Dieser Beitrag gibt einen Überblick darüber, wie und mit Hilfe welcher Kriterien eine medizinisch, ethisch und rechtlich vertretbare Entscheidung darüber getroffen werden kann, welche der betagten Patienten mit einer schweren COVID-19-Pneumonie mittels künstlicher Beatmung behandelt werden sollten und welche von einer solchen Therapie eher nicht profitieren würden.

Wie schwer muss ein Notstand wiegen, um Menschen das Recht zu gewähren, über den Wert des Lebens zu entscheiden? Recht und Rechtsprechung bestimmen eindeutig, dass dies niemals geschehen darf. Kein Notstand kann die Entscheidung rechtfertigen, ein Leben sei mehr oder weniger wert als ein anderes. Dies gilt unabhängig von den Kriterien, auf denen die Entscheidung beruht.

Es ist nicht zulässig, das Leben eines Arztes höher zu bewerten als das Leben eines Mechanikers, nur weil der Arzt noch viele Leben retten könnte. Auch darf nicht entschieden werden, dass das Leben eines Kindes schwerer wiegt als das eines Menschen, der sein Leben bereits gelebt hat. Leben darf nicht gegen Leben abgewogen werden [1].

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Schwere COVID-19-Infektion: Wen beatmen und wen nicht?

Mehrere notfall- und intensivmedizinische Fachgesellschaften haben zu dieser fundamentalen Frage bereits Position bezogen und in ihren Empfehlungen klargestellt, dass eine einfache Begrenzung intensivmedizinischer Leistungen allein aufgrund des kalendarischen Alters eines COVID-19-Patienten nicht akzeptabel ist [2].

Und dennoch prognostizieren die Statistiken, dass bei einem sprunghaften Anstieg der COVID-19-Fallzahlen damit zu rechnen ist, dass die apparativen und personellen Ressourcen nicht ausreichen werden, um jeden schwer erkrankten Patienten invasiv zu beatmen. Wenn nicht nach dem Lebensalter, nach welchen Kriterien soll ein Arzt dann urteilen? Die Antwort ist, dass allein die medizinischen Kriterien die Behandlung vorgeben. Es geht nicht darum, Leben zu bewerten, sondern Indikationen.

Was können Geriatrie und Palliativmedizin zur Beantwortung dieser Fragen beitragen?

Die Voraussetzungen für ein rechtmäßiges ärztliches Handeln sind, dass

  1. 1.

    eine medizinische Indikation für den Eingriff bzw. die Maßnahme vorliegt,

  2. 2.

    der Patient über die Maßnahme aufgeklärt wurde,

  3. 3.

    er seine Einwilligung erteilt hat und

  4. 4.

    die Maßnahme ärztlicherseits lege artis durchgeführt wird.

Die Indikation ist die erste der zu treffenden Entscheidungen. Sie liegt in dem alleinigen Hoheitsbereich des Arztes. Er bestimmt auf der Grundlage der gesundheitlichen Situation des Patienten, des bisherigen Krankheitsverlaufs, der Behandlungsmöglichkeiten und der bestehenden Prognose darüber, ob eine Maßnahme medizinisch indiziert ist oder nicht. Prognostisch muss der Eingriff eine Besserung beim Kranken erwarten oder jedenfalls erhoffen lassen (sogenannter Benefit). Dabei gibt es verschiedene Definitionen der Indikation nach Dringlichkeit, Zielsetzung und Ursache, und in einem Patientenfall gibt es häufig mehr als nur eine vertretbare Meinung. Dieses eigene Ermessen gesteht das Recht dem Arzt auch zu.

Vorerkrankungen und Funktionszustand berücksichtigen

Die medizinische Indikation zur künstlichen Beatmung ist bei Hochaltrigen nicht automatisch gegeben. Vorerkrankungen und ein bereits stark eingeschränkter Funktionszustand reduzieren die Wahrscheinlichkeit eines Behandlungserfolgs (Benefits). Über das Vorliegen einer Behandlungsindikation muss daher individuell und unter Zuhilfenahme geeigneter Kriterien entschieden werden. Neben der Clinical Frailty Scale [3 ,4, 5, 6] sind in Tab. 1 weitere Entscheidungshilfen aufgeführt [7].

Tab. 1: 10 Kriterien, die für eine palliative Behandlungsstrategie sprechen (in Anlehnung an [7])

Liegt eine Patientenverfügung vor?

Bejaht der behandelnde Arzt die Indikation zur künstlichen Beatmung, muss der Patient darin einwilligen. Im Falle einer Ablehnung ist dies für den Arzt bindend. Dabei zählt die früher in einer Patientenverfügung festgelegte Ablehnung des mittlerweile schwer Demenzkranken genauso viel wie die aktuell erklärte des einwilligungsfähigen und aufgeklärten Patienten. Bei einem einwilligungsunfähigen Kranken ohne konkrete Patientenverfügung entscheidet der mutmaßliche Wille des Patienten. ("Würde der Patient eine invasive Beatmung wollen, wenn wir ihn fragen könnten?")

Die künstliche Beatmung nach den Regeln der ärztlichen Kunst, der dritte Schritt, dürfte in Deutschland kein Problem darstellen. Wohl aber könnte die Verfügbarkeit der erforderlichen Ressourcen zum Problem werden, wenn die Erkrankungsfälle zu rasch zunehmen.

Da bei einem Massenanfall von Patienten mit drohendem Lungenversagen die Zeit drängt, wäre das Vorhandensein einer Patientenverfügung in Kurzfassung und speziell fokussiert auf COVID-19 hilfreich. Schon vor dem Eintreten des Notfalls sollten sich daher Ärzte, die multimorbide oder betagte Patienten betreuen, für jeden einzelnen Patienten die Frage stellen, welche Behandlungsmaßnahmen im Falle einer COVID-19-Erkrankung 1. medizinisch indiziert und 2. vom Willen des Patienten getragen wären.

Strukturiertes Vorgehen bei der Entscheidungsfindung (Abb. 2)

Schritt 1: Die Entscheidung des Arztes - die medizinische Indikation

Welcher Patient hat ein hohes Risiko, nicht von einer intensivmedizinischen Behandlung zu profitieren?

Zunächst sollte der Patient anhand der Clinical Frailty Scale ([3] und Abb. 1) in eine der neun Gebrechlichkeitskategorien eingeteilt werden (von "überdurchschnittlich fit, robust und voller Energie" bis "komplett von Unterstützung abhängig" und "terminal krank mit einer geschätzten Lebenserwartung < 6 Monaten").

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: Clinical Frailty Scale (Deutsche Übersetzung)

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: Entscheidungsdiagramm

Als nächste Entscheidungshilfe empfehlen wir die sogenannte "Wären-Sie-überrascht-Frage": "Wären Sie überrascht, wenn Ihr Patient in den nächsten sechs bis zwölf Monaten versterben würde?" Wenn ein Arztes, der den Patienten länger kennt, dies verneint, ist das ein subjektiver, aber dennoch aussagekräftiger Hinweis. Liegt zusätzlich noch mindestens ein Kriterium aus Tab. 1 vor, empfiehlt sich eine primär palliative Behandlungsstrategie [7, 8, 9].

Bleiben dennoch Zweifel, empfiehlt sich ein erneuter Blick auf Tab. 1: Je mehr der dort aufgeführten Kriterien bei dem Patienten vorliegen, desto nachdrücklicher ist die Empfehlung für eine zurückhaltende, symptomlindernde und palliative Behandlungsstrategie ("best supportive care").

Die subjektive Einschätzung eines Hausarztes, der seinen Patienten länger kennt, hat einen hohen Stellenwert bei der Entscheidung für oder gegen eine Intensivbehandlung.

Schritt 2: Die Entscheidung des Patienten - was ist sein Wille?

Liegt eine medizinische Indikation zu intensivmedizinischen Behandlungsmaßnahmen vor, muss der Patient darin einwilligen. Der einwilligungsfähige Patient wird über den Verlauf, den Nutzen und die Risiken der indizierten Behandlung aufgeklärt und entscheidet dann selbst. Ist der Patient nicht in der Lage, die Bedeutung und Tragweite einer solchen Entscheidung einzuschätzen - ist also nicht einwilligungsfähig -, kommt sein vorausverfügter Wille (Patientenverfügung) oder sein mutmaßlicher Wille zum Tragen.

Schwere Verläufe von COVID-19 treten besonders bei multimorbiden und hochbetagten Menschen auf. Das aber ist die Personengruppe, die häufig in ihren Patientenverfügungen invasive intensivmedizinische Maßnahmen für sich bereits ausgeschlossen hat.

Hier gilt es, heute schon im Hinblick auf eine vorhersehbare Notfallsituation in der Patientenverfügung nachzulesen, ob der Patient einer invasiven Beatmung oder einer Reanimation überhaupt zustimmen würde. Wenn möglich, sollte die bereits bestehende Patientenverfügung mit dem Patienten selbst besprochen werden. Ergeben sich daraus konkrete Behandlungswünsche in Bezug auf eine mögliche COVID-19-Infektion, können diese als Ergänzung zu der allgemeinen Patientenverfügung in dem Notfallplan (Abb. 3) erklärt werden. So liegt eine klare und schnell zu überblickende Handlungsanweisung auch für die im Rettungsdienst bzw. Notdienst hinzugerufenen Kollegen vor. Beatmungssituationen, die weder medizinisch indiziert noch vom Willen des Patienten getragen sind, könnten auf diese Weise im Sinne aller vermieden werden.

Abb. 3
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: Notfallplan für Extremsituationen

Kommt es dennoch durch eine unkontrollierbare Ausbreitung des Coronavirus zum Katastrophenfall und zu einer Überlastung der uns verfügbaren Ressourcen, dürfen diese ausschließlich auf der Grundlage medizinisch begründbarer Kriterien verteilt werden. Dafür ist es wichtig, heute schon vorauszudenken, um unüberlegtem Handeln und von Angst und Unwissen geprägten Entscheidungen zuvorzukommen.

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Der Patient muss eigenhändig unterschreiben.

Im Sinne einer geteilten Entscheidungsfindung beruht der von uns beschriebene Weg auf der Zusammenarbeit von Klinikarzt und Hausarzt. Die Informationen des Hausarztes über den Vorzustand des Patienten und seine Einschätzung der Lage durch Beantwortung der "Wären-Sie-überrascht-Frage" sind wesentliche Bestandteile einer geriatrisch fundierten Therapieentscheidung.