Es handelt sich bei diesem Beitrag um einen Kommentar, den der Autor in Reaktion auf den Call for Papers der Unterrichtswissenschaft für das „Weiterdenkheft“ anlässlich des 50-jährigen Bestehens der Zeitschrift verfasst hat. Nach einer wissenschaftstheoretischen Verortung der Lehr-Lern-Forschung setzt sich der Autor entsprechend der Anregungen der Herausgeber*innen der Unterrichtswissenschaft vertiefend mit einem der Beiträge des Jubiläumshefts auseinander, nämlich dem Renkl’schen Beitrag zum Theoriedefizit in der Lehr-Lern-Forschung. Darüber hinaus bezieht der Autor Stellung zu den Leitfragen, welche die Herausgeber*innen im Call for Papers für das Verfassen von Kommentaren vorgeschlagen hatten. Bei dem nachfolgenden Text handelt sich somit weder um ein Positionsreferat noch ein systematisches Review, sondern vielmehr um einen Kommentar, der die persönlichen Auffassungen des Autors zum Ausdruck bringt, und mit dem der Autor zum Nachdenken und zur Diskussion über die aktuelle Lage und die Zukunftsperspektiven der Lehr-Lern-Forschung anregen möchte.

Die empirische Lehr-Lern-Forschung ist traditionell in unterschiedlichen Disziplinen verankert: Im deutschsprachigen Raum ist sie ein wichtiges Arbeitsgebiet der Pädagogischen Psychologie; in der deutschen Erziehungswissenschaft ist sie eine Subdisziplin neben anderen Subdisziplinen wie der Allgemeinen Pädagogik. In anderen europäischen Ländern und den USA ist sie nicht nur in der Pädagogischen Psychologie, sondern auch im Bereich Science Education (z. B. Osborne 2010), Medical Education (z. B. van Merriënboer und Kirschner 2018), in Teilen der Teacher Education (z. B. McDonald et al. 2013) ebenso wie in der amerikanischen (jedoch nicht europäischen) Cognitive Science (z. B. Chi et al. 1989; Koedinger et al. 2012) beheimatet. Nicht zuletzt verstehen sich zunehmend auch viele deutschsprachige Fachdidaktiker*innen als Lehr-Lern-Forscher*innen, die mit empirischen Methoden fachspezifische Lehr-Lern-Prozesse in den Blick nehmen (siehe z. B. Loibl und Leuders 2019). Die Lehr-Lern-Forschung ist also ein Fächergrenzen überschreitendes Forschungsfeld, dessen Transdisziplinarität ein wesentliches Bestimmungsmerkmal darstellt.

1 Diversität der forschungsmethodischen Zugänge

Die Verankerung in unterschiedlichen Disziplinen bzw. Forschungsbereichen erklärt auch ein zweites Charakteristikum der Lehr-Lern-Forschung, nämlich die Heterogenität der methodischen Zugänge. So werden in experimentellen Studien Formen instruktionaler Unterstützung systematisch variiert, um mittels Logfile-Analysen, der Analyse verbaler Daten oder Blickbewegungsmessungen Effekte auf Lernprozesse und Lernerfolg zu erfassen (z. B. Azevedo et al. 2013; Lachner und Nückles 2015; van Gog und Scheiter 2010). Large-Scale-Assessments werden eingesetzt, um mittels komplexer statistischer Verfahren die dimensionale Struktur des Professionswissens von Lehrkräften zu modellieren und anschließend dessen Einfluss auf die Qualität von Unterricht zu bestimmen (Baumert et al. 2010; Voss et al. 2014). Machine-Learning-Algorithmen werden trainiert, um anhand des beobachtbaren Verhaltens von Schüler*innen im Klassenunterricht den Ausprägungsgrad von Dimensionen der Unterrichtsqualität, wie etwa den Grad der kognitiven Aktivierung der Schüler*innen zu bestimmen (Goldberg et al. 2021). Phänomenografische Studien und Konversationsanalysen dienen dazu, anhand authentischer Dialogsequenzen die pragmatische Tiefenstruktur von Unterrichtsdialogen, z. B. die expliziten sowie impliziten Botschaften der Lehrperson und die Reaktionsweisen der Schüler*innen auf diese herauszuarbeiten (z. B. Gegenfurtner et al. 2019; Krummheuer und Naujok 2013). Computermodelle werden entwickelt, um Fertigkeitserwerbsprozesse von Lernenden in algorithmischen Domänen wie Mathematik zu analysieren und zu unterstützen (z. B. Aleven und Koedinger 2002). Natural-Language-Processing-Technologien werden zur Analyse dialogischer und monologischer Texte eingesetzt und bieten die Möglichkeit, Lernenden automatisiertes Feedback zur Optimierung ihrer Texte zu geben (z. B. Burkhart et al. 2021). Die Vielfalt und Diversität der forschungsmethodischen Zugänge in der Lehr-Lern-Forschung ist beträchtlich und sie haben alle auf europäischer Ebene ihren Platz unter dem Dach der European Association for Research on Learning and Instruction (EARLI) in deren 28 Special Interest Groups gefunden haben (vgl. https://www.earli.org/). Die Akzeptanz der Diversität der forschungsmethodischen Zugänge impliziert jedoch noch nicht, dass potenzielle Synergien zwischen den unterschiedlichen Zugängen in optimaler Weise ausgeschöpft würden. Dies werde ich am Ende dieses Kommentars an einem Beispiel erläutern.

2 Diversität der theoretischen Perspektiven

Nicht nur in Hinblick auf die forschungsmethodischen Zugänge, sondern auch in theoretischer Hinsicht hat die Lehr-Lern-Forschung in den vergangenen Jahrzehnten eine Entwicklung genommen hin zu einer Vielfalt an theoretischen Perspektiven, die das Forschungsfeld konstituieren. In Hinblick auf diese Perspektivität des Forschungsfeldes war für mich die Debatte um die kognitiv-konstruktivistische und die Situiertheitsperspektive in den 90er-Jahren des vorigen Jahrhunderts prägend, die in dem renommierten Journal Educational Researcher ausgetragen wurde. Als Ergebnis lässt sich festhalten, dass es unterschiedliche Perspektiven auf Lernen und Lehren gibt, die auf theoretischer Ebene in ihren Grundannahmen einander widersprechen können, letztlich aber komplementäre Sichtweisen bieten, die in der Praxis, etwa bei der Planung von Unterricht, einander in fruchtbarer Weise ergänzen (vgl. Nückles 2021; Nückles und Wittwer 2014).

Die kognitiv-konstruktivistische Perspektive hat ihren Ursprung in der Psychologie der Informationsverarbeitung (Atkinson und Shiffrin 1968; Newell und Simon 1972). Danach können die Lern- und Informationsverarbeitungsprozesse beim Menschen in grober Analogie zu den Funktionseinheiten eines Computers (z. B. Arbeitsspeicher ↔ Arbeitsgedächtnis, Festplatte ↔ Langzeitgedächtnis) aufgefasst werden. Bei genauerer Betrachtung lassen sich jedoch grundsätzliche Unterschiede zwischen der technischen und menschlichen Informationsverarbeitung ausmachen, wobei der fundamentalste zweifellos die Charakterisierung menschlichen Lernens als individuelle Wissenskonstruktion ist. Die konstruktivistische Auffassung von Informationsverarbeitung wurzelt in der konstruktivistischen Interpretation der Arbeiten Piagets, die in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts großen Einfluss auf die Entwicklungspsychologie und die Pädagogischen Psychologie nahm (vgl. Miller 2000; Watzlawick 1985).

Die Situiertheitsperspektive (oft auch soziokulturelle Perspektive genannt) hingegen entwickelte sich aus der Rezeption der kulturhistorischen Schule der russischen Psychologie (insbesondere der Schriften Lev Vygotskys) durch US-amerikanische Entwicklungs- und Pädagogische Psycholog*innen in den 80er-Jahren des vorigen Jahrhunderts sowie aus den ethnographischen Arbeiten der Soziologin und Anthropologin Jean Lave (vgl. Lave und Wenger 1991; Miller 2000). Während in der kognitiv-konstruktivistischen Perspektive Denken und Lernen als individuelle innerpsychische Prozesse beschrieben werden, betont die Situiertheitsperspektive die prinzipielle Gebundenheit aller psychischen Prozesse an den sozialen und materiellen Kontext. Lernen vollzieht sich in und durch Gemeinschaften als Enkulturation und zunehmend zentralere Teilhabe (Lave und Wenger 1991).

Die wissenschaftliche Debatte um die Gültigkeit dieser beiden Perspektiven in Hinblick auf ihre Konzeptualisierung von Lernen wurde damals im Educational Researcher kontrovers geführt. Umso bemerkenswerter erscheinen aus heutiger Sicht die Schlussfolgerungen, welche die israelische Mathematikdidaktikerin und Lehr-Lernforscherin Anna Sfard auf Grundlage einer wissenschaftstheoretischen Aufarbeitung der Debatte in ihrem viel zitierten Aufsatz „On two metaphors of learning and the dangers of choosing one“ (Sfard 1998) formuliert hat:

“As researchers, we seem to be doomed to living in a reality constructed from a variety of metaphors. We have to accept the fact that the metaphors we use while theorizing may be good enough to fit small areas, but none of them suffice to cover the entire field. In other words, we must learn to satisfy ourselves with only local sensemaking. A realistic thinker knows he or she has to give up the hope that the little patches of coherence will eventually combine into a consistent global theory. lt seems that the sooner we accept the thought that our work is bound to produce a patchwork of metaphors rather than a unified, homogeneous theory of learning, the better for us and for those whose lives are likely to be affected by our work” (Sfard 1998, S. 12).

Im Kern formuliert Anna Sfard hier ein postmodernes Verständnis wissenschaftlicher Theoriebildung, wie es auch in der Philosophie des französischen Poststrukturalismus zum Ausdruck kommt (vgl. z. B. Deleuze und Guattari 1977; Lyotard 1989 [1983]): Als Lehr-Lern-Forscher*innen sollten wir uns bescheiden und uns mit unseren kleinen Erfolgen in der Theoriebildung und deren Bestätigung durch empirische Evidenz zufrieden geben, denn es sei illusorisch anzunehmen, dass es irgendwann gelingen wird, die große, alle Phänomene erklärende und vereinheitlichende Theorie zu entwickeln. Lokale Theorien, die einzelne Phänomene erklären, und einander widersprechende theoretische Perspektiven sind also kein unbefriedigender, zu überwindender Zustand der Wissenschaft, sondern die Conditio Humaine unserer wissenschaftlichen Existenz. Bezogen auf den Dualismus zwischen kognitiv-konstruktivistischer Perspektive und Situiertheitsperspektive ist beispielsweise anzunehmen, dass sich die einander grundlegend widersprechenden theoretischen Annahmen (kognitiv-konstruktivistische Perspektive: Innerpsychische und äußere soziale Prozesse sind klar unterscheidbar versus Situiertheitsperspektive: Psychisches und Soziales gehen ineinander über, vgl. Nückles 2021; Nückles und Wittwer 2014) niemals im Rahmen einer übergeordneten Theorie widerspruchsfrei integrieren lassen – ähnlich wie das Leib-Seele-Problem in der Philosophie eine ewige Kluft und philosophische Herausforderung bleiben wird, die niemals gänzlich überwunden wird. Dies bedeutet jedoch nicht, dass es sinnlos wäre, darüber nachzudenken und empirisch zu erforschen, wie kognitiv-konstruktivistische Perspektive und Situiertheitsperspektive integriert werden können. Weinhuber et al. (2019) haben beispielsweise ausgehend vom kognitionspsychologischen Mindset-Begriff Gollwitzers (2012) sowie Lave und Wengers (1991) situiertheitstheoretischem Konzept der Community of Practice eine Theorie situationaler Kognitionen entwickelt, um zu erklären und experimentell zu zeigen, wie Lehrpersonen in Instruktionssituationen auf soziale Hinweisreize reagieren und dabei internalisierte Handlungsschemata aktivieren, die ihr instruktionales Handeln in diesen Situationen steuern, ohne dass es ihnen selbst bewusst und retrospektiv erkennbar wäre (vgl. Weinhuber et al. 2019). Die Arbeit ist ein gelungenes Beispiel dafür, wie theoretische Annahmen der kognitiv-konstruktivistischen und der Situiertheitsperspektive produktiv zueinander in Beziehung gesetzt werden können. Anna Sfards (1998) Plädoyer der wissenschaftlichen Bescheidenheit bedeutet also für die Lehr-Lern-Forschung nicht, dass die Bereitschaft zur Überwindung theoretischer Widersprüche sinnlos wäre, sondern lediglich, dass es unrealistisch sei, anzunehmen, dass der Prozess der theoretischen Forschungs- und Integrationsarbeit jemals an ein Ende gelangen könnte.

Die Anerkennung der Perspektivengebundenheit und des prinzipiellen Stückwerk-Charakters wissenschaftlicher Theorieentwicklung ist übrigens in den 90er-Jahren des vorigen Jahrhunderts als Ergebnis der Auseinandersetzung mit dem französischen Poststrukturalismus zum wissenschaftstheoretischen Selbstverständnis von Disziplinen wie der Soziologie, Philosophie und den Literaturwissenschaften geworden. Ich kann im Rahmen dieses Kommentars lediglich auf diese Entwicklungen verweisen. Wer sich für eine fundierte philosophische Theorie der Perspektivität von Erkenntnis interessiert, sei auf das Hauptwerk des französischen Philosophen Jean Lyotard, Der Widerstreit (fr. Le Différend 1989 [1983]) verwiesen.

Darüber hinaus weist Anna Sfard (1998) in ihrem Aufsatz auf die generative Kraft der Metaphern hin, die den Kern unserer theoretischen Perspektiven auf Lernen und Lehren bilden. Sie bezieht sich dabei auf kognitionswissenschaftliche und philosophische Arbeiten zur Metapherntheorie (Lakoff und Johnson 1980; Ortony 1993). So hat die metaphorische Konzeptualisierung von Denken und Lernen als Informationsverarbeitung eine große heuristische Wirkung entfaltet, die die kognitive Psychologie, die Kognitionswissenschaft und eben auch die Lehr-Lernforschung in ihrer Entwicklung und Forschungsleistung enorm vorangebracht hat. Ähnliches gilt für die Metapher von „Lernen als individuelle Wissenskonstruktion“: Theorien des generativen Lernens wie Richard Mayers Cognitive Theory of Multimedia Learning und John Swellers Cognitive Load Theory basieren auf der Annahme, dass Lernen die Konstruktion von Schemata bedeutet, welche dem Subjekt ermöglichen, die auf die Sinnesorgane einströmenden Daten mit Bedeutung zu versehen (vgl. Mayer und Moreno 2003; Nückles und Wittwer 2014; Sweller 2005). Die Vorstellung von Lernen als individuelle Wissenskonstruktion liegt darüber hinaus auch der Forschung über Lernstrategien und Ansätzen zur Förderung selbstregulierten Lernens zugrunde (z. B. Friedrich und Mandl 1997, 2006; Nückles et al. 2020).

Natürlich lassen sich neben der kognitiv-konstruktivistischen und der Situiertheitsperspektive weitere Perspektiven unterscheiden wie die behavioristische und die motivationale Perspektive. Die behavioristische Perspektive hat mit ihrer Konzeptualisierung von Lernen als Aufbau von Assoziationen und Verhaltensänderung in der Lehr-Lern-Forschung mittlerweile an Bedeutung verloren und ist vor allem noch in den Bereichen Klassenführung und pädagogische Verhaltensmodifikation von Relevanz (vgl. Thiel und Ophardt 2022). Die motivationale Perspektive ist durch ihre Konzeptualisierung von Lernen als Entwicklung des Selbst von grundlegender Bedeutung für ein umfassendes Verständnis von Lernen und pädagogischem Handeln. Die vielleicht fruchtbarste Ausarbeitung der motivationalen Perspektive ist meines Erachtens die Selbstbestimmungstheorie von Deci und Ryan (1993; 2012). Die Vorstellung der Entwicklung und Ausdifferenzierung des individuellen Selbst, welche durch die Internalisierung und Integration kultureller Werte und Verhaltensmuster auf Basis der Befriedigung psychologischer Grundbedürfnisse vorangetrieben wird, ist ein klassischer und für die Lehr-Lern-Forschung unverzichtbarer Topos, der seine Ursprünge in der Psychoanalyse und der humanistischen Psychologie hat. Die motivationale Perspektive steht nicht in Widerspruch zur kognitiv-konstruktivistischen und Situiertheitsperspektive, insofern die Konstruktion von Wissensschemata eben auch die Konstruktion eines kohärenten Selbstschemas impliziert, welches dem Individuum ermöglicht, sich als kompetent, autonom und sozial eingebunden zu erleben. Der Prozess der Internalisierung ist dabei nicht nur eine zentrale theoretische Annahme der motivationalen Perspektive, sondern er ist ebenso zentral für die Situiertheitsperspektive wie aus den Arbeiten Vygotskys hervorgeht (vgl. Vygotsky 1978; Nückles und Wittwer 2014; Renkl 2023).

Gibt es außer den genannten theoretischen Perspektiven noch weitere in der Lehr-Lern-Forschung? Mit Sicherheit können andere Lehr-Lern-Forscher*innen weitere Perspektiven nennen, denn zur Idee der Multiperspektivität des Forschungsfeldes gehört auch dessen prinzipielle Unabgeschlossenheit bzw. Offenheit – ähnlich wie der Erkenntnisprozess prinzipiell nie zu einem Ende kommt. Ist der Weinert’sche Kompetenzbegriff (vgl. Weinert 2001) eine weitere theoretische Perspektive? Der Kompetenzbegriff hat zweifellos die empirische Bildungsforschung der vergangenen 20 Jahre sehr inspiriert. Ist er deswegen eine eigenständige Perspektive? Ich würde sagen: nein, denn sein konzeptueller Gehalt wird meines Erachtens durch etablierte Fertigkeits- und Expertise-Erwerbsmodelle im Kontext der kognitiv-konstruktivistischen Perspektive gut abgedeckt (z. B. ACT‑R von Anderson, vgl. Renkl 2011; Theorie der Deliberate Practice, vgl. Ericsson 2006).

3 Wissen als Fokus der Perspektiven

Eine zentrale Annahme des Weinert’schen Kompetenzbegriffs ist die Idee, dass Wissen die Basis kompetenten, situationsangemessenen Handelns bildet. Wissen ist aus meiner Sicht die zentrale Kategorie der Lehr-Lern-Forschung (nicht etwa Intelligenz, Exekutivfunktionen oder Informal Reasoning), denn Wissen bildet den gemeinsamen Schnittpunkt der skizzierten theoretischen Perspektiven: Lernen ist individuelle Wissenskonstruktion in Bezug auf Sachverhalte und Handlungen (kognitiv-konstruktivistische Perspektive), Lernen ist Konstruktion eines kohärenten Selbstschemas (motivationale Perspektive), Lernen ist Wissen über die (impliziten) Regeln sozialer Praxen (Situiertheitsperspektive; z. B. Reusser und Stebler 1997). Insofern kann man sagen, dass die empirische Lehr-Lern-Forschung als die transdisziplinär verankerte, multiperspektivische Wissenschaft des individuellen Aufbaus von Wissensstrukturen verstanden werden kann.

4 Theoriedefizit und verpasste Chancen? Eine Auseinandersetzung mit dem Renkl’schen Beitrag zum Jubiläumsheft der Unterrichtswissenschaft

Grundsätzlich halte ich Alexander Renkls Diagnose eines Theoriedefizits in der Lehr-Lern-Forschung (vgl. Renkl 2023) für zutreffend. Sein Wunschzettel in Hinblick auf einen stärkeren Fokus auf Theorie (statt Empirie) und auf Theorieintegration gibt den Forschenden sinnvolle Anstöße für die Weiterentwicklung des Forschungsfelds. Zugleich fällt seine Bewertung jedoch zu negativ aus. Ich kann im Folgenden nicht auf all seine Thesen und Argumente eingehen, sondern werde einige herausgreifen. Es stimmt, es gibt unzählige Mini-Theorien zu spezifischen Phänomenen – aber die gab es schon immer: Als ich Ende der 80er-Jahre des vorigen Jahrhunderts Psychologie zu studieren begann, musste ich in Sozialpsychologie zwei Bände von Frey und Irle (1993) und in Differenzieller Psychologie das Lehrbuch von Amelang und Bartussek (1989) lesen. Ich wunderte mich über die große Zahl der in diesen Werken beschriebenen Minitheorien und aus heutiger Sicht kann die Neigung, sich in der Psychologie auf die Erklärung sehr spezifischer Phänomene zu konzentrieren, sicherlich als eine Ursache der Replikationskrise gesehen werden (vgl. Open Science Collaboration 2015). Minitheorien sind also kein Spezifikum der Lehr-Lern-Forschung. Es stimmt auch, dass es viele Theorie-Dubletten gibt; ich könnte die von Renkl genannten Beispiele problemlos um weitere ergänzen. Allerdings sind beide Phänomene lediglich für die Psychologie-nahe Lehr-Lern-Forschung typisch. Für die Lehr-Lern-Forschung, die stärker im Kontext der Erziehungswissenschaft oder der Cognitive Science verankert ist, kann ich diese Phänomene nicht ausmachen. Elaborierte Theoriebildung wird dort hoch bewertet, während die Empirie oft eher den Charakter von Fallstudien und anekdotischer Evidenz hat. Als Beispiel elaborierter Theoriebildung im Bereich Cognitive Science kann die Structure-Mapping Theorie von Gentner gelten (Falkenhainer et al. 1989; Gentner 1983), im Kontext der Erziehungswissenschaft und Bildungssoziologie die objektive Hermeneutik von Oevermann (2012, 2013) und im Schnittfeld von Cognitive Science und Sprachwissenschaft die Theorie des Common Ground von Clark (Clark 1996, 2021). Alle drei Theorien haben die Lehr-Lern-Forschung stark beeinflusst (Gentners Structure-Mapping Theory im Bereich des Lernens mit Analogien und Metaphern, vgl. Gentner und Maravilla 2018; Oevermanns objektive Hermeneutik im Bereich qualitative Unterrichtsforschung, vgl. Krummheuer und Naujok 2013; Clarks Theorie des Common Ground in den Bereichen computervermittelte Kommunikation, vgl. Bromme et al. 2005; und Experten-Laien-Kommunikation, vgl. Nückles et al. 2005, 2006).

Renkl hat auch Recht, dass manche Rahmentheorien eigentlich keine Theorien im eigentlichen Sinne sind (nämlich finite Mengen logisch konsistent, d. h. widerspruchsfrei, aufeinander bezogener Sätze, aus denen Folgerungen ableitbar sind, die sich empirisch überprüfen lassen), sondern lediglich eine Art Systematisierung eines Gegenstandsbereichs darstellen. Das Angebot-Nutzungs-Modell von Helmke (2010) oder auch das COACTIV-Kompetenzmodell von Baumert und Kunter (vgl. Kunter et al. 2011) sind genau solche Systematisierungen. Die Cognitive Load Theory von Sweller (vgl. Sweller et al. 2019) ist meines Erachtens jedoch mehr als eine Rahmentheorie, da sie in logisch-konsistenter Weise Annahmen über die Beanspruchung von Aufmerksamkeitsressourcen macht, aus denen sich Vorhersagen ableiten lassen, wie eine Lernaufgabe gestaltet sein muss, damit Lernziel-dienliche Prozesse der Wissenskonstruktion von den Lernenden realisiert können. Die Cognitive Load Theory hat sich darin bewährt, eine Vielzahl an spezifischen Phänomenen im Bereich des multimedialen Lernens erklären zu können (u. a. Split-Attention Effect, Modality Effect, Goal-Free Effect). Sie hat auch mir persönlich wichtige Anregungen zur Theoretisierung meines Ansatzes zum selbstregulierten Lernen durch Schreiben gegeben (z. B. das „Genre-Free Principle“, vgl. Nückles et al. 2020; in Analogie zu Swellers Goal-Free Effect, vgl. Sweller et al. 2011). Die Cognitive Load Theory hat sich insgesamt als eine heuristisch äußerst fruchtbare Theorie erwiesen und sie kann viele spezifische Phänomene überzeugend erklären. Der These Renkls „zwischen erklärungsmächtigen und bewährten Mini-Theorien und einen orientierenden Überblick gebenden Rahmentheorien klafft eine Lücke“ (vgl. Renkl 2023, S. 42) kann ich somit nur eingeschränkt beipflichten.

Schließlich möchte ich zu einem grundsätzlichen Punkt in dem Renkl’schen Aufsatz zum Theoriedefizit Stellung beziehen: Nach Anna Sfard führen unsere Erkenntnisbemühungen als Lehr-Lern-Forscher*innen nur zu einem Flickenteppich aus Metaphern statt zu einer einheitlichen, integrativen Theorie des Lernens (vgl. Sfard 1998, S. 12). In ähnlicher Weise schlugen Deleuze und Guattari (1977) in ihrem wissenschaftstheoretisch einflussreichen Aufsatz die Metapher des Rhizoms – ein polymorph wucherndes, nicht-hierarchisches Wurzelgeflecht – als poststrukturalistisches Modell der Wissensorganisation vor und als Alternative zur klassischen Baummetapher der Erkenntnis, wonach sich das von den Wissenschaftler*innen produzierte Wissen zu einer hierarchisch geordneten, logischen Struktur systematisieren lasse. Ich vermute, Renkl hat sich bei seiner Diagnose eines Theoriedefizits in der Lehr-Lern-Forschung implizit von der Baummetapher der Erkenntnis leiten lassen und diese als Bewertungsmaßstab für seine Zustandsdiagnose der Lehr-Lern-Forschung zugrunde gelegt. Das ist legitim und es resultieren daraus vielleicht auch produktive Anstöße für das Forschungsfeld. Andererseits halte ich seinen Bewertungsmaßstab für zu idealistisch. „Flickenteppich“ oder „Rhizom“ finde ich als Metaphern für die Ergebnisse unserer Bemühungen um wissenschaftliche Erkenntnis passender, denn sie implizieren ein wissenschaftliches Selbstverständnis, das von Bescheidenheit hinsichtlich der eigenen theoretischen und forschungsmethodischen Prämissen und des damit Erreichbaren, sowie von Pluralität und Offenheit gekennzeichnet ist.

5 Wie kann unsere Forschung helfen, zu verstehen, wie Lehren und Lernen in formellen und informellen Settings abläuft und welche Wirkungen damit verbunden sind?

Die oben skizzierte Vielfalt der forschungsmethodischen Zugänge, die Vielfalt der theoretischen Perspektiven und der gemeinsame Fokus auf Wissen bilden die wesentlichen Ressourcen, die unsere Forschung befähigen, Lehren und Lernen in formellen und informellen Settings zu verstehen. Ich habe diese Ressourcen auch in meiner langjährigen Tätigkeit als Dozent in der Hochschuldidaktik, der Ausbildung von angehenden Lehrkräften und der Ausbildung angehender Instructional Designer sehr geschätzt und sie bestärkten mich in der Überzeugung, die dass ich Lehrenden in formellen und informellen Settings vielfältige Denkwerkzeuge und Handlungsmöglichkeiten an die Hand geben kann, die ihnen helfen werden, ihre beruflichen Anforderungen erfolgreich zu meistern. Dass uns in der Lehr-Lern-Forschung eine einheitliche, integrative Theorie fehlt und wir stattdessen (nur) über Perspektivenvielfalt verfügen, habe ich zumindest in unterrichtspraktischer Hinsicht nie als Mangel empfunden. Im Gegenteil, reflektierte Unterrichtspraxis zeichnet sich aus meiner Sicht wesentlich durch die Fähigkeit aus, Situationen des Lehrens und Lernens aus multiplen Perspektiven betrachten und analysieren zu können. Das Repertoire der Lehr-Lern-Forschung an methodischen und theoretischen Zugängen bietet hierfür eine ausgezeichnete Grundlage.

6 Wie reagiert die Forschung darauf, dass sich die Rahmenbedingungen für Lehren und Lernen so rapide verändern?

Dynamische Veränderungen der Rahmenbedingungen von Lehren und Lernen resultieren erstens aus der zunehmenden Digitalisierung der Lebens- und Arbeitswelt und zweitens aus der für die Einzelnen immer schwieriger werdenden Unterscheidbarkeit vertrauenswürdiger von nicht vertrauenswürdigen Darstellungen in den digitalen Medien.

Was die Befähigung zum Umgang mit digitalen Medien und deren didaktische bzw. pädagogische Nutzung im schulischen und universitären Kontext anbetrifft, hat die Lehr-Lern-Forschung in den vergangenen 40 Jahren viel Wissen und pädagogisch-didaktisches Knowhow erarbeitet (siehe Perspektivenvielfalt), welches aber bislang viel zu wenig in der schulischen Praxis zum Tragen kommt. Aus meiner Sicht braucht es hier weniger, wie Scheiter (2021) schreibt, zusätzliche Forschung darüber, wie Lehrkräfte die für das Unterrichten mit digitalen Medien erforderlichen professionellen Kompetenzen erlernen können, sondern es braucht vor allem ausreichend Lerngelegenheiten in den Lehramtsstudiengängen, damit angehende Lehrkräfte die erforderlichen Kompetenzen erwerben können. Hier fehlt jedoch der politische Wille und die Bereitschaft der Universitäten, ihre Lehramtsstudiengänge entsprechend stärker professionsorientiert umzustrukturieren. Angesichts der zunehmenden Digitalisierung der Arbeits- und Lebenswelt ist also weniger eine Reaktion auf Seiten der Forschenden, sondern vielmehr auf Seiten der Bildungseinrichtungen und Bildungsadministration erforderlich, nämlich der Wille, die in der Lehr-Lern-Forschung erarbeiteten Erkenntnisse konsequent in der Praxis umzusetzen.

In Bezug auf die schwieriger werdende Unterscheidbarkeit vertrauenswürdiger (wissenschaftlicher) von nicht vertrauenswürdigen Darstellungen in den Medien schlägt Bromme (2022) das Konzept des informierten Vertrauens in die Wissenschaft vor, welches er am Beispiel der COVID-19-Pandemie erläutert. Beispielsweise wollen Bürger*innen wissen, ob die neu entwickelten mRNA-Impfstoffe langfristig negative Wirkungen auf die Gene der geimpften Personen haben könnten. Es ist in der Wissenschaft Konsens, dass dies nicht der Fall ist, aber zugleich kursierten vielfältige Stimmen im Internet, die eine schädigende Wirkung behaupteten oder zumindest für möglich hielten. Informiertes Vertrauen meint nun in diesem Zusammenhang, dass Laien über eine rationale Grundlage verfügen sollten, um beurteilen zu können, wem man in diesem Zusammenhang guten Gewissens Glauben schenken kann (vgl. Bromme 2022, S. 335).

Informiertes Vertrauen beruht also auf der Annahme, dass angesichts der Komplexität und Unüberschaubarkeit der Sachverhalte (z. B. in Bezug auf die Wirksamkeit und potenziellen Risiken von mRNA-Impfstoffen) Laien grundsätzlich überfordert seien, diese hinreichend zu durchdringen und daher in ihrer persönlichen Urteilsbildung auf die Aussagen und Empfehlungen wissenschaftlicher Expertinnen und Experten angewiesen sind. Nach Bromme (2022) komme der Schule dabei die Aufgabe zu, jungen Menschen epistemologisches Wissen über die Funktionsweise der Wissenschaft zu vermitteln und gleichzeitig die Entwicklung eines abwägenden Habitus beim Bilden persönlicher Urteile über komplexe Sachverhalte zu fördern. Epistemologisches Wissen über die Besonderheiten wissenschaftlicher Erkenntnisproduktion (z. B. prinzipielle Unabgeschlossenheit des Erkenntnisprozesses, Fragilität wissenschaftlicher Evidenz) sowie die Fähigkeit zu abwägendem Denken sieht Bromme als die zentralen Voraussetzungen, die Laien befähigen können, zu entscheiden, welchen Expertenaussagen vertraut werden kann, und welche Laien so die Bildung rationaler Urteile ermöglichen.

Ich halte Brommes Konzept des informierten Vertrauens für einen sinnvollen Ansatzpunkt, bei dem zu hoffen ist, dass er entsprechende weitere Forschungsbemühungen nach sich zieht. Allerdings bin ich der Überzeugung, dass eine formale Fähigkeit wie abwägendes Urteilen nicht abstrakt, quasi im luftleeren Raum, vermittelt werden kann, sondern sich nur im Zuge längerfristiger materialer Bildungsprozesse entwickelt. Damit meine ich, dass sich etwa die Elemente der Struktur eines Arguments nach Toulmin (z. B., Claim, Data, Warrant, vgl. Toulmin 2003 [1958]) zwar leicht erklären lassen. Damit Schüler*innen jedoch lernen, diese Elemente bei der Beurteilung komplexer Sachverhalte so zu nutzen, dass ein reflektiertes, unterschiedliche Argumente einbeziehendes abwägendes Denken im Sinne Max Webers (1988) resultiert, bedarf es langfristiger Bildungsprozesse, in denen Schüler*innen beispielsweise im Rahmen problemorientierter Unterrichtseinheiten angeregt werden, sich argumentativ und hypothesenprüfend mit komplexen wissenschaftlichen Problemstellungen auseinanderzusetzen (Mandl et al. 2013). Die empirische Forschung zeigt, dass problemorientiertes Lernen sehr effektiv ist – insbesondere in Kombination mit direkter Instruktion (vgl. de Jong et al. 2023) –, um anwendbares domänenspezifisches Wissen sowie Fähigkeiten des selbstgesteuerten Wissens zu fördern (Reusser 2005). Inwiefern sich durch solche instruktionalen Ansätze auch ein Habitus abwägenden Urteilens sowie ein reflektiertes Verständnis der Nature of Science im schulischen Kontext nachhaltig vermitteln lassen, muss jedoch die zukünftige Forschung zeigen.

7 Wie müssen wir unsere bisherigen Forschungsfragen und -zugänge verändern, um zukünftigen Anforderungen adäquat zu begegnen?

Die Vielfalt der forschungsmethodischen Zugänge, die Vielfalt der theoretischen Perspektiven und der gemeinsame Fokus auf Wissen bilden die zentralen Ressourcen, die uns auch bei der Bewältigung zukünftiger Anforderungen helfen werden. Dies wird uns jedoch umso besser gelingen, je stärker das Bewusstsein der forschungsmethodischen und theoretischen Vielfalt zum Selbstverständnis unseres Forschungsfelds wird. So nämlich könnte die Bereitschaft, eigene methodische und/oder theoretische Voreingenommenheiten zu überwinden, wachsen. Vor einigen Jahren initiierte ich an meiner Universität eine Forschungsgruppe zum Thema Selbstregulation aus interdisziplinärer Perspektive. Meine Idee war, Psycholog*innen mit einer naturwissenschaftlichen Perspektive auf Selbstregulation und Sozialwissenschaftler*innen mit einer diskurs- und ideologiekritischen Perspektive in einen Dialog zu bringen, denn Selbstregulation ist ein zentrales Thema der klinischen und der Pädagogischen Psychologie und die Idee des selbstbestimmten Individuums, welches lernt, seine innere Natur zu beherrschen, ist ein klassischer Topos der westlichen Gesellschaften, welcher von Disziplinen wie der Soziologie und auch der Erziehungswissenschaft ideologiekritisch analysiert wird. Meiner Initiative war leider kein Erfolg beschieden, weil die Vorbehalte bei den eingeladenen Wissenschaftler*innen gegenüber den Kolleg*innen aus dem jeweils anderen „Lager“ so massiv waren, dass kein konstruktiver Dialog möglich war. Diese Schlussfolgerung beruht zugegeben auf meiner persönlichen Einschätzung. Vielleicht war ich einfach auch nicht geschickt genug darin gewesen, die jeweiligen Vorbehalte der beteiligten Wissenschaftler*innen im Rahmen eines konstruktiven Dialogs erfolgreich zu moderieren. Zugleich haben mich jedoch die persönlichen Animositäten gegenüber den forschungsmethodischen und theoretischen Präferenzen der Kolleg*innen aus der jeweils anderen Disziplin so sehr beeindruckt, dass ich beschloss, meine Erfahrung im Rahmen dieses Beitrags zu teilen, auch auf die berechtigte Gefahr hin, dass so manche Leserin und so mancher Leser sie als nicht-generalisierbare „anekdotische Evidenz“ bewerten werden. Dennoch: Für mich zeigt diese Episode, dass der Weg hin zu einem wissenschaftlichen Selbstverständnis, das die Beschränkungen der eigenen theoretischen und forschungsmethodischen Prämissen anerkennt und zugleich von Pluralität und Offenheit gegenüber andersartigen methodischen Zugängen und theoretischen Sichtweisen gekennzeichnet ist, vermutlich länger ist, als es so manchem Apologeten interdisziplinärer Forschungsvorhaben erscheinen mag. Ihn zu beschreiten wäre jedoch in Hinblick auf einen allmählichen Abbau des von Renkl konstatierten Theoriedefizits in der Lehr-Lern-Forschung sicher lohnenswert.