In seinem Beitrag „Ungleiche Grundschulen und die meritokratische Fiktion im deutschen Schulsystem“ setzt sich Georg Breidenstein damit auseinander, dass Chancengleichheit an deutschen Grundschulen eine Fiktion ist und dass der Übergang auf die weiterführenden Schulen kaum mit dem meritokratischen Überbau unseres Schul- und Bildungssystems vereinbar ist. Der zentrale Punkt von Breidensteins Argumentation ist es, dass „die Verteilung von Schülerinnen und Schülern auf unterschiedlich aussichtsreiche Bildungsgänge im Sekundarbereich nur durch schulisch festgestellte und individuellen Kindern zugeschriebene Unterschiede im ‚Leistungsvermögen‘ gerechtfertigt werden“ kann. Dies kann nach ihm allerdings nicht geschehen, wenn Grundschulen sozial ungleiche Lern- und Entwicklungsbedingungen bieten. Dieser Beitrag soll keine Gegenposition zu Breidenstein einnehmen. Vielmehr werden Ergänzungen zu Breidenstein eingebracht, um einige seiner Argumente zu unterstreichen sowie um andere Aspekte in einen breiteren gesellschaftlichen Kontext zu setzen.

1 Soziale Ungleichheit an Grundschulen als Tabu-Thema deutscher Schulpolitik

Nach Breidenstein ist für „die Aufrechterhaltung der Behauptung einer meritokratisch legitimierten Verteilung auf unterschiedlich aussichtsreiche Bildungsgänge im Übergang zur Sekundarstufe […] die Fiktion einer egalitären Primarstufe unabdingbar“. Diese Fiktion stellt Teil des Gründungskontext von Grundschulen vor rund 100 Jahren dar und beinhaltet, dass die Grundschule als „Schule für alle Kinder“ die einzige nicht-selektive Schulform im deutschen Schulsystem ist. Als Ergänzung zu Breidenstein ist an dieser Stelle festzustellen, dass dies auch im Grundgesetz im Bezug auf private Ersatzschulen noch einmal unterstrichen wird. Nicht nur, dass beim Besuch von Privatschulen die „Sonderung der Schüler nach den Besitzverhältnissen der Eltern nicht gefördert“ werden darf (Art 7 Abs. 4 GG). Darüber hinaus sind „private Volksschulen [Grundschulen a. d. Verf.] nur zuzulassen, wenn die Unterrichtsverwaltung ein besonderes pädagogisches Interesse anerkennt […]“ (Art 7 Abs. 5 GG). Beide Aspekte wurden in den letzten Jahren merkbar ausgehöhlt. So verteilen sich auf der einen Seite gerade im Grundschulbereich die Schülerinnen und Schüler besonders sozial ungleich zwischen privaten und öffentlichen Schulen (Helbig et al. 2017; Klemm et al. 2018). Auf der anderen Seite ist es gerade im Grundschulbereich zu einem besonders starken Anstieg privater Schulen, das Vierfache seit 1992, gekommen, was nur zu einem Teil durch Nachholeffekte in den ostdeutschen Bundesländern erklärt werden kann. Beide Entwicklungen stellen die Grundschule als Schule für alle Kinder in Frage.

Aber auch noch eine weitere bildungspolitische Veränderung hat Grundschulen zumindest semantisch ebenfalls ungleicher gemacht: Die zunehmende Profilierung von Schulen. Vielleicht mag es für die interne Schulentwicklung gut sein, dass sich Schulen ein unterschiedliches pädagogisches Profil geben. Nach außen suggeriert die zunehmende unterschiedliche Profilierung von Schulen eine Unterschiedlichkeit, die gegen „eine Schule für alle Schüler und Schülerinnen“ spricht. Gerade im öffentlichen Grundschulbereich ist eine Schulprofilbildung, die zu einer „Schulvielfalt“ und zu einer Passung unterschiedlicher Schulprofile zu unterschiedlichen Elternwünschen passt, wiedersinnig. Besonders im Grundschulbereich setzt die überwiegende Mehrzahl von Kreisen auf feste Einzugsgebiete von Grundschulen. Kinder sollen möglichst die Grundschule besuchen, die in der jeweiligen Nachbarschaft liegt. Im Gegensatz zum ländlichen Raum wird es gerade in größeren Städten legitim aufgrund eines besonderen Schulprofils nicht die Schule im Einzugsgebiet zu wählen.

2 Soziale Ungleichheit durch sozial ungleiche Grundschulen

Breidenstein formuliert es als eines der größten Probleme für die meritokratische Verfasstheit von Grundschulen, dass sich Schulen zusehends sozial ungleich zusammensetzen. Er fasst dabei sehr gut die aktuellen Entwicklungen zusammen, die zu einer sozialen Ungleichverteilung in Grundschulen führen (Wohnsegregation, Privatschulen, Gastschulanträge und Umzüge von Eltern) und schlussendlich auch mit sehr unterschiedlichen Lernvoraussetzungen in den jeweiligen Schulen einhergehen. Ergänzend sei z. B. auf die Schuleingangsuntersuchung aus Berlin verwiesen: Während in einigen „Prognoseräumen“ Berlins 40 bis über 50 % alle Kinder bei der Schuleingangsuntersuchung Sprachdefizite aufwiesen, trifft dies in anderen „Prognoseräumen“ nur auf 8 % der Kinder zu (Bettge und Oberwöhrmann 2018). Dass der Unterricht in den unterschiedlichen Grundschulen Berlins allein deshalb unterschiedlich effektiv sein kann, liegt auf der Hand.

Breidenstein führt dazu aus, dass „es Ungleichheit im Primarbereich […] nicht geben darf“, weil es keine Möglichkeit der Legitimation dieser gibt. Er geht zum einen davon aus, dass Grundschulen immer weniger in der Lage sind Ausgangsdifferenzen auszugleichen. Zum anderen argumentiert er, dass die soziale Ungleichheit durch die soziale Ungleichverteilung in den Grundschulen als „Kontexteffekt“ dazu beiträgt, dass sich Ausgangsdifferenzen weiter verstärken. Wie er richtig bemerkt, gibt es dazu in Deutschland wenig empirische Evidenz, vielleicht auch, weil die soziale (Re‑) Produktion von Ungleichheit an Grundschulen ein Tabu darstellt. Gerade im Lichte amerikanischen Forschung (Chetty 2019) ist wohl eher davon auszugehen, dass Armutsballung in einigen Quartieren und Schulen und soziale Segregation von Städten auch in Deutschland dazu führen, dass Grundschulen einen Teil dazu beitragen soziale Ungleichheiten zu (re-)produzieren.

Daraus aber im Zusammenhang mit dem Übergang auf die Sekundarschulen zu schließen, dass die soziale Ungleichverteilung von Schülerinnen und Schülern auf den Grundschulen dem meritokratischen Prinzip widersprechen, ist aus meiner Sicht nicht zutreffend. Man kann zwar argumentieren, dass sich durch „Kontexteffekte“ aus der Zuteilung auf unterschiedliche Grundschulen Probleme für die meritokratische Verfasstheit ergeben. Wenn man jedoch so argumentiert, dann sollten sich diese Probleme aber bereits aus der unterschiedlichen „Zuteilung“ auf unterschiedliche familiäre Kontexte ergeben, nicht erst aus der sozial ungleichen Zuteilung auf Grundschulen. Den Einfluss, den die Herkunftsfamilie auf Leistungsvermögen und Leistungsniveau hat, ist nach allem, was wir (auch aus anderen Ländern) wissen, sehr viel größer als die Kontexteffekte von Grundschulen.

3 Soziale Ungleichheit durch sozial ungleiche Familien

Mütter von Kindern aus unteren Sozialschichten haben deutlich häufiger während der Schwangerschaft geraucht. Dies kann sich bereits im Mutterleib sozial ungleich auf die kognitiven Fähigkeiten der Kinder auswirken. Kinder aus unteren Schichten weisen eine deutlich schlechtere Ernährung auf (weniger Obst, mehr zuckerhaltige Getränke). Laut KIGGS-Studie des RKI nehmen nur 53 % aller Kinder und Jugendlichen aus unteren Sozialschichten täglich ein Frühstück zu sich, während dies 80 % aller Kinder und Jugendlichen aus oberen Sozialschichten tun (Kuntz et al. 2018; RKI 2015). Kinder aus unteren Sozialschichten besuchen darüber hinaus seltener und später eine Kindertageseinrichtung. Eltern mit niedriger Bildung lesen ihren Kindern (im Alter von 2 bis 8 Jahren) zu gut 50 % höchstens einmal in der Woche etwas vor. Bei Eltern mit hoher Bildung trifft dies nur auf 21 % zu. Eltern, die häufig vorlesen wiederrum beschränken ihre Aktivitäten nicht nur auf das Vorlesen. Sie erzählen ihren Kindern auch viel häufiger ein Märchen ohne Buch, erfinden eine Geschichte frei oder erzählen Geschichten zu Bilderbüchern (Stiftung Lesen 2019). Gerade auch während der Corona-Krise gehen alle Bildungswissenschaftler, die sich dazu äußern, davon aus, dass Eltern aus höheren Sozialschichten ihre Kinder besser bei schulischen Aufgaben unterstützen können. Dafür, dass das familiäre soziale Umfeld maßgeblich beeinflusst, wie hoch die schulischen Kompetenzen eines Kindes sind und wie es mit den Anforderungen von Schule zurechtkommt (welche Noten es bekommt), gibt es eine Vielzahl von Belegen. Die sozialen Ungleichheiten im Hinblick auf schulische Kompetenzen sind so auch am Beginn der Grundschule bereits so groß wie an ihrem Ende (Downey und Condron 2016; Skopek und Passaretta 2018). Die Grundschule konnte diese sozialen Ungleichheiten z. B. in Bezug auf den späteren Gymnasialübergang noch nie ausgleichen und verschärfte sie durch sozial ungleiche Notengebung sogar noch. Dennoch kann man die Studien von Downey und Condron (2016) als auch von Skopek und Passaretta (2018) auch so lesen, dass es die Grundschulen schaffen, dass sich die sozialen Ungleichheiten bei den schulischen Kompetenzen nicht vergrößern, sondern zumindest stabil bleiben. Da das soziale Umfeld der Kinder sich natürlich auch während der Grundschulzeit ungleichheitsverstärkend auswirkt, ist also eher von einem ungleichheitsverringernden Effekt durch die Grundschulen auszugehen. Ob dieser Effekt in Grundschulen mit stark sozial belasteter Schülerschaft geringer ausfällt, ist anzunehmen, aber in Deutschland nicht empirisch nachgewiesen.

Wenn man, wie Breidenstein das Konzept der Meritokratie auf die Grundschulen anwendet und kritisiert, dass die Grundschulen für den Übergang auf die weiterführenden keine gleichen Startbedingungen bieten, dann müsste man dies ebenso auf die familiären Verhältnisse übertragen. Demnach kann der Übergang auf die weiterführenden Schulen gar nicht leistungsgerecht sein, da die Schüler bereits mit ihrer Geburt mit unterschiedlichen Lernumwelten konfrontiert sind, die ihr Leistungsvermögen nachhaltig beeinflussen. Schlussendlich führen die sozialen Ungleichheiten in der Familie dazu, dass nicht Begabung und Anstrengung bzw. Fleiß entscheiden, wer erfolgreich durch das Bildungssystem geht, sondern wer höhere kulturelle, soziale und ökonomische Ressourcen im Elternhaus hat. Was sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten geändert hat, ist, dass diese familiären Unterschiede immer stärker zu Tage treten. Wie Breidenstein am Beispiel Halle (Saale) ausführt, unterscheiden sich die Übergangsquoten einzelner Grundschulen auf das Gymnasium zwischen 13 und 85 %. Ähnlich ausgeprägte Unterschiede finden sich in Bezug auf verschiedene Stadtteile auch für viele andere Städte, wie z. B. in Weimar (Helbig et al. 2020, S. 234) oder Erfurt (Fischer et al. 2016, S. 59). Anders als von Breidenstein vielleicht impliziert sind für diese Ungleichheiten in erster Linie nicht die Grundschulen als Kontexte des Lernens verantwortlich, sondern eine immer sozial homogenere Zusammensetzung der Schülerschaften in Grundschulen und Stadtteilen – also die Komposition von Schulen. Die referierten Unterschiede kommen dadurch zu Stande, dass sich auf der einen Seite an manchen Grundschulen weit mehr als 50 % Schüler und Schülerinnen aus armen Familien ballen, wohingegen sie in anderen Schulen abwesend sind.

4 Ist die Schule die richtige Arena zur Bekämpfung sozialer Ungleichheiten?

Man kann Breidenstein nur Recht geben, dass der Bereich der Grundschulen bei der (Re‑)Produktion sozialer Ungleichheiten von der empirischen Bildungsforschung bisher weitgehend außen vorgelassen wurde, wenn man einmal von den Übergangsprozessen auf die weiterführenden Schulen absieht. Dies gilt sowohl für die Frage, in welchem Ausmaß sozial ungleich zusammengesetzte Grundschulen auch zu ungleichen Bildungsergebnissen führen. Es gilt auch für die Frage, inwieweit die zusehends sozial privilegierten privaten Grundschulen zu besseren schulischen Ergebnissen führen und ob, darüber hinaus vielleicht sogar öffentliche Grundschulen in einigen Sozialräumen darunter leiden, dass ihnen Schülerinnen und Schüler aus besser situierten Familien an private Schulen entzogen werden. Hier gibt es für die nächsten Jahre Forschungsbedarfe für die empirische Bildungsforschung, die vielleicht auch deshalb nicht geschlossen wurden, da Ungleichheit im Primarbereich weitgehend tabuisiert wird. Ich stimme Breidenstein auch explizit zu, dass gerade der pädagogisch dominante Heterogenitätsdiskurs blind ist gegenüber den skizzierten systemischen sozialen Ungleichheiten und deshalb die eigene Rolle bei der (Re‑)Produktion sozialer Ungleichheiten verkennt.

Die Fokussierung auf das, was Grundschulen leisten können, um soziale Ungleichheiten abzumildern, verkennt aber die eigentlichen Treiber von sozial ungleichen Grundschulen. Die Wohnungsbaupolitik der letzten Jahrzehnte, die Sozialgesetzgebung im Hinblick auf die Verteilung von Wohnraum an arme Familien (Stichwort: Kosten der Unterkunft) und der Anstieg ökonomischer Ungleichheiten in den letzten Jahren hat erst dazu geführt, dass Wohngegenden und Grundschulen sozial ungleicher geworden sind (Helbig und Jähnen 2018). Dies wurde in den letzten Jahren weiter durch sozial selektive Zuwanderungsprozesse in unsere Städte weiter verstärkt (Helbig und Jähnen 2019; Jeworutzki und Schräpler 2020). Dass gerade die sozial benachteiligten Grundschulen auf Quereinsteiger setzen müssen und mehr Ausfallstunden verzeichnen (Helbig und Nikolai 2019) ist genauso wie der zunehmende Run auf die privaten Grundschulen im städtischen Raum, um sozial benachteiligten Grundschulen aus dem Weg zu gehen, eine Folge dieser Entwicklungen. Sicherlich kann Grundschule mehr tun, um diesen Ungleichheiten entgegenzuwirken. Von Grundschule im Speziellen und Schule im Allgemeinen aber zu verlangen, dass sie soziale Ungleichheiten der Herkunftsfamilien in einer sozial ungleichen Gesellschaft ausgleichen soll, kann nur schwerlich gelingen. Folgt man Downey und Condron (2016, S. 217 f.) ist die starke Betonung von Schulen zur Nivellierung von Ungleichheit im Vergleich zu Veränderungen in anderen Institutionen auf einen anderen Zweck zurückzuführen: Sie lenkt die Menschen von den wirklichen Quellen der Ungleichheit ab und dient damit den Interessen derjenigen, die von den gegenwärtigen sozialen Arrangements profitieren. In Anlehnung an Spring (2013, S. 14; zitiert in Downey und Condron (2016)) sind schulbasierte Reformen von Natur aus konservativ, weil sie den zentraleren Konflikt zwischen den Interessen der Arbeiterschaft und den Interessen der Kapitalisten vermeiden: Ein Grund dafür, dass sich die Schule mit so vielen sozialen Problemen befasst, ist, dass sie die verfügbarste Institution ist und diejenige, die am wenigsten andere Teile des Sozialsystems beeinträchtigt. Wenn dem so ist, dann bietet die Schulpolitik eine Arena, in der die Energien der Reformer „abgekühlt“ werden können, ohne dass die Chance besteht, bestehende Machtstrukturen zu untergraben (Downey und Condron 2016, S. 218). Das deutsche Schulsystem mit seiner extrem frühen und sozial sehr ungleichen Trennung in unterschiedlich aussichtsreiche Bildungsgänge ist der beste Beleg für diese Ausführungen.

5 Abschließende Bemerkung

Der Diskussionsbeitrag von Breidenstein ist extrem wichtig, um auf die steigende soziale Ungleichheit an unseren Grundschulen hinzuweisen und damit auch an einem Tabu der Grundschulpädagogik zu rütteln. Er greift aber insoweit zu kurz, dass er allein den Grundschulen die Aufgabe zuspricht diesen Ungleichheiten zu begegnen. An den wirklichen Quellen von Ungleichheit rüttelt dies nicht und wird auch nicht dazu führen, dass Schule sozial gleicher oder gar gerechter wird. Solange die Lebenswirklichkeit von Kindern unterschiedlicher sozialer Lage so ungleich ist, wie oben skizziert, solange wird Bildungserfolg nur scheinbar meritokratisch erfolgen – ob nun in den Grundschulen, am Übergang auf die weiterführenden Schulen oder noch später im Bildungsverlauf.