Der Klimawandel und der Verlust der Artenvielfalt sind zwei prominente Beispiele von Entwicklungen im 21. Jahrhundert, die in Politik und Gesellschaft diskutiert werden und die den Zustand unserer Umwelt und unsere Lebensbedingungen betreffen. Beide Phänomene stehen für komplexe Problemlagen, die von globaler Tragweite sind und sich nicht nur auf das Heute sondern insbesondere auch auf kommende Generationen auswirken. Das Konzept der Bildung für nachhaltige Entwicklung greift solche Problemlagen auf und zielt auf Prozesse, in denen Individuen, Gruppen oder Institutionen sich in der selbstbestimmten Auseinandersetzung mit der Welt ein Verhältnis zu sich und der Welt ausbilden, das die eigene Lebensgestaltung gemeinsam mit anderen ermöglicht (Stoltenberg und Burandt 2014). Hier kommt der Fähigkeit zur informierten Urteilsbildung eine zentrale Rolle zu. Im Mittelpunkt steht die Befähigung, unterschiedliche, auch konfligierende ökonomische, ökologische und soziokulturelle Werte in komplexen Entscheidungssituationen zu erkennen und gegeneinander abzuwägen.

Die Auseinandersetzung mit Kernproblemen des globalen Wandels und entsprechenden Urteilsbildungsprozessen haben als gesellschaftliche Themen entsprechend Eingang in die schulische Bildung und in Forschungsarbeiten in der Bildung für nachhaltige Entwicklung gefunden. Bisherige Arbeiten fokussieren dabei jedoch vorrangig auf Schülerinnen und Schüler im Jugendalter, auch wenn aktuelle Studien das Interesse an den damit einhergehenden komplexen Fragestellungen bereits für Kinder im Grundschulalter bestätigen.

Die Arbeit von Sarah Gaubitz schließt diese Lücke, indem sie der Frage nachgeht, an welchen Werten sich Grundschulkinder am Ende der vierten Klasse bei Entscheidungsfragen zu Ressourcendilemmata orientieren und wie sie ihre Urteile begründen. Die Autorin zielt dabei auf die Ermittlung individueller Schülervorstellungen, Wertorientierungen sowie moralischer Begründungen von Grundschulkindern, um damit „die Frage nach dem Wann und Wie einer effektiven Bildung für nachhaltige Entwicklung zu beantworten“ (S. 3). Zur Beantwortung dieser Frage führt Sarah Gaubitz 24 Dilemma-Interviews in zwei Erhebungswellen mit Grundschulkindern der vierten Klasse durch, wertet diese Interviews qualitativ aus und verdichtet ihre Ergebnisse mit einer Typenbildung.

Als Forschungsmethode wählt Sarah Gaubitz das Dilemma-Interview als angemessene Erhebungsmethode, die sich auf die Tradition Piagets und die Tradition der Interviews zum moralischen Urteilen nach Kohlberg beziehen (Kohlberg 1996). Die so gewonnenen Daten werden qualitativ-explorativ mit der inhaltlich strukturierenden qualitativen Inhaltsanalyse, ergänzt um eine typenbildende qualitative Inhaltsanalyse, analysiert. In ihrem Methodenkapitel beschäftigt sich Sarah Gaubitz ausführlich und fundiert mit methodologischen Fragen ebenso wie mit forschungspraktischen Aspekten wie dem Problem kindtypischer Ausdrucksformen und der entwicklungs- und kulturspezifischen Begrenztheit sprachlicher Fähigkeiten. Ein besonderes Augenmerk richtet sie dabei auf die Konstruktion und Ausgestaltung einer altersgruppengerechten Dilemmasituation, in der die Merkmale der Konfliktzentrierung, der Gleichwertigkeit der Argumente und der Offenheit der Situation Berücksichtigung finden.

Die zentralen Ergebnisse der Studie erarbeitet Sarah Gaubitz in drei aufeinander aufbauenden Schritten. Die Identifikation der Dilemmata und der darin enthaltenen konfligierenden Perspektiven durch die Schülerinnen und Schüler erlauben hierbei zunächst eine Einordnung der kognitiven und empathischen Fähigkeiten der Kinder. Sie machen deutlich, dass bereits Kinder im Alter von acht bis elf Jahren in der Lage sind, die in den Ressourcendilemmata konfligierenden Werte zu benennen. Basierend auf den Vorschlägen für Handlungsoptionen arbeitet Sarah Gaubitz zudem Strategien einer nachhaltigen Entwicklung heraus, die den Kindern bereits zur Verfügung stehen und aktiv genutzt werden. Außerdem findet sie heraus, dass „die interviewten Kinder bei der Formulierung von Handlungsoptionen nach Kompromissen streben“ (S. 281).

In einem zweiten Schritt zeichnet die Autorin in den Aussagen der interviewten Kinder unterschiedliche Wertorientierungen bei Entscheidungsfragen zu Ressourcendilemmata nach. Vier solcher Typen lassen sich nach Gaubitz in Anlehnung an die Bezeichnungen aus dem Integrierenden Nachhaltigkeitsdreieck unterscheiden: (1) ein ökologischer Typ, (2) ein ökologisch-ökonomischer Typ, (3) ein ökologisch-soziokultureller Typ sowie (4) ein Retinitätstyp, der ökologische, ökonomische und soziokulturelle Werte gleichermaßen in seinen Handlungsoptionen, Bewertungen, Urteilen und Entscheidungen berücksichtigt. Dies zeigt einerseits deutlich, welch hohen Stellenwert ökologische Wertorientierung bei allen Kindern einnehmen und wie sie andererseits in der Lage sind, einzelne Wertedimensionen miteinander zu vernetzen.

Wie Kinder im Rahmen ihre Wertorientierungen argumentieren, analysiert die Autorin in einem dritten Schritt. Ihr gelingt es hier in überzeugender Weise die Argumente der Kinder mit den Ausführungen der naturethischen Argumentationsfiguren und Begründungsstrategien, die in der Philosophie diskutiert werden, zusammenzuführen. Zusammenfassend zeigt Sarah Gaubitz mit ihrer Studie damit zum einen auf, inwieweit Grundschulkinder bereits verschiedene Wertedimensionen miteinander vernetzen. Sie belegt zudem, wie sie in der Lage sind, auch bei komplexen Problemlagen, die Kernprobleme des globalen Wandels betreffen, sich begründet ein Urteil bilden können. Schließlich belegt sie, inwieweit die Kinder darüber hinaus fähig sind konkrete Strategien und Handlungsoptionen zu benennen. Auch wenn eine kritische Diskussion der Übertragbarkeit und der Reichweite der Ergebnisse an dieser Stelle noch hätte gestärkt werden können und eine klarere Unterscheidung von Wertorientierungen auf der einen Seite und den (kognitiven) Fähigkeiten der Dilemma Bearbeitung auf der anderen Seite wünschenswert gewesen wäre, so gelingt es Sarah Gaubitz doch, einen empirisch fundierten Beitrag zur Frage des Erwerbs von Teilkompetenzen der Gestaltungskompetenz als übergreifendes Ziel der Bildung für nachhaltige Entwicklung bei Grundschulkindern zu leisten. Die Ergebnisse ermutigen und fordern auf, die Ausbildung und Förderung der moralischen Urteilsfähigkeit im Rahmen von Bildung für nachhaltige Entwicklung bereits im (Sach‑)Unterricht der Grundschule explizit zu berücksichtigen und zu stärken. Inwieweit die Wertorientierungen der Kinder abhängig sind vom Untersuchungsgegenstand und dem gewählten Dilemma wird ebenso weiter zu diskutieren sein wie die Entwicklung eines ausdifferenzierten und messbaren (Bewertungs- und) Urteilskompetenzmodells in Bezug auf die Gestaltungskompetenz für den (Sach‑)Unterricht der Grundschule.