Liebe Leser:innen,

zu den Grundthemen der Moralphilosophie gehört die Frage, was wir anderen schulden. Die Autor:innen der zahlreichen Beiträge im vorliegenden Heft diskutieren diese Frage mit Blick auf sehr unterschiedliche Beziehungen, in denen wir Menschen stehen. Sie untersuchen nicht nur, was wir anderen, bei und mit uns lebenden Menschen schulden, etwa im Verhältnis von Ärztin und Patientin, sondern sie fragen auch: Was schulden wir den Verstorbenen, etwa den Opfern von Menschheitsverbrechen? Und was sind wir der Umwelt und Natur schuldig?

In den eingereichten Fachaufsätzen wird dies aus geschichtsphilosophischer und theorievergleichender Perspektive getan. Natan Elgabsi (Turku) sucht nach einer ethisch verantwortungsvollen Historiographie menschlicher Verbrechen, etwa des Holocaust. In kritischer Auseinandersetzung mit Christopher Brownings einflussreichem Buch Ordinary Men von 1992 und der darin vertretenen These, wir müssten uns in die Täter einfühlen, um jenseits bloßer Dämonisierung zu verstehen, wie böses Handeln möglich sei, rückt er die Opfer ins Zentrum. Nur wenn wir mit ihnen in eine existenzielle Beziehung treten, indem wir verstehen, dass wir als über sie Sprechende ihr Nachleben bestimmen, könnten wir auf ethisch angemessene Weise von ihnen erzählen. Markus Rothhaar (Hagen/Heiligenkreuz) denkt über das Verhältnis von Deontologie und Konsequentialismus nach. Nach üblichem Verständnis haben wir es hier mit zwei unvereinbaren ethischen Positionen zu tun, da die Deontologie absolute Rechte und Pflichten annimmt und Abwägungen ausschließt, während der Konsequentialismus sie zulässt. Rothhaar rekonstruiert die hinter diesen Positionen liegenden moralischen Intuitionen, konstruiert einen neuen Zugang zur Beschreibung dieser beiden Positionen und des entscheidenden Konflikts zwischen ihnen und entwickelt schließlich ein Kriterium dafür, wann man Pflichten ggf. übertreten darf, um das moralisch Richtige zu tun. Entscheidend dafür ist die Art der damit verbundenen Güterabwägungen.

Im zweiten Teil unseres Schwerpunktes For Your Own Good? History, Concept, and Ethics of Paternalism stellt Birgit Beck (Berlin) in ihrem Beitrag einige begriffstheoretische Überlegungen an, während Anna Hirsch (München) einen Blick auf das so genannte Arzt-Patient-Verhältnis wirft. Die Gastherausgeber des Schwerpunktes, Michael Kühler (Karlsruhe) und Veselin Mitrović (Belgrad), stellen in ihrer Einleitung beide Texte ausführlicher vor.

Um die vielschichtigen Beziehungen des Menschen zur Natur geht es in einem zweiten Schwerpunkt. Er wird von Kira Meyer (Kiel) und Johannes Müller-Salo (Hannover) herausgegeben, die ihn unter folgende Leitfrage stellen: Are Individual Experiences and Emotions Sources of Normativity in Environmental and Climate Ethics? Der Frage liegt die These zugrunde, dass ein sinnvoller philosophischer Beitrag zur Lösung der ökologischen Krise unserer Zeit darin bestehen könnte, individuelle menschliche Naturerfahrungen und die sie begleitenden Gefühle zu reflektieren. In diesem Sinne verbinden die Beiträge umweltästhetische mit umweltethischen Debatten und lassen Perspektiven aus der Phänomenologie einfließen. In ihrer Einleitung gehen die Gastherausgeber:innen auf die vier extern begutachteten Fachaufsätze sowie die drei eingeladenen Essays näher ein.

Das zwölfte Heft der ZEMO enthält zudem eine Reihe von Buchrezensionen. Gerald Hofmann (Landshut) bespricht die Überlegungen von David Franz zu einer psychologisch informierten Ethik (Mentis 2021). Daniel Lucas (Zürich) wirft einen Blick auf Oliver Hallichs Auseinandersetzung mit dem Anti-Natalismus (Metzler 2022). Giulio Pennacchioni (Mailand) informiert über Axel Gosseries neueste Publikation zum Begriff der intergenerationellen Gerechtigkeit (Polity Press 2023). Und Florian Rieger (Augsburg) stellt Christian Kietzmanns handlungstheoretische Thesen vor (Karl Alber 2019).

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Wir schulden allen Autor:innen, Gastherausger:innen und Gutachter:innen unseren herzlichen Dank und wünschen viel Freude bei der Lektüre.

Das ZEMO-Herausgeberteam