatlichung. Eine Annäherung ist auch hinsichtlich der professionellen Differenz des Kindergartens zur Primarschule festzustellen.Footnote 5 Mittlerweile sind Berner Kindergärtnerinnen den Primarlehrpersonen gleichgestellt. Mit der Gleichstellung gelang auch der soziale Aufstieg in den Mittelstand, wie der Primarlehrerschaft in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (Scandola 1992, S. 133–172). Das Bild der Kindergärtnerin wandelte sich von der „Ersatzmutter“ zur Vorschulpädagogin (Rogger 1992, S. 552–554). Mit dem sozialen Aufstieg ging die kollektive Professionalisierung der Kindergärtnerinnen einher.

Nach 1945 engagierte sich der Staat zunehmend in der Kindergärtnerinnenausbildung: 1948 organisierte die Erziehungsdirektion sechswöchige Fortbildungskurse für unzureichend ausgebildete Kindergärtnerinnen. 1949 eröffnete der Kanton Bern das erste staatliche Kindergärtnerinnenseminar in Delémont, geleitet nach den Methoden der deutschsprachigen Kindergärten. Die eigentliche Professionalisierungs-Offensive erfolgte zu Beginn der 1970er-Jahre – im Zuge der verstärkten wissenschaftlichen Beobachtung der Kindergartenarbeit nach dem Sputnik-Schock: 1971 wurde die Ausbildung der Kindergärtnerinnen auf drei Jahre verlängert und anspruchsvoller gestaltet (Nuspliger-Brand 1982, S. 71). Der Kanton Bern bemühte sich auch um eine Professionalisierung der Methodik- und Praxislehrerinnen der Kindergärtnerinnenseminare (Marcet 1982, S. 105). Zudem wurden den Primarlehrerseminaren Biel und Spiez 1971 zwei Kindergärtnerinnenabteilungen angegliedert. Die Angliederungen waren einerseits eine Reaktion auf den Kindergärtnerinnenmangel, andererseits eine Massnahme zur Dezentralisierung. Tatsächlich halfen sie gemäss Nuspliger-Brand (1982, S. 76–77), die „Begabungsreserven“ im Berner Oberland und im Berner Seeland „auszuschöpfen“ und die ländliche Bevölkerung auf die Ziele und Anliegen des Kindergartens aufmerksam zu machen.

In den 1980er-Jahren nahm der Grosse Rat die Gesamtkonzeption Lehrerbildung (GKL) in Angriff: Die Ausbildung von Kindergärtnerinnen und Primarlehrpersonen sollte tertiarisiert, dadurch die Berufe weiter professionalisiert und das Trennende der Ausbildung für verschiedenen Schulstufen und -typen überwunden werden (Nattiel-Soltermann 2010, S. 116–121; Wannack 2004, S. 16). 1990 stimmte der Grosse Rat der Integration und Tertiarisierung der Ausbildungsgänge einstimmig zu, 1993 nahm er das neue Lehreranstellungsgesetz (siehe Tab. 3), 1995 das Gesetz über die Lehrerinnen- und Lehrerbildung an. In den 2000er-Jahren wurde die Reform der Lehrerinnen- und Lehrerbildung umgesetzt: Seit 2001 erfolgt die Ausbildung angehender Lehrpersonen für den Kindergarten und die Primarschule gemeinsam an einer Hochschule. Zwischen 2001 und 2004 spezialisierten sie sich an zwei universitären Instituten entweder auf den Kindergarten und die unteren Klassen der Primarschule oder auf die oberen Klassen der Primarschule. Seit 2005 erwerben angehende Lehrpersonen für den Kindergarten und die Primarschule ein integriertes Diplom an der Pädagogische Hochschule Bern (PHBern). Eine Spezialisierung auf die Eingangsstufe ist nur noch in geringem Masse möglich. Mit der Integration der Ausbildung von Lehrpersonen für Kindergärten und Primarschulen wurde eine Forderung verwirklicht, die im Kanton Bern seit dem 19. Jahrhundert formuliert wurde, unter anderem von Emmy Walser (Nattiel-Soltermann 2010, S. 37/44; Nuspliger-Brand 1982, S. 95–96).

Tab. 3 Besoldungsgesetzgebung

Bis zur Tertiarisierung dauerte die Ausbildung für angehende Kindergärtnerinnen drei, für angehende Primarlehrerinnen fünf Jahre. Seither beträgt die Ausbildungsdauer für beide Berufsgruppen nach der Volksschule mindestens sechs Jahre. Die seminaristische Ausbildung für den Kindergarten war stufenspezifischer als jene für die Primarschule. Schliesslich berechtigte das Kindergartendiplom für den Unterricht am zweijährigen Kindergarten, das Primarschuldiplom für den Unterricht an der neunjährigen Primarschule. In ihrer Dissertationsstudie zum Verhältnis von Kindergarten und Primarschule im Kanton Bern stellt Wannack (2004, S. 127–133) fest, dass sich neben den Ausbildungswegen um die Jahrtausendwende auch die Berufsbiografien von Kindergärtnerinnen und Unterstufenlehrerinnen der Primarschule stark unterschieden.

5 Vom Gotteslohn zum Lohn der Primarlehrerschaft

Privaten und den Gemeinden überlassen, waren die finanziellen und räumlichen Verhältnisse vieler Kindergärten bis Mitte des 20. Jahrhunderts prekär (Marcet 1982, S. 101). Nicht selten errichteten Kindergärtnerinnen Kindergärten in ihrem Elternhaus – mitunter in Kellern mit ungenügenden hygienischen Bedingungen (Nattiel-Soltermann 2010, S. 31–32). Auch die Kindergärtnerinnen waren finanziell schlecht gestellt. 1920 variierte ihr Jahreseinkommen zwischen 960 und 3500 Franken (Marcet 1982, S. 106). Ab den 1940er-Jahren näherte sich der Kindergarten bei der Besoldung und Sozialversicherung sukzessive der Primarschule an (siehe Tab. 3): 1943 erhielten diplomierte Kindergärtnerinnen zum ersten Mal eine jährliche Staatszulage von 250 Franken (Scandola 1992, S. 218). Das Kindergartendekret 1950 gewährte ihnen den Beitritt in die Lehrerversicherungskasse. Seit 1952 erhalten sie Teuerungszulagen – analog zu den Lehrpersonen der Volksschule (Marcet 1982, S. 106). Einen Meilenstein hinsichtlich der Besoldung von Kindergärtnerinnen stellte ihr Einbezug in das Lehrerbesoldungsgesetz vom 1. Juli 1973 dar: Fortan waren die Löhne kantonal in einem Erlass für sämtliche Lehrpersonen statt kommunal geregelt. Bessere Löhne mussten nicht mehr isoliert erkämpft werden. Darüber hinaus wurden Mann und Frau finanziell gleichgestellt und wurde Kindergärtnerinnen die Präsenzzeit als volle Arbeitszeit anerkannt (ebd.).

Tab. 4 zeigt die Nominal- und Reallohnentwicklung der Lehrpersonen an Kindergärten und Primarschulen nach dem Zweiten Weltkrieg: Teuerungsbereinigt vervielfachte sich die jährliche Mindestbesoldung von Kindergärtnerinnen zwischen 1947 und 2020 um den Faktor 6,2. Der jährliche Mindestlohn von Primarlehrpersonen stieg bis ins Jahr 1990 ebenfalls um den Faktor 3,3, blieb zwischen 1990 und 2020 jedoch – trotz Tertiarisierung der Ausbildung – konstant. Die Unterschiede in der Reallohnentwicklung sind auf Höhereinreihungen der Kindergärtnerinnen und Kindergärtner in den Gehaltsklassentabellen zurückzuführen (2005, 2006 und 2014). 1946/47 verdienten Primarlehrer noch 1,8 mal und Primarlehrerinnen 1,4 mal so viel wie Kindergärtnerinnen. Seit 2014 sind Kindergarten- und Primarlehrpersonen derselben Gehaltsklasse zugeteilt. Auf den 1. August 2020 gewährte der Grosse Rat den Lehrpersonen der ersten beiden Zyklen einen Gehaltsklassen-Aufstieg. Das jährliche Grundgehalt stieg dadurch von 73.767 auf 77.009 Franken.

Tab. 4 Jährliche Mindestbesoldung (in Schweizer Franken) und Reallohnentwicklung

Mit der Reallohnerhöhung einher ging eine Angleichung der Pflichtlektionenzahl der Kindergärtnerinnen an jene der Primarlehrpersonen: von 20 (Kindergartenreglement 1969) auf 21 Wochenstunden bei einem Vollpensum (Pflichtlektionen-Verordnung 1973). Bis ins 21. Jahrhundert hatten Kindergärtnerinnen aufgrund der geringen Unterrichtszeit an Kindergärten Mühe, ein Vollpensum zu erreichen. Entsprechend viele Kindergarten-Lehrpersonen arbeiteten zusätzlich mit Teilpensen an Primarschulen (Wannack 2004, S. 131).

6 Von der Beschäftigung zum freien Spiel

Bislang sollte klar geworden sein, dass es hinsichtlich der Struktur und den Professionalisierungsstandards zwischen Kindergarten- und Primarschulwesen im Kanton Bern in der Nachkriegszeit zur Annäherung und Integration kam. Hinsichtlich der curricularen Differenz des Kindergartens zur Primarschule lässt sich in der Nachkriegszeit hingegen eine Profilierung der Kindergartenarbeit feststellen: Dem Privatbereich überlassen, entwickelten Pionierinnen das Kindergartenwesen in Bern seit Ende des 19. Jahrhunderts weiter und verliehen ihm Strahlkraft über die Kantonsgrenzen hinaus. Folgt man Nattiel-Soltermann, verschrieb sich eine „Elite“ (2010, S. 87) der Weiterentwicklung, Verbreitung und Tradierung des Kindergartens (ebd., S. 126). Am stärksten beeinflusste die Arbeitsweise am Kindergarten neben Friedrich Fröbel Emmy Walser, die erste Leiterin des städtischen Kindergärtnerinnenseminars Monbijou (ab 1948: Marzili). Nuspliger-Brand (1982, S. 69–70) und Marcet (1982, S. 114) betonen den Einfluss von Walsers „Freier Arbeitsweise“ auf das Kindergartenwesen in der Schweiz und darüber hinaus. Diese sei stark auf die Eigenaktivität und die individuellen Bedürfnisse der Kinder ausgerichtet (Nuspliger-Brand 1982, S. 69–70). Das freie Spiel nehme, anders als bei Fröbels geleitetem Spiel, eine zentrale Rolle ein (Marcet 1982, S. 113–114). Von grosser Bedeutung sei auch die kindgemässe Gestaltung der Räumlichkeiten im Sinne Montessoris, etwa durch Einrichtungsgegenstände wie kleine Tische und Stühle, Garderoben in Kindergrösse und kleine Toiletten (ebd., S. 115–116).

Als sich Öffentlichkeit und Erziehungswissenschaft in den 1960er-Jahren zunehmend für den Vorschulbereich interessierten, erzeugte dies unter den Kindergärtnerinnen Widerstand. Diese begrüssten zwar den Vorschul-Boom, das stärkere Engagement des Staates, die steigende gesellschaftliche Anerkennung und ihre finanzielle Besserstellung. Sie fürchteten jedoch um den Fortbestand des Herzstücks ihrer Kindergartenbewegung, der Kindergartenmethode. Starken Widerstand erzeugte die „Frühlesewelle“ in den USA und in Deutschland in den 1960er-Jahren. In dieser wurde die Gefahr einer Intellektualisierung der Vorschule erkannt. Nuspliger-Brand resümiert, „die einseitig auf den Intellekt der Kinder ausgerichtete Förderung der Kinder und die damit verbundene Verschulung des Kindergartens“ habe nur „dank dem vehementen Widerstand der Kindergärtnerinnen“ verhindert werden können (zitiert nach Rogger 1992, S. 557). Wie der Kindergarten „sein ursprüngliches Konzept der kindgemässen, nachgehenden Erziehung behalten“ (Nuspliger-Brand 1982, S. 83) und vorerst seine curriculare und strukturelle Eigenständigkeit sichern konnte, sei an folgenden Abgrenzungsbestrebungen verdeutlicht.

1976 erklärte der Kanton Bern den Rahmenplan 1971 des Schweizerischen Kindergärtnerinnenvereins verbindlich. An dessen Ausarbeitung waren Berner Kindergärtnerinnen massgeblich beteiligt. Schon mit der Bezeichnung „Rahmenplan“ grenzte man sich vom „Lehrplan“ der Primarschule ab. In der Einleitung zum Rahmenplan 1971 stellte man die Kindergartenmethode in die Nähe einer Kunstlehre, abhängig von Taktgefühl und Persönlichkeit der Kindergärtnerin (Schweizerischer Kindergärtnerinnen-Verein 1984, S. 4). Spielerischen Methoden und dem Freispiel (ebd., S. 7) sowie einer kindgemässen Kindergarteneinrichtung (ebd., S. 5) wurden eigene Abschnitte gewidmet. Im Berner Schulblatt berichtete der Bernische Lehrerverein: „Mit diesem Plan wird eine Barriere gegen die Verschulung des Kindergartens errichtet und ein Stück interkantonaler Schulkoordination verwirklicht“ (Bernischer Lehrerverein 1982, S. 318). Die Abgrenzung erfolgte im Rahmenplan 1971 überdies durch die Ablehnung der Leistungsorientierung und -messung der Primarschule. Der Kindergärtnerinnenverein wehrte sich gegen „jede strikte Fixierung und inhaltliche Normierung“ (Schweizerischer Kindergärtnerinnen-Verein 1984, S. 4) der Lernziele. Auch Nuspliger-Brand (1982, S. 92) stellte die Objektivität von Leistungsmessungen in Frage und forderte eine Beschränkung der Kindergartenarbeit „auf die individuelle Förderung der kindlichen Entwicklung“ (ebd.). Auf „Leistungsdruck und Wettbewerbssituationen“ zu verzichten, sei „eine der wertvollsten Eigenarten des Kindergartens“ (ebd.).

Die Erziehungsdirektion wandte sich in ihren Grundsätzen zur Entwicklung des Berner Bildungswesens (1982) – dem sogenannten „Blaubuch“ – ebenfalls explizit gegen eine Verschulung der Kindergartenmethode: „Bei der Gestaltung des Unterrichts soll eine Verschulung vermieden und dem Bedürfnis der Kinder nach freiem Spiel und freier Gestaltung der Zeit Rechnung getragen werden“ (ebd., S. 51). Die Direktion zog den Begriff „Kindergarten“ dem Begriff „Vorschule“ vor, weil „sich der Kindergarten bereits mit seinem Namen von der nachfolgenden Schulzeit abheben“ (ebd., S. 49) sollte. Der Kindergarten durfte, so ein weiterer Grundsatz, im Kindergartengesetz „nicht zum Anhängsel der Schule gemacht“ (ebd., S. 53) werden. Zudem sei „der äussere Unterschied zur Schule wichtig: kürzere Dauer und nicht obligatorisch“ (ebd.). „Die Freiwilligkeit zum Besuch“, erläuterte die Erziehungsdirektion weiter, „manifestiert die Zurückhaltung des Staates, gegenüber der Familie nur unterstützend, nicht aber voll verantwortlich für die Erziehungsaufgabe einzustehen“ (ebd., S. 50). Nachdem die befürchtete Verschulung der Kindergartenmethode in den 1970er- und 1980er-Jahren abgewendet war, verlor auch die Verschulungs-Debatte an Aktualität (Nuspliger-Brand 1982, S. 83).

1999 wurde der Rahmenplan 1971 durch einen kantonalen Kindergartenlehrplan ersetzt. Zehn weitere Schweizer Kantone führten ebenfalls den Berner Kindergartenlehrplan 1999 ein, was die Vorreiterrolle der Kindergartenbewegung Berns verdeutlicht. Als „Leitidee“ der Kindergartenarbeit fungierte im Kindergartenlehrplan 1999 weiterhin die Orientierung an der Entwicklung der Kinder (Erziehungsdirektion des Kantons Bern 1999, S. 9). Freie und geleitete Spiele (ebd., S. 47) fanden ebenso Eingang in den Lehrplan wie die Kindergarteneinrichtung (ebd., S. 53). Ein Unterschied zum Rahmenplan 1971 bestand indes darin, dass der Kindergartenlehrplan 1999 Richt- und Grobziele der Kindergartenarbeit benannte. Überdies lassen sich zwei interessante semantische Neuerungen feststellen: Der „Rahmenplan“ wurde zum „Lehrplan“, die „Kindergärtnerin“ und der „Kindergärtner“ zur „Lehrperson oder Lehrkraft für den Kindergarten“ (ebd., S. 8). In ihrer Dissertationsstudie stellte Wannack (2004, S. 104–116) im Kindergartenlehrplan 1999 gegenüber dem Rahmenplan 1971 eine Annäherung an den Lehrplan der Volksschule 1995 fest. Im Bereich der Leitmotive und der didaktisch-methodischen Konzepte habe jedoch weiterhin eine deutliche curriculare Differenz bestanden. Entsprechend unterschiedlich charakterisierten Lehrpersonen und Kinder um die Jahrtausendwende die Berufsbilder von Kindergarten und Primarschule (ebd., S. 127–144).

Ihre Fortsetzung fand die Annäherung des Kindergarten- an den Volksschullehrplan durch deren Integration in einem gemeinsamen Lehrplan. Seit dem 1. August 2018 haben sich sämtliche Volksschullehrpersonen – vom Zyklus 1 bis 3 – bei ihrer Arbeit am Lehrplan 21 zu orientieren. Seit dessen Inkraftreten sind die Bildungsziele der 21 deutsch- und mehrsprachigen Kantone harmonisiert, wie es das HarmoS-Konkordat fordert. Der neuste Lehrplan ist, auch für den Zyklus 1, fachspezifisch und nicht wie die Kindergartenlehrpläne stufenspezifisch strukturiert. Die Erziehungsdirektion widmete dem Zyklus 1 in den „Grundlagen“ zum Lehrplan 21 sechs Seiten, den Zyklen 2 und 3 zusammen lediglich eine Seite (Erziehungsdirektion des Kantons Bern 2016, S. 90–97). Offensichtlich bemühte sie sich bei der Formulierung der Grundsätze für den Zyklus 1, dem Verschulungs-Vorwurf vorzubeugen. Alle drei Abgrenzungsmerkmale des Kindergartens – Entwicklungsorientierung, Freispiel und kindgemässe Kindergarteneinrichtung – fanden Eingang in den Lehrplan (ebd., S. 90–91).

7 Diskussion

Welche Auswirkungen hatten die beschriebenen strukturellen, professionellen und curricularen Annäherungs- und Integrationsprozesse auf den Kindergarten im Kanton Bern? Wurde er verschult? Kam es zur Verkindergartung der Primarschule? Was bleibt in der neuen Eingangsstufe vom Kindergarten übrig?

7.1 Verschulung des Kindergartens …

Die strukturelle, professionelle und curriculare Integration des Berner Kindergartens in die Volksschule ist zweifelsohne als Verschulung des Kindergartens zu werten – sofern man unter diesem bildungspolitischen Schlagwort die Verstaatlichung der vormaligen Vorschulerziehung versteht. Meint man hingegen die Verschulung der Kindergartenmethode, sind die Annäherungs- und Integrationspozesse ungleich schwieriger einzuschätzen. Margrit Stamm, eine Vertreterin der Verschulungsthese, erkennt „zunehmend die Gefahr, dass schulische Lernformen unbesehen in den Vorschulbereich transportiert werden, analog der Frühleserbewegung der Sechzigerjahre“ (2006, S. 170). Für die Verschulungsthese spricht, dass die Entwicklungs‑, Verbreitungs- und Tradierungsgeschichte der Berner Kindergartenbewegung mit der Gründung der PHBern ein abruptes Ende fand. In den Worten Nattiel-Soltermanns: „Die Elite verschwindet im Integrationsprozess“ (2010, S. 87–142). Tatsächlich ging die Leitung beider Institute „Vorschulstufe und Primarstufe“ an akademisch gebildete Primarlehrer. Die vormaligen Leiterinnen der Kindergärtnerinnenseminare fanden keine Berücksichtigung. Auch unter den Lehrenden stellen Kindergärtnerinnen und Kindergärtner in der tertiarisierten Ausbildung bis in die Gegenwart eine kleine Minderheit dar. Überdies ist das Curriculum – wie die Lehrpläne der Volksschule und der Lehrplan 21 – nach Fächern strukturiert. Dass Fachdidaktikkurse die Methodik- und Didaktikkurse der Kindergärtnerinnenseminare ersetzten, lässt sich als Paradigmenwechsel in der Ausbildung interpretieren. Auch angesichts folgender Begriffswandlungen erscheint die Verschulungsthese plausibel: „Kindergartengruppen“ wurden in den Kindergartenlehrplänen durch „Kindergartenklassen“ ersetzt, die Kindergärtnerin wurde zur Lehrperson, der „Rahmenplan“ in „Lehrplan“ umbenannt, der Begriff „Vorschulstufe“ aus den Institutsbezeichnungen und Lehrdiplomen der PHBern gestrichen.

7.2 … Verkindergartung der Primarschule …

Zusammengefasst sprechen der sinkende Einfluss der Kindergärtnerinnen-Elite auf die Ausbildung angehender Kindergärtnerinnen und Kindergärtner sowie die Fachstrukturierung des Lehrplans 21 und des Curriculums an der PHBern für eine Verschulung der Kindergartenmethode. Übereinstimmend mit der Verschulungsthese stellten Neuenschwander et al. (2011, S. 30) in ihrer Studie zur Basisstufe fest, „der Lernkontext der Basisstufe“ grenze sich „vom traditionellen Kindergarten ab“. Zu konstatieren gilt es jedoch: Trotz seiner Fachstrukturierung lässt auch der Lehrplan 21 „traditionelle Kindergartenarbeit“ zu. Immerhin fanden die Merkmale Entwicklungsorientierung, Freispiel und kindgemässe Kindergarteneinrichtung, welche im Rahmenplan 1971 und im Blaubuch zur Abgrenzung der Arbeitsweise am Kindergarten geltend gemacht wurden, auch Eingang in den neusten Lehrplan. Entsprechend berichtet die EDK zur Basisstufe, jüngere Kinder könnten darin ebenso viel spielen wie im Kindergarten (2014, S. 18). Auch „der fliessende Übergang von spielendem zu systematischem Lernen“ sei gewährleistet (ebd.).

Mehr noch: Es lässt sich gar für eine „‚Verkindergartung‘ der Schule“ (Wannack 2004, S. 17) argumentieren. Die Kindergartenbewegung orientierte sich bereits in den 1980er-Jahren an pädagogischen Leitsätzen und methodisch-didaktischen Prinzipien, die erst in den letzten Jahrzehnten Eingang in die Primarschule fanden. Beispiele dafür sind die ausgeprägte Subjekt- und Entwicklungsorientierung, Kritik an herkömmlicher Leistungsmessung, die vermehrte Integration statt Separation, das altersgemischte Lernen und die Einrichtung von Klassenzimmern nach dem sogenannten „Churer-Modell“. Offenbar zeitigten die Bestrebungen der Kindergartenbewegung um eine Abgrenzung der Kindergarten- von der Primarschularbeit Innovationen, die Entwicklungen an den Primarschulen vorwegnahmen. So zeigt Kellerhals (2018, S. 162) den zunächst weit stärkeren Einfluss der Reformpädagogik auf die Arbeitsweise am Kindergarten als auf jene der Primarschule. Erst in den 1980er-Jahren wandten sich Primarlehrerseminare reformpädagogischen Konzepten zu, etwa der inneren Differenzierung, der Wochenplanarbeit und dem Werkstattunterricht (ebd., S. 269). Für eine Verkindergartung der Primarschule spricht auch am Lehrplan 21 geäusserte Kritik: Der neuste Lehrplan wird etwa dafür kritisiert, dass Schülerinnen und Schüler „weitgehend sich selbst überlassen“ seien und angehende Lehrpersonen „häufig nur noch zu Lernbegleitern und Animatoren ausgebildet“ würden (D-EDK 2021).

7.3 … oder neue Eingangsstufe?

Für eine Verkindergartung der Primarschule spricht also deren gegenwärtige Orientierung an Leitsätzen und Methoden, welchen die Kindergartenbewegung bereits in den 1980er-Jahren folgte. Aus forschungslogischen Gründen überzeugt mich jedoch weder die Verschulungs- noch die Verkindergartungsthese: Erstens suggerieren beide eine Einheit der Unterrichtspraktiken. Stattdessen wäre von einem Methodenpluralismus auszugehen. Es gibt und gab nie die Kindergarten- oder die Primarschulmethode. Schon immer unterschied sich die Arbeitsweise innerhalb der beiden Berufsgruppen – womöglich gar stärker als zwischen den Gruppen. Zweitens setzen beide Thesen eine Prozessperspektive voraus, suggerieren jedoch Methoden-Stillstand. Sowohl die Verschulung des Kindergartens als auch die Verkindergartung der Primarschule implizieren eine Weiterentwicklung der Unterrichtspraktiken.

Insofern scheint die Annahme einer neuen Eingangsstufe am plausibelsten. Diese ist im Kanton Bern seit den 2000er-Jahren verwirklicht: Sie umfasst die ersten vier obligatorischen Schuljahre; zwischen 2001 und 2004 erfolgte die Ausbildung der Lehrpersonen für die Eingangsstufe an einem eigenständigen Institut der Universität. Einzelne Gemeinden führen Basisstufen-Klassen, in denen die Idee der Eingangsstufe besonders radikal umgesetzt wird. Allerdings birgt auch die Basisstufe, wie Vogt (2012, S. 69) in ihrer Studie zeigt, das Potenzial zur Innovierung wie zur Verharrung in den „zwei Kulturen Kindergarten und Grundschule“. Dieses Studienergebnis plausibilisiert beide Annahmen – Methodenpluralismus und Weiterentwicklung der Unterrichtspraktiken.

7.4 Fazit

Angesichts der Weiterentwicklung von Unterrichtspraktiken ist in der neuen Eingangsstufe vom alten Kindergarten und von den Kindergartenmethoden der 1960er-Jahre wohl wenig übrig geblieben. Fraglich ist jedoch, wie die Weiterentwicklung einzuschätzen ist: als Rück- oder als Fortschritt? Diese Frage lässt sich nicht abschliessend beurteilen. Dafür wäre eine vergleichende Längsschnittstudie zu Unterrichtspraktiken an Kindergärten, Basisstufen und Primarschulen erforderlich. Eine solche Studie liegt nicht vor und ist retrospektiv auch nicht mehr durchzuführen. Abschliessend wage ich dennoch eine Einschätzung.

Von der Tradierungsgeschichte der Berner Kindergartenbewegung blieb bei der Tertiarisierung der Ausbildung von Lehrpersonen für die Eingangsstufe wenig übrig. Der damit einhergehende Wissensverlust kam einem Rückschritt gleich. Insofern scheint mir die Verschulungsthese plausibel. Wenig überzeugend finde ich jedoch die, mit der Verschulungsthese einhergehende, Abgrenzungssemantik. Dieses Überbleibsel der Abgrenzungsbestrebungen der Kindergartenbewegung suggeriert einen Stillstand und eine Einheit der Kindergartenmethode. Stattdessen müsste die kollektive Professionalisierung – nicht zuletzt im Zuge der Tertiarisierung – zumindest eine teilweise Innovierung der Unterrichtspraktiken nach sich gezogen haben. Dass in der Eingangsstufe vom Kindergarten wenig übrig bleibt, kann demnach auch als Fortschritt interpretiert werden. Hoffentlich sind die Unterrichtspraktiken an Kindergarten und Primarschule in der Nachkriegszeit fortgeschritten. Zweifelsohne birgt die Eingangsstufe Innovationspotenzial. Kritisch einzuschätzen sind jedoch übersteigerte Innovationserwartungen. Die Eingangsstufe fungiert in Bildungspolitik und Schulpädagogik nämlich bisweilen – gängiger Fortschrittssemantik entsprechend – als Patentlösung für festgestellten Reformbedarf. So bezeichnet der Berner Regierungsrat die Basisstufe als „schweizerische Pionierleistung zugunsten einer pädagogisch optimalen Eingangsstufe“ (Finanzverwaltung des Kantons Bern 2013, S. 55). Angesichts der Verharrungstendenzen der Unterrichtspraktiken an der Basisstufe (Vogt 2012) sind diese Erwartungen übersteigert.

Ich gehe von beidem aus: von Wissensverlust und von Innovationspotenzial. Zu wünschen ist, dass die Innovierung der Unterrichtspraktiken in den letzten beiden Dekaden den erlittenen Wissensverlust kompensieren konnte. Nur dann ebnete der Berner Sonderweg – die strukturelle, professionelle und curriculare Integration des Kindergartens in die Volksschule nach dem Zweiten Weltkrieg – tatsächlich auch einen Weg hin zur „pädagogisch optimalen Eingangsstufe“.