1 Einleitung

Der kompetente Umgang mit Schriftsprache ist ein entscheidender Teil des Humankapitals in westlichen Industriegesellschaften (Kempert et al. 2016). Unter dem Einfluss der Digitalisierung verändern sich die Anforderungen an Lesen und Schreiben als Schlüsselkompetenzen der wichtigen gesellschaftlichen Ressource Bildung. Erforderlich ist die Fähigkeit, Literalität in der Interaktion mit digitalen Medien zu nutzen (OECD 2018). In der englischsprachigen Literatur wird die erwartete Kompetenz als „digital literacy“ bezeichnet. Gemeint ist die allgemeine Basisfähigkeit zur Orientierung des Lesens und des Schreibens in digitaler Modalität. Nicht inbegriffen ist die spezialisierte Kompetenz, Anforderungen der Informations- und Kommunikationstechnologie zu bewältigen (Grabowski 2014; Wilber 2010).

Wie beim analogen Lesen und Schreiben wird die Aneignung der Fähigkeiten im digitalen Modus als kontextübergreifender Prozess betrachtet, bei dem Lernende aktive Gestalter*innen des eigenen Lernprozesses sind und an Fähigkeiten und Vorwissen aus ihrer Lebenswelt anknüpfen (OECD 2018). Bei einem erheblichen Teil der Jugendlichen mit Migrationshintergrund schließt dies herkunftssprachliches Können und Wissen ein. Dieses ist in der Regel lebensweltlich erworben, also im Kontext der alltäglichen Kommunikation mit relevanten Anderen – der Familie, dem Freundeskreis –, aber auch durch sprachlichen Input aus herkunftssprachlichen Medien, durch Sprachkontakt auf Reisen oder durch Kommunikation mit Personen gleicher Herkunftssprache in der Diaspora.

Im Kontext von Einwanderungsgesellschaften kann, grob vereinfacht, mit zwei Typen von Heranwachsenden gerechnet werden: zum einen mit Kindern und Jugendlichen, die lebensweltlich mehrsprachig sind; ihre individuellen sprachlichen Repertoires bestehen aus Fähigkeiten in Mehrheits‑, Fremd- und Herkunftssprachen, und zum anderen mit Gleichaltrigen, die lebensweltlich einsprachig in der Mehrheitssprache sind, aber zwei- oder mehrsprachige Fähigkeiten durch den schulischen Fremdsprachenunterricht gewinnen. Die Vermittlung von Literalität in der Mehrheitssprache und Englisch (sowie ggf. weiterer Fremdsprachen) ist vornehmlich Aufgabe der Schule. Hingegen finden Migrations-Herkunftssprachen kaum öffentliche Unterstützung. So haben im deutschen Bildungssystem nur etwa zehn Prozent der Kinder und Jugendlichen mit Migrationshintergrund die Möglichkeit zur Teilnahme an einem herkunftssprachlichen Unterrichtsangebot im Rahmen des üblichen Schulangebots (Mediendienst Integration 2020). Unter diesen Bedingungen ist mündliche Kommunikation eine besonders bedeutende Quelle für den Ausbau herkunftssprachlicher Fähigkeiten.

Dennoch zeigen Studien zur Entwicklung der Literalität von Jugendlichen der zweiten Migrationsgeneration, die ihre Schullaufbahn in Deutschland absolvieren (Bildungsinländer*innen), dass sie literale Fähigkeiten auch in ihrer Herkunftssprache entwickeln (Brehmer und Mehlhorn 2018; Usanova und Schnoor 2021). Die Resultate indizieren durchweg positive Zusammenhänge zwischen den Schreibfähigkeiten in Mehrheits‑, Fremd- und Herkunftssprachen (Usanova und Schnoor 2021). Offenbar können die in verschiedenen Sprachen vorhandenen Fähigkeiten als reziproke Ressourcen im Prozess der mehrsprachigen Schreibentwicklung dienen (Schnoor und Usanova 2022; vgl. auch Marx und Steinhoff 2021).

Durch die Digitalisierung werden konventionelle analoge (papierbasierte) literale Praktiken des Lesens und Schreibens durch digitale literale Praktiken ergänzt bzw. ersetzt (Ehmig und Heymann 2013). Die Forschung zum digitalen Lesen und Schreiben konzentriert sich bislang primär auf die Mehrheitssprache, selten auf mehrsprachige Konstellationen. Untersucht wurden digitale Praktiken vornehmlich in qualitativen, z. B. ethnographischen Studien mit kleinen Fallzahlen. Einige Studien, die sich mit Schreibpraktiken von mehrsprachigen Jugendlichen beschäftigt haben, liefern Beispiele dafür, dass deren Mehrsprachigkeit in ihre digitalen Praktiken einfließt (Artamonova und Androutsopoulos 2019; Brehmer 2016; Skerrett 2013). Hierdurch könnten sich gerade in Sprachen, in denen es wenig formalisierten Input gibt, Möglichkeiten ergeben, auch Lesen und Schreiben zu praktizieren (siehe auch Androutsopoulos 2014).

In der vorliegenden Studie wird vor diesem Hintergrund untersucht, inwiefern lebensweltlich mehrsprachige Jugendliche in Deutschland ihre Mehrsprachigkeit beim digitalen Lesen und Schreiben nutzen, d. h. von multiliteralen Fähigkeiten Gebrauch machen. Das Konzept „Multiliteralität“, auf das hier Bezug genommen wird, geht auf die New London Group (1996) zurück. Es dient zur Kennzeichnung multipler literaler Kompetenz und Praxis, die nicht nur die Koexistenz verschiedener Sprachen im Repertoire eines Individuums umschließt, sondern auch die Dimension der verschiedenen Modalitäten der Kommunikation – wie Mündlichkeit und Schriftlichkeit, Text und Bild, analoge und digitale Ausdrucksweisen (Cope und Kalantzis 2000).

Ziel der vorliegenden Studie ist es zu untersuchen, (1) inwiefern lebensweltlich mehrsprachige Jugendliche in Deutschland bei ihren digitalen Praktiken von ihrer Mehrsprachigkeit Gebrauch machen, (2) welche unterschiedlichen Typen des Gebrauchs von Mehrsprachigkeit bei digitalen Praktiken sich finden lassen und (3) ob sich ein Zusammenhang zwischen den mehrsprachigen digitalen Praktiken und der mehrsprachigen Schreibfähigkeit der Jugendlichen finden lässt. Analysiert werden Daten aus einer Teilstichprobe der Untersuchung „Mehrsprachigkeitsentwicklung an der Schwelle zum Beruf. Die Funktion sprachlicher Fähigkeiten für Berufsqualifizierung und Berufseinmündung von Jugendlichen mit Migrationshintergrund (MEZ-2)“ (Gogolin et al. 2021a).

2 Digitale literale Praktiken und literale Fähigkeit

Die für den Bildungserfolg relevanten schriftsprachlichen Fähigkeiten des Lesens und Schreibens beziehen sich auf die grundlegenden kognitiven Fähigkeiten des Dekodierens und Enkodierens von Texten, die als soziale Praktiken in (1) institutionellen und nicht-institutionellen Kontexten, (2) in verschiedenen Sprachen und (3) in verschiedenen Modalitäten eingesetzt werden können. Diese Auffassung von Literalität als soziale Praxis (Barton und Hamilton 1998; Street 1984) erweitert traditionelle Sichtweisen, nach denen Lesen und Schreiben als „rein“ kognitive Fähigkeiten gesehen werden. Demgegenüber werden hier Lesen und Schreiben auch als soziales Handeln verstanden, das in die Lebenswirklichkeit von Personen eingebettet ist. Praktiken, die auf den rezeptiven (Lesen) und produktiven (Schreiben) Umgang mit Schriftsprache generell bezogen sind, werden als literale Praktiken bezeichnet (Anderson et al. 1980; Barton 2007); mit der Bezeichnung digitale literale Praktiken (Bhatt 2012; Tour 2017) wird auf die Modalität der Praktik verwiesen.

Vorliegende Studien zeigen, dass digitale literale Praktiken häufig auftreten und vielfältig im Anspruchsniveau sind (Ehmig und Heymann 2013; Tour 2017) sind. Zum Lesen anspruchsvoller Informationsquellen (die einer direkten Übertragung von Printmedien auf digitale Geräte entsprechen) kommen andere Formen und Funktionen des Lesens hinzu (Ehmig und Heymann 2013). Diese Form der Rezeption von Schriftsprache umschließt Textsorten, die unterschiedliche literale Fähigkeitsniveaus verlangen: von kurzen Nachrichten über Einträge in Blogs und Beiträge zur Interaktion in sozialen Netzwerken bis hin zu längeren, auch wissenschaftsnahen Texten. Eine entsprechende Spannweite von Textsorten findet sich auch in digitaler Schreibproduktion.

Konsens besteht darüber, dass sich analoge literale Praktiken positiv auf die Sprachentwicklung auswirken (Ebert et al. 2020; Hoff 2013; Leseman et al. 2007). Entsprechend eindeutige Befunde liegen für digitale literale Praktiken bislang nicht vor. Die meisten Studien befassten sich mit digitalen Lesepraktiken (für einen Überblick, siehe Ehmig und Heymann 2013; Hahnel et al. 2016). Untersucht wurde, ob digitale Lesepraktiken einen ähnlich positiven Zusammenhang mit dem Leseverständnis haben wie analoge Lesepraktiken. Einige Studien fanden, dass das Lesen gedruckter Texte im Vergleich zu digitalen Texten mit einem besseren Leseverständnis verbunden ist (Jeong 2012; Mangen et al. 2013; Kerr und Symons 2006); andere Studien fanden hingegen keine Unterschiede in den Effekten der beiden Modalitäten des Lesens (z. B. Alisaari et al. 2018; Noyes und Garland 2003).

Breit angelegte Studien zum digitalen Schreiben liegen kaum vor (Döring und Busse 2022). Vorhandene Befunde liefern Hinweise auf substanzielle Unterschiede zwischen analog und digital produzierten Texten, die sich bei Letzteren in längeren Texten und besserer Textqualität niederschlagen (Goldberg et al. 2003; Morphy und Graham 2012; für einen Überblick, siehe Döring und Busse 2022). Dahlström und Boström (2017) fanden in einer ersten explorativen Untersuchung (n = 16) positive Effekte digitalen Schreibens auf Textlänge, Rechtschreibung, Struktur und Inhalt bei L2-Schreibenden, wenn sie Tablets mit Sprechfunktion verwendeten; für L1-Schreibende war dieser Effekt nicht zu finden. Dies könnte ein Hinweis darauf sein, dass L2-Schreibende durch die Nutzung entsprechender digitaler Tools in der Schreibförderung profitieren könnten (vgl. Döring und Busse 2022). Erkenntnisse zu Zusammenhängen zwischen digitalen Schreibpraktiken, Schreibkompetenz und Mehrsprachigkeit liegen nicht vor. Die zitierten Studien konzentrierten sich auf Praktiken in der jeweiligen Mehrheits- bzw. Unterrichts- oder Lehrsprache, zuweilen ohne diese Kondition ausdrücklich zu thematisieren.

Für die vorliegende Studie gehen wir von einer bidirektionalen Funktion digitaler literaler Praktiken im mehrsprachigen Kontext aus: Zum einen können multilinguale literale Fähigkeiten als Zugang zu digitalen Lebenswelten in den verschiedenen beteiligten Sprachen dienen. Zum anderen kann das Praktizieren von digitalem Lesen und Schreiben die Entwicklung literaler Fähigkeiten in diesen Sprachen fördern, da sich hier ein zusätzlicher Raum für den literalen Gebrauch der Herkunftssprache öffnet. Vor diesem Hintergrund liegt es nahe, Mehrsprachigkeit und Multimodalität literaler Praktiken gemeinsam zu betrachten. Unsere Studie adressiert folgende Forschungsfragen:

FF1:

Machen lebensweltlich mehrsprachige Jugendliche in ihrer digitalen Praxis von ihrer Mehrsprachigkeit Gebrauch?

FF2:

Welche Typen mehrsprachiger digitaler Literalitätspraktiken lassen sich finden?

FF3:

In welchem Verhältnis stehen digitale mehrsprachige Literalitätsprofile zu den Schreibfähigkeiten der Jugendlichen in ihren verschiedenen Sprachen?

3 Methode

3.1 Design und Stichprobe

Die Daten stammen aus dem Projekt „Mehrsprachigkeit an der Schwelle zum Beruf. Die Funktion sprachlicher Fähigkeiten für Berufsqualifizierung und Berufseinmündung von Jugendlichen mit Migrationshintergrund (MEZ-2)“. Es handelt sich um ein Anschlussprojekt an die Längsschnittstudie „Mehrsprachigkeitsentwicklung im Zeitverlauf (MEZ)“ (Gogolin et al. 2017; Brandt et al. 2022).Footnote 1 Ziel der MEZ-Studie war es, die sprachliche Entwicklung lebensweltlich ein- und mehrsprachiger Jugendlicher im Verlauf der Sekundarstufe zu untersuchen. Hierzu wurde ein Panel von 2103 Jugendlichen mit deutsch-monolingualem, deutsch-russischem bzw. deutsch-türkischem Sprachhintergrund in einem Zwei-Kohorten-Sequenz-Design (Kohorte 1: Start in Klasse 7; Kohorte 2: Start in Klasse 9) mit vier Erhebungswellen hinsichtlich ihrer rezeptiven (Lesen) und produktiven (Schreiben) sprachlichen Fähigkeiten getestet. Stichprobenauswahl sowie Organisation und Durchführung der Genehmigungsverfahren und der Datenerhebung erfolgten durch ein externes Erhebungsinstitut (IEA Hamburg 30,31,a, b, 2018). Mit Blick auf die Vergleichbarkeit der mehrsprachigen Fähigkeiten wurden nur Jugendliche mit einer Schullaufbahn in Deutschland in das Panel aufgenommen. Auswahlkriterium war, dass sie das deutsche Bildungssystem spätestens seit der 3. Klasse besuchen. Neuzugewanderte Jugendliche waren also nicht Teil der Studie; der weitaus überwiegende Teil gehört der zweiten Migrationsgeneration an. Um eine ausreichende Anzahl von Jugendlichen mit entwickelten mehrsprachigen Lese- und Schreibfähigkeiten zu garantieren, wurde etwa die Hälfte der Stichprobe an Gymnasien akquiriert. Die vierte und letzte MEZ-Erhebung fand im Sommer 2018 statt. Im Frühjahr 2019 erfolgte eine postalische Adressaktualisierung der ca. 1000 Personen, die sich zu einer Teilnahme an weiteren Erhebungen bereiterklärt hatten. Die beiden Erhebungen (MEZ-Welle 5 und 6) fanden im Frühjahr 2020 und 2021 statt. Insgesamt nahmen 728 der ursprünglich 2003 Personen an MEZ‑2 teil (416 deutsch-monolingual, 140 deutsch-russisch, 138 deutsch-türkisch, 34 mit anderen Sprachen mehrsprachig). Der Stichprobenausfall erklärt sich überwiegend aus dem Umstand, dass die Teilnehmenden nicht mehr an den Schulen anzutreffen waren, in denen die ersten vier Erhebungswellen durchgeführt wurden. Für unsere Analysen wurden Daten aus der fünften Welle verwendet. Wir konzentrieren uns auf eine Teilstichrpobe von lebensweltlich mehrsprachigen Teilnehmenden (deutsch-russisch sowie deutsch-türkisch aufwachsende Lernende), insgesamt 278 Personen. Für 277 davon liegen gültige Daten zu digitalen Nutzungspraktiken vor. Somit umfasst die Analysestichprobe n = 277 Untersuchungseinheiten. Das Durchschnittsalter der Teilnehmenden beträgt 18,1 Jahre (SD = 1,1 Jahre). 71,5 % der Stichprobe sind weiblich, 28,5 % männlich (0 % divers). Die Teilnehmenden befinden sich in unterschiedlichen Phasen des Übergangs vom sekundären in den tertiären Bildungsbereich: 169 Personen sind noch an einer allgemeinbildenden Schule (Kohorte 1 in Klasse 11, Kohorte 2 in Klasse 13), zehn absolvieren eine Berufsvorbereitung (z. B. Berufsvorbereitungsjahr BVJ, Berufsbildungsjahr BG), 24 sind in einer dualen Berufsausbildung, 13 in einer schulischen Berufsausbildung, 37 im Studium, drei sind berufstätig in Voll- oder Teilzeit und 20 Teilnehmende gehen einer anderen Tätigkeit nach (z. B. Bundesfreiwilligendienst, Schulabschluss nachholen, Jobben).

3.2 Datenerhebung

In Welle 1 bis 4 fand die Datenerhebung als Gruppentestung in den an MEZ teilnehmenden Schulen statt.

In Welle 5 und 6 erfolgte die Datenerhebung individualisiert in einem gemischten Design (Multi-Mode-Survey) aus onlinebasiertem und postalischem Format. Gründe hierfür sind die unterschiedliche Tauglichkeit von Erhebungsverfahren für die verschiedenen Bestandteile der Untersuchung (rezeptive und produktive Sprachdaten, Befragungsdaten) und die unterschiedliche Eignung für die Verbindlichkeit der Teilnahme.

Die Datenerhebung erfolgte computergestützt mit einem Online-Testmodul, in das sich die Teilnehmenden mit persönlichen Login-Daten einwählen konnten. Darin konnten sie durch die Bestandteile der Testsitzung (Sprachtests und Fragebogen) navigieren. Die Testsitzungen dauerten je nach sprachlichem Hintergrund der Teilnehmenden ca. 90 bzw. 120 min. Paper-and-Pencil-basierte Testteile wurden durch Einblenden der Aufgaben und Bildimpulse in die Online-Testsitzung integriert, so dass deren Bearbeitungszeit kontrollierbar war. Für die Gesamtstichprobe wurden ein Fragebogen sowie rezeptive und produktive Sprachtests in Deutsch und Englisch administriert. In den Teilstichproben der lebensweltlich mehrsprachigen Teilnehmenden wurden zusätzlich Sprachtests in Russisch bzw. Türkisch eingesetzt.

3.3 Erhebungsinstrumente

Im Folgenden erläutern wir die Operationalisierung der in der Datenanalyse verwendeten Variablen. Eine deskriptiv-statistische Übersicht befindet sich im Anhang (Tab. 3).

3.3.1 Digitale Praktiken

Die digitalen Praktiken in Deutsch, Englisch und Russisch bzw. Türkisch wurden mittels Online-Fragebogen erhoben. Die Teilnehmenden wurden gefragt, wie oft sie in ihrer Freizeit digitale Geräte bzw. Medien für folgende Aktivitäten auf Deutsch, Englisch und Russisch bzw. Türkisch nutzen: (a) „TV-Sendungen/Serien/Videoblogs zeitversetzt oder live sehen (z. B. Netflix, AmazonPrime, YouTube)“ (b) „Lesen (z. B. Blogs, News, eBooks, Artikel, Beiträge, Soziale Netzwerke)“, (c) „Sprechen (z. B. telefonieren, Sprach- oder Videonachrichten)“, (d) „Hören (z. B. Podcasts, Hörbücher, Radio, Musik)“, (e) „Schreiben (z. B. Nachrichten, Emails, Blogs)“. Die Häufigkeit der Nutzung wurde auf einer fünfstufigen Likert-Skala eingeschätzt: 1 = „Mehrmals täglich“, 2 = „Täglich“, 3 = „Ein- bis mehrmals die Woche“, 4 = „Ein- bis mehrmals im Monat“, 5 = „Seltener oder nie“. Für die Datenanalysen wurde die ursprüngliche Skala invertiert, damit hohe Werte eine häufige Nutzung repräsentieren.

3.3.2 Schreibaufgaben

Die Schreibfähigkeit wurde mit der „MEZ-Schreibaufgabe Jugendliche“ (Gogolin et al. 2022) gemessen. Das Instrument basiert auf Vorstudien und Pilotierungen, die im Rahmen der Evaluation des BMBF-geförderten Modellprogramms „Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund“ durchgeführt wurden (Schreibaufgabe „FÖRMIG-Bumerang“, Dirim und Döll 2009; Döll 2012; Reich et al. 2009). Als Rahmung für die Aufgabe wird das Schreiben eines Probeartikels für ein Jugendmagazin gesetzt. Verfasst werden soll in diesem Rahmen eine Anleitung zum Bau eines Gegenstandes auf der Grundlage von Fotos der Arbeitsschritte. Als Ziel wird genannt, dass Leser*innen den Gegenstand nach der Lektüre auch ohne die Fotos bauen können. Zur Vermeidung von Trainingseffekten bei der wiederholten Messung der Schreibfähigkeit zu den vier MEZ-Erhebungswellen wurden alternative Bildimpulse entwickelt und pilotiert (Schnoor 2022).

Für die Messung der Schreibfähigkeiten in Deutsch und den Herkunftssprachen Russisch bzw. Türkisch wurde in der 5. Welle der ursprüngliche Bildimpuls (Bumerangbau) verwendet. Für die Messung der Schreibfähigkeit in der Schulfremdsprache Englisch wurde das Thema an die curricularen Anforderungen des Fremdsprachenunterrichts angepasst. Hier ging es um die Schilderung einer Aktivität, ebenfalls als Bildsequenz dargestellt. In der MEZ-Welle 5 war dies der Ausflug einer Freundesgruppe in eine Großstadt.

Die Erhebung der Schreibprodukte fand handschriftlich in Testheften statt, die den Teilnehmenden vorab per Post zugesendet wurden; Aufgabenstellung und Bildimpuls wurden über das Online-Testmodul administriert. Die Auswertung der Texte erfolgte durch geschulte Auswerter*innen anhand eines sprachübergreifenden Kompetenzmodells für Schreibfähigkeit (siehe Abb. 1; ausführlich in Gogolin et al. 2022; Klinger und Schnoor 2020). Das in MEZ verwendete Kompetenzmodell basiert auf einem generischen Modell der Sprachentwicklung (Ehlich 2005), das für die Messung bildungsrelevanter schriftsprachlicher Fähigkeiten um Dimensionen erweitert wurde, die am Konzept der Merkmale für Textqualität (Puranik et al. 2008; Wagner et al. 2011) orientiert sind.

Abb. 1
figure 1

Sprachübergreifendes MEZ-Kompetenzmodell für Schreibfähigkeit (siehe Gogolin et al. 2022)

Das Kompetenzmodell umfasst die Dimensionen Textpragmatik, Lexik, Syntax und Produktivität. Zur Messung werden diese durch konkrete Phänomene operationalisiert, die sich als Entwicklungsmerkmale des Schreibens sowohl im Jugendalter (z. B. Nippold et al. 2005) als auch in mehreren Sprachen (z. B. Gantefort 2013; Risse 2014; Usanova 2019) erwiesen haben. Ausgewertet wurden Aufgabenbewältigung (Pragmatik), Wortschatz (Nomen, Verben, Adjektive), Bildungssprachliche Elemente, Satzverbindungen und Textlänge. Sie dienen als empirische Indikatoren für ein statistisches Messmodell, das die Qualität der von den Jugendlichen im Kontext schulischer Bildung verfassten Texte schätzt (Schnoor 2019). Das theoretische Kompetenzmodell konnte in einer Reihe von empirischen Studien erfolgreich für die Messung des Konstrukts multilingualer Schreibfähigkeit verwendet werden (Schnoor und Usanova 2022; Usanova und Schnoor 2021; zu den psychometrischen Eigenschaften des Instruments, siehe Gogolin et al. 2022; Klinger und Schnoor 2020; Schnoor 2019).

Für die hier präsentierten Analysen wurden für die Schreibfähigkeit in Deutsch, Englisch und Herkunftssprachen die Scores als das ungewichtete arithmetische Mittel über die genannten Auswertungskategorien in POMP-MetrikFootnote 2 gebildet. Hauptkomponentenanalysen zeigten für die Untersuchungsstichprobe (n = 277) eine Eindimensionalität des Konstrukts in allen Sprachen mit sehr guten Reliabilitäten (Cronbachs α): Deutsch = 0,888; Englisch = 0,903; Herkunftssprache = 0,893.

3.3.3 Hintergrundmerkmale

Auf Grundlage vorliegender Informationen aus den ersten Erhebungen der MEZ-Studie erstellten wir Dummy-Variablen für das Geschlecht (0 = männlich, 1 = weiblich) und die besuchte Schulform (1 = Gymnasium, 0 = andere Schulform). Die Angaben zum Bildungsniveau der Eltern stammten aus dem Elternfragebogen der ersten MEZ-Welle. Die Eltern wurden nach den Bildungsabschlüssen gefragt, die sie entweder im Herkunftskontext oder in Deutschland erreichten. Für die hier präsentierten Analysen wurde eine binäre Kodierung benutzt (1 = „mindestens eine Hochschulzugangsberechtigung“, 0 = „alle anderen Bildungsabschlüsse“). Die Information zum familialen Sprachgebrauch stammt aus dem Schülerfragebogen der ersten MEZ-Welle und wurde in binärer Kodierung als „1 = meistens Deutsch“ gegenüber 0 = „andere“ benutzt.

3.4 Analysestrategie

Die für die vorliegende Studie durchgeführten Datenanalysen bestehen aus drei Schritten. Zunächst wurde geprüft, inwiefern die Teilnehmenden ihre Mehrsprachigkeit bei ihren digitalen Praktiken nutzen (FF1). Hierfür wurden Mittelwerte der Nutzungshäufigkeit nach Nutzungsart und Sprache verglichen. Anschließend wurden digitale Nutzungsprofile mehrsprachiger literaler Praxen geschätzt (FF2). Hierzu fassten wir mittels Latenter Klassenanalyse (Latent Class Analysis, LCA) die Antwortmuster der Teilnehmenden auf die Fragen zu ihren digitalen Lese- und Schreibgewohnheiten zu Typen zusammen. Grundlage für das latente Messmodell waren folgende sechs kategorialen Variablen, die als Indikatoren fungieren: „Lesen Deutsch (Y1)“, „Schreiben Deutsch (Y2)“, „Lesen Englisch (Y3)“, „Schreiben Englisch (Y4)“, „Lesen Herkunftssprache (Y5)“, „Schreiben Herkunftssprache (Y6)“. Um die Anzahl möglicher Antwortmuster zu verringern und damit die Bildung kleiner, schwach diskriminierender Gruppen zu unterbinden, wurden die ursprünglich fünf Antwortkategorien zu zweien zusammengefasst: „Ein bis mehrmals im Monat oder seltener“ (1) versus „Ein- bis mehrmals die Woche oder häufiger (2)“.Footnote 3 Dies reduziert die Anzahl möglicher Antwortmuster von 56 = 15.625 auf 26 = 64. Als Software wurde Mplus 8.2. genutzt (Muthén und Muthén 1998–2017). Als Methode zum Umgang mit fehlenden Werten bei den Indikatorvariablen wurde full information maximum likelihood estimation (Enders 2010; Muthén et al. 1987) verwendet.

Im dritten Schritt wurde untersucht, ob sich die mehrsprachigen digitalen Literalitätsprofile hinsichtlich der gemessenen mehrsprachigen Schreibfähigkeiten der Teilnehmenden unterscheiden, ob es also einen Zusammenhang zwischen mehrsprachiger Schreibfähigkeit und digitalen literalen Praxen gibt (FF3). Hierzu wurden mittels eines Generalisierten Linearen Modells (Generalized Linear Model, GLM) für relevante Hintergrundvariablen adjustierte Mittelwerte in den mehrsprachigen Schreibfähigkeiten geschätzt und deren Differenzen zwischen den Profilen auf Signifikanz getestet.

4 Ergebnisse

4.1 Mehrsprachige digitale Praktiken

Ergebnisse des Analyseschritts bezüglich FF1, ob die lebensweltlich mehrsprachigen Jugendlichen bei ihren digitalen Praktiken von Mehrsprachigkeit Gebrauch machen, zeigt Abb. 2: Mittelwerte und 95 %-Konfidenzintervalle für sprachliche Modalität (operationalisiert in Sehen, Lesen, Sprechen, Hören, Schreiben) für Deutsch, Englisch und Herkunftssprachen. Da es sich bei der Stichprobe um Jugendliche handelt, die ihre Herkunftssprachen im Migrationskontext (in Deutschland) erwerben, betrachten wir die herkunftssprachlichen Fähigkeiten gemeinsam und trennen nicht nach Russisch oder Türkisch.

Abb. 2
figure 2

Verteilung multilingualer digitaler Praktiken von lebensweltlich mehrsprachigen Sekundarschüler*innen (n = 277). (1 = „Seltener oder nie“, 2 = „Ein- bis mehrmals im Monat“, 3 = „Ein- bis mehrmals die Woche“, 4 = „Täglich“, 5 = „Mehrmals täglich“)

Für Deutsch zeigt sich, dass die Jugendlichen die Modalitäten Schreiben, Sprechen und Sehen eher täglich und Lesen und Hören eher wöchentlich nutzen. Das ist erwartungsgemäß; Deutsch ist die Umgebungssprache und, wie in anderen Studien über Bildungsinländer, erwies sich auch in der MEZ-Studie Deutsch als die am stärksten entwickelte Sprache im sprachlichen Repertoire der Jugendlichen (Usanova und Schnoor 2021).

Für Englisch werden dagegen eher rezeptive Praktiken berichtet. Die Befragten nutzen die Modalitäten Hören, Lesen und Sehen tendenziell wöchentlich, Sprechen und Schreiben nur monatlich. Diese Trennung nach Rezeption und Produktion kann mit generellen Beobachtungen zur Sprachentwicklung in Fremdsprachen erklärt werden. Hier schreitet der Erwerb rezeptiver sprachlicher Fähigkeiten den produktiven Fähigkeiten voran (Gogolin et al. 2021b). Zudem zeigt sich, dass die Modalität Hören am häufigsten auf Englisch genutzt wird, was sich vermutlich durch die Dominanz englischsprachiger Popkultur erklären lässt.

In den Herkunftssprachen (Russisch/Türkisch) ist die Nutzungshäufikeit digitaler Sprachpraktiken in Mündlichkeit und Schriftlichkeit unterschiedlich. Für Sprechen und Hören werden eher wöchentliche Aktivitäten, für Sehen, Lesen und Schreiben eher monatliche Aktivitäten angegeben. In der selteneren Nutzung von Schriftlichkeit kann eine Konsequenz der geringen oder fehlenden Möglichkeit des institutionellen Lernens der Herkunftssprachen in der Migrationssituation zum Ausdruck kommen. Digitale Sprachpraktiken wären demnach vor allem eine zusätzliche Quelle für Erhalt und Ausbau mündlicher Fähigkeiten. Immerhin aber zeigt sich, dass Schreiben als Praxis in dem gleichen Maße in Herkunftssprachen ausgeübt wird wie in der Fremdsprache Englisch.

Die Analysen zu FF1 zeigen, dass die befragten Jugendlichen in ihrer digitalen sprachlichen Praxis von Mehrsprachigkeit Gebrauch machen, wobei das Ausüben verschiedener Modalitäten an den Entwicklungsstand in den jeweiligen Sprachen gekoppelt zu sein scheint. Erwartungsgemäß zeigt sich für die Mehrheitssprache Deutsch das häufigste und ausgewogenste Nutzungsverhalten. Englisch als Fremdsprache und die Herkunftssprachen Russisch bzw. Türkisch werden seltener und weniger ausgewogen über die Modalitäten genutzt.

4.2 Mehrsprachige digitale Literalitätsprofile

Zur Beantwortung von FF2 wurde im zweiten Analyseschritt eine Unterscheidung von Typen von Literalitätsprofilen vorgenommen. Hierzu wurden die Teilnehmenden aufgrund ihrer Antwortmuster auf die Fragen zu den Häufigkeiten ihrer digitalen Lese- und Schreibpraktiken zu homogenen Gruppen zusammengefasst. Ziel war es, diejenige Anzahl von Gruppen zu identifizieren, die am besten mit den beobachteten Antwortmustern zu vereinbaren ist.

Tab. 1 enthält Statistiken zur Beurteilung der Modellgüte (d. h. die Anpassung des latenten Messmodells an die beobachteten Daten) für Modelle von k = 1 bis k = 6 Klassen. Insgesamt zeigt das 4‑Klassenmodell die beste Passung.

Tab. 1 Vergleiche von LCA Klassenlösungen von k = 1 bis k = 6

In Abb. 3 sind die vom Modell vorhergesagten Erwartungswerte der Indikatorvariablen der digitalen Lese- und Schreibpraktiken in der Mehrheitssprache Deutsch, der Fremdsprache Englisch sowie den Herkunftssprachen Russisch/Türkisch abgetragen. Sie repräsentieren das wahrscheinlichste Antwortmuster für Personen des jeweiligen Typs. Die horizontale Achse enthält die Praktiken nach Sprache und Modalität; die vertikale Achse die Häufigkeit.

Abb. 3
figure 3

Erwartungswerte für die 4‑Klassen-Lösung. (n = 277; MS = Mehrheitssprache Deutsch; FS = Fremdsprache Englisch; HS = Herkunftssprache Russisch/Türkisch. Typ I (n = 51, 18,4 %), „Monolinguale literale Praktiken (MS)“, Typ II (n = 27, 9,7 %), „Multilinguale literale Praktiken (MS-FS-HS)“, Typ III (n = 63, 22,7 %), „Bilinguale literale Praktiken HS (MS-HS)“, Typ IV (n = 136, 49,1 %), „Bilinguale literale Praktiken FS (MS-FS)“)

Anhand der Muster der Erwartungswerte wurden folgende Typbenennungen vorgenommen: Typ I (n = 51, 18,4 %), „Monolinguale literale Praktiken (MS)“ zeichnet sich durch eine auf das Deutsche beschränkte Praxis aus. Typ II (n = 27, 9,7 %), „Multilinguale literale Praktiken (MS-FS-HS)“ zeichnet sich durch regelmäßigen Gebrauch aller drei Sprachen aus. Typ III (n = 63, 22,7 %), „Bilinguale literale Praktiken HS (MS-HS)“ und Typ IV (n = 136, 49,1 %), „Bilinguale literale Praktiken FS (MS-FS)“ zeichnen sich durch jeweils bilinguale digitale Literalitätspraktiken mit unterschiedlichen Sprachkombinationen aus: Deutsch-Herkunftssprache (Typ III) und Deutsch-Englisch (Typ IV).

Mit Blick auf die Prävalenz der gefundenen Typen in der untersuchten Population der deutsch-türkisch und deutsch-russischen Jugendlichen repräsentiert Typ IV (Deutsch-Englisch) mit etwa 50 % der Stichprobe die vorherrschende Praxis mehrsprachiger Literalität in digitaler Modalität. Typ III (Deutsch-Herkunftssprache) und Typ I (monolingual Deutsch) sind mit jeweils etwa 20 % der Stichprobe weniger als halb so groß. Typ II (Gebrauch aller drei Sprachen) stellt mit nur knapp 10 % einen Spezialtyp dar.

Im Vergleich der Typen zeigen sich folgende Besonderheiten:

  1. 1.

    Sie unterscheiden sich nach der Anzahl der genutzten Sprachen beim digitalen Lesen und Schreiben: monolingual, zweisprachig oder mehrsprachig.

  2. 2.

    Sie unterscheiden sich nach der Häufigkeit der literalen Praxen zwischen den Sprachen. Während sich fürs Deutsche keine beachtenswerten Unterschiede zeigen, unterscheiden sich die Typen primär nach der Nutzung der Fremdsprache Englisch oder der Herkunftssprache Russisch/Türkisch. Dabei zeigt sich für das Englische eine größere Variabilität der Nutzungshäufigkeit, die sich bei den Herkunftssprachen eher auf die Pole des Kontinuums verteilt.

  3. 3.

    Sie unterscheiden sich in Bezug auf die Häufigkeit der literalen Praxen innerhalb der Sprachen. Im Deutschen ist das Schreiben die dominante Praxis in allen Typen. Im Englischen zeigt sich mehr Varianz. Während bei den Typen I und II Lesen und Schreiben ausgewogen sind, ist bei den Typen III und IV das Lesen die dominante Praxis. In den Herkunftssprachen zeigt sich für Typ II Ausgewogenheit der Lese- und Schreibpraxis. Bei Typ III liegt das höhere Gewicht auf Schreiben, bei Typen I und IV auf Lesen.

4.3 Digitale mehrsprachige Literalitätsprofile und mehrsprachige Schreibfähigkeit

Zur Beantwortung von FF3 wurde im dritten Analyseschritt nach einem möglichen Zusammenhang zwischen mehrsprachigen digitalen literalen Praktiken und der Schreibfähigkeit gefragt. Hierzu wurden Unterschiede in den mehrsprachigen Schreibfähigkeiten zwischen den gefundenen Typen getestet (Tab. 2).Footnote 4 Zu den auffälligen Ergebnissen gehören hohe Standardabweichungen der typspezifischen Mittelwerte; sie liegen deutlich über den Werten für die Gesamtstichprobe (siehe Anhang). Dies zeigt eine erhebliche Leistungsheterogenität in der Schreibfähigkeit innerhalb der Typen in allen Sprachen an, was keinen systematischen Zusammenhang zwischen Nutzungstyp und Schreibfähigkeit erwarten lässt. Varianzanalysen zeigen keinen signifikanten Zusammenhang zwischen mehrsprachigen digitalen literalen Praktiken und der Schreibfähigkeit im Deutschen. Im Englischen und in der Herkunftssprache lassen sich hingegen signifikante Zusammenhänge mit kleiner Effektstärke finden, wobei post hoc Tests zeigen, dass dies im Englischen nur die Mittelwertdifferenz zwischen Typ I „Monolinguale literale Praktiken (MS)“ und Typ IV „Zweisprachige literale Praktiken (MS-FS)“ (∆M = 7,1, p = 0,034, d = 0,234) sowie in den Herkunftssprachen zwischen Typ I „Monolinguale literale Praktiken (MS)“ und Typ III „Zweisprachige literale Praktiken (MS-HS)“ (∆M = 5,9, p = 0,043, d = 0,223) betrifft.

Tab. 2 Mittelwertvergleiche multilingualer Schreibfähigkeit nach digitalen Nutzungsprofilen (zusammengefasstes Ergebnis für 60 Imputationen)

5 Diskussion

Durch die fortschreitende Digitalisierung der Lebenswelt finden auch die literalen Praktiken des Lesens und Schreibens vermehrt in digitaler Modalität statt. Mit Blick auf lebensweltlich mehrsprachige Jugendliche zeigen Studien zum sprachlichen Handeln in digitalen Kontexten, dass sie ihre migrationsbedingte Mehrsprachigkeit in der Kommunikation nutzen (Artamonova und Androutsopoulos 2019; Brehmer 2016). Eine offene Frage der empirischen Bildungsforschung ist, ob sich der positive Zusammenhang zwischen analogen literalen Praktiken und Sprachentwicklung (z. B. Leseman et al. 2007) auch auf die digitale Modalität übertragen lässt. In der vorliegenden Studie wurde sowohl der Frage nach Nutzung ihres sprachlichen Repertoires durch lebensweltlich mehrsprachige Jugendliche in digitalen literalen Praktiken nachgegangen als auch untersucht, in welchem Verhältnis diese Praktiken zu den gemessenen Schreibfähigkeiten in den einzelnen Sprachen stehen. Mit der Analysestrategie sind Antworten auf drei Forschungsfragen intendiert: (FF1) nach dem Gebrauch der verschiedenen Sprachen lebensweltlich mehrsprachiger Jugendliche in ihrer digitalen Praxis; (FF2) nach Typen mehrsprachiger digitaler Literalitätspraktiken; (FF3) nach dem Verhältnis zwischen digitalen mehrsprachigen Praktiken und mehrsprachigen Schreibfähigkeiten der Befragten.

Mit Blick auf die erste Forschungsfrage zeigte sich, dass die Jugendlichen in ihrer digitalen Praxis durchaus von Mehrsprachigkeit Gebrauch machen. Das Ausüben digitaler Praktiken scheint an die Fähigkeiten in der jeweiligen Sprache gekoppelt zu sein. Erwartungsgemäß weisen die Jugendlichen in der Mehrheitssprache Deutsch die häufigsten und ausgewogensten digitalen Praktiken auf. In der Fremdsprache Englisch ist eine Konzentration auf rezeptive Praktiken zu erkennen, in der Herkunftssprache Russisch/Türkisch ein Schwergewicht auf mündlichen Praktiken. Es zeigt sich, dass Digitalität durchaus zusätzliche Gelegenheitsstrukturen für den Gebrauch von Herkunftssprachen im Migrationskontext schafft und dass diese genutzt werden. Dies dürfte zumindest eine Quelle für die Unterstützung der Vitalität dieser Sprachen auch in der zweiten und den folgenden Generationen darstellen.

Insgesamt bestätigen unsere Analysen den Befund vorangegangener Forschung, dass digitale Praxen in mehreren Dimensionen beschreibbar sind (Bhatt 2012). Wir fanden Variabilität in folgenden Dimensionen: Modalitäten (Sehen, Lesen, Hören, Sprechen, Schreiben); Teilfähigkeiten (rezeptiv/produktiv; mündlich/schriftlich), Sprachenwahl (einsprachig, zweisprachig, mehrsprachig), Sprachenkombination (MS; MS-FS; MS-HS; MS-FS-HS). Jede dieser Dimensionen bildet ein Kontinuum, auf welchem individuelle digitale Praxen lokalisiert werden können. Diese mehrdimensionale Struktur mehrsprachiger digitaler Praxen zeigt eine große Nähe zum theoretischen Modell der Biliteralitätskontinua bei Hornberger (2003), bei dem die isolierte Betrachtung von Aspekten mehrsprachiger Literalität in binären Kategorien (z. B. „einsprachig“ und „zweisprachig“, „rezeptiv“ und „produktiv“) durch ein mehrdimensionales Konstrukt ersetzt wurde, das die verschiedenen Aspekte mehrsprachiger Literalität als stetig verteilte Kontinua auffasst und sie zu komplexen Profilen integriert.

Mit Blick auf die zweite Forschungsfrage wurden vier Typen mehrsprachiger digitaler Literalitätspraktiken in der untersuchten Population von Jugendlichen mit Migrationshintergrund unterschieden. Hierbei zeigten sich vier Typen, die sich nach der Anzahl der genutzten Sprachen beim digitalen Lesen und Schreiben (monolingual, zweisprachig oder mehrsprachig) und bezüglich der Häufigkeit der genutzten Modalitäten zwischen und innerhalb der Sprachen unterscheiden. Der am häufigsten vertretene Typ IV enthält die Kombination mit der Fremdsprache Englisch, was angesichts von deren Präsenz im Angebot digitaler Medien nicht verwunderlich ist. Aber auch die Kombination mit der Herkunftssprache Russisch/Türkisch wird in erheblichem Maße genannt. Dabei zeigt sich für Englisch eine größere Variabilität in den sprachlichen Modalitäten, die genutzt werden, wogegen sich die Nutzungshäufigkeit bei den Herkunftssprachen eher auf die Pole des Kontinuums verteilt.

Innerhalb der Sprachen zeigt sich, dass Schreiben im Deutschen die dominante Praxis in allen Typen ist. Im Englischen variiert die Häufigkeit der Praktiken zwischen den Typen, entweder als ausgewogen häufiges Lesen und Schreiben (Typ I, Typ II) oder mit Lesen als dominanter Praxis (Typ III, Typ IV). In den Herkunftssprachen ist die Variation noch größer: ausgewogene Lese- und Schreibpraxis (Typ II), Schreiben als dominante Praxis (Typ I, Typ IV) oder Lesen als dominante Praxis (Typ III). Diese Unterschiede im Nutzungsverhalten wurde ähnlich auch bei der Verteilung von analogen literalen Praktiken von lebensweltlich mehrsprachigen Jugendlichen beobachtet (Ilić 2016). Hier kann sich zeigen, dass die verschiedenen Aktivitäten mit unterschiedlichen Schwierigkeiten verbunden sind, deren Bewältigung sich nicht nach dem Modus der Anwendung unterscheidet: So wird beim Lesen der Kontext durch den Text vorgegeben und dadurch dazugehöriges Vorwissen bei den Leser*innen aktiviert. Die Rezeption des Textes findet vor dem Hintergrund dieses Vorwissens statt. Beim Schreiben hingegen müssen Schreibende selbst den Kontext des zu verfassenden Texts festlegen und Vorwissen aktiv selbst stimulieren, um Text produzieren zu können (Shanahan 2016). Dass die lebensweltlich mehrsprachigen Jugendlichen im Migrationskontext das Deutsche beim Schreiben in analoger ebenso wie in digitaler Form am häufigsten nutzen ist angesichts des Umstands zu erwarten, dass sie in dieser Sprache die häufigste und intensivste Schreiberfahrung besitzen.

In Bezug auf den Zusammenhang zwischen Typen digitaler literaler Praktiken und multilingualer Schreibfähigkeit konnte – sprachenübergreifend – kein systematischer Zusammenhang festgestellt werden. Im Deutschen zeigte sich kein signifikanter Zusammenhang zwischen den digitalen literalen Praktiken und der Schreibfähigkeit, was zu erwarten war, da die untersuchten Jugendlichen ihre Bildungserfahrung ausschließlich in deutschen Schulen gesammelt hatten. Damit dürfte ihr Kompetenzniveau im Deutschen die Schwelle überschreiten, die für das Ausüben der digitalen literalen Praktiken, nach denen gefragt wurde, mindestens erforderlich ist. Um hier weiter differenzieren zu können, müsste nach Praktiken mit unterschiedlichem Schwierigkeitsgrad gefragt werden. Für das Englische zeigten sich hingegen signifikante Zusammenhänge mit kleiner Effektstärke zwischen Typ I und Typ IV; für die Herkunftssprachen zwischen Typ I und Typ III. Bei diesen Sprachen geht offenbar die Häufigkeit der digitalen literalen Praxen mit dem jeweiligen sprachlichen Entwicklungsstand einher – allerdings fallen diese Effekte schwach aus. Bemerkenswert ist indes, dass sowohl die (allenthalben präsente) Fremdsprache Englisch, die für die heute Heranwachsenden zunehmend zur zweiten Verständigungssprache wird, als auch die Herkunftssprachen der Befragten für literale Aktivitäten im digitalen Raum genutzt werden. Dies bedeutet zugleich, dass hier Ressourcen für die Entwicklung der Mehrsprachigkeit zur Verfügung stehen, deren Potenzial für angeleitete sprachliche Bildung noch kaum ausgelotet ist.

Um dieses Potenzial genauer zu erfassen wären Studien wünschenswert, in denen zusätzlich zum quantitativen Kriterium der Nutzungshäufigkeit auch das qualitative Kriterium des Anforderungsniveaus differenzierter erfasst wird. Das Spektrum digitalen Schreibens reicht von kurzen Textnachrichten in der Form der Verschriftung von mündlicher Rede, unterstützt durch Ersatzzeichen für mimisch-gestische und stimmliche Signale (wie Emojis), bis zu literarischen Werken oder wissenschaftlichen Abhandlungen. Welche digitalen literalen Praktiken besonders förderlich für die Weiterentwicklung von Multiliteralität wären, ist ein Desiderat zukünftiger (Unterrichts‑)Forschung.

Die vorliegende Studie hat eine Reihe weiterer Limitationen. Zu den wichtigsten gehört, dass die angewendete Forschungsmethodik aus Querschnittsanalysen besteht, die weder Aussagen über Entwicklungsverläufe in digitalen literalen Praktiken und mehrsprachiger Schreibfähigkeit noch über Interaktionen zwischen diesen erlauben. Dies betrifft insbesondere die kausale Richtung von Zusammenhängen zwischen digitalen literalen Praktiken und Schreibfähigkeiten. Mit Blick auf die Schul- und Unterrichtspraxis ist festzuhalten, dass sich aus den Befunden keine direkten Empfehlungen ableiten lassen. Hierfür wären im Anschluss an Ergebnisse der Grundlagenforschung zu Praktiken multilingualer Literalität Studien nötig, die von vornherein eine Transferperspektive einschließen (siehe z. B. Döring und Busse 2022; Schrader et al. 2020).