1 Einleitung

Soziale Eingebundenheit, also das Erleben von positiven sozialen Beziehungen zu anderen Menschen, gilt als fundamentales menschliches Bedürfnis und Voraussetzung für selbstbestimmtes Lernen (Baumeister und Leary 1995; Deci und Ryan 2000). So wurde im Rahmen der Selbstbestimmungstheorie konstatiert, dass ein Unterricht, der das psychologische Grundbedürfnis nach sozialer Eingebundenheit erfüllt, die Lernmotivation steigert (Connell und Wellborn 1991; Skinner und Pitzer 2012; Ryan und Deci 2017). Zahlreiche Studien haben diesen Zusammenhang auch im Schulkontext empirisch bestätigt und Unterrichtsmerkmale identifiziert, die zur Erfüllung des Bedürfnisses nach sozialer Eingebundenheit beitragen, wie ein wertschätzender und respektvoller Umgang der Lehrkraft mit den Schüler:innen und positive Interaktionen der Schüler:innen untereinander (Osterman 2000; Roorda et al. 2017; Allen et al. 2018; Ahmadi et al. 2022; Bureau et al. 2022).

Inwiefern positive Interaktionen der Schüler:innen untereinander – und damit das Erleben sozialer Eingebundenheit – im Unterricht grundsätzlich ermöglicht werden, hängt von der Unterrichtsgestaltung ab (Johnson und Johnson 2009; Zurbriggen und Venetz 2016; Zander et al. 2017). In einem individualisierten Unterricht, der sich durch einen hohen Anteil selbstgesteuerter Einzelarbeit und eine starke Ausdifferenzierung von Methoden, Materialien und Aufgaben auszeichnet, könnten die Kontaktmöglichkeiten sowie der inhaltliche Austausch zwischen den Schüler:innen eingeschränkt sein (Hess und Lipowsky 2017; Rabenstein et al. 2018). Aus diesem Grund gibt es Befürchtungen, dass die Individualisierung des Unterrichts zur sozialen Isolation der Schüler:innen führen könnte (Helmke 2013; Lipowsky und Lotz 2015; Scheidt 2017) und damit das Grundbedürfnis der Schüler:innen nach sozialer Eingebundenheit nicht erfüllt werden könnte (Osterman 2000). Dabei muss jedoch beachtet werden, dass eine Individualisierung des Unterrichts unter Einsatz verschiedener Methoden erreicht werden kann, die möglicherweise im Verlauf des Unterrichts variieren oder miteinander kombiniert werden und nicht in jeder Unterrichtssituation gleichermaßen Anwendung finden (Breidenstein et al. 2017; Dumont 2019). Demnach könnte auch das Erleben sozialer Eingebundenheit im individualisierten Unterricht situativ unterschiedlich stark ausgeprägt sein.

Neben Aspekten der Unterrichtsgestaltung, die vor allem soziale Interaktionen ermöglichen oder einschränken, kann angenommen werden, dass Aspekte der Unterrichtsqualität die sozialen Interaktionen zwischen den Schüler:innen einer Klasse beeinflussen (Kunter und Trautwein 2013). So wird im Modell der drei Basisdimensionen von Unterrichtsqualität davon ausgegangen, dass eine positive Beziehung zwischen der Lehrkraft und den Schüler:innen sowie ein wertschätzender Umgang der Lernenden und Lehrenden untereinander die soziale Eingebundenheit der Schüler:innen fördern (Klieme 2019). In ähnlicher Weise beschreibt Battistich (2010), dass Schüler:innen sich sozial eingebunden fühlen, wenn ein Gemeinschaftsgefühl in der Klasse besteht, das sich durch gegenseitige Unterstützung, Zusammenhalt und geteilte Wertvorstellungen auszeichnet. Inwiefern und in Abhängigkeit wovon es gelingt, die sozialen Interaktionen in einem individualisierten Unterricht so zu gestalten, dass alle Schüler:innen sich sozial eingebunden fühlen, bleibt eine offene Frage.

Die vorliegende Studie setzt hier an und untersucht, inwiefern Schüler:innen sich im Unterricht sozial eingebunden fühlen und welche Aspekte einer individualisierten Unterrichtsgestaltung und der Unterrichtsqualität dabei eine Rolle spielen. Zu diesem Zweck wird die Experience-Sampling-Methode (ESM) als Forschungsansatz herangezogen, um das situative Erleben der Schüler:innen in unterschiedlichen Unterrichtssituationen zu erfassen (Zirkel et al. 2015). Dieser Ansatz ermöglicht zu untersuchen, in welchem Maße die Schüler:innen in verschiedenen Unterrichtssituationen soziale Eingebundenheit erleben. Die durchschnittliche Ausprägung und die Variabilität der erlebten sozialen Eingebundenheit sollen im Anschluss auf ihren Zusammenhang mit Aspekten einer individualisierten Unterrichtsgestaltung und Unterrichtsqualität überprüft werden.

2 Theoretischer Hintergrund

2.1 Soziale Eingebundenheit im individualisierten Unterricht

Individualisierter Unterricht kann als Oberbegriff für verschiedene Formen des Umgangs mit unterschiedlichen individuellen Lernvoraussetzungen und Bedürfnissen von Schüler:innen verstanden werden (Lipowsky und Lotz 2015; Tetzlaff et al. 2022). Anspruch eines individualisierten Unterrichts ist in der Regel, allen Schüler:innen ein möglichst passgenaues Lernangebot bereitzustellen, das sie optimal zum Lernen anregt (Helmke 2013; Häcker 2017). Vor diesem Hintergrund sollte auch die soziale Eingebundenheit Schüler:innen im Unterricht, als wichtiger Faktor für die Lernmotivation, im individualisierten Unterricht gefördert werden. Allerdings wurde von verschiedenen Autor:innen die Befürchtung geäußert, dass die soziale Eingebundenheit durch Individualisierung des Unterrichts möglicherweise zu kurz kommt (Helmke 2013; Lipowsky und Lotz 2015; Scheidt 2017).

Inwiefern soziale Eingebundenheit mit verschiedenen Aspekten eines individualisierten Unterrichts zusammenhängen könnte, kann vor dem Hintergrund der Oberflächen- und Tiefenstruktur des Unterrichts genauer betrachtet werden. Die Unterscheidung in Oberflächen- und Tiefenstrukturen hat sich in der deutschen Unterrichtsforschung etabliert, um das Unterrichtsgeschehen möglichst umfassend und differenziert abzubilden (Decristan et al. 2020). Oberflächenstrukturen beschreiben dabei gut beobachtbare Aspekte der Unterrichtsgestaltung, wie Sozialform, Unterrichtsmethoden oder Lehrer- und Schüler:innenverhalten (Pauli und Reusser 2006; Decristan et al. 2020). Die Tiefenstruktur beschreibt Prozesse des Lehrens und Lernens, die häufig nicht direkt beobachtbar sind, aber als besonders lernwirksam erachtet werden, z. B. die Auseinandersetzung der Schüler:innen mit den Lerninhalten oder die Interaktion zwischen Lehrkraft und Schüler:innen (Kunter und Trautwein 2013). Die Trennschärfe von Oberflächen- und Tiefenstrukturen sowie deren Zusammenhang wird in der Unterrichtsforschung fortwährend diskutiert (Decristan et al. 2020; Hess und Lipowsky 2020; Pauli 2020). In der vorliegenden Arbeit wird davon ausgegangen, dass Merkmale der Oberflächenstruktur notwendige, aber nicht hinreichende Bedingungen für die soziale Eingebundenheit im Unterricht darstellen. So gehen wir davon aus, dass bestimmte Sozialformen und Methoden soziale Interaktion ermöglichen oder einschränken können. Ob diese sozialen Interaktionen als positiv wahrgenommen werden, ist jedoch insbesondere von Faktoren auf der Tiefenstruktur des Unterrichts abhängig.

Eine individualisierte Unterrichtsgestaltung kann durch Merkmale auf der Oberflächenstruktur beschrieben werden (Hess und Lipowsky 2017). So kann das Bereitstellen von unterschiedlichem Unterrichtsmaterial oder unterschiedlichen Aufgaben für jede:n einzelne:n Schüler:in eine Möglichkeit darstellen, den Unterricht zu individualisieren (Tetzlaff et al. 2022). Im individualisierten Unterricht arbeiten Schüler:innen daher häufig selbstgesteuert entlang individueller Aufgaben, z. B. anhand von Wochenarbeitsplänen (Helmke 2013). Je nachdem, welche Wahlfreiheiten den Schüler:innen bei der Bearbeitung ihrer Aufgaben gewährt werden – dürfen sie z. B. frei entscheiden wann, wie lange und welche Aufgaben sie bearbeiten – wird ihnen dabei ein hohes oder niedriges Maß an Autonomie gewährt (Mötteli et al. 2022). Inwiefern solche Wahlfreiheiten die Bedürfnisse der Schüler*innen erfüllen, hängt letztlich von der Qualität der Umsetzung ab (Ryan et al. 2023). Ethnographische Studien weisen darauf hin, dass eine Individualisierung des Unterrichts auf Ebene der Oberflächenstruktur, wie das selbstgesteuerte Arbeiten an individuellen Aufgaben, den Austausch der Schüler:innen untereinander einschränken kann (Rabenstein et al. 2018; Breidenstein 2019). Nicht untersucht wurde hingegen, ob Schüler:innen sich in solchen Lernsituationen tatsächlich weniger sozial eingebunden fühlten. Ein Hinweis auf die Wahrnehmung der Schüler:innen konnte in einer quantitativen Studie zur Untersuchung der sozialen Inklusion von Schüler:innen mit Behinderung in der Sekundarstufe von Pozas et al. (2021) gefunden werden, die einen positiven Zusammenhang zwischen einer individualisierten Unterrichtsgestaltung und der sozialen Inklusion der Schüler:innen feststellten. In einer Studie von Zurbriggen et al. (2021) in der Primarstufe konnte jedoch kein Zusammenhang zwischen einer individualisierten Unterrichtsgestaltung und der sozialen Inklusion der Schüler:innen festgestellt werden. Ebenso fanden Rubach und Lazarides (2019) keinen Zusammenhang zwischen individualisierter, Unterrichtsgestaltung und sozialer Eingebundenheit im Unterricht der Sekundarstufe. Eine mögliche Ursache für den ausbleibenden Zusammenhang zwischen individualisierter Unterrichtsgestaltung und sozialer Eingebundenheit, könnte darin begründet sein, dass die Qualität der Ausgestaltung eines individualisierten Unterrichts in der Tiefenstruktur zu lokalisieren ist.

Auf Ebene der Tiefenstruktur eines individualisierten Unterrichts rückt die Qualität der Interaktionen zwischen Lehrenden, Lernenden und Lerngegenstand stärker in den Fokus (Kunter und Trautwein 2013). In der deutschen Unterrichtsforschung werden insbesondere die drei Dimensionen kognitive Aktivierung (gekennzeichnet durch eine tiefe Verarbeitung und aktive Auseinandersetzung mit den Unterrichtsinhalten), Klassenführung (gekennzeichnet durch einen störungsfreien Unterricht, klare Regeln und die Nutzung der Unterrichtszeit) und konstruktive Unterstützung (gekennzeichnet durch respektvolle und wertschätzende Interaktionen im Unterricht und die Unterstützung bei Verständnisproblemen), die als generische Qualitätsmerkmale von wirksamem Unterricht gelten, als Aspekte der Tiefenstruktur diskutiert (Klieme 2019). Inwiefern die drei Basisdimensionen der Unterrichtsqualität in einem individualisierten Unterricht eine Rolle spielen, ist Inhalt theoretischer Auseinandersetzungen innerhalb der Unterrichtsforschung (Hess und Lipowsky 2017; Praetorius und Gräsel 2021).

Die Basisdimension konstruktive Unterstützung zielt unter Berufung auf die Selbstbestimmungstheorie darauf ab, die psychologischen Grundbedürfnisse nach Autonomie, Kompetenzerleben und sozialer Eingebundenheit zu erfüllen (Klieme et al. 2009). So wird in der Selbstbestimmungstheorie davon ausgegangen, dass eine schülerzentrierte und verständnisvolle Grundhaltung der Lehrkraft damit einhergeht, die Bedürfnisse der Schüler:innen zu erkennen und zu erfüllen (Reeve und Cheon 2021). Dabei wird durch die grundsätzliche Orientierung an der Perspektive der Schüler:innen nicht nur das Erleben von Autonomie gefördert, sondern auch das Kompetenzerleben und die soziale Eingebundenheit (Reeve 2023). Der Zusammenhang zwischen einer wahrgenommenen Unterstützung durch die Lehrkraft (z. B. Zuhören, ernst nehmen) und dem Erleben sozialer Eingebundenheit der Schüler:innen wurde im Rahmen der Selbstbestimmungstheorie auch empirisch bestätigt (Drengk und Börnert-Ringleb 2023; Ruzek et al. 2016; Bakadorova und Raufelder 2018).

Im Rahmen der drei Basisdimensionen von Unterrichtsqualität wurde der Zusammenhang zwischen konstruktiver Unterstützung und sozialer Eingebundenheit hingegen selten explizit untersucht. Zu nennen ist eine Studie von Decristan et al. (2021), die eine positive Korrelation der beiden Aspekte sozio-emotionaler und fachlich-inhaltlicher Unterstützung mit der wahrgenommenen sozialen Integration der Schüler:innen feststellten. Bemerkenswert ist darüber hinaus, dass konstruktive Unterstützung in den meisten empirischen Studien ausschließlich als ein Merkmal der Beziehung zwischen Lehrkraft und Schüler:innen operationalisiert wurde (Praetorius et al. 2018), obwohl in der theoretischen Konzeption der drei Basisdimensionen die Beziehung der Schüler:innen untereinander explizit einbezogen wird (Praetorius et al. 2020). Eine differenzierte Betrachtung der konstruktiven Unterstützung erscheint insbesondere im individualisierten Unterricht notwendig, in dem die individuelle Förderung der Schüler:innen eine zentrale Rolle einnimmt (Sliwka et al. 2022). Dort erfolgt die Unterstützung möglicherweise seltener durch Lehrkrafthandlungen gegenüber dem gesamten Klassenverband, sondern vor allem über das Material, individuelle Rückmeldungen und die Mitschüler:innen – im Sinne des „Distributed Scaffolding“ (Puntambekar 2022). Vor diesem Hintergrund gewinnt das Konzept des Gemeinschaftsgefühls an Relevanz, das von Battistich et al. (1997), unter Berufung auf die Selbstbestimmungstheorie, als gegenseitige Unterstützung, Zusammenhalt sowie geteilte Wertvorstellungen der Schüler:innen untereinander beschrieben wurde. Das Gemeinschaftsgefühl ermöglicht den Fokus auf die Unterstützung der Schüler:innen untereinander zu richten (Battistich 2010) und wird in der vorliegenden Studie als Facette der Basisdimension konstruktive Unterstützung verstanden, die auf Aspekte der Beziehung der Schüler:innen untereinander fokussiert.

Zusammengefasst liegen bisher nach dem Wissen der Autor:innen kaum empirische Hinweise auf einen Zusammenhang sozialer Eingebundenheit mit Aspekten der individualiserten Unterrichtsgestaltung sowie der Unterrichtsqualität vor. Aufgrund der Zielsetzung von individualisiertem Unterricht, die individuellen Bedürfnisse der Schüler:innen konsequent zu berücksichtigen, soll diese Forschungslücke – unter besonderer Berücksichtigung der sozialen Beziehung der Schüler:innen untereinander – in der vorliegenden Studie bearbeitet werden.

2.2 Konzeptionalisierung und Erfassung der sozialen Eingebundenheit vor dem Hintergrund der Experience-Sampling-Methode

Soziale Eingebundenheit wird als eine funktionale Voraussetzung dafür gesehen, dass es Menschen gut geht (Keyes 1998; Martela und Ryan 2021). Im Rahmen der Selbstbestimmungstheorie wird davon ausgegangen, dass die psychologischen Grundbedürfnisse als „Nährstoffe“ für das Wohlbefinden und eine gesunde Entwicklung aus der sozialen Umgebung gezogen werden und damit einen essenziellen Aspekt des eudaimonischen Wohlbefindens darstellen (Martela und Sheldon 2019). In der Schulforschung wird insbesondere die Bedeutung der sozialen Eingebundenheit für die Motivation und das Engagement der Schüler:innen herausgestellt (Skinner und Pitzer 2012). So wird davon ausgegangen, dass Lernumgebungen, die das Bedürfnis nach sozialer Eingebundenheit erfüllen, zum Lernen motivieren (Deci und Ryan 2000). Inwiefern das Bedürfnis nach sozialer Eingebundenheit im Unterricht erfüllt wird, kann unter anderem über die subjektive Einschätzung der Schüler:innen, ob sie sich in einer sozialen Situation wohlfühlen, erfasst werdenFootnote 1 (Schmidt et al. 2019; Conesa und Duñabeitia 2021; Neubauer et al. 2022b). Als Indikatoren für soziale Eingebundenheit im Unterricht können unter anderem das Gefühl, von den Mitschüler:innen gemocht zu werden, ein warmes Gefühl gegenüber den Mitschüler:innen zu empfinden oder gemeinsame Aktivitäten mit den Mitschüler:innen zu mögen herangezogen werden (Schmidt et al. 2019; Conesa und Duñabeitia 2021). Bislang wurde soziale Eingebundenheit überwiegend für das gesamte Unterrichtsgeschehen oder für ein Fach erfasst, in jüngerer Zeit rücken hingegen zunehmend situationsspezifische Wahrnehmungen und Empfindungen in das Interesse der Unterrichtsforschung (Ryan und Deci 2017; Dietrich et al. 2022). Damit wird der theoretischen Annahme Rechnung getragen, dass soziale Eingebundenheit kontextabhängig erfüllt (bzw. nicht erfüllt) wird und damit vermutlich über die Zeit hinweg variiert (Schmidt et al. 2019).

Die ESM ermöglicht, die situative Einschätzung der wahrgenommenen sozialen Eingebundenheit der Schüler:innen zu erfassen, indem Kurzfragebögen direkt im Unterricht eingesetzt werden (Schmidt et al. 2019, 2020). Hierdurch können zum einen Einschätzungen nah am aktuellen Erleben des Unterrichts erfasst und somit Verzerrungen durch eine retrospektive Einschätzung minimiert werden und zum anderen werden Einschätzungen zu mehreren Situationen gesammelt, was die Berechnung des Mittelwerts sowie der Variabilität über alle Situationen hinweg ermöglicht (Zirkel et al. 2015). Wird die wahrgenommene soziale Eingebundenheit anhand der ESM mehrfach pro Schüler:in erfasst, kann auf Ebene der Schüler:innen zwischen dem mittleren sozialen Wohlbefinden und der je nach Unterrichtssituation variierenden sozialen Eingebundenheit unterschieden werden. Genauer kann in Einklang mit der Latent-State-Trait-Theorie (LST) davon ausgegangen werden, dass die Schüler:innen eine relativ stabile mittlere Ausprägung der wahrgenommenen sozialen Eingebundenheit im Unterricht (trait) haben, aber bei mehrfacher Befragung situationsspezifische Ausprägungen wahrscheinlich sind (state), die mehr oder weniger von dieser mittleren Ausprägung abweichen (Steyer et al. 2015; Geiser et al. 2017).

Liegt außerdem eine Mehrebenendatenstruktur vor, in der Schüler:innen in Klassen genestet sind, kann das LST-Modell um eine zusätzliche Ebene erweitert werden, so dass neben States und Traits auf der Ebene der Schüler:innen auch zwischen States und Traits auf Ebene der Klasse unterschieden wird (Parrisius et al. 2022). Ein Trait auf der Ebene der Klasse ist dann analog zur Ebene der Schüler:innen als Mittelwert der wahrgenommenen sozialen Eingebundenheit einer Klasse zu verstehen, der State hingegen als die mittlere Ausprägung der wahrgenommenen sozialen Eingebundenheit in einer bestimmten Unterrichtssituation, z. B. eine gemeinsame Unterrichtsstunde, aggregiert über alle Schüler:innen. Eine solche Datenstruktur lässt zu, die Varianz auf vier Ebenen zu zerlegen: 1. Einzelangaben (Situationen), 2. Schüler:innen (Einzelangaben aggregiert pro Personen), 3. Unterrichtsstunden (Einzelangaben aggregiert pro Unterrichtsstunde) und 4. Klassen (Einzelangaben aggregiert pro Klasse), wobei die Schüler:innen jeweils mehreren Unterrichtsstunden zugeordnet sein können (Kreuzklassifizierung). Eine solche Varianzzerlegung kann Aufschluss darüber geben, auf welcher Ebene die wichtigsten Einflussfaktoren der sozialen Eingebundenheit liegen.

Bisherige ESM-Studien, die psychologische Grundbedürfnisse (Autonomie und Kompetenz) von Schüler:innen über mehrere Ebenen hinweg untersucht haben, berichteten große Varianzanteile innerhalb und zwischen Schüler:innen und geringe Varianzanteile im einstelligen Bereich zwischen Klassen (Patall et al. 2018; Rakoczy et al. 2022). Die einzige uns bekannte Studie, die zusätzlich die Ebene zwischen Unterrichtsstunden aufnahm, berichtete für subjektiven Kompetenzüberzeugungen 52 % der Varianz innerhalb der Schüler:innen, 38 % zwischen den Schüler:innen, 5 % zwischen den Unterrichtsstunden und 5 % zwischen den Klassen (Parrisius et al. 2022). Soziale Eingebundenheit wurde bisher nach unserem Wissen nur von Schmidt et al. (2019) als intraindividuell variables Konstrukt über mehrere Messzeitpunkte in der Schule erfasst, die einen Varianzanteil innerhalb und zwischen der Schüler:innen von jeweils ~50 % fanden, aber weder die Ebene der Unterrichtsstunden noch die Ebene der Klassen in den Blick nahmen.

Die Variabilität der sozialen Eingebundenheit kann auch als ein Merkmal von Schüler:innen bzw. von Klassen betrachtet werden (Feng und Hancock 2022). So gibt die intraindividuelle Standardabweichung (iSDi) der sozialen Eingebundenheit Aufschluss darüber, wie groß die situativen Abweichungen um den Mittelwert einer Schüler:in durchschnittlich sind (Wang und Maxwell 2015). Eine hohe iSDi, könnte zum einen an der individuellen Sensitivität von Schülerinnen auf situative Einflüsse liegen, zum anderen das Ergebnis von tatsächlicher Variabilität sein, z. B. wenn besonders einschneidende soziale Situationen stattgefunden haben (Hamaker 2012; Jongerling et al. 2015; Moeller et al. 2020). Auch die Standardabweichung der sozialen Eingebundenheit innerhalb von Klassen (iSDj) kann, analog zur intraindividuellen Standardabweichung, als durchschnittliche Abweichung innerhalb von Klassen bestimmt werden. Sie gibt Aufschluss darüber, wie weit die soziale Eingebundenheit der einzelnen Schüler:innen einer Klasse über alle Unterrichtssituationen hinweg durchschnittlich auseinanderlagen. Ein Unterricht, der die Erfüllung des Bedürfnisses nach sozialer Eingebundenheit aller Schüler:innen in möglichst jeder Unterrichtssituation als Ziel hat, sollte demnach von einer hohen mittleren Ausprägung und geringer Variabilität der sozialen Eingebundenheit auf Ebene der Schüler:innen sowie auf Ebene der Klasse gekennzeichnet sein. Die vorliegende Studie setzt hier an und nutzt die ESM, um das situative Erleben sozialer Eingebundenheit im individualiserten Unterricht zu untersuchen.

3 Fragestellungen

Übergeordnete Fragestellung der vorliegenden Studie ist, ob die wahrgenommene soziale Eingebundenheit der Schüler:innen mit Aspekten der individualisierten Unterrichtsgestaltung und der Unterrichtsqualität zusammenhängt. Um soziale Eingebundenheit zu erfassen, wird auf die ESM zurückgegriffen, bei der die Schüler:innen über den Zeitraum einer Woche mehrmals am Tag jeweils nach einer Unterrichtsstunde gefragt wurden, wie wohl sie sich gerade mit ihren Mitschüler:innen gefühlt haben. Zunächst soll untersucht werden, inwiefern die soziale Eingebundenheit innerhalb und zwischen Schüler:innen sowie zwischen Unterrichtstunden und zwischen Klassen variiert. Im Anschluss daran soll untersucht werden, ob Aspekte des individualisierten Unterrichts auf der Oberflächen- und der Tiefenstruktur des Unterrichts mit der sozialen Eingebundenheit auf Ebene der Schüler:innen und auf Ebene der Klassen zusammenhängen. Für die vorliegende Studie ergeben sich daraus folgende Fragestellungen:

  • Fragestellung 1: Wie ist die Varianz der sozialen Eingebundenheit auf die unterschiedlichen Ebenen (Einzelangaben, Schüler:innen, Unterrichtsstunden und Klassen) verteilt?

  • Fragestellung 2: Wie hängt die soziale Eingebundenheit mit einer individualisierten Unterrichtsgestaltung zusammen?

  • Fragestellung 2a: Wie hängt die mittlere soziale Eingebundenheit auf Ebene der Schüler:innen und auf Ebene der Klassen mit einer individualisierten Unterrichtsgestaltung zusammen?

  • Fragestellung 2b: Wie hängt die Variabilität der sozialen Eingebundenheit auf Ebene der Schüler:innen und die Variabilität der sozialen Eingebundenheit auf Ebene der Klassen mit einer individualisierten Unterrichtsgestaltung zusammen?

  • Fragestellung 3: Wie hängt die soziale Eingebundenheit mit der Unterrichtsqualität zusammen?

  • Fragestellung 3a: Wie hängt die mittlere soziale Eingebundenheit auf Ebene der Schüler:innen und auf Ebene der Klassen mit der Unterrichtsqualität zusammen?

  • Fragestellung 3b: Wie hängt die Variabilität der sozialen Eingebundenheit auf Ebene der Schüler:innen und die Variabilität der sozialen Eingebundenheit auf Ebene der Klassen mit der Unterrichtsqualität zusammen?

4 Methode

4.1 Design, Durchführung und Datengrundlage

Die Daten wurden im Rahmen des Forschungsprojekts „Adaptivität und Unterrichtsqualität im individualisierten Unterricht“ (Ada*Q) erhoben. Ziel des Forschungsprojekts war, den individualisierten und differenzierten Unterricht von Grundschulen, die den Deutschen Schulpreis gewonnen hatten, zu untersuchen. Aus den 29 Preisträger-Grundschulen, die bis 2018 ausgezeichnet worden waren, wurden mittels leitfadengestützter Interviews mit den Schulleitungen neun Schulen ausgewählt, die sich durch eine individualisierte Unterrichtsgestaltung auszeichneten. Gemeinsame Merkmale dieser Schulen waren unter anderem, dass sie selbstgesteuertes Lernen und formatives Assessment einsetzten sowie verschiedene Methoden der Differenzierung zum Unterricht gehörten. Fünf der Schulen setzten jahrgangsübergreifendes Lernen in verschiedenen Varianten um. An den ausgewählten Schulen wurden zu zwei Zeitpunkten im Schuljahr unterschiedliche Datenerhebungen (Fragebogen, ESM, Interviews mit Lehrkräften, Videografie des Unterrichts) im Rahmen eines Mixed Methods Forschungsdesigns durchgeführt.

Zunächst wurden an den ausgewählten Schulen Einwilligungserklärungen zur Datenerfassung von den Eltern der teilnehmenden Schüler:innen und den Lehrkräften der teilnehmenden Klassen eingeholt. Darüber hinaus wurden Informationen zu sonderpädagogischem Förderbedarf und Migrationshintergrund der Schüler:innen von den Lehrkräften bereitgestellt. Zu Beginn des Schuljahres 2019/20 wurden die Schüler:innen von Testleiter:innen des Projektteams anhand von Fragebögen im Unterricht u. a. zu ihrer Wahrnehmung der Unterrichtsgestaltung und -qualität befragt (FB-Erhebung). In jahrgangsübergreifenden Klassen (28 von 54 Klassen) wurden bei der FB-Erhebung nur die dritten und vierten Jahrgänge befragt, um die Vergleichbarkeit von ursprünglich geplanten Leistungstests sicherzustellenFootnote 2. Insgesamt wurden bei der FB-Erhebung Daten von 570 Schüler:innen erfasst.

Mitte des Schuljahres 2019/20 wurden den teilnehmenden Klassen Tablet-Computer für alle Schüler:innen zu Verfügung gestellt, auf denen ein Kurzfragebogen mit 10 Einzelitems, u. a. zur Erfassung der sozialen Eingebundenheit abrufbar war (ESM-Erhebung). Die Lehrkräfte erhielten die Instruktion, die Befragungen jeweils nach abgeschlossenen „Lerneinheiten“ zu initiieren. Es stellte sich heraus, dass die Lerneinheiten mit wenigen Ausnahmen (z. B. bei Projektwochen) den Fächern aus dem Stundenplan entsprachen (z. B. Deutsch, Mathematik, freies Lernen, etc.), so dass die Befragungen nach regulären Unterrichtsstunden erfolgten. Die ESM-Erhebung wurde von den Lehrkräften fortlaufend über eine gesamte Unterrichtswoche und über alle Fächer hinweg durchgeführt. An der ESM-Erhebung nahmen in jahrgangsübergreifenden Klassen alle anwesenden Schüler:innen teil. Insgesamt lagen ESM-Daten von N = 421 Schüler:innen vor. Aufgrund der COVID-19-Pandemie musste die Datenerhebung abgebrochen werden, sodass nur für sechs der ursprünglich neun teilnehmenden Schulen Daten der ESM-Erhebung vorlagen.

Für die Analysen der vorliegenden Studie wurden nur die Daten der Schüler:innen genutzt, die an der FB-Erhebung und der ESM-Erhebung teilnahmenFootnote 3. Die Analysestichprobe umfasste N = 237 Schüler:innen der dritten und vierten Jahrgansstufe aus N = 22 Klassen (davon 8 jahrgansübergreifend), mit durchschnittlich ~10,12 Einzelangaben pro Schüler:in (min. 4, max. 23), ~10,8 Schüler:innen und ~109,09 Einzelangaben pro Klasse. Da sich die ESM-Erhebung immer zeitgleich von allen anwesenden Schüler:innen einer Klasse durchgeführt wurde, ließen sich die Angaben pro „Lerneinheiten“ bzw. Unterrichtsstunde aggregieren. Insgesamt wurden N = 254 solcher Unterrichtsstunden, mit Angaben von durchschnittlich ~9,45 Schüler:innen pro Unterrichtsstunde, erfasst. Die verwendete Stichprobe umfasste 55,6 % Mädchen und 44,3 % Jungen, sowie 12,2 % Schüler:innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf und 16,9 % Schüler:innen mit Migrationshintergrund (min. ein Elternteil im Ausland geboren)Footnote 4. Es waren 62,8 % Schüler:innen der dritten und 37,2 % der vierten Jahrgangsstufe zugeordnet.

4.2 Instrumente

4.2.1 Soziale Eingebundenheit

Die soziale Eingebundenheit wurde mit dem Item „Wie wohl hast du dich gerade mit deinen Mitschülerinnen und Mitschülern gefühlt?“ (Antwortmöglichkeiten: „sehr unwohl“, „eher unwohl“, „mittel“, „eher wohl“, „sehr wohl“) im Rahmen der ESM-Erhebung erfasst. Das Item wurde in Anlehnung an bestehende Instrumente formuliert, die soziale Eingebundenheit u. a. als Wohlbefinden im sozialen Umfeld erfassen, z. B. „Ich empfinde ein herzliches Gefühl gegenüber den Menschen, mit denen ich Zeit verbringe.“ (Chen et al. 2015; Heissel et al. 2018) oder „I feel extremely comfortable when with the other exercise participants“ (Vlachopoulos und Michailidou 2006), sowie in Anlehnung an Items aus einem deutschsprachigen ESM-Instrument, z. B. „Heute habe ich mich gut mit den anderen Kindern in meiner Klasse verstanden.“ (Schmidt et al. 2019). Der Fokus auf diesen Aspekt der sozialen Eingebundenheit wurde gewählt, da das Item für Grundschüler:innen leicht verständlich ist und kontextunabhängig eingesetzt werden kann.

4.2.2 Individualisierte Unterrichtsgestaltung

Die individualisierte Unterrichtsgestaltung wurde über folgende Aspekte in der FB-Erhebung erfasst: Differenzierung (9 Items; Bsp.: „Die einzelnen Schüler:innen arbeiten an verschiedenen Aufgaben.“; Dumont 2016; α = 0,77; ICC1 = 0,53; ICC2 = 0,92), selbstgesteuertes Lernen (5 Items; Bsp.: „Ich kann selbst entscheiden, mit welchen Büchern und Materialien ich arbeite.“; Dumont 2016; α = 0,81; ICC1 = 0,18; ICC2 = 0,70) und Autonome Aufgabenbearbeitung (6 Items; „Bei uns im Unterricht kann ich vorschlagen, wie ich eine Aufgabe lösen möchte.“; adaptiert nach Kunter 2005 und Prenzel et al. 1996; α = 0,79; ICC1 = 0,19; ICC2 = 0,71).

4.2.3 Unterrichtsqualität

Die Unterrichtsqualität wurde in erster Linie über etablierte Skalen zur Erfassung der drei Basisdimensionen von Unterrichtsqualität in der FB-Erhebung operationalisiert. Die Skalen wurden bereits in der IGEL-Studie eingesetzt und validiert (Fauth et al. 2014). Alle Formulierungen beziehen sich auf das Verhalten der Lehrkraft, deren Namen beim Vorlesen der Fragen eingesetzt wurden: Kognitive Aktivierung (6 Items; Bsp.: „[Name] stellt Fragen, über die ich ganz genau nachdenken muss.“; α = 0,71; ICC1 = 0,11; ICC2 = 0,57), Klassenführung (6 Items; Bsp.: „[Name] weiß immer genau, was in der Klasse vor sich geht.“; α = 0,87; ICC1 = 0,26; ICC2 = 0,79), und konstruktive Unterstützung (9 Items; Bsp.: „[Name] macht mir Mut, wenn ich eine Aufgabe schwierig finde.“; α = 0,89; ICC1 = 0,13; ICC2 = 0,63).

4.2.4 Gemeinschaftsgefühl

Die Skala zur Erfassung des Gemeinschaftsgefühls wurde vom Erstautor entwickelt und in der FB-Erhebung eingesetzt. Die Skala beinhaltet zwei inhaltliche Aspekte, die als zentral für das Gemeinschaftsgefühl in heterogenen Klassen herausgearbeitet wurden: Zugehörigkeit und gegenseitige Unterstützung (6 Items; Bsp.: „Bei uns im Unterricht fühlen wir uns miteinander verbunden.“) und Wertschätzung von Heterogenität (4 Items; Bsp.: „Bei uns im Unterricht finden wir es gut, dass jedes Kind eigene Stärken und Schwächen hat.“). In einer Studie, die sich in Begutachtung befindet, wurde die Faktorenstruktur detailliert untersucht und ein einfaktorielles Modell gewählt, das beide Aspekte als Teil des Konstrukts Gemeinschaftsgefühls behandelt. Inhaltlich lässt sich das Gemeinschaftsgefühl als eine Facette der konstruktiven Unterstützung verstehen, die auf Aspekte der Beziehung der Schüler:innen untereinander fokussiert. Das Gemeinschaftsgefühl ergänzt somit gängige Operationalisierungen der konstruktiven Unterstützung, die ausschließlich auf Aspekte der Beziehung zwischen Schüler:innen und Lehrkraft fokussierten. In einer Voranalyse wurde die empirische Trennbarkeit von konstruktiver Unterstützung (durch die Lehrkraft) und Gemeinschaftsgefühl (der Schüler:innen untereinander) anhand einer Faktorenanalyse geprüft (siehe Anhang). Diese Analyse wurde durchgeführt, um aufzuzeigen, dass durch das Gemeinschaftsgefühl Aspekte von konstruktiver Unterstützung erfasst werden, die über bisherige Operationalisierungen hinausgehen. In der vorliegenden Studie weist die Gesamtskala (10 Items) mit α = 0,88, ICC1 = 0,13 und ICC2 = 0,61 eine akzeptable Reliabilität auf.

4.3 Auswertung

Zur Analyse von Fragestellung 1 wurde eine Varianzkomponentenzerlegung in R (R Core Team 2022) mit dem lme4 Paket (Bates et al. 2015) durchgeführt. Um die Varianzanteile des Items zu sozialer Eingebundenheit aus der ESM-Erhebung auf den verschiedenen Ebenen zu bestimmen, wurde ein leeres kreuzklassifiziertes Mehrebenenmodell berechnet mit den Einzelangaben der Schüler:innen auf Ebene 1, den Schüler:innen auf Ebene 2a und den Unterrichtsstunden auf Ebene 2b (gekreuzt) und den Klassen auf Ebene 3 (Parrisius et al. 2021). Aus den jeweiligen Varianzen kann der prozentuale Anteil an der Gesamtvarianz für jede Ebene berechnet werden (variance partition coefficients; VPC).

Zur Analyse der Fragestellungen 2a und 3a wurde das kreuzklassifizierte Mehrebenenmodell schrittweise um Prädiktorvariablen erweitert. Die situationsbezogenen Einzelangaben zu sozialer Eingebundenheit aus der ESM-Erhebung wurden dabei als abhängige Variable auf Ebene 1 und die Angaben zu Unterrichtgestaltung und -qualität aus der FB-Erhebung als Prädiktorvariablen auf Ebene der Schüler:innen (Ebene 2a) und Ebene der Klassen (Ebene 3) modelliert. Auf Ebene der Einzelangaben (Ebene1) und auf Ebene der Unterrichtsstunden (Ebene 2b) gab es keine Prädiktorvariablen, diese wurden dennoch modelliert, um die Parameter korrekt zu schätzen. Aufgrund der geringen Anzahl von Klassen auf der obersten Ebene wurde eine doppelt-manifeste Modellierung (Lüdtke et al. 2011) und der Eingeschränkte Maximum Likelihood-Schätzer (REML) gewählt (Hox und McNeish 2020). Die erklärte Varianz pro Ebene sowie die erklärte Gesamtvarianz wird nach dem von Rights und Sterba (2019, 2023) empfohlenen Vorgehen für kreuzklassifizierte Mehrebenenmodelle ausgewiesen und kann als Vergleichsgrundlage der Modelle herangezogen werden (Rights und Sterba 2020; Parrisius et al. 2021).

Zur Analyse der Fragestellungen 2b und 3b wurden schrittweise aufgebaute einfache Regressionsmodelle geschätzt. Die Standardabweichung innerhalb der Schüler:innen (iSDi) und die Standardabweichung innerhalb der Klassen (iSDj) wurden vor den Analysen als Maß für die Variabilität berechnet und als unstandardisierte abhängige Variablen in die Modelle aufgenommen. Als Prädiktorvariablen dienten die Angaben zu Unterrichtgestaltung und -qualität aus der FB-Erhebung.

Mit Ausnahme der iSDi und iSDj wurden alle Variablen vor den Analysen anhand der Gesamtvarianz z‑standardisiert. Die Prädiktorvariablen auf Ebene der Schüler:innen wurden am Mittelwert der Klassen zentriert und die manifest aggregierten Mittelwerte auf Ebene der Klassen in die Modelle aufgenommen, sodass beide Ebenen getrennt voneinander betrachtet werden konnten (Lüdtke et al. 2009).

4.4 Umgang mit fehlenden Werten

Für die verwendeten kreuzklassifizierten Mehrebenenmodelle (Fragestellung 2a und 3a) gibt es bisher keine Verfahren um fehlende Werte zu berücksichtigen (Parrisius et al. 2022). Aus diesem Grund wurden in den Analysen fehlende Werte listenweise ausgeschlossen und die Anzahl der Fälle pro Modell berichtet. Somit wurden alle Schüler:innen ausgeschlossen, die nicht der dritten oder vierten jahrgangsstufe angehörten, da sie nicht an der FB-Erhebung teilnahmen. Daraus ergab sich, dass in jahrgansübergreifenden Klassen nur ein Teil der Schüler:innen einbezogen werden konnte, was zu teilweise geringen Gruppengrößen von vier Schüler:innen führte, wohingegen andere Klassen fast vollständig erfasst wurden. Lagen weniger als vier Angaben pro Klasse vor, wurden diese aus den Analysen ausgeschlossen. Grundsätzlich stellen unterschiedlichen Gruppengrößen für Mehrebenenmodellen kein Problem dar, da kleine Gruppen bei der Schätzung der Parameter weniger stark ins Gewicht fallen (Raudenbush und Bryk 2002). Eine Voraussetzung für die Aggregation von Individualangaben reflektiver Konstrukte, z. B. der geteilten Wahrnehmung des Unterrichts, ist jedoch eine hinreichende Übereinstimmung innerhalb der Gruppen (Lüdtke et al. 2006). Für die verwendeten Variablen wurden daher neben der ICC2 weitere Übereinstimmungsmaße (ADM und rWG) berechnet, die mit wenigen Ausnahmen auf eine hohe Übereinstimmung innerhalb der einzelnen Klasse hinwiesen (Tabellen im Anhang). Somit kann davon ausgegangen werden, dass die Gruppenmittelwerte auch anhand weniger Schüler:innen verlässlich geschätzt werden konnten.

Bei formativen Konstrukten, wie der iSDi oder der iSDj (Fragestellung 2b und 3b), stellen fehlende Werte innerhalb einzelner Personen bzw. Gruppen eine größere Herausforderung dar, da idealerweise vollständige Werte vorliegen sollten, um die Variabilität innerhalb der Gruppen als Konstrukt auf höherer Ebene korrekt darzustellen (Marsh et al. 2012). Die Robustheit aller hier berichteten Koeffizienten zu wurde daher anhand von Regressionsmodellen überprüft, die alle vorhandenen Daten aus der ESM-Erhebung einbezogen und fehlende Werte der Prädiktorvariablen anhand des Full Information Maximum Likelihood Verfahrens (Arbuckle 1996) berücksichtigten (Tabellen im Anhang).

Eine weitere Ursache fehlender Werte war der Ausfall der letzten Datenerhebungen aufgrund der COVID-19-Pandemie. Da die Reihenfolge der Erhebungen an den Schulen keiner besonderen Systematik unterliegt, kann davon ausgegangen werden, dass es sich hierbei um zufällig fehlende Werte handelt, die in den Analysen nicht weiter berücksichtigt werden müssen.

5 Ergebnisse

5.1 Fragestellung 1: Varianzverteilung der sozialen Eingebundenheit

Als Erstes wurde untersucht, wie sich die Varianz der sozialen Eingebundenheit auf die verschiedenen Ebenen verteilte. Der größte Anteil der Varianz lag mit 59 % innerhalb sowie mit 37 % zwischen Schüler:innen auf der Ebene der Unterrichtsstunden, hingegen lagen nur 1 % und auf Ebene der Klassen 3 % der Varianz (Tab. 1, M0).

Tab. 1 Mehrebenen-Regressionsanalyse mit sozialer Eingebundenheit als abhängige Variable und Variablen auf der Oberflächenstruktur des Unterrichts als Prädiktoren

Somit zeigten sich insbesondere Unterschiede in der mittleren sozialen Eingebundenheit der Schüler:innen sowie darin, wie die Schüler:innen ihre soziale Eingebundenheit jeweils in verschiedenen Situationen einschätzen. Dabei kann die Variabilität nur in geringem Maße durch die geteilte Wahrnehmung von Situationen der gesamten Klasse erklärt werden, da die Varianz zwischen den Unterrichtsstunden gering ist. Vielmehr scheint die soziale Eingebundenheit idiosynkratisch innerhalb der Schüler:innen von Situation zu Situation zu variieren. Auch die Zuordnung zu einer Klasse erklärt nur einen geringen Anteil der Variation. Dabei muss jedoch davon ausgegangen werden, dass auf der untersten Ebene, also innerhalb von Schüler:innen, ein substanzieller Anteil der Fehlervarianz zu verorten ist, der nicht auf tatsächliche Unterschiede in der situativen Wahrnehmung der Schüler:innen von sozialer Eingebundenheit zurückzuführen ist (Dejonckheere et al. 2022). Eine solche unsystematische situationsspezifische Fehlerquelle, die das Antwortverhalten beeinflussen könnte, ist zum Beispiel das aktuelle körperliche Befinden (Müdigkeit, Hunger, etc.) der Schüler:innen.

5.2 Fragestellung 2a: Zusammenhänge der sozialen Eingebundenheit mit der individualisierten Unterrichtsgestaltung

Im Anschluss wurde untersucht, ob Zusammenhänge zwischen der sozialen Eingebundenheit und Aspekten der individualisierten Unterrichtsgestaltung bestehen. Auf Ebene der Schüler:innen zeigten sich keine Zusammenhänge der sozialen Eingebundenheit mit Aspekten der individualisierten Unterrichtsgestaltung. Auf Ebene der Klassen zeigte sich hingegen ein positiver Zusammenhang der sozialen Eingebundenheit (über alle Schüler:innen und Unterrichtsstunden hinweg) mit der autonomen Aufgabenbearbeitung (β = 0,25; SE = 0,10) (Tab. 1).

Im Mittel fühlten sich die Schüler:innen demnach wohler mit ihren Mitschüler:innen in einem Unterricht, in dem sie die Art, wie sie Aufgaben bearbeiten, stärker selbstbestimmen konnten. Es wurden ca. 52 % der Varianz der sozialen Eingebundenheit auf Ebene der Klassen durch die autonome Aufgabenbearbeitung aufgeklärt. Dieses Ergebnis muss jedoch vor dem Hintergrund des insgesamt geringen Varianzanteils der sozialen Eingebundenheit auf Ebene der Klassen betrachtet werden (siehe Fragestellung 1). Ein Zusammenhang ließ sich für Differenzierung und das selbstgesteuerte Lernen nicht feststellen. Wurden alle drei Aspekte der individualisierten Unterrichtsgestaltung gleichzeitig in das Modell aufgenommen, blieb auch der Zusammenhang mit autonomer Aufgabenbearbeitung nicht statistisch signifikant.

5.3 Fragestellung 2b: Zusammenhänge der Variabilität der sozialen Eingebundenheit mit der individualisierten Unterrichtsgestaltung

Als Nächstes wurde untersucht, ob Zusammenhänge zwischen der Variabilität der sozialen Eingebundenheit und Aspekten der individualisierten Unterrichtsgestaltung bestehen. Dabei wurden keine statistisch signifikanten Zusammenhänge auf Ebene der Schüler:innen gefunden (Tab. 2).

Tab. 2 Regressionsanalyse mit Varianz sozialer Eingebundenheit innerhalb von Schüler:innen (iSDi) als abhängige Variable und Variablen auf der Oberflächenstruktur des Unterrichts als Prädiktoren

Auf Ebene der Klassen bestand lediglich ein negativer Zusammenhang zwischen der Standardabweichung der sozialen Eingebundenheit innerhalb von Klassen (iSDj) und der autonomen Aufgabenbearbeitung (β = −0,13; SE = 0,07), der jedoch das 5 %-Signifikanzniveau mit p = 0,06 knapp verfehlte (Tab. 3). In Klassen, in denen autonome Aufgabenbearbeitung in einem höheren Maß umgesetzt wurde, gab es demnach tendenziell eine geringere Abweichung in der sozialen Eingebundenheit zwischen den Schüler:innen.

Tab. 3 Regressionsanalyse mit Varianz sozialer Eingebundenheit innerhalb von Klassen (iSDj) als abhängige Variable und Variablen auf der Oberflächenstruktur des Unterrichts als Prädiktoren

5.4 Fragestellung 3a: Zusammenhänge der sozialen Eingebundenheit mit der Unterrichtsqualität

Anschließend wurde untersucht, ob Zusammenhänge zwischen der sozialen Eingebundenheit und Aspekten der Unterrichtsqualität bestehen. Auf Ebene der Schüler:innen hingen sowohl das Gemeinschaftsgefühl (β = 0,18; SE = 0,05) als auch die konstruktive Unterstützung durch die Lehrkraft (β = 0,18; SE = 0,05) mit der sozialen Eingebundenheit der Schüler:innen zusammen (Tab. 4). Schüler:innen, die ein stärkeres Gemeinschaftsgefühl der Schüler:innen untereinander und mehr Unterstützung durch die Lehrkraft empfanden als ihre Mitschüler:innen, fühlten sich demnach im Mittel auch wohler mit ihren Mitschüler:innen. Diese Zusammenhänge zeigten sich nur teilweise im vollständigen Modell, das alle Aspekte der Tiefenstruktur beinhaltete – hier gab es einen negativen Zusammenhang mit der kognitiven Aktivierung (β = −0,12; SE = 0,06) und einen positiven Effekt von konstruktiver Unterstützung (β = 0,23; SE = 0,08).

Tab. 4 Mehrebenen-Regressionsanalyse mit sozialer Eingebundenheit als abhängige Variable und Variablen auf der Tiefenstruktur des Unterrichts als Prädiktoren

Auf der Ebene der Klassen hing das Gemeinschaftsgefühl als einziges Merkmal der Tiefenstruktur positiv mit der sozialen Eingebundenheit der Schüler:innen zusammen (β = 0,31; SE = 0,11). Dieser Zusammenhang bliebt auch unter Einbezug der drei etablierten Skalen zur Erfassung der Unterrichtsqualität (kognitive Aktivierung, Klassenführung und konstruktive Unterstützung durch die Lehrkraft) bestehen, was dafür spricht, dass das Gemeinschaftsgefühl (der Schüler:innen untereinander) Aspekte der sozialen Eingebundenheit erklären kann, die von den drei Basisdimensionen in bisheriger Operationalisierung nicht angesprochen werden. Für den spezifischen Zusammenhang des Gemeinschaftsgefühls mit der sozialen Eingebundenheit spricht ebenfalls, dass das vollständige Modell unter Kontrolle der drei Basisdimensionen auf Ebene der Klassen nur einen geringen zusätzlichen Anteil der Varianz von R2 = 0,63 im Vergleich zum Modell mit dem Gemeinschaftsgefühl als einzigem Prädiktor (R2 = 0,53) aufklärt.

5.5 Fragestellung 3b: Zusammenhänge der Variabilität der sozialen Eingebundenheit mit der Unterrichtsqualität

Zuletzt wurde untersucht, ob Zusammenhänge zwischen der Variabilität der sozialen Eingebundenheit und Aspekte der Unterrichtsqualität bestehen. Auf Ebene der Schüler:innen zeigte sich ein negativer bivariater Zusammenhang zwischen der Variabilität der sozialen Eingebundenheit innerhalb von Schüler:innen (iSDi) und dem Gemeinschaftsgefühl (β = −0,10; SE = 0,03), der konstruktiven Unterstützung (β = −0,12; SE = 0,03) und der Klassenführung (β = −0,08; SE = 0,04). Im vollständigen Modell blieb auf Ebene der Schüler:innen keiner der Zusammenhänge statistisch signifikant und die aufgeklärte Varianz veränderte sich kaum im Vergleich zu dem Modell mit Gemeinschaftsgefühl oder konstruktiver Unterstützung als einzigem Prädiktor (Tab. 5).

Tab. 5 Regressionsanalyse mit Varianz sozialer Eingebundenheit innerhalb von Schüler:innen (iSDi) als abhängige Variable und Variablen auf der Tiefenstruktur des Unterrichts als Prädiktoren

Auf Ebene der Klasse bestand ein negativer bivariater Zusammenhang zwischen der Variabilität der sozialen Eingebundenheit innerhalb von Klassen (iSDj) und dem Gemeinschaftsgefühl (β = −0,13; SE = 0,06) und der konstruktiven Unterstützung (β = −0,15; SE = 0,06). In Klassen, in denen das Gemeinschaftsgefühl der Schüler:innen untereinander höher ausgeprägt war und die Unterstützung durch die Lehrkraft größer war, gab es demnach weniger Abweichungen zwischen den Schüler:innen in ihrer sozialen Eingebundenheit. Wurden alle Aspekte der Tiefenstruktur simultan modelliert, blieb keiner der Zusammenhänge bestehen (Tab. 6).

Tab. 6 Regressionsanalyse mit Varianz sozialer Eingebundenheit innerhalb von Klassen (iSDj) als abhängige Variable und Variablen auf der Tiefenstruktur des Unterrichts als Prädiktoren

6 Diskussion

In der vorliegenden Studie wurde die soziale Eingebundenheit anhand einer ESM-Erhebung im Unterricht erfasst. Ziel war es, zu untersuchen, ob die soziale Eingebundenheit mit Aspekten einer individualisierten Unterrichtsgestaltung und Unterrichtsqualität zusammenhängt.

Im Hinblick auf Fragestellung 1 zeigte sich zunächst, dass der größte Anteil der Varianz der sozialen Eingebundenheit innerhalb und zwischen Schüler:innen lag und nur ein geringer Teil zwischen Unterrichtsstunden und zwischen Klasse verortet war. Schüler:innen wiesen demnach große individuelle Unterschiede in ihrer durchschnittlich wahrgenommenen sozialen Eingebundenheit auf und empfanden Unterrichtsstunden sehr unterschiedlich. Der Befund schließt an bisherige ESM-Studien an, die eine ähnliche Verteilung der Varianz von Konstrukten, die auf psychologische Grundbedürfnisse abzielen, fanden (Patall et al. 2018; Parrisius et al. 2022; Rakoczy et al. 2022). Dennoch wurden auf Ebene der Unterrichtsstunden und der Klasse systematische Variationen der sozialen Eingebundenheit gefunden und es bleibt genauer zu untersuchen, welche praktische Bedeutung in der Größe des Varianzanteils und der Varianzaufklärung durch die hier berichteten Modelle liegt.

Die Varianzverteilung wirft auch theoretische Fragen auf. In der Selbstbestimmungstheorie wird davon ausgegangen, dass die psychologischen Grundbedürfnisse kontextspezifisch erfüllt werden und damit zeitlich variieren sollten (Deci und Ryan 2000). Dennoch scheint es auch zeitlich stabile Anteile der wahrgenommenen sozialen Eingebundenheit auf individueller und auf Klassenebene zu geben. So bleibt zu klären, inwiefern es sich bei der wahrgenommenen sozialen Eingebundenheit um ein kontext- und situationsspezifisches Konstrukt (state) oder ein zeitlich stabiles (aber kontextspezifisches) Konstrukt (trait) handelt und inwiefern die intraindividuelle Ebene, die interindividuelle Ebene und die Klassenebene sich gegenseitig bedingen. Neue methodische Entwicklungen, wie die ESM und dynamischer Strukturgleichungsmodelle, machen es möglich, solche Fragen empirisch genauer in den Blick zu nehmen und theoretische Implikationen abzuleiten (Asparouhov et al. 2018; Neubauer et al. 2018; Neubauer und Voss 2018; Neubauer et al. 2022a). In diesem Zusammenhang wäre interessant die Ursachen für individuelle Unterschiede des Erlebens sozialer Eingebundenheit genauer in den Blick zu nehmen. Neben der sozialen Lernumgebung könnten auch individuell unterschiedliche Ziele und Motive einen Einfluss auf das Erleben sozialer Eingebundenheit im Unterricht haben bzw. deren Bedeutung für das schulische Lernen vermitteln (Schüler et al. 2013; Dweck 2017).

Die Ergebnisse zur Fragestellung 2 machen deutlich, dass entgegen der Befürchtung, in einem individualisierten Unterricht könnte die soziale Eingebundenheit weniger stark ausgeprägt sein (Helmke 2013; Lipowsky und Lotz 2015; Scheidt 2017), ein positiver Zusammenhang zwischen einer autonomen Aufgabenbearbeitung und der sozialen Eingebundenheit in Klassen bestand (Fragestellung 2a). Außerdem hing die Varianz der sozialen Eingebundenheit innerhalb der Klassen nicht negativ mit der Individualisierung des Unterrichts zusammen (Fragestellung 2b). Die Ergebnisse deuten in die Richtung, dass ein stärker individualisierter Unterricht nicht damit einherging, dass die Schüler:innen sich weniger wohl – sondern tendenziell sogar wohler – mit ihren Mitschüler:innen fühlten. In Anlehnung an die Selbstbestimmungstheorie kann als Begründung herangezogen werden, dass schüler:innenorientierte Lernumgebungen in der Regel alle drei psychologischen Grundbedürfnisse, also Autonomie, Kompetenz und soziale Eingebundenheit erfüllen (Vansteenkiste et al. 2020). Diese Annahme spiegelt sich auch im Modell der drei Basisdimensionen wider, das postuliert, dass konstruktive Unterstützung alle drei psychologischen Grundbedürfnisse anspricht (Klieme et al. 2009). Dieser Zusammenhang könnte in besonderem Maße auf die verwendete Stichprobe zutreffen, da Schulen ausgewählt wurden, die den deutschen Schulpreis gewonnen haben und daher in mehreren Qualitätsbereichen gut abgeschnitten haben. So schien es diesen Schulen gelungen zu sein, das Erleben von Autonomie, z. B. durch die autonome Aufgabenbearbeitung, zu fördern und gleichzeitig das Bedürfnis nach sozialer Eingebundenheit zu erfüllen. Die Unterrichtskonzepte an diesen Schulen könnten demnach „best practice“-Beispiele darstellen, die in weiteren Studien genauer untersucht werden sollten.

Mit Blick auf Fragestellung 3a zeigte sich auf der Ebene der Schüler:innen in Einklang mit der Selbstbestimmungstheorie sowie dem Modell der drei Basisdimensionen ein positiver Zusammenhang zwischen dem Gemeinschaftsgefühl und der sozialen Eingebundenheit. Somit scheinen konstruktive Unterstützung (durch die Lehrkraft) und das Gemeinschaftsgefühl (der Schüler:innen untereinander) das Bedürfnis nach sozialer Eingebundenheit der Schüler:innen zu erfüllen. Im Gesamtmodell blieb jedoch nur der positive Zusammenhang mit konstruktiver Unterstützung bestehen, was die Frage aufwirft, inwiefern konstruktive Unterstützung (durch die Lehrkraft) möglicherweise in besonderem Maße die dyadische Beziehung zwischen Lehrkraft und Schüler:innen anspricht. Ähnliche Zusammenhangsmuster zwischen Unterstützung durch Mitschüler:innen und Unterstützung durch Lehrkräfte mit Stress und Leistung der Schüler:innen ließen sich in einer Stude von Hoferichter et al. (2022) finden: auch hier bestanden Zusammenhänge mit der Unterstützung durch Lehrkräfte auf der Individualebene und der Unterstützung durch Mitschüler:innen auf der Klassenebene. In unserer Studie zeigte sich außerdem im Gesamtmodell ein negativer Zusammenhang zwischen kognitiver Aktivierung und sozialer Eingebundenheit. Eine mögliche Erklärung für diesen negativen Zusammenhang könnte sein, dass Schüler:innen, die den Unterricht als kognitiv herausfordernder wahrnehmen als ihre Mitschüler:innen, ein niedrigeres akademisches Selbstkonzept haben und sich daher im Unterrichtskontext insgesamt unwohler und weniger sozial eingebunden fühlen (Allen et al. 2018).

Auf der Klassenebene zeigten die Ergebnisse zur Fragestellung 3 einen statistisch signifikanten positiven Zusammenhang zwischen Gemeinschaftsgefühl und sozialer Eingebundenheit. Auch unter Einbezug der etablierten Skalen zur Erfassung der drei Basisdimensionen (kognitive Aktivierung, Klassenführung und konstruktive Unterstützung durch die Lehrkraft) blieb dieser Zusammenhang bestehen, was für den spezifischen Zusammenhang des Gemeinschaftsgefühls der Schüler:innen untereinander – hier operationalisierte als Zugehörigkeit und gegenseitige Unterstützung sowie Wertschätzung von Heterogenität – mit sozialer Eingebundenheit spricht. Damit scheint der Zusammenhang, den die soziale Lernumgebung mit Bezug auf die Mitschüler:innen mit der sozialen Eingebundenheit auf Klassenebene hatte, über den Zusammenhang mit der Beziehungsqualität zur Lehrkraft hinauszugehen. Die Aufnahme der drei Basisdimensionen in das Modell führte außerdem zu keiner nennenswert größeren Varianzaufklärung, was für das Gemeinschaftsgefühl als stärksten Prädiktor für soziale Eingebundenheit im Modell spricht. Der Zusammenhang zwischen Gemeinschaftsgefühl und sozialer Eingebundenheit überrascht nicht, da beide Konstrukte sich auf die soziale Beziehung zwischen den Schüler:innen beziehen. Unerwartet war hingegen, dass die drei etablierten Skalen zur Erfassung der Basisdimensionen (kognitive Aktivierung, Klassenführung und konstruktive Unterstützung durch die Lehrkraft) auf der Klassenebene keinen Zusammenhang mit sozialer Eingebundenheit zeigten, denn insbesondere in der Grundschule könnte vermutet werden, dass die Lehrkraft als Bezugsperson eine herausragende Rolle für die soziale Eingebundenheit der Schüler:innen spielt (Fauth et al. 2016). Das Ergebnis zeigt zunächst, dass die Schüler:innen Aspekte soziale Lernumgebung mit Bezug auf die Mitschüler:innen von der Beziehungsqualität zur Lehrkraft unterscheiden können und diese jeweils auf unterschiedlichen Ebenen unterschiedliche Zusammenhänge haben können, wie bereits in anderen Studien gezeigt werden konnte (Torsheim et al. 2000; Hoferichter et al. 2022). So ist das Gemeinschaftsgefühl der Schüler:innen untereinander möglicherweise in höherem Maße für die mittlere soziale Eingebundenheit der gesamte Klasse relevant als die konstruktive Unterstützung durch die Lehrkraft, die eher auf die dyadische Beziehung zwischen einzelnen Schüler:innen und der Lehrkraft abzielt. Inwiefern die beiden Aspekte tatsächlich mit unterschiedlichen Erträgen des Unterrichts zusammenhängen, sollte in zukünftigen Studien näher untersucht werden. Dabei könnte das Gemeinschaftsgefühl insbesondere im individualisierten Unterricht eine entscheidende Rolle für die soziale Eingebundenheit der Schüler:innen spielen, da die Lehrkraft hier häufig stärker auf die Selbstregulation der Klasse angewiesen ist und sich möglicherweise nicht mit allen Schüler:innen gelichmaßen beschäftigen kann.

Eine höhere Unterrichtsqualität, insbesondere ein höher ausgeprägtes Gemeinschaftsgefühl der Schüler:innen untereinander und konstruktive Unterstützung durch die Lehrkraft hingen außerdem mit der Variabilität der sozialen Eingebundenheit innerhalb von Schüler:innen und innerhalb von Klassen zusammen (Fragestellung 3b). So zeigten Schüler:innen eine geringere Schwankung bzw. höherer Stabilität der sozialen Eingebundenheit, die ein stärkeres Gemeinschaftsgefühl wahnahmen und sich durch ihre Lehrkraft unterstützt fühlten. Situative Einflüsse führen demnach bei Schüler:innen mit einem hoch ausgeprägten Gemeinschaftsgefühl und wahrgenommenen Unterstützung zu geringeren Veränderungen in der sozialen Eingebundenheit, was als ein Indikator für eine geringere Sensitivität bzw. gesteigerte Resilienz gedeutet werden könnte (Skinner und Pitzer 2012; Jongerling et al. 2015). Auch der Zusammenhang des Gemeinschaftsgefühls (der Schüler:innen untereinander) und der konstruktiven Unterstützung (durch die Lehrkraft) mit einer niedrigen Variation der sozialen Eingebundenheit innerhalb von Klassen kann als positives Ergebnis betrachtet werden, denn es deutet darauf hin, dass in Klassen, die als eine Gemeinschaft wahrgenommen werden und in denen sich die Schüler:innen gegenseitig unterstützen sowie von der Lehrkraft unterstützt werden, die meisten Schüler:innen sich mit ihren Mitschüler:innen wohlfühlen, also es weniger Abweichungen in der Erfüllung ihrer Bedürfnisse nach sozialer Eingebundenheit gibt.

6.1 Limitationen

Die Ergebnisse der Studie müssen vor dem Hintergrund der besonderen Stichprobe betrachtet werden. Durch eine Vorauswahl wurden ausschließlich Schulen einbezogen, die wegen ihres besonderen Umgangs mit Heterogenität ausgezeichnet wurden und somit in verschiedenen Bereichen als Vorreiter oder Positivbeispiele bezeichnet werden können. In diesem Zusammenhang ist festzustellen, dass sich die mittleren Ausprägungen der Unterrichtsqualität nicht wesentlich von denen der ursprünglichen Validierungsstudie der Skalen unterschied (Fauth et al. 2014). Bezogen auf zwei der Aspekte der individualisierten Unterrichtsgestaltung (Individualisierung und selbstgesteuertes Lernen) zeigte sich jedoch ein deutlicher Unterschied zu einer Stichprobe von „Regelschulen“, die in der Validierungsstudie dieser beiden Skalen untersucht wurde (Dumont 2016). Es scheint demnach vor allem die Unterrichtsgestaltung auf der Oberflächenstruktur zu sein, in der diese Schulen sich von „Regelschulen“ unterscheiden. Diese Auswahl ermöglichte zwar eine große Bandbreite von individualisiertem Unterricht zu erfassen, wofür die hohe Variabilität (erfasst über die ICC1) der Aspekte von individualisierter Unterrichtsgestaltung spricht, ist damit jedoch nicht repräsentativ für Grundschulen in Deutschland. Der Zusammenhang zwischen Aspekten der individualisierten Unterrichtgestaltung sowie der Unterrichtsqualität und erlebter sozialer Eingebundenheit sollte demnach anhand weiterer Stichproben untersucht werden. Insbesondere die Interaktion zwischen Oberflächen- und Tiefenstruktur sollte in künftigen Studien genauer in den Blick genommen werden, da Formen individualisierter Unterrichtsgestaltung auf der Oberflächenstruktur zwar ähnlich umgesetzt werden können, sich jedoch in der Tiefenstruktur unterschiedlich darstellen und somit unterschiedlich wirksam sein können (Hess und Lipowsky 2017). Auch wenn die Ergebnisse zeigen, dass eine Anpassung des Unterrichts an die individuellen Lernvoraussetzungen mit der Berücksichtigung des Bedürfnisses nach sozialer Eingebundenheit grundsätzlich vereinbar zu sein scheint, bleibt die Frage offen, wie genau dies praktisch umgesetzt werden kann.

Zu beachten ist außerdem, dass die theoretische Unterscheidung zwischen Oberflächen- und Tiefenstruktur sich nicht vollständig in den eingesetzten Instrumenten, insbesondere der autonomen Aufgabenbearbeitung, widerspiegelt. So lassen sich einzelne Items, wie „Bei uns im Unterricht kann ich vorschlagen, wie ich eine Aufgabe lösen möchte.“ nicht eindeutig einer der beiden Ebenen zuordnen. Hintergrund ist, dass auch in der Selbstbestimmungstheorie einzelne Aspekte eines autonomiefördernden Unterrichts, wie das Bereitstellen von Wahlmöglichkeiten eher der Oberflächenstruktur zugeordnet werden können und andere Aspekte, wie die Einnahme der Perspektive der Schüler:innen eher der Tiefenstruktur entsprechen. In der vorliegenden Studie haben wir uns entschieden, die autonome Aufgabenbearbeitung auf der Oberflächenstruktur zu verorten, da uns wenig Informationen darüber vorliegen, wie qualitativ hochwertig die autonome Aufgabenbearbeitung umgesetzt wurde. Inwieweit die Autonomie der Schüler:innen tatsächlich erfüllt wurde, konnten wir im Rahmen der vorliegenden Studie ebenfalls nicht untersuchen.

Weitere Limitationen ergeben sich aus dem eingesetzten Instrument zur Erfassung der sozialen Eingebundenheit. So bezieht sich die Formulierung des Items nur auf einen Teilaspekt der sozialen Eingebundenheit, nämlich das Wohlbefinden mit den Mitschüler:innen. Weitere mögliche Aspekte, wie das Gefühl der Zugehörigkeit oder der Anerkennung wurden nicht erfasst (Heissel et al. 2018). Außerdem wurde nur nach der Erfüllung des Bedürfnisses gefragt, obwohl in vielen Studien gezeigt wurde, dass auch die Frustration des Bedürfnisses nach sozialer Eingebundenheit, als unabhängiges Konstrukt, mit der Motivation von Schüler:innen zusammenhängt (Neubauer und Voss 2018). Geschuldet ist diese Einschränkung der Entscheidung, die soziale Eingebundenheit anhand eines Einzelitems zu erfassen, um die Beeinträchtigung des Unterrichts durch die Befragung möglichst gering zu halten. Aus dieser Entscheidung ergibt sich als weitere Konsequenz, dass die soziale Eingebundenheit nicht als messfehlerbereinigtes latentes Konstrukt mit mehreren Indikatoren modelliert werden konnte (Dejonckheere et al. 2022).

Auch die Größe der Stichprobe muss kritisch reflektiert werden. Mit einer Anzahl von 22 Klassen, bewegt die Studie sich am unteren Ende hinreichender Stichprobengrößen für Mehrebenenmodelle (Hox und McNeish 2020). Aufgrund fehlender Werte musste außerdem eine große Anzahl von Schüler:innen aus den Analysen ausgeschlossen werden. Darüber hinaus konnten die Varianzen der sozialen Eingebundenheit und Mittelwerte der Prädiktorvariablen, aufgrund der relativ kleinen Stichprobe von 22 Klassen auf der obersten Ebene, nur manifest modelliert werden, was es nicht möglich machte Messfehler und Samplingfehler zu korrigieren (Marsh et al. 2009; Feng und Hancock 2022).

Die Datenlage ließ zudem keinen Rückschluss darauf zu, wie groß der Einfluss von situationsspezifischen Aspekten des Unterrichts auf die soziale Eingebundenheit von Schüler:innen war. Vielmehr wurde der Zusammenhang mit generellen Unterrichtsmerkmalen, die zu Beginn des Schuljahres erfasst wurden, untersucht. Es kann jedoch angenommen werden, dass sowohl die Unterrichtsgestaltung als auch die Unterrichtsqualität über den zeitlichen Verlauf einer Woche stark variieren (Talić et al. 2022). Darüber hinaus könnte eine Interaktion zwischen Individualmerkmalen und Unterrichtsstunden bestehen. In zukünftigen Studien könnten zusätzliche Datenquellen, wie Unterrichtsvideos mit ESM-Daten in Verbindung gebracht werden, um Einflüsse auf Ebene der einzelnen Unterrichtsstunden untersuchen zu können.

6.2 Fazit

Die von einigen Autor:innen geäußerte Befürchtung, dass eine Individualisierung des Unterrichts negative Konsequenzen für die soziale Eingebundenheit hat (Helmke 2013; Lipowsky und Lotz 2015; Scheidt 2017), konnte nicht bestätigt werden. Im Gegenteil zeigten sich positive Zusammenhänge der sozialen Eingebundenheit mit autonomer Aufgabenbearbeitung. Somit konnte die Studie zeigen, dass in einem individualisierten Unterricht auch das Bedürfnis nach sozialer Eingebundenheit der Schüler:innen erfüllt werden kann.

Interessanterweise zeigten sich keine Zusammenhänge zwischen der sozialen Eingebundenheit und den in der Unterrichtsforschung etablierten Skalen zur Erfassung der drei Basisdimensionen der Unterrichtsqualität auf Ebene der Klassen. Das Gemeinschaftsgefühl zeigte hingegen einen stabilen positiven Zusammenhang mit der mittleren Ausprägung auf Ebene der Klasse. Insbesondere in einem individualisierten Unterricht, in dem Schüler:innen an ihren eigenen Aufgaben arbeiten und die Lehrkräfte sich stärker einzelnen Schüler:innen zuwenden sowie das Lernen über das Material steuern, könnte eine Stärkung des Gemeinschaftsgefühls der Schüler:innen untereinander im Unterricht für die soziale Eingebundenheit in der Klasse förderlich sein. In künftigen Studien sollte daher eine differenzierte Erfassung der Unterrichtsqualitätsdimension der konstruktiven Unterstützung unter Einbezug der Facette des Gemeinschaftsgefühls in Betracht gezogen werden.

Die Studie bringt zwei unterschiedliche Aspekte von Gemeinschaft zusammen: Zum einen die Wahrnehmung der Klasse als soziale Lernumgebung, die von Zugehörigkeit, gegenseitiger Unterstützung und Wertschätzung geprägt ist (hier: Gemeinschaftsgefühl). Zum anderen eine hohe Ausprägung und eine geringe Variabilität in der situativen sozialen Eingebundenheit innerhalb der Klasse, was darauf hindeutet, dass alle Schüler:innen sich im Mittel wohl in der Gemeinschaft fühlen. Beide Aspekte hängen positiv miteinander zusammen, aber betrachten die Klasse als Gemeinschaft dabei aus unterschiedlichen Perspektiven. Die vorliegende Studie trägt somit dazu bei, die Klasse als eine Gemeinschaft empirisch zu erfassen und damit die Bedeutung, die Mitschüler:innen für die soziale Eingebundenheit im individualisierten Unterricht haben, näher zu untersuchen.