Forschungsfragen und Design
Im Artikel werden zwei Forschungsfragen verfolgt:
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Unterscheiden sich die pädagogischen Orientierungen zum Schriftspracherwerb der pädagogischen Fachkräfte von 2016 von denen von 2006?
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Beeinflussen die unabhängigen Variablen (Berufsjahre, Lernkonzept, Unsicherheit und Zusammenarbeit mit der Schule) die abhängigen Variablen „Einstellung zum selbstgesteuerten Schriftspracherwerb“ und „Umgang mit einem Kind, das phonetisch schreibt“?
Zur Beantwortung der ersten Frage wurde mit den Daten der Personen, die an beiden Studien teilgenommen hatten, wurde eine Varianzanalyse mit Messwiederholung gerechnet.
Die zweite Fragestellung ergibt sich aufgrund der Ergebnisse von Rank (2008). Dort konnte die Ablehnung des selbstgesteuerten Schriftspracherwerbs und der negative Umgang mit einem phonetisch schreibendem Kind über diese Variablen (Unsicherheit, Lernkonzept, Schulnähe) erklärt werden. Es wurde eine multivariate lineare Regressionsanalyse über die Daten des dritten Messzeitpunktes (2016) gerechnet. Im Artikel werden die Beziehungen zwischen den abhängigen Variablen „Einstellung zum selbstgesteuerten Schriftspracherwerb“ sowie „Umgang mit einem Kind, das im Kindergarten phonetisch schreibt“ und den unabhängigen Variablen wie „Berufsjahre“, „Lernkonzept“, „Unsicherheit“ und „Zusammenarbeit mit der Schule“ dargestellt. Zur weiteren Untersuchung der Zusammenhänge innerhalb der pädagogischen Orientierungen wurden die qualitativen offenen Fragen aus dem Fragebogen mit paraphrasierender Inhaltsanalyse ausgewertet und die Kategorien gruppiert.
Instrumente
Es wurde derselbe Fragebogen verwendet, der bereits 2005 (MZP1) und 2006 (MZP2) eingesetzt wurde. Der Fragebogen enthielt Skalen, deren Items auf einer vierstufigen Likertskala („stimmt gar nicht“, „stimmt wenig“, „stimmt ziemlich“, „stimmt völlig“) anzukreuzen waren. Tab. 1 zeigt die im Artikel verwendeten Skalen inklusive der Reliabilitäten und Skalenkennwerte an den drei Messzeitpunkten.
Tab. 1 Deskriptive Fragebogendaten (MZP1 2005, MZP2 2006, MZP3 2016) Zusätzlich zu den in Tab. 1 vorgestellten Skalen konnten die teilnehmenden Erzieher*innen eine offene Frage beantwortenFootnote 2. Die Antworten (n = 74) wurden von zwei Kodiererinnen offen induktiv in der Technik der paraphrasierenden Inhaltsanalyse kodiert. Während die erste Kodiererin zunächst die induktiv entstandenen Kategorien festlegte, kodierte die zweite Kodiererin dasselbe Material mit den zuvor festgelegten Kategorien. Als Kodiereinheit galten Sätze und Satzteile, insgesamt gab es 113 kodierte Einheiten. Die Interkoderreliabilität liegt bei einer prozentualen Übereinstimmung der Segmente bei 75 %.
Stichprobe
An der Studie in den Jahren 2005 und 2006 nahmen 195 pädagogische Fachkräfte aus 55 Kindergärten dreier bayerischer Landkreise teil. Im Jahr 2016 wurden erneut alle Kindergärten der Region zunächst telefonisch und dann per Email angefragt. Insgesamt sandten 147 pädagogische Fachkräfte den Fragebogen zurück. 19 Personen davon nahmen bereits an der ersten Studie teil. Somit liegen von n = 19 Fragebogendaten zu drei Messzeitpunkten vor. Die anderen Fachkräfte (n = 128) nahmen zum ersten Mal an der Studie teil. Tab. 2 zeigt einen Überblick über die Stichprobe.
Ergebnisse
Es zeigen sich folgende Ergebnisse:
Frage 1
Unterscheiden sich die pädagogischen Orientierungen der pädagogischen Fachkräfte von 2016 von denen von 2006?
In Tab. 1 sieht man alle Mittelwerte der gesamten Stichproben über die drei Messzeitpunkte. Anschließend wurde eine Varianzanalyse mit Messwiederholung mit den Daten der 19 Fachkräfte erstellt, die an allen drei Messzeitpunkten teilgenommen hatten. Die Entwicklung entspricht derjenigen, die auch in den Mittelwerten aller Teilnehmenden (sichtbar in Tab. 1) aufscheint. So äußern die Fachkräfte eine hohe Zustimmung zum Kindergarten als Lernort und zu einem konstruktivistischen Lernkonzept. Die Einstellung zur Zusammenarbeit mit der Schule bleibt ebenfalls bestehen. Einerseits arbeiten die pädagogischen Fachkräfte gut mit den Lehrkräften zusammen, andererseits sind sie der Schule gegenüber tendenziell unsicher. Weiterhin wurden Skalen zur phonologischen Bewusstheit erhoben (Zuordnung der phonologischen Bewusstheit im engeren und weiteren Sinn, positive Bedeutung). Eine der Skalen wird exemplarisch in Tab. 1 dargestellt. Bereits 2005 und 2006 erfolgte die Zuordnung, v. a. der Bereiche der phonologischen Bewusstheit im weiteren Sinn, sehr sicher und die Zustimmung zu ihrer Bedeutung war hoch. Daran hat sich nichts verändert, so dass diese Skalen nicht weiter ausgewertet werden.
Eine signifikante Veränderung zwischen 2006 und 2016 zeigt sich jedoch in der Skala Ablehnung des selbstgesteuerten Schriftspracherwerbs. Trotz des konstruktivistischen Lernkonzepts und eines eher unterstützenden Umgangs mit Kindern, die phonetisch schreiben, halten die Fachkräfte selbstgesteuerten Schriftspracherwerb im Vorschulalter für weniger positiv als noch vor zehn Jahren. Tab. 3 zeigt die Werte dieser Skala für die 15 Teilnehmenden, von denen Werte aller drei Messzeitpunkte vorliegen.
Tab. 3 Ablehnung des selbstgesteuerten Schriftspracherwerbs (Messwiederholung ausschließlich bei den Teilnehmenden, von denen Daten aller drei MZPs vorliegen)
Frage 2
Beeinflussen die unabhängigen Variablen (Berufsjahre, Lernkonzept, Unsicherheit und Zusammenarbeit mit der Schule) die abhängigen Variablen „Einstellung zum selbstgesteuerten Schriftspracherwerb“ und „Umgang mit einem Kind, das phonetisch schreibt“?
Hintergrund der multivariaten Regressionsanalyse war die Annahme, dass sich die pädagogischen Orientierungen von Fachkräften, die selbstgesteuerten Schriftspracherwerb im Kindergarten ablehnen, von den pädagogischen Orientierungen der anderen Fachkräfte unterscheiden. Die Zusammensetzung dieser Orientierungen lässt sich über den Einbezug verschiedener Skalen in eine Regressionsanalyse statistisch zeigen. Hierfür wurden lediglich die Fragebögen des dritten Messzeitpunktes, also von 2016, einbezogen. Getestet wurden als abhängige Variablen die ablehnende Einstellung zum selbstgesteuerten Schriftspracherwerb und der ablehnende Umgang mit einem Kind, das im Kindergarten phonetisch schreibt. Als unabhängige Variablen gingen die Jahre der Berufstätigkeit, die Zusammenarbeit mit der Schule, die Unsicherheit gegenüber der Schule, die Unsicherheit bezüglich der Sprach- und Schriftsprachentwicklung von Kindern, ein instruierendes Lernkonzept und ein konstruktivistisches Lernkonzept ein. Die Voraussetzungsanalyse für die Regression ergab keine Auffälligkeiten.
Die in Tab. 4 abgebildete Regressionsanalyse zeigt als signifikanten Prädiktor der Ablehnung des selbstgesteuerten Schriftspracherwerbs wie schon 2006 die Unsicherheit gegenüber der Schule. Wenn die pädagogischen Fachkräfte unsicher sind, wie kognitive Aktivitäten im Kindergarten von der Schule wahrgenommen werden, lehnen sie phonetisches Schreiben im Kindergarten häufiger ab. Ein konstruktivistisches Lernkonzept hingegen wirkt positiv, denn konstruktivistisch eingestellte Fachkräfte lehnen den selbstgesteuerten Schriftspracherwerb seltener ab. Noch deutlicher werden die Einflüsse bezogen auf das Fallbeispiel eines Kindes, das im Kindergarten phonetisch schreibt. Hier zeigt sich bei 27 % Varianzaufklärung, dass ein konstruktivistisches Lernkonzept dazu beiträgt, dass die pädagogische Fachkraft das Kind unterstützt. Ein instruierendes Lernkonzept und Unsicherheit gegenüber der Schule hingegen hängen mit einer ablehnenden Haltung gegenüber der Tätigkeit zusammen.
Tab. 4 Beta-Gewichte der verschiedenen Einflussvariablen Die Auswertung der offenen Frage des Fragebogens liefert hier mögliche Erklärungen. In Tab. 5 sieht man die Übersicht der häufigsten Kodierungen in absteigender Reihenfolge der Nennungen.
Tab. 5 Kodierungen der offenen Fragen In den offenen Antworten bestätigen sich sowohl die Ergebnisse der eingangs geschilderten Forschungsbefunde als auch der quantitativen Studie. Die Fachkräfte setzen v. a. auf spielerisches Lernen, auf Selbsttätigkeit und Ganzheitlichkeit. Die phonologische Bewusstheit ist ein wichtiger Aspekt, deren Bedeutung in der Wahrnehmung der Fachkräfte sogar gestiegen ist. Programme wie „Hören, Lauschen, Lernen“ (Küspert und Schneider 1999) sind im Kindergarten etabliert und werden größtenteils positiv gesehen.
Fertigkeiten, die sich den schulischen Anforderungen nähern, also v. a. konkretes Lesen und Schreiben, werden eher abgelehnt. Als typische Aussage kann dieses Zitat gelten, in dem die Grenzziehung deutlich wird: „Wenn im Kindergarten Reimen usw. spielerisch geübt wird, merke ich, dass sich die Kinder dann in der Schule ein wenig leichter tun. Aber das Lesen- und Schreibenlernen gehört in die Schule, wir üben zwar mit den Kindern ein wenig Zahlen und Buchstaben, aber das ist Aufgabe der Schule (UDONA)“. Die einzigen zustimmenden Stimmen zu frühem Schriftspracherwerb kamen von vier pädagogischen Fachkräften, die alle vier zur Begründung die Montessori-Pädagogik herangezogen haben, wie etwa diese Fachkraft: „Durch das Montessori-Diplom habe ich einen anderen Einblick erworben. Durch das Arbeiten mit dem Sprach-Material lernen Kinder (spielerisch) das Lesen und Schreiben bereits im Kiga schon, und wollen immer mehr lernen (RI19IA)“. Außer diesen vier Personen finden sich in der qualitativen Stichprobe ausschließlich ablehnende Stimmen zu vorschulischem Schriftspracherwerb.
Die Zusammenarbeit mit der Grundschule wird hierbei mehr positiv als negativ gesehen, wenn auch immer noch das Problem besteht, dass die Fachkräfte nicht wissen, wie sich ihre Kinder nach dem Kindergarten entwickeln.
Nennungen zur Förderung von Kindern mit Schwierigkeiten finden sich kaum. Wenn Schwierigkeiten angesprochen werden, dann oft ohne Konsequenz für die eigene Arbeit, wie z. B. hier: „Im Laufe der letzten Jahre konnte ich feststellen, dass Kinder immer öfter ‚schlampig‘ sprechen, weil die Konversation zu Hause oft zu kurz kommt, z. B. Zeitmangel, Migrationshintergrund, falsche Vorbilder (ND07SA)“. Förderung wird am ehesten im Sinne alltagsintegrierter Unterstützung umgesetzt. „Da es immer mehr Kinder gibt, die Auffälligkeiten im Spracherwerb zeigen, legt man verstärkt Wert darauf, mit den Kindern Fingerspiele, Reime, Flüsterspiele, Silben-Klatsch-Spiele in den Alltag einzubauen (UB31UD)“. Die alltagsintegrierte Förderung wird auch als Gegenentwurf zu vorgegebenen Förderprogrammen verstanden, um „Lernen in alltäglichen Situationen zu nützen, keine Programme (AN18TE)“.
Hier zeigt sich mitunter auch eine Ablehnung des phonetischen Schreibens, die weitgehend über das phonetische Schreiben in der Schule begründet wird. So schreibt eine Fachkraft: „Nicht durch meine Arbeit, aber durch meine ältere Tochter! Sie ist jetzt in der 4. Klasse u. hat quasi die ganze 1. Klasse mit Hilfe dieser Auslauttabelle [sic] schreiben dürfen wie sie wollte! Das zieht sich leider bis heute durch! Uns (auch als Erzieherinnen) wurde ja jahrelang erzählt, wie toll das ist u. ich fand es auch toll, bis meine Tochter eben in die Schule kam! Jetzt ist man ja Gott sei Dank davon wieder abgekommen, meine jüngere Tochter (2. Klasse) hat ‚Lernwörter‘, die sie zig mal schreibt, die tut sich viel leichter! (OS10NA)“.
Unter Berücksichtigung der vorliegenden Daten kann zusammenfassend Folgendes festgestellt werden: Die pädagogischen Orientierungen zum Schriftspracherwerb im Kindergarten beinhalten eine Sicht ganzheitlicher spielerischer Unterstützung der Kinder. Die phonologische Bewusstheit wird als wichtig erachtet. Bei Vorhandensein eines konstruktivistischen Lernkonzepts und Sicherheit gegenüber der Schule ist auch weniger Ablehnung gegenüber dem vom Kind selbst gesteuerten Schriftspracherwerb bereits im Kindergarten zu erkennen. Eine solche Haltung findet man z. B. bei Montessori-Pädagoginnen. Insgesamt wird selbstgesteuerter Schriftspracherwerb aber eher abgelehnt und zwar signifikant stärker als noch vor zehn Jahren.