Inklusion und Gemeinschaft sind pädagogische und zugleich normativ aufgeladene, politische Grundbegriffe. Dabei gerät häufig außer Acht, dass Gemeinschaften ebenso wie Inklusion sich immer nur in Abgrenzung zu etwas konstituieren können, das nicht zur Gemeinschaft gehört bzw. exkludiert ist. Sie produzieren also notwendigerweise immer auch Differentes. Darüber hinaus beziehen sich Inklusion und Gemeinschaft beide auf etwas Gemeinsames; bspw. eine gemeinsame (Unterrichts‑)Praxis. Bisher ungeklärt ist das Verhältnis, in dem Gemeinschaft und Inklusion zueinander stehen. Trotz heterogener Verwendungsformen von Inklusion besteht dahingehend Einigkeit, dass Teilhabe an etwas Gemeinsamem ermöglicht werden soll, und dieses nicht bloß als räumliche Ko-Präsenz der Akteur*innen zu verstehen ist, sondern auf spezifische Praktiken und (implizit und/oder explizit) normative Konstruktionen von Gemeinschaft verweist (vgl Merl und Idel 2020). Cramer und Harant (2014) zeigen dabei kritisch auf, dass pädagogisch-normative Inklusionskonzepte „aus einer Partiallogik heraus argumentieren“ (640), indem sie letztlich eine bedingungslose Anerkennung einfordern und damit ausblenden, dass Geltungsansprüche wie bspw. gesellschaftliche Anpassung hierzu inkommensurabel sind. Diese Partiallogik gilt auch für Konzeptionen von Gemeinschaft. So stellt beispielsweise Tönnies (1991) die „Gemeinschaft“ der „Gesellschaft“ gegenüber, wobei ersteres nicht als bloßes Nebeneinander voneinander unabhängiger Personen verstanden wird, sondern auf das „dauernde und echte Zusammenleben“ verweist, Gesellschaft hingegen sei „nur ein vorübergehendes und scheinbares“ (ebd 126). Sowohl Gemeinschaft als auch Inklusion müssen immer erst einmal performativ vom Kollektivsubjekt verhandelt bzw. hergestellt werden und können nicht als „korporativer Akteur“ (Alkemeyer und Bröckling 2018, S. 28) vorausgesetzt werden.

Aber wie wird ein solches Kollektivsubjekt, eine solche Gemeinschaft im pädagogischen Kontext hergestellt, die zugleich dem Anspruch der Inklusion – also der grundsätzlichen Ermöglichung von Teilhabe – gerecht wird? Um dieser Frage nachzugehen haben wir unterrichtliche Praktiken in den Blick genommen und empirisch beobachtet, wie Gemeinsames dort aufgerufen wird und welche Idee von Gemeinschaft sich hierdurch entfaltet. Der beobachtete Unterricht steht dabei schulprogrammatisch unter dem Anspruch von Inklusion. Wir haben daher weiterführend gefragt, in welchem Verhältnis die dort im praktischen Vollzug hergestellten Gemeinschaften zu Konzepten schulischer Inklusion stehen, die doch spezifische Forderungen an eine herzustellende Gemeinschaft formulieren. Um dieses Erkenntnisinteresse zu bearbeiten stellen wir zunächst Inklusion im Kontext des schulischen Unterrichts dar (1), bestimmen dann den Gemeinschaftsbegriff insbesondere im Kontext pädagogischer Verwendungsweisen des schulischen (Grundschul‑)Klassenunterrichts (2) und wollen im Anschluss anhand von Beobachtungsprotokollen und Artefakten den Vollzug der Herstellung einer Klassengemeinschaft im (vermeintlich) inklusiven Grundschulunterricht beschreiben und analysieren (3). Dabei wird deutlich, wie fragil das Gemeinsame ist, für das die werdende, inklusiv gedachte Gemeinschaft einstehen soll.

1 Inklusion und (Grundschul‑)Unterricht

Wie bereits in der Einleitung angedeutet, lässt sich für die verschiedensten pädagogischen Konzeptionen von Inklusion als Bezugsproblem die „normative Forderung der Teilhabe an etwas Gemeinsamen“ (Merl und Idel 2020, S. 110, vgl. ebd. für eine übergreifende Analyse). Das Spektrum pädagogisch-konzeptioneller Bestimmungen zur Gestaltung schulischer Inklusion variiert nun hinsichtlich der Ausdifferenzierung dieses Bezugsproblems; also was das Gemeinsame ist, an dem teilgehabt werden soll. So wird jenes Gemeinsame bspw. schulrechtlich meist als eine gemeinsame Beschulung in einer Regelschulklasse verstanden. Das Gemeinsame bezieht sich hier auf eine Art Mitgliedschaft in einer Klasse (vgl. Herzmann und Merl 2017). Weitergehende, didaktische Bestimmungen schulischer Inklusion fordern über diese Mitgliedschaft hinaus eine Kooperation oder ein Lernen „am gemeinsamen Gegenstand“ (Feuser 2007). Auch die Bestimmungen dessen, welche Anforderungen gestellt werden, damit von Teilhabe gesprochen werden kann, variieren; ob Teilhabe bspw. vorliegt, wenn alle Schüler*innen gemeinsam in einer Schulklasse unterrichtet werden oder ob es hierfür spezifischer Praktiken bzw. dem Ausbleiben spezifischer (diskriminierender) Praktiken bedarf (vgl. Budde und Hummrich 2013; Werning 2014). Fokussiert man das Bezugsproblem von Inklusion auf Unterricht und versteht diesen praxistheoretisch als eine aus Praktiken emergierende pädagogische Ordnung, wird es möglich, die Herstellung von Teilhabe empirisch zu analysieren. Teilhabe entsteht dann mittels der vollzogenen (und damit beobachtbaren) Teilnahme an Praktiken. Während so bisher die Teilhabe am Unterricht im Kontext schulischer Inklusion in den Blick genommen wurde (vgl. Merl 2019), bestehen bisher allerdings keine empirischen Analysen, die differenzierter betrachten, was jeweils konkret als „das Gemeinsame“ konstruiert wird, an dem teilgenommen und dadurch teilgehabt wird.

Die Frage nach der Teilhabe an einem (vermeintlich) Gemeinsamen generiert ebenso die Frage nach dem Nicht-Gemeinsamen. Hier schließt sich das prominente Argument der Aufeinanderbezogenheit von Inklusion und Exklusion an, da sich beide Begriffe letztlich als Komplementäre gegenseitig bedingen (vgl. Farzin 2006). Denn sowohl durch gleiches, als auch durch unterschiedliches Tun (z. B. je andere Aufgaben innerhalb einer Gruppenarbeit) können sie an einer gemeinsamen Praktik teilnehmen (an der Gruppenarbeit). In jedem Fall bilden die Lernsubjekte eine Form praktiken-gebundener Gemeinschaft, die sich zumindest durch den Vollzug als solche beobachten, beschreiben und analysieren lässt.

Zunächst gilt es so zeigen, wie der Gemeinschaftsbegriff allgemein und im (grundschul-)pädagogischen Diskurs verstanden werden kann und welche Verwendungsweisen er impliziert.

2 Die Herstellung der Klasse als Gemeinschaft

Gemeinschaft ist ein Begriff, der – genauso wie Inklusion – grundlegend auf etwas Gemeinsames verweist, ohne eine feste Konturierung dieses Gemeinsamen vorauszusetzen. Dies führt dazu, dass Gemeinschaft ein Allrounder für die Beschreibung unterschiedlicher Phänomene und daher ein „amorphes Plastikwort“ (vgl. Pörksen 2004; Barthes 2012) ist: Das macht den Begriff anpassungsfähig und attraktiv, schon allein, weil Gemeinschaft ein gemeinhin überaus positiv besetzter Begriff ist (vgl. Baumann 2009), führt aber auch dazu, dass die Bestimmung des Konstitutiven der Gemeinschaft ein komplexes Unterfangen ist (vgl. z. B. Schäfer und Thompson 2019; oder auch Gertenbach et al. 2010).

Verwendungsweisen von Gemeinschaft folgen der „Allgemeinvorstellung eine[r] auf gemeinsamen Merkmalen und äußeren Zusammenhängen beruhende[n] Einheit mehrerer Individuen“ (Fechner 2015). Um die (Grund-)Schulklasse als Gemeinschaft empirisch in den Blick zu bekommen, wollen wir zunächst danach fragen, wie die KlasseFootnote 1 überhaupt als Gemeinschaft verstanden werden kann – auch außerhalb einer programmatischen Kennzeichnung (z. B. reformpädagogisches Schulprofil). Interessanterweise ist gerade die Gruppierung von Lernakteur*innen in der Schule eine der schulischen Praktiken schlechthin. Die Bildung von (Lern‑)Gemeinschaften durch Klasseneinheiten ist das (oberste) Organisationsprinzip von Schule. „Klasse“ wird sozusagen zur physikalischen Einheit von Gruppenbildungsprozessen. Kennzeichnend für schulische Klassen ist, dass ihnen immer eine institutionalisierte Zwangsmitgliedschaft attestiert werden muss und zugleich erwartet wird, dass sie eine (z. B. Lern‑)Gemeinschaft bilden, die in Form von Unterricht einer pädagogischen Absicht unterworfen ist.

Hier deutet sich bereits ein Paradoxon an: Das gemeinsam Geteilte der Klassen·gemein·schaft wird im Zuge von Klassenbildungsprozessen unterstellt (z. B. Alter, Lernstand, gemeinsamer Unterricht), bevor ein Bezug auf etwas Gemeinsames von den Lernenden in situ hergestellt werden kann. Damit beschreibt die ohnehin endlich angelegte Klassengemeinschaft das Ergebnis eines Schaffens der Klasse, was erst noch stattzufinden hat. Dazu bedarf es einer Ko-Präsenz der Teilnehmenden am selben Ort (vgl. Bossen und Breidenstein 2021) Oder anders: Die Klasse wird zum Ort einer Zwangsgemeinschaft durch Teilnahme.

Bezieht man bisherige empirische Studien der deutschsprachigen (Grund‑)Schulforschung ein, offenbaren sich interessante Zusammenführungen unterschiedlicher Praxen in Bezug auf die (Klassen‑)Gemeinschaft. So wird Gemeinschaft bspw. zum Thema gemacht, wenn es um „Lernen und individuelle Förderung“ geht, was wiederum „in der Gemeinschaft“ stattfinden soll (Kopp et al. 2014). Gemeinschaft wird hier als Voraussetzung formuliert, bleibt aber weitgehend unbestimmt.Footnote 2 Weiter taucht der Gemeinschaftsbegriff auf, wenn es um Rituale geht, von denen ausgegangen wird, dass „in und durch Rituale [Gemeinschaften gebildet], erhalten oder restituier[t werden]“ (Wulf und Zirfas 2002, S. 59; vgl. auch Wulf 2008). Göhlich und Wagner-Willi (2001) zeigen z. B., wie Klassen- und Unterrichtsgemeinschaften in der Grundschule durch Rituale performativ hergestellt, ausgehandelt und bestätigt werden. Auch in der Partizipationsforschung ist Gemeinschaft ein wichtiger Bezugspunkt, wenn Teilhabe und Mitbestimmung von Kindern und Jugendlichen „am Leben der Gemeinschaft“ (UN-Kinderrechtskonvention, Artikel 23) gefordert werden. Hier spannt sich ein begriffliches Feld um Gemeinschaft auf, das u. a. auf Wertschätzung, demokratisches und solidarisches Miteinander, Zugehörigkeitsgefühl und Beziehungen (insbesondere zwischen Schüler*innen und Lehrperson) fußt, aber auch von „Beiträgen für die Gemeinschaft“ oder dem „Dienst der Gemeinschaft“ spricht (vgl. Beiträge in Gerhartz-Reiter und Reisenauer 2020). Die Gemeinschaft und das Individuum stehen offenbar in einem diffusen, normativ aufgeladenen Verhältnis zueinander: Was der*die Einzelne einfordern kann/soll muss zu dem relationiert werden, was der Gemeinschaft zuträglich ist, die wiederum aus einzelnen Individuen besteht.

Wenn wir nun davon ausgehen, dass Gemeinschaft performativ in der gemeinsamen Teilnahme an Praktiken, die Bezug auf etwas Gemeinsames nehmen, hergestellt wird, muss ebenso DifferenzFootnote 3 (entlang unterschiedlicher Kriterien) thematisiert und in irgendeiner Form bearbeitet werden (vgl. Bossen et al. 2019; Merl und Herzmann 2019), denn beide analytischen Vokabulare sind im Sinne des tertium comparationis untrennbar miteinander verbunden (vgl. Budde 2015; Ricken und Reh 2014). Auch wenn doing difference (Hirschauer 2014) und doing commonness in einem unmittelbaren, komplexen Abhängigkeitsverhältnis stehen, legen wir unser Augenmerk v. a. auf doing commonness im Sinne eines Bezugnehmens auf etwas Gemeinsames, was wiederum im Vollzug sichtbar werden kann. Dabei ist zu fragen, wie dieser Bezug auf etwas Gemeinsames zum Gegenstand gemacht wird (vgl. auch Hirschauer und Boll 2017).

Im Folgenden werden wir unsere empirischen Fälle vorstellen, interpretieren und danach befragen, was das Gemeinsame ist, das hier Gemeinschaft konstituiert. Wie wird dieses Gemeinsame konstruiert, das dazu führt, dass die Klasse als eine Gemeinschaft gelten kann? Und in welchem Verhältnis steht diese Gemeinschaft zu Inklusion, wenn diese als Teilhabe an etwas Gemeinsamem verstanden wird?

3 Zur Konstruktion von Gemeinschaft: Empirische Analysen

Für unser Erkenntnisinteresse analysieren wir den Unterricht einer sich neu konstituierenden vierten Grundschulklasse, die wir über die ersten drei Wochen nach den Sommerferien ethnographisch beobachteten und die als inklusive Schulklasse im Sinne der schulrechtlichen Regelungen gilt. In der ersten Woche erstellten wir ethnographische Unterrichtsprotokolle, ab der zweiten Woche wurden alle Unterrichtsstunden der Klassenlehrerin videographisch mit zwei fixierten Standkameras und einer mobilen Handkamera aufgezeichnet sowie im Feld vewendete Artefakte gesammelt. Den entstandenen Materialkorpus haben wir codiert (vgl. Strauss und Corbin 1996) und solche Stellen sequenzanalytisch rekonstruiert, in denen sich die beteiligten Akteur*innen explizit auf Gemeinsames beziehen – auf eine geteilte, gemeinsame Praxis. Wir zeigen exemplarisch zwei Sequenzen, in denen einmal auf Ebene der Klasse und einmal auf Ebene einer Schüler-Lehrerin-Interaktion Gemeinschaft in unterrichtlichen Praktiken prozessiert wird. Zudem nehmen wir dasjenige Artefakt in den Blick, welches in der letzteren Interaktion verhandelt wird. Wir fragen also im Folgenden, wie Schüler*innen und Lehrer*innen Bezug auf Gemeinsames und womöglich auch auf eine Klassengemeinschaft nehmen und welche Positionen innerhalb dieser Gemeinschaft zugewiesen und eingenommen werden. In der abschließenden Diskussion befragen wir unsere Befunde dahingehend, wie sich Inklusion zu dem hier nachgezeichneten Gemeinschaftsbegriff relationieren lässt.

3.1 Gemeinschaft(en) im Grundschulunterricht

In der ersten Stunde nach den Ferien, der sog. Klassenlehrer*instunde, finden sich die Schüler*innen der Klasse nach und nach im Klassenraum ein, besetzen Bänke und Stühle, packen Materialien aus und nehmen teilweise Kontakt zu ihren Mitschüler*innen auf. Einige wenige kennen sich aus ihrer jahrgangsübergeifenden Lerngruppe (jüL) der letzten Jahre, so die Klassenlehrerin in einem Vorgespräch. Es gibt ein akustisches Signal kurz vor 8 Uhr, das auf den baldigen Unterrichtsbeginn hinweist.

Es ist 8:04 und Frau Hansen hat sich auf das Pult gesetzt … Frau Hansen guckt in die Klasse und macht dann eine Reißverschlussgeste mit dem Mund … Als alle S*S still sind und zu ihr nach vorne schauen beginnt Frau Hansen zu reden: „Einen wunderschönen guten Morgen“. Die Klasse antwortet im Chor „Guten Morgen Frau Hansen“.

Indem die Lehrkraft sich auf den Tisch setzt, schafft sie nicht nur eine vertikale Differenz zu den auf Stühlen sitzenden Schüler*innen, sondern auch eine Differenz hinsichtlich der unterschiedlichen Befugnisse der Anwesenden im Klassenraum. Beides lässt sich als eine symbolische Herstellung von Hierarchie bzw. Über- und Unterordnung verstehen. Von dieser Position aus vollzieht sie nun eine Geste, die im schulischen Kontext die Schüler*innen zur Ruhe auffordert. Das Protokoll beschreibt entsprechend eine einzelne Akteurin, die ein ganzes Kollektiv mit einer Geste reguliert und so zu einem gemeinsamen Handeln auffordert. Als alle dieser Aufforderung zum gleichen Handeln nachkommen („alle S*S still sind und zu ihr nach vorne schauen“), folgt mit der Begrüßung eine weitere Adressierung, die durch das Antworten im Chor auch als eine Kollektivadressierung ratifiziert wird.

Die Antwort „im Chor“ impliziert aber nicht nur, dass scheinbar alle Schüler*innen als Kollektivsubjekt Klasse mit der Begrüßung angesprochen waren, sondern sie impliziert erneut ein gleiches und diesmal auch gleichzeitiges Handeln. Der Chor zeichnet sich ja gerade dadurch aus, dass die unterschiedlichen Stimmen aufgrund ihrer Gleichzeitigkeit in einer Stimme aufgehen; also dadurch zu einer kollektiven Akteurin (die Klasse) werden, dass sie an einem Ort gleichzeitig Gleiches tun.

„Vorstellen brauche ich mich nicht bzw. ihr kennt meinen Namen, ja, ihr kennt mich aus’m Sport- aus Schwimmunterricht. Viele hatte ich auch mal im Vertretungsunterricht. Ich kenne auch, ich kenne eure Namen. Ihr seid mir nicht böse, wenn das jetzt alles noch nicht ganz funktioniert, aber die meisten kenne ich schon, kann ich schon (1) ansprechen“. „Kenn se mich?“ „Tillmann!” (ermahnend) „Tillmann Meyer.“ „Gesprächsregeln werden wir heute auch nochmal thematisieren ähm wie das ist mit dem Reinrufen, wenn man redet hören die anderen zu, ok?“

Mit ihrer Einschätzung dem Kollektiv der Schüler*innen bekannt zu sein, bestätigt sie die anfänglich bereits symbolisch hergestellte Hierarchie: Ihre Bekanntheit hat Priorität gegenüber dem Kennen(-lernen) aller untereinander. Als relevant wird hier gesetzt, dass die Lehrkraft alle Namen kennt (wozu das relevant ist, folgt sogleich) und die Klasse ihren Namen kennt; nicht aber die Schüler*innen wechselseitig ihre Namen kennen. Selbst wenn die Lehrkraft doch nicht alle Namen kennt/erinnert, erwartet sie, dass das gesamte Kollektiv Klasse mit dieser Situation gleich umgeht, nämlich „nicht böse“ ist. Bis hier zeigt sich also eine unterschiedliche Positionierung von dem Individuum Lehrkraft gegenüber einer als Kollektiv angesprochenen Klasse.

Nun aber sticht ein einzelner Schüler aus der bisher vermeintlich kollektiv handelnden Klasse hervor, indem er die Aussage der Lehrkraft auf die Probe stellt („Kenn se mich?“). Mit dem ermahnenden Nennen des Namens jenes Schülers zeigt die Lehrkraft denn auch, wozu es wichtig ist, dass gerade sie alle Namen – und damit alle Individuen der bis dato nur kollektiv adressierten Klasse – kennt: um Einzelne ermahnen zu können, sich entsprechend der gemeinsamen (Gesprächs‑)Regeln zu verhalten. Diese Funktion übernimmt ihr nachgeschobener Satz, der auf die Gesprächsregeln im Allgemeinen und eine Regel im Besonderen hinweist. Allerdings verändert sich hier der sprachliche Bezug auf ein Kollektiv: Indem die Lehrkraft „wir“ expliziert, konstruiert sie sich als Teil eines Kollektivs, das nun aus Schüler*innen und Lehrkraft besteht.

Damit überlagern sich nun parallel zwei Konstruktionen von Gemeinschaft: Erstens die aus den Schüler*innen bestehende Klassengemeinschaft, die gleich und gleichzeitig agiert („im Chor“) und derart kollektiv auch adressiert wird. Zweitens eine Gemeinschaft bestehend aus Schüler*innen und Lehrkraft. Diese Gemeinschaft entsteht u. a. dadurch, dass sie gemeinsam die Gesprächsregeln thematisieren; was das Bestehen gemeinsamer Regeln impliziert. Diese müssen zwar nicht zu gleichem Handeln führen (bspw. wenn eine*r redet und die anderen zuhören), aber zu Handeln, das sich an gemeinsamen Maximen (es redet immer nur eine*r) ausrichtet.

„Äh ganz kurz zu mir. Ich bin, wie gesagt, ich bin Frau Hansen ähm für mich ist das heute auch ne ganz neue Situation. … Ich bin n bisschen aufgeregt. Ich denke der ein oder andere von euch ist auch aufgeregt. Das ist vollkommen normal. … ich bin gespannt wie wir das Ganze hier meistern werden. Für mich als Klassenlehrerin ist das auch neu, aber ich hoffe da auf eure Unterstützung, dass wenn mal was nicht so ganz funktioniert, dass ihr mir auch sagen könnt, mensch Frau Hansen das war jetzt vielleicht- wir machen das aber immer so und so, ne, wir müssen jetzt auch gucken, dass wir gemeinsam, ihr kommt ja aus unterschiedlichen jüL-Klassen, gemeinsam ein Konzept finden, dass wir hier schön gemeinsam tollen Unterricht haben.“

Die Lehrkraft nennt nun kurz ihren Namen und stellt dann zwei Gemeinsamkeiten her – für alle sei es eine neue Situation und sie sowie die „ein oder andere“ seien aufgeregt. Dass damit nicht alle aufgeregt sind, schafft eine Differenz zwischen den Schüler*innen, die durch die Lehrkraft sofort entdramatisiert wird, indem sie die Aufregung als „völlig normal“ bewertet. Im weiteren Verlauf konstruiert sie sich und die Schüler*innen dann als Gemeinschaft, die „das Ganze hier meistern“ wird. Darüber hinaus hoffe sie auf die „Unterstützung“ der Schüler*innen dahingehend, sie über etablierte Abläufe der Klasse zu informieren. Daran ist bemerkenswert, dass einzelne Schüler*innen aufgerufen werden, im Namen einer Gemeinschaft zu sprechen („wir machen das … immer so“), nicht für sich. Mit dieser Aufforderung an eine sich gerade erst konstituierende Klasse, die ja bisher keine gemeinsame Praxis hatte, stellt sie auch die Erwartung gegenüber der Klasse her, zukünftig immer gleich zu agieren. Kurz darauf thematisiert sie die Notwendigkeit („müssen“) „gemeinsam ein Konzept [zu] finden, dass wir hier schön gemeinsam tollen Unterricht haben“. Gemeinsam ein Konzept zu finden bedeutet hier, dass sich – im Sinne von Partizipation – alle daran beteiligen können. Ein Konzept zu finden impliziert darüber hinaus die Verpflichtung auf geteilte, gemeinsame Regularien des Miteinanders. Notwendig wird diese Verpflichtung, weil sie „schön gemeinsam tollen Unterricht“ ermöglicht; womit sich die normative Stoßrichtung der sich herstellenden Gemeinschaft zeigt: Wenn wir gemeinsam (und nicht gegeneinander) agieren, dann wird es gut.

In dieser Passage wird deutlich, dass sich die Gemeinschaft durch die gemeinsame Erfahrung der neuen Situation, gemeinsames Meistern von Anforderungen, gemeinsame Regeln, immer gleichem/kollektivem Handeln („wir machen das … immer so“), ein gemeinsam gefundenes (Unterrichts‑)Konzept und, daraus resultierend, durch „gemeinsam tollen Unterricht“ auszeichnet. Differenz (bzgl. aufgeregt sein) wird insofern als normal gerahmt, wie sie unproblematisch für die Teilhabe an der imaginierten Gemeinschaft ist. Diese Ausrichtung der impliziten Gemeinschaftserwartungen legt es nahe, von einer Unterrichtsgemeinschaft zu sprechen, die zusammenarbeitet, um den Unterricht zu „meistern“. Hierbei fällt auf, dass diese vor allem für die Lehrkraft funktional ist: Denn sie lässt sich als eine charakterisieren, in der ein großes Commitment für gleiches, gemeinsames und regelbasiertes Handeln bestehen soll. Für die Steuerung von Unterricht heißt das, dass letztlich ein Kollektivsubjekt (die Klasse) und nicht einzelne Subjekte reguliert werden müssen (vgl. in ethnomethodologischer Perspektive die sogenannten „cohorting practices“; Payne und Hustler 1980).

3.2 Die Bewerbung zur Sprecher*in der Klassengemeinschaft

Am letzten Tag der dritten Unterrichtswoche des Schuljahres beobachteten wir die Arbeit zu verschiedenen „Themen“ an Gruppentischen. An einer Station sollte ein Dokument von denjenigen Schüler*innen ausgefüllt werden, die sich für die Wahl zur*m Klassensprecher*in bewerben. Wir beobachteten fünf Schüler*innen, die sich am Tisch versammelten und das Dokument bearbeiteten.

Im Folgenden werden wir zunächst das Artefakt als Handlungsaufforderung interpretieren, da wir Artefakte (hier: das Dokument, aber eigentlich auch der Stift oder die Ausstattung des Tisches, an dem das Dokument bearbeitet wird usw.) als gleichberechtigte Beteiligte bei der Hervorbringung und dem Vollzug von Praktiken verstehen (vgl. Latour 1998). Sie präfigurieren Handlungen der Akteur*innen und sind daher auch Handlungsträgerinnen. Oder anders: Die Materialität der Artekafte ist eine Ko-Konstrukteurin der sozialen Praxis (Bossen 2020, 2015; Röhl 2015; Latour 2014). Entsprechend dieser Revalorisierung der Materialität in praxistheoretischen Ansätzen werden wir die sich im Dokument explizierenden Logiken rekonstruieren und dann eine Szene interpretieren, in welcher der Bearbeitungsmodus dieses Dokumentes zwischen Frau Hansen und Bewerber Leo verhandelt wird.

Das Dokument (siehe Abb. 1) gliedert sich auf einer ikonographischen Ebene in drei Teile, wobei der erste Teil noch einmal in zwei Bereiche (Linien und Rechteck) unterteilt ist. Alle Teile sind unter der Überschrift „Das bin ich“ subsumiert. Es ist also zu erwarten, dass eine Darstellung folgt, in der über „Ich“ eine Auskunft erteilt wird. Im ersten Teil sind sechs Begriffe untereinander aufgeführt, die von einem Doppelpunkt und je einer Linie folgend begleitet werden und dadurch eine Handlungsaufforderung inhärieren. Die Begriffe Name, Wohnort, Augenfarbe und Geburtstag erinnern an Informationen auf Personalausweisen und deuten damit auf eine bürokratische Abfrage von (relativ stabilen) Personenmerkmalen hin. Das Rechteck fordert ferner auf, ein „Foto/Bild“ anzubringen, das die personellen Ausweisangaben durch morphologische Erkennungsmerkmale ergänzt. Diese bürokratische Erscheinung wird sowohl von der spielerisch-informellen Schriftart Comic Sans gebrochen, als auch von der Abfrage des Spitznamens und der Haarfarbe. Das Dokument entsinnt sich damit als Steckbrief mit infantilem Charakter.

Abb. 1
figure 1

Das bin ich

Nach einem leeren Bereich konstituieren erneut Linien und Worte ikonographisch einen zweiten Block. Die Linien erstrecken sich teilweise über zwei Zeilen, da hier vermutlich längere Antworten erwartet werden. Zunächst werden (un)spezifische Vorlieben abgefragt („Hobbys“, „Was ich mag“, „Was ich nicht mag“, „Mein(e) Lieblingstier(e)“ und „Mein(e) Lieblingsfarbe(n)“), dann folgen drei Fragen: „Was würdest du tun, wenn du zaubern könntest? Was willst du später mal werden? Was würdest du gern in den nächsten Ferien machen?“ Die formulierten Fragestellungen erfordern, sich kreativ und visionär zu zeigen, Pläne und Wünsche zu äußern. Es geht nun um Personenmerkmale jenseits von Bürokratie. Hier kann man sich als Person spezifizieren – allerdings im Rahmen standardisierter Ausfülloptionen.

Der dritte Teil schließt unmittelbar an den zweiten Teil an, sticht aber dadurch hervor, dass ein Satz beginnt, der von der ausfüllenden Instanz beendet werden soll. Dafür steht der meiste Platz zur Verfügung: „Ich möchte Klassensprecher werden, weil ich …“ Dies ruft dazu auf, einen Bezug zwischen dem Wunsch, Klassensprecher*in zu werden, und der eigenen Person „ich“ herzustellen. Wer für die Klasse spricht, muss sich begründen, gegenüber anderen Bewerber*innen abgrenzen und trotzdem die Klassengemeinschaft als Kollektiv repräsentieren. Es geht entsprechend im selben Zuge um die Markierung personeller Differenz zu anderen Bewerber*innen und um die Repräsentation einer Gemeinschaft.

Die Einsicht, dass es sich bei diesem Steckbrief-Dokument um die Bewerbung als Klassensprecher*in handelt, ist nicht unmittelbar plausibel (es bedarf der Beobachtung der Eingebundenheit der Materialität in Praktiken). Nach Abfrage von Personenmerkmalen werden Angaben erfragt, die darauf abzielen, gemeinsame oder geteilte Vorlieben/Ansichten zu haben oder zumindest diese Angaben positiv bewerten zu können. Verbundenheit wird also über personell Geteiltes hergestellt. Allein die letzte Frage stellt explizit einen Zusammenhang mit der Zielgerichtetheit der Praxis her.

Der Steckbrief vereinfacht die Vergleichbarkeit dieser Praxis: Es werden quasi Kategorien des Vergleichs vorgegeben, die der Lehrerin relevant erscheinen. Dadurch wird aber die Herstellung von Differenz zwischen Bewerber*innen erschwert. Der Steckbrief gibt letztlich Einblicke in die herzustellende Gemeinschaft, die von der Lehrkraft bei der Erstellung des Steckbriefs implizit angelegt wurde, und zwar eine, die nur begrenzte Individualisierung erlaubt. Wir betrachten nun die Handhabung des Steckbriefs genauer.

Frau Hansen geht von Tisch zu Tisch. Leo hat mit Bleistift recht unsauber begonnen die Felder im Steckbrief zu füllen. Als Frau Hansen das sieht, sagt sie:

„Und äh Leo, das soll also ich weiß nicht aber ich weiß nicht ob man das lesen kann. Ihr müsst ja, das (2) das wird ausgehangen Leo, also das kann ich, kann ich ganz also es wird ausgehangen! ja das das soll dich ja, Leo das soll dich ja [präsentieren]“

Leo: [„ja das zeigst du doch im Blatt“]

Frau Hansen: „Und wenn euch das aber schon nicht“

Frau Hansen setzt mehrfach dazu an, ihre Zweifel über die Lesbarkeit zum Ausdruck zu bringen. Bereits hier wird deutlich, dass es sich beim Ausfüllen des Steckbriefes auch um eine schulische Aufgabe handelt, die einen gewissen (Mindest‑)Anspruch an Gründlichkeit in Form von Lesbarkeit hat. Da hier die Adressat*innen des Steckbriefes mit ins Boot geholt werden („ob man das lesen kann“), um diese formale Anforderung zu legitimieren, ist die eingeforderte Gründlichkeit ebenso eine Form von eingeforderter Umsichtigkeit, denn auch andere sollen es lesen können. Die kollektive Anforderung der Aufgabenerfüllung („Ihr müsst“), die eben nicht nur für Leo gilt – auch wenn dieser gerade adressiert wird („äh Leo“) – mündet letztlich in eine gegenstandsbezogene Aufforderung („das soll dich ja“), die über die mehrmalige Verwendung von „ja“ ein Argument der Selbstverständlichkeit ausdrückt: Jeder*m ist es offensichtlich, dass ein Steckbrief gründlich ausgefüllt werden muss, außer Leo. Mit dem Hinweis „das soll dich ja präsentieren“ äußert Frau Hansen, wie sie das Dokument verstanden wissen will. Die Präsentation ist über das Dokument (Steckbrief) standardisiert. Nur der Inhalt (was man schreibt) und die Art (wie man schreibt) des Ausfüllens können im Vollzug variieren. Allerdings reguliert die Lehrkraft mit der Einforderung der Lesbarkeit die Möglichkeit, sich über die Performativität der Handschrift (vgl. Bossen 2020) zu individualisieren. Die implizit zu entschlüsselnde Anforderung, die sie hier in verschiedensten Anläufen gegenüber Leo bekräftigt, ist: Was ausgehängt wird, muss von allen Adressat*innen (sicher) lesbar sein, um als gelungene Präsentation zu gelten. In der Aussage der Lehrerin werden also die schulische Anforderung der Lesbarkeit und die teilhabende Öffentlichkeit an der schulischen Anforderung thematisch.

Es scheint diesbezüglich eine unterschiedliche Einschätzung zu geben, da Leo mit einem gewissen Unverständnis reagiert: „ja das zeigst du doch im Blatt“. Frau Hansen nimmt darauf keinen Bezug (vielleicht, weil sich beide Aussagen überschneiden), stattdessen führt sie weiter aus: „Und wenn euch das aber schon nicht“. Die Adressierung „euch“ mildert die individuelle Kritik zwar ab, hat aber ebenso die präventive Funktion alle, die mit am Tisch sitzen und auch den Steckbrief ausfüllen, anzusprechen und über die Anforderung zu informieren. Lesbares Ausfüllen wird damit als notwendige Fertigkeit für den*die zukünftige Klassensprecherin formuliert.

In dieser Interaktion wird eine Klassengemeinschaft konstruiert, die über die Klassensprecher*innenwahl einer Re‑/Präsentation bedarf. An die Präsentation besteht die Anforderung der Lesbarkeit: Man muss sich lesbar präsentieren; bzw. wird von der Lehrkraft hier der Anspruch formuliert, dass es einer Klassengemeinschaft wichtig sein soll, dass sie sich nach außen lesbar und im schulischen Sinne als ordentlich präsentiert. Die Person, die sich vorstellen kann, diese Gemeinschaft zu repräsentieren, soll sich diesem Anspruch in besonderem Ausmaß verpflichtet fühlen.

3.3 Fragile Grenzen der Gemeinschaft(en)

Bringt man nun die verschiedenen empirischen Auszüge im Hinblick auf unsere Fragestellung – wie Gemeinsames aufgerufen wird und welche Idee von Gemeinschaft sich dadurch entfaltet – zusammen, zeigen sich verschiedenste Bezüge auf Gemeinsames, die letztlich in zwei parallel bestehenden Konstellationen von Gemeinschaft münden: Erstens eine Klassengemeinschaft der Schüler*innen, der gegenüber die Lehrkraft als Individuum hierarchisch übergeordnet ist; und zweitens eine Unterrichtsgemeinschaft von der sie selbst (vermeintlich ein gleichberechtigter) Teil ist.

Schaut man genauer, welche Gemeinsamkeiten im praktischen Vollzug für die jeweilige Gemeinschaft deutlich werden, zeigt sich, dass jene Gemeinsamkeiten gerade für die Steuerung des Unterrichts durch die Lehrerin funktional sind: eine Klassengemeinschaft, die gemeinsamen Regeln folgt, kollektiv Nachsicht mit der Lehrkraft zeigt, geschlossen auftritt und immer wieder gleich agiert, vereinfacht deutlich die Steuerbarkeit von Seiten der Lehrkraft. Und eine (jene zweite) Unterrichtsgemeinschaft, von der die Lehrkraft selbst Teil ist, mit der man gemeinsam ein Konzept für die Zusammenarbeit findet um „das Ganze hier [zu] meistern“ und mit der man einen „tollen Unterricht“ erhofft, impliziert nicht nur eine gute Zeit, sondern eine gemeinsame Verantwortung für das Gelingen des Unterrichts.

Deutlich wird in der Analyse aber auch eine zeitliche Paradoxie: So bezieht sich die Lehrperson in der unterrichtlichen Praxis immer wieder auf ein „ihr“ (Klassengemeinschaft) und „wir“ (Unterrichtsgemeinschaft), die sie durch diesen Bezug erst hervorbringt und dann mit Inhalt füllt: Das heißt, sie rekurriert auf ein zukünftiges gemeinsames Konzept und erhofft zukünftige positive gemeinsame Erfahrungen. In diesen Zukunftsbezügen entfaltet sich im praktischen Vollzug eine Gleichzeitigkeit von schon Gemeinschaft und noch nicht bzw. noch werdende Gemeinschaft.

Im Zuge der Klassensprecher*innenwahl wird ebenso die Idee der Klassengemeinschaft konturiert, die – wie sich empirisch zeigt – keinesfalls bei allen gleich ist, sondern der dialogischen Ausdeutung bedarf. Der Steckbrief legt fest, welche Kriterien für die Wähler*innenschaft relevant gemacht werden sollen. Die Kriterien ermöglichen eine Vergleichbarkeit, erschweren aber eine individualisierte Präsentation, wer man ist in dieser Gemeinschaft. Die Person soll sich daher einerseits in Differenz zu anderen Bewerber*innen und andererseits in einer Verbundenheit zur Gemeinschaft materialisieren. Dabei sind im Steckbrief implizite Erwartungen der Repräsentation verborgen: Wie und was man präsentiert, repräsentiert auch zukünftig die Gemeinschaft, denn der*die Klassensprecher*in vertritt sie in ihrer Ganzheit.

Im Dialog zwischen Schüler und Lehrerin wird deutlich, dass letztere Vorstellungen darüber hat, welche Fertigkeiten der*die zukünftige Klassensprecher*in zur Repräsentation der Gemeinschaft haben sollte: Gründlichkeit und Umsichtigkeit bei der Bearbeitung von schulischen Aufgaben werden als notwendige Ausstattungsmerkmale formuliert, die dann in einem gewissen Maße auch die Gemeinschaft abbilden – immerhin wird diese repräsentiert. Der Schüler ist davon überzeugt, zumindest die Anforderungen der Präsentation zu erfüllen.

4 Gemeinschaft als Ort und Format von Inklusion

In welchem Verhältnis stehen nun die hier analysierten Konstruktionen von Gemeinschaft zu Konzeptionen schulischer Inklusion?

Die Analysen legen nahe, dass die Teilhabe an zwei Gemeinschaften möglich ist, eine Teilhabe an der Klassengemeinschaft und eine Teilhabe an jener Unterrichtsgemeinschaft. Das diesen Gemeinschaften zugesprochene Gemeinsame gilt es zu erfüllen, um umfassend an jenen Gemeinschaften teilzuhaben: Das Gemeinsame, das die imaginierte Gemeinschaft ausmacht, verbirgt zugleich die Anforderungen, die zur Teilhabe gestellt werden.

Dass das hier analysierte Gemeinsame häufig gleiche Anforderungen an das Tun der Schüler*innen stellt, lässt zumindest die Vermutung zu, dass die Teilhabe an den Gemeinschaften dieser Klasse sich stark an Gleichheit orientiert: Man muss grundsätzlich gleich agieren (können), um teilhaben zu können. Allerdings bedeutet das nicht, dass jede Differenz automatisch zum Ausschluss führt, denn bereits in den ersten Minuten der sich neu konstituierenden Klasse zeigte sich, dass Differenzen auch als unproblematisch gerahmt werden können.

Einleitend wurde dargestellt, dass pädagogisch-normative Konzepte schulischer Inklusion auf die Teilhabe an etwas Gemeinsamen zielen und dieses Gemeinsame zumeist als Vorstellung einer spezifischen Gemeinschaft bestimmt wird. Nun haben wir die Konstruktionen einer Klassen- und einer Unterrichtsgemeinschaft analysiert. Prüft man die als Ergebnis der Analyse beschriebenen Gemeinschaftsideen auf den Anspruch der schulischen Inklusion – nämlich Teilhabe an diesen Gemeinschaften herzustellen –, dann wird deutlich, dass die Anforderungen, die es zu erfüllen gilt, damit eine vollumfängliche Inklusion/Teilhabe gelingt, sehr umfassend und insofern auch nur schwer zu erfüllen sind. Es ließe sich sogar von einer tendenziellen Widersprüchlichkeit sprechen: denn das empirische Ergebnis, dass sich in der Klasse Teilhabe an der Gemeinschaft stark an gleichem Agieren orientiert (also grundsätzlich gleiche Anforderungen an das Tun der Schüler*innen stellt), scheint gerade dem Kerngedanken schulischer Inklusion zu widersprechen: anders als beim Konzept des integrativen Unterrichts geht es beim inklusiven Unterricht ja gerade um die Ermöglichung einer gemeinsamen Teilhabe differenter Lernsubjekte. Es geht dem Ideal der Inklusion gerade nicht um Teilhabe durch Gleichheit, sondern um differenzsensible Teilhabemöglichkeiten.

Nun sind allerdings auch die Grenzen keinesfalls klar konturiert und auch die Ausdeutungen der jeweiligen Gemeinschaftsideen alles andere als unilateral. Gemeinschaft erscheint vielmehr als ein fragiles Konstrukt, das mit diffusen Erwartungen gefüllt wird. Das ist nun insofern brisant, als damit pädagogische Konzepte schulischer Inklusion – die auf Gemeinschaft als positiven Bezug rekurrieren – auf ein Phänomen gründen, das instabil und unscharf ist. Wenn der unterrichtlichen Praxis pädagogisch-präskriptive Konzepte schulischer Inklusion aber im Kern auf ein konstitutiv fragiles Phänomen rekurrieren, dann zeigt dies letztlich, dass Inklusion nur als Utopie zu denken ist. Anders ausgedrückt: Inklusion soll sein, aber die dafür nötige Gemeinschaft ist abwesend.

Und auch der in den Analysen aufgezeigte gleichzeitige Bezug auf „schon“ und „noch nicht“ bestehende Gemeinschaft erscheint uns interessant für schulische Inklusion. Die Gemeinschaft kann also nicht nur als Ort von Erziehungspraktiken verstanden werden (vgl. Budde 2020), von dem eine gemeinsame Handlungsgrundlage für Inklusion ausgeht und in den die Akteur*innen hineingeworfen sind. Gemeinschaft wird auch – so unser Ergebnis – als ein Format verstanden; genauer: als eine spezifische Beziehung zwischen den Akteur*innen, die es in (Gemeinschafts‑)Praktiken zuallererst herzustellen gilt. Mit „Gemeinschaft“ wird also ein Nicht-Ort vorausgesetzt, der gleichzeitig im Werden ist (vgl. Derrida 1991). Das heißt, Gemeinschaft verbirgt einen antinomischen Charakter, da diese zugleich ein Desiderat und eine Bedingung für Inklusion ist; beide – Inklusion und Gemeinschaft – verweisen auf Gemeinsames. Wenn das von uns identifizierte Format von auf Gemeinschaft bezogenen Praktiken (grundlegend) einen Bezug zu Inklusion hat, dann wirft das folgende Frage für die inklusive Praxis des (Grundschul‑)Unterrichts auf: Wie ist mit dem latenten Widerspruch von Inklusion (als Ermöglichung von Differenz & Teilhabe) und Gemeinschaft (als Teilhabe durch gleiches Agieren) in der unterrichtlichen Praxis umzugehen?