1 Einleitung

Für die Lehrpersonenbildung wird seit langem ein stärkerer Praxisbezug in der hochschulischen Ausbildungsphase gefordert: Es besteht der Wunsch nach einem größeren Bezug zur schulischen Praxis, das Bedürfnis, realitätsnahe Situationen des Unterrichts niederschwellig erlebbar zu machen und somit eine Vorbereitung auf das tatsächliche Unterrichtsgeschehen zu ermöglichen (Gröschner und Hascher 2019; Hascher 2014; König und Rothland 2018). Mit den Forderungen nach authentischen Lernsituationen im Studium stellen sich, neben den grundsätzlichen Fragen nach dem „optimalen“ Verhältnis zwischen Theorie und Praxis im Lehramtsstudium und der tatsächlichen Wirksamkeit von mehr Praxis im Studium, auch Fragen nach der methodisch-didaktischen Gestaltung von Lehr- und Lern-Arrangements im Kontext der hochschulischen Rahmenbedingungen. So hält die Kultusministerkonferenz (2019, S. 6) fest, dass für die Vermittlung von bildungswissenschaftlichen Inhalten der Ansatz der Fall- und Praxisorientierung genutzt werden kann, um über simulierte und audiovisuell dargestellte „komplexe Schul- und Unterrichtssituationen und deren methodisch geleitete Interpretation“ zur Kompetenzentwicklung beizutragen. Der Einsatz von Unterrichtsvideos stellt fachübergreifend eine mittlerweile etablierte Option zur professionsorientierten Kompetenzentwicklung von Lehrpersonen dar (Krammer et al. 2016; Seidel und Thiel 2017).

Zudem drängen mit der Digitalisierung der Lehrpersonenbildung neue digitale Technologien im Kontext von Educational Technologies in die Aus- und Weiterbildung von Lehrpersonen vor. Diese sollten hinsichtlich ihrer Eignung und Nützlichkeit zur Förderung von Bildungsprozessen untersucht werden (Scheiter 2021; van Ackeren et al. 2019). Bei näherer Betrachtung von Educational Technologies lässt sich feststellen, dass eine Vielzahl an konkurrierenden Begriffen wie Bildungstechnologie, Informations- und Kommunikationstechnologie im Unterricht (IKT), Technology Enhanced Learning (TEL), Educational Technology oder Instructional Technology im erziehungswissenschaftlichen Diskurs zu finden sind, welche es ein- und abzugrenzen gilt (Mayrberger und Kumar 2014). Dies thematisieren Mayrberger und Kumar (2014) indem sie eine Perspektive auf das Lehren und Lernen mit Medien über die Dichotomie aus Mediendidaktik und Educational Technology aufzeigen. Educational Technology kann demnach als „study and practice of facilitating learning and improving performance by creating, using, and managing appropriate technological processes and resources“ definiert werden (Januszewski und Molenda 2008, S. 2; Spector et al. 2014). In diesem Kontext wird die Virtual Reality Technologie (VR) in Form von 360°-Videos in VR verortet, da über diese immersive Technologie eine Interaktion mit einem Lerngegenstand erreicht werden kann, die über eine passive Betrachtung oder Darstellung hinaus geht. 360°-Videos in VR bergen Motivationspotenzial für eine aktive Auseinandersetzung mit dem Lerngegenstand (Hebbel-Seeger 2018; Jensen und Konradsen 2018; Rosendahl und Wagner 2021), denn in Abgrenzung zu traditionellen Videos können Nutzer*innen in virtuellen Umgebungen erweiterte handlungsorientierte Teilnahmemöglichkeiten über die freie Wahl der Blickrichtung in einem 360°-Video in VR ermöglicht werden (Dörner et al. 2019; Rosendahl und Wagner 2021; Kavanagh et al. 2017; Zinn 2020). Reale Räume werden über 360°-Videos abgebildet und die betrachtende Person kann durch das Tragen einer Virtual Reality-Brille (VR-Brille) die Blickrichtung aus der zuvor festgelegten Kameraposition durch die Kopfbewegung frei wählen (Hebbel-Seeger 2018; Rosendahl und Wagner 2021). In Abgrenzung dazu basieren fiktive VR-Räume auf rechnergestützten Konstruktionen. Im Zentrum von VR steht bei beiden Möglichkeiten insbesondere die Erfahrung, an einem fremden (virtuellen) Ort (z. B. einem Unterrichtsraum) zu sein (Dörner et al. 2019). In VR werden die Sinneseindrücke der Nutzer*innen über künstliche und/oder natürliche Nutzungsschnittstellen übertragen und können so eine realitätsbezogene Navigation und Interaktion in der virtuellen Umgebung ermöglichen und damit eine authentischere Erfahrung realisieren (Prange 2021; Zinn und Ariali 2020).

Im vorliegenden Beitrag wird davon ausgegangen, dass Unterrichtssituationen vermittelt über 360°-Videos in VR als Educational Technology eine Ergänzung in der Theorie-Praxis-Verzahnung der Lehrpersonenbildung darstellen und zur Professionalisierung von Lehrpersonen beitragen können. Hierbei sind folgende drei Grundannahmen leitend: (1.) Professionelle Handlungskompetenz wird nicht durch schematisches Anwenden wissenschaftlichen Wissens erworben, sondern durch erprobendes und einübendes Handeln der Lehramtsstudierenden im Kontext einer reflexiven Auseinandersetzung mit unterrichtlichen Situationen (König und Rothland 2018). (2.) Das wissenschaftliche Wissen bildet als theoretische und empirische Wissensbasis den zentralen Orientierungs- und Reflexionsrahmen für das Unterrichtserproben (Kunter 2011). (3.) Um mit den vielschichtigen Herausforderungen des Unterrichtsgeschehens adäquat umgehen zu können, bedarf es einer professionellen Wahrnehmung und Reflexion des Geschehens. Sherin und van Es (2008) entwickelten hierzu den Ansatz zur Professionellen Unterrichtswahrnehmung im Lehrberuf.

Mit diesen drei Grundannahmen und im Bezugsfeld der Educational Technologies fokussiert der vorliegende Beitrag die Entwicklung und Erprobung von virtuellen unterrichtlichen Situationen, die als praktische Erfahrungsräume bestehende Praxisfelder (z. B. Schulpraktika) im beruflichen Lehramtsstudium ergänzen können. Das Potenzial wird in möglichst realitätsnahen Trainings innerhalb eines geschützten Raumes verortet, die einen praxis- und wissenschaftsorientierten Kompetenzerwerb im Rahmen der ersten Lehrpersonenbildungsphase ermöglichen sollen.

Ausgehend davon geht der Forschungsbeitrag der Frage nach, inwiefern Unterrichtsszenarien über 360°-Videos in VR von Lehramtsstudierenden als geeignet bewertet werden, um realitätsnahe, handlungsorientierte Lernsituationen im Lehramtsstudium abbilden zu können. Zur Abschätzung der zielgruppenbezogenen Eignung der entwickelten virtuellen Unterrichtszenarien werden die Konstrukte Technologieakzeptanz, Immersion und Präsenzerleben bei Lehramtsstudierenden und Studierenden der Berufspädagogik in einem quasi-experimentellen Setting quantitativ analysiert und qualitative Erkenntnisse zur wahrgenommenen Nützlichkeit für die Professionalisierung und zu Entwicklungsperspektiven der Umgebung generiert. Im Beitrag werden hierzu im zweiten Abschnitt der theoretische Hintergrund zu videobasierter Fallarbeit (Abschn. 2.1) und zu 360°-Videos in VR als Educational Technology (Abschn. 2.2) in der Lehrpersonenbildung dargestellt. Zudem wird der theoretische Hintergrund zu den in der Studie erfassten Konstrukten Technologieakzeptanz, Immersion und Präsenzerleben (Abschn. 2.3) präsentiert. Im dritten Abschnitt wird der Forschungsstand vorgestellt, worauf die Beschreibung der Forschungsfragen der Untersuchung folgt. Nachdem im vierten Abschnitt die Anlage der Untersuchung beschrieben wird, werden im fünften Abschnitt die Ergebnisse dargeboten. Der Beitrag schließt im sechsten Abschnitt mit einer Zusammenfassung und Diskussion der Befunde.

2 Theoretischer Hintergrund

Um der Komplexität von Unterricht bereits in der ersten Lehrpersonenbildungsphase gerecht zu werden und um eine Erprobung von handlungsbezogenem Wissen in unterrichtlichen Kontexten zu ermöglichen, wird videobasierte Fallarbeit (mit traditionellen Videos) in der Lehre seit langem zur Theorie-Praxis-Verzahnung herangezogen (Gaudin und Chaliès 2015). Insbesondere scheinen hierbei der Einbezug, die Auswertung und Besprechung der Videoaufzeichnungen geeignet, die Ausbildung von Lehrpersonen zu unterstützen und Kompetenzmessungen im Bezugsfeld zu ermöglichen (Jahn et al. 2011). Vorteile der Nutzung von Unterrichtsvideos liegen in der hohen Authentizität, der Möglichkeit der Wiederholung einzelner Sequenzen, der Selektion bestimmter Sequenzen und der standardisierten Wiederholbarkeit von ganzen Unterrichtssituationen (Syring et al. 2015). Neue Technologien, wie 360°-Videos in VR, sollen darüber hinaus im Vergleich zu traditionellen Videos authentischere Perspektiven, Situierung und Immersion ermöglichen und stellen somit eine interessante Erweiterung des bislang beforschten Bereichs der text- und videobasierten Fallarbeit dar (Hebbel-Seeger 2018; Rosendahl und Wagner 2021).

Nachstehend erfolgt ein Überblick zum theoretischen Hintergrund des Forschungsgegenstandes – der videobasierten Fallarbeit in der Ausbildung von Lehrpersonen und im Konkreten der 360°-Videos in VR als Educational Technology – mit dem Ziel, die Bedeutung der fokussierten Technologie im Bezugsfeld der Lehrpersonenbildung herauszuarbeiten. Daran anschließend werden die beobachteten Konstrukte Technologieakzeptanz, Immersion und Präsenzerleben präsentiert, welche bereits in rezenten Forschungsarbeiten zum Einsatz von 360°-Videos in VR vielfach betrachtet werden, um die Eignung entsprechender Umgebungen zu analysieren (vgl. Ferdig und Kosko 2020; Gandolfi et al. 2021; Tarantini 2021).

2.1 Videobasierte Fallarbeit in der Lehrpersonenbildung

Die Verwendung von Unterrichtsvideos in der Lehrpersonenbildung ist eine etablierte und bewährte Methode. So werden Videos zur Analyse fremden oder eigenen Unterrichts genutzt, um komplexe Situationen realitätsnah nachempfinden zu können (Gold et al. 2016; Syring et al. 2015). Unterrichtsvideos werden mit verschiedenen Schwerpunktsetzungen in der hochschulischen Lehrpersonenbildung eingesetzt. Schwerpunkte liegen u. a. im Kontext der Professionellen Unterrichtswahrnehmung (Blomberg et al. 2011), dem Umgang mit Heterogenität und Inklusion (Koschel und Weyland 2020; Seidel und Stürmer 2014) oder im Kontext der Verbesserung des Feedbacks bei angehenden Lehrpersonen (Baumgartner 2018). Im Hinblick auf die Professionalisierung werden positive Effekte des fallbasierten Lernens auf Analyse- und Entscheidungsfähigkeit, Überzeugungen zum Lehren und Lernen, epistemologische und soziale Entwicklungen sowie auf das Praxiswissen und die Metakognition festgestellt (Gold et al. 2016; Zumbach et al. 2008).

2.2 360°-Videos in VR als Educational Technology

Im Gegensatz zu traditionellen Videos ermöglichen 360°-Videos die freie Wahl der Perspektive in der virtuellen Umgebung, da eine 360°-Kamera den gefilmten Raum in alle Richtungen abbildet (Hebbel-Seeger 2018). Aus der Perspektive des Standpunkts der 360°-Kamera kann der gesamte Raum gesehen werden, jedoch immer nur der Ausschnitt, den das Blickfeld des menschlichen Auges zulässt. Immersive 360°-Videos in VR, die über eine VR-Brille betrachtet werden, ermöglichen es den Nutzer*innen, in der Egoperspektive Teil des Geschehens zu werden. Ein Vorteil der 360°-Videos in VR ist die vergleichsweise einfache Erstellung von VR-Umgebungen. Computergenerierte VR-Umgebungen müssen dagegen zeit- und kostenaufwändig konstruiert werden, bieten jedoch eine größere Möglichkeit zur Interaktion mit Objekten sowie künstlichen Personen (Avataren), als dies 360°-Videos in VR derzeit können.

Durch diese erweiterten technologischen Rezeptionsmöglichkeiten, die 360°-Videos in VR bieten, lassen sich Anknüpfungspunkte für die Lehrpersonenbildung finden. In einem systematischen Review zeigen Snelson und Hsu (2020) die Einsatzmöglichkeiten von 360°-Videos beispielsweise im Bereich des Sportunterrichts, der Meeresbiologie und der Lehrpersonenbildung. Die Möglichkeiten, die 360°-Videos in VR im Vergleich zu traditionellen Videos beim Lernen bieten, könnten einerseits in der individuellen Raum-Aneignung (der Möglichkeit, den Bildausschnitt selbstbestimmt zu wählen) liegen, welche Auswirkungen auf den Prozess der Wissenskonstruktion durch das individuelle Erschließen und Interpretieren durch die subjektive Wahl des Bildausschnitts begründet (Hebbel-Seeger 2018). Des Weiteren lassen sich Vorteile durch das immersive Potenzial der 360°-Videos in VR und die Situierung der Lernenden in Bezug auf den Lerngegensand ableiten (ebd.).

Ferdig und Kosko (2020) sehen Forschungsbedarfe und Anknüpfungspunkte insbesondere in der Lehrpersonenbildung im Bereich der immersiven „embodied experience“ beim Betrachten der Videos (S. 852). Um zukünftige Lehrpersonen auf ihre Tätigkeit vorzubereiten, muss unter anderem die Lücke zwischen explizitem Wissen (z. B. zu Unterricht oder Lerninhalten) und implizitem Wissen (z. B. tatsächlich in der Klasse unterrichten) verringert werden (ebd.). Durch die Auseinandersetzung mit und Reflexion von unterrichtlichen 360°-Video sehen Ferdig und Kosko (2020) in Anlehnung an Endsley (2000) die Möglichkeit, implizite Wissensressourcen zu aktivieren und in den Lernprozess zu integrieren. So unterstellt auch Ibrahim-Didi (2015, S. 237) bei der Unterrichtsreflexion vermittelt über 360°-Videos in VR die Möglichkeit einer ganzheitlichen „embedded and embodied, multidimensional […] reflection“ (Walshe und Driver 2019), um die Situationsgebundenheit der Unterrichtsreflexion im Sinne eines „embodied mode of reflection“ in einem immersiven Setting zu ermöglichen (Kinsella 2007, S. 395).

2.3 Die Konstrukte Technologieakzeptanz, Immersion und Präsenzerleben

Ausgehend vom theoretischen Hintergrund stellt sich für den Einsatz dieser Educational Technology in Bereichen der Lehrpersonenbildung die Frage nach der tatsächlichen Eignung der Technologie für die Zielgruppe und deren Messung. Bezogen auf die Lehrpersonenbildung im berufsbildenden und im allgemeinbildenden Bereich liegen im deutschsprachigen Raum bislang jedoch keine Forschungserkenntnisse zur Eignung von 360°-Videos in VR in der Lehrpersonenrolle (Egoperspektive) vor.

Vom Stand der Lern‑, Medien- und Usability-Forschung ausgehend ist festzustellen, dass Lerneffekte in Lehr- und Lernarrangements nicht per se über die gewählte Technologie, sondern auch über dessen Technologieakzeptanz, das Präsenzerleben, die Immersion und insbesondere durch das didaktische Design bzw. die inhalts-, situations- und zielgruppenbezogene Adaptivität zu belegen sind (Rey 2009; Jahnke 2016; Zinn et al. 2016). Zentrale Theorien im Bezugsfeld des Lehrens und Lernens in Virtual Reality bilden dabei insbesondere die Ansätze zur Embodied Cognition, zum erfahrungsbasierten und situativen Lernen sowie zur Präsenztheorie (Zinn und Ariali 2020). Auf Basis des Forschungstands, welcher ausführlich in Abschn. 3 berichtet wird, erscheinen die Konstrukte Technologieakzeptanz, Immersion und Präsenzerleben domänenübergreifend relevant, um 360°-Videos in VR bezüglich ihrer technologie- und zielgruppenbezogenen Eignung zu bewerten (Ferdig und Kosko 2020; Gandolfi et al. 2021; Berns et al. 2018). Im Nachstehenden werden diese drei Konstrukte näher vorgestellt.

2.3.1 Technologieakzeptanz

Obwohl mit der VR Technologie allgemein vielfältige Potenziale verbunden sind, so wird die Technologieakzeptanz in der praktischen Anwendung durch verschiedene fördernde wie hemmende Aspekte der Nutzer*innen und dem technologischen Setting bedingt (Eutsler und Long 2021; Pletz und Zinn 2020). Es bestehen verschiedene Ansätze zur Konzeptualisierung des Konstrukts Technologieakzeptanz ausgehend von der Grundannahme, dass ein Zusammenhang zwischen Einstellungen, Verhaltensabsicht und beobachtbarem Verhalten bei den Nutzenden besteht. Technologieakzeptanz kann als positive Entscheidung zur Annahme einer Innovation durch Anwender*innen beschrieben werden (Eutsler und Long 2021; Pletz und Zinn 2020). Somit lassen sich durch die Betrachtung der Technologieakzeptanz (mit den Facetten wahrgenommenen Nützlichkeit, Benutzerfreundlichkeit und Nutzungsintention) Rückschlüsse auf das beobachtbare Verhalten der Nutzenden einer Technologie ziehen, welche von Relevanz sind für den Einsatz neuer Educational Technologies in der Lehrpersonenprofessionalisierung (Zinn und Ariali 2020). Zudem besteht bisher wenig systematische Evidenz zur Akzeptanz der 360°-Videos in VR, ihrer Nutzung sowie fördernden und hemmenden Aspekten in der Professionalisierung von Lehrpersonen, speziell im berufsbildenden Lehramtsbereich.

Ausgehend von der Theory of Reasoned Action (Ajzen und Fishbein 1980), die sich mit der Verhaltensintention als zentralem Element von Verhalten befasst, wurde die Theory of Planned Behavior, mit dem zusätzlichen Faktor der wahrgenommenen Verhaltenskontrolle, entwickelt (ebd.; Pletz und Zinn 2020). Im Kontext dessen sollte bei empirischen Studien daher beachtet werden, dass über die Modelle zur Technologieakzeptanz zwar Aussagen zur Ausprägung der Technologieakzeptanz möglich sind, sich jedoch keine konkreten inhaltlichen Empfehlungen ableiten lassen, so dass in dieser Studie zusätzlich qualitative Elemente eingebunden werden, um fördernde und hemmende Aspekte der Nutzung der 360°-Videos in VR (Abschn. 5.2) zu erfassen.

2.3.2 Immersion

Das Konstrukt Immersion wird durch ein fehlendes Zeitbewusstsein, den Verlust des Bewusstseins für die reale Welt sowie das Gefühl, sich in der Umgebung der Aufgabe zu befinden beschrieben (Jennett et al. 2008). Ramalho und Chambel (2013) sehen in der Immersion einen wichtigen Faktor beim Betrachten von 360°-Videos, da diese die Emotionen und das Präsenzerleben beeinflusst. Rupp et al. (2016) beschreiben 360°-Videos als hochgradig immersive Erlebnisse, die ein Gefühl der Präsenz auslösen können. Nutzer*innen wird es ermöglicht, sich auf den Inhalt dieser Videos besser zu konzentrieren durch das Gefühl physisch Teil der Umgebung zu sein. Hebbel-Seeger (2018) nennt die Situierung als relevanten Aspekt für einen erfolgreichen Lernprozess, welcher erfolgreicher ist, je mehr Lernende in eine Situation hineingezogen werden und stellt somit den Mehrwert durch das immersive Potenzial von 360°-Videos in VR im Vergleich zu klassischen Videos durch die Möglichkeit mittels VR-Brille in eine Situation „einzutauchen“ hervor. Um sich einer Eignungseinschätzung von 360°-Videos in VR in der beruflichen Lehrpersonenbildung zu nähern, scheint daher eine systematische Betrachtung der wahrgenommenen Immersion der Videoumgebung im Kontext der Technologie und des spezifischen Lerninhalts interessant, da ein hoher Immersionsgrad die Situierung im Lernprozess begünstigen kann (Hebbel-Seeger 2018).

2.3.3 Präsenzerleben

Jennett et al. (2008, S. 643) definieren Präsenzerleben in Abgrenzung zur Immersion: „Presence is only a small part of the […] experience: whereas presence is often viewed as a state of mind, we argue that immersion is an experience in time“. Eine einheitliche Definition für das Konstrukt Präsenzerleben besteht nicht. Die Konstrukte Immersion und Präsenzerleben sind eng verknüpft und überlappend (ebd.). Eine gängige Beschreibung von Witmer und Singer beschreibt Präsenzerleben als „the subjective experience of being in one place or environment, even when one is physically situated in another“ (1998, S. 225). Lee sieht das Gefühl des Präsenzerlebens als zentrales Element aller mediatisierten Erlebnisse und definiert dieses als „psychological state in which the virtuality of experience is unnoticed“ (2004, S. 32). Wirth et al. (2008, S. 71) beschreiben das Präsenzerleben als „das Phänomen […] bei der Mediennutzung für Momente zu vergessen, dass die rezipierten Inhalte medienvermittelt sind“, allgemeiner auch als Phänomen der Non-Mediation beschrieben. Das räumliche Präsenzerleben als Teilkonstrukt des Präsenzerlebens beschreibt, inwieweit sich eine Person am Ort des medienvermittelten Geschehens fühlt („feeling of being there“) (Lee 2004; Wirth et al. 2008, S. 72). Für die Untersuchung von 360°-Videos in VR erscheint die Betrachtung des Konstrukts räumliches Präsenzerleben sinnvoll, da damit forschungsseitig ein Interesse besteht, Aussagen über die Eignung der Videos zur Simulation von realem Unterricht in einem schulischen Setting machen zu können. Zudem befasst sich die Präsenztheorie im Kontext der Forschung zu virtuellen Umgebungen mit dem Zusammenhang zwischen Lern‑/Arbeitsleistung und wahrgenommener Präsenz in VR (Witmer und Singer 1998; Zinn und Ariali 2020), um entsprechende Zusammenhänge zu analysieren.

3 Forschungsstand

Für den vorliegenden Beitrag ist der Blick auf den Forschungsstand zu videobasierten Interventionen und dessen Implikationen im Kontext der Lehrpersonenbildung hinsichtlich der genutzten 360°-Videos in VR relevant. Empirische Belege zur Nutzung traditioneller Videos in der Lehrpersonenbildung zeigen positive Effekte unter anderem auf Kompetenzen zur Analyse und Beurteilung von Unterrichtssituationen (Blomberg et al. 2013; Boling 2007; Santagata et al. 2007; Zhang et al. 2011), auf das Verständnis der Denkprozesse der Lernenden (Santagata und Guarino 2011) oder auf die Übernahme der Perspektive von Lernenden (Kumschick et al. 2018). In Abgrenzung zum beforschten Bereich der traditionellen Unterrichtsvideos in der Lehrpersonenbildung ist die Evidenz zur Nutzung von 360°-Unterrichtsvideos in VR in der Lehrpersonenbildung gering. Das verwundert, da diese als Educational Technology eine Erweiterung in der Lehrpersonenbildung darstellen könnten, welche sich durch wahrgenommene Immersion, individuelle Raumaneignung und Situierung der Lernsituation auszeichnen kann (Hebbel-Seeger 2018).

Vorliegende Forschungsarbeiten zum Einsatz von 360°-Videos in VR in der Lehrpersonenbildung zeigen Schwerpunkte auf inhaltlicher Ebene im Bereich Reflexion von eigenem oder fremdem Unterricht sowie auf Technologieebene bezüglich der Bewertung der Technologie für die eigene Professionalisierung, Bewertung der Nützlichkeit, der Immersion beim Betrachten der Videos und des Präsenzerlebens durch die Testpersonen. So untersuchten Walshe und Driver (2019) den Effekt von 360°-Unterrichtsvideos auf die Selbstreflexion von Lehramtsstudierenden, indem sie in einer interpretativen Fallstudie (N = 4) die immersive „embodied experience“ der Selbstreflexion betrachteten, welche ein nuancierteres Verständnis von Microteachingprozessen ermöglicht und die Selbstwirksamkeitserwartung der Testpersonen dadurch unterstützt (Walshe und Driver 2019, S. 97). Theelen et al. (2019) führten eine Interventionsstudie mit Lehramtsstudierenden (N = 141) im virtuellen Klassenraum durch. In einem Pre- und Post-Test markierten die Testpersonen Videofragmente in traditionellen Unterrichtsvideos, die sie als unterrichtlich relevant wahrnahmen. Während der Intervention übten die Testpersonen das noticing relevanter Unterrichtssituationen für zwei Stunden anhand fremder 360°-Videos in VR und besuchten assoziierte Lehrveranstaltungen. Anschließend folgte ein leitfadengestütztes Interview zur Bedeutung der beobachteten „interpersonal teacher behaviour“ sowie zur Selbsteinschätzung bezüglich des Abschneidens im Pre- und Post-Test (Theelen et al. 2019, S. 586). Im Post-Test zeigten sich ein verbessertes noticing von relevanten Unterrichtsereignissen und verbesserte Äußerungen zu den Ereignissen anhand der theoriebasierten Terminologie. Zudem fühlten sich die Testpersonen besser auf den Unterricht vorbereitet (Theelen et al. 2019).

Im Rahmen einer interpretativen Fallstudie (N = 16) lässt Feurstein (2019) Lehramtsstudierende den eigenen Unterricht mittels 360°-Videos in drei verschiedenen Testdesigns (Cardboard und Smartphone, VR-Brille, webbasierter Player) reflektieren. Zudem werden Fragen zu Didaktik, Inhalt und Leistung gestellt und Angaben zur wahrgenommenen Nützlichkeit im Vergleich zu traditionellen Videos gemacht. Es zeigt sich eine größere wahrgenommene Nützlichkeit der 360°-Videos gegenüber den traditionellen Videos sowie eine Relevanz der Kameraposition hinsichtlich der Nützlichkeit. Balzaretti et al. (2019) vergleichen die Reflexion des eigenen und fremden Unterrichts und stellen eine positive Bewertung der 360°-Videos durch die teilnehmenden Lehramtsstudierenden (N = 28) hinsichtlich der freien Perspektivwahl und des wahrgenommenen Präsenzerlebens fest. Auch im Kontext des Präsenzerlebens untersuchten Ferdig und Kosko (2020) das noticing von angehenden Mathematiklehrpersonen an Grundschulen (N = 34). Es zeigten sich bessere Bewertungen hinsichtlich Immersion, Präsenzerleben und Videobewertung durch die Videonutzung. Die Testpersonen befanden sich in drei verschiedenen Untersuchungsdesigns (traditionelles Video auf Laptop, 360°-Video auf Laptop, 360°-Video in VR). Sie erhielten die Aufgabe, entscheidende Momente einer Unterrichtssequenz aufzunehmen. Zudem wurden die Konstrukte Immersion und Präsenzerleben und Fragen zur allgemeinen Bewertung beim Betrachten der Videos erhoben. Signifikante Unterschiede lassen sich für das Präsenzerleben und die Immersion feststellen. Die Kontrollgruppe mit traditionellen Videos zeigte durchgängig geringere Zustimmungswerte. Zusätzlich war das noticing in der Gruppe mit 360°-Videos in VR bezogen auf pädagogisches Handeln im Mathematikunterricht deutlich ausgeprägter. Gandolfi et al. (2021) adaptierten und validierten ein Fragebogeninstrument zur Bewertung von immersiven 360°-Videos in VR in der ersten Phase der Lehrpersonenbildung (N = 44). Die Ergebnisse ermöglichen Rückschlüsse auf die Validität der „Extended Reality Presence Scale (XPRS)“ in Bezug auf Kompetenzentwicklung im Kontext von 360°-Videos in VR in der Lehrpersonenbildung.

Um Potenziale von 360°-Videos in VR für Lehr- und Lernprozesse außerhalb der Lehrpersonenbildung abzuleiten, bestehen Forschungsarbeiten im Bereich der Technologiebewertung durch die Lernenden hinsichtlich der Technologieakzeptanz (Berns et al. 2018; Vallade et al. 2020), um die Verhaltensintention zur Technologienutzung abzuschätzen. So testeten Berns et al. (2018) immersive 360°-Videos in VR in Form einer App im Kontext des Fremdsprachenlernens. Testpersonen (N = 24) wurden in eine realistische Kommunikationssituation vermittelt über 360°-Videos in VR versetzt. Die Testpersonen wurden durch eine Video-Loop-Simulation geführt und mussten nach Betrachten einer Videoszene Fragen mündlich beantworten, woraufhin die App per Chatbot reagierte. Anschließend folgte eine Befragung zur Technologieakzeptanz mit dem Ziel, Rückschlüsse zum Potenzial immersiver 360°-Videos als VR-Umgebungen für realistische Gelegenheiten des Fremdsprachenlernens zu ziehen. Die 360°-Video-App wurde hinsichtlich der Facetten der Technologieakzeptanz durchweg positiv bewertet, was auf eine mögliche positive Nutzungsintention hindeutet (ebd.).

Zusammenfassend zeigt sich, dass beim Einsatz von 360°-Videos in VR in der Lehrpersonenbildung thematisch die reflexive Fallarbeit meist im Zentrum der Forschungsbemühungen steht. Darüber hinaus wird davon ausgegangen, dass die Immersion über 360°-Videos in VR im Kontext eine erweiterte embodied reflection (Walshe und Driver 2019) eine Situierung des Lerngegenstands bewirkt (Hebbel-Seeger 2018). Die Wahrnehmung und Bewertung der 360°-Videos in VR durch Testpersonen fällt hinsichtlich der Nützlichkeit und Vorbereitung auf den Unterricht positiv aus (Feurstein 2019; Theelen et al. 2019) und die Einsatzpotenziale sind, trotz möglicher technischer und finanzieller Hürden in der Umsetzung, vielfältig. In Anknüpfung an Berns et al. (2018), deren Studie im Bereich des Sprachenlernens von Studierenden in der Egoperspektive angesiedelt ist, erscheint eine spezifische Betrachtung der Technologieakzeptanz in jedem Fall durch die (potenziell) Nutzenden notwendig, um valide Aussagen zu deren Wahrnehmung und zukünftigem Nutzungsverhalten treffen zu können.

Als Fazit zu theoretischem Hintergrund und Forschungsstand ist festzuhalten, dass nach den uns vorliegenden Daten der Lehrpersonenforschung für den berufsbildenden Bereich zur wahrgenommenen Nutzung von 360°-Videos in VR bislang keine Evidenz vorliegt. Ebenfalls liegt für das Einnehmen einer aktiven Rolle als Lehrperson in der Egoperspektive im 360°-Video in VR und reaktive Handeln von Lehramtsstudierenden, wie es in der vorliegenden Studie umgesetzt wird, keine Evidenz vor. Die vorliegende Untersuchung geht diesen damit verbundenen Forschungsdesiderata nach und fokussiert die Eignungseinschätzung der Nutzung von 360°-Videos in VR (als Lehrperson in der Egoperspektive) als immersive Technologie durch Personen im berufsbildenden Lehrbereich. Ausgehend vom berichteten theoretischen Hintergrund und Forschungsstand sowie den Forschungsdesiderata werden zwei Forschungsfragen für die Studie aufgestellt:

Forschungsfrage 1

Wie bewerten Studierende der beruflichen Bildung die Technologieakzeptanz, Immersion und Präsenzerleben von 360°-Videos in VR im Kontext ihrer eigenen Professionalisierung?

Forschungsfrage 2

Wie nützlich bewerten Studierende der beruflichen Bildung 360°-Videos in VR hinsichtlich der eigenen Professionalisierung und welche explorativen Entwicklungsperspektiven verbinden sich damit?

4 Anlage der Untersuchung

Um den beiden Forschungsfragen nachzugehen, wurden quantitative und qualitative Zugänge genutzt, um einerseits die Verhaltensmuster der Studierenden der beruflichen Bildung zu Technologieakzeptanz, Immersion und Präsenzerleben durch standardisierte Beobachtung zu erfassen (Forschungsfrage 1) und um andererseits kategoriale Daten zur wahrgenommenen Nützlichkeit und explorativen Elementen der Entwicklungsperspektiven zu 360°-Videos in VR (Forschungsfrage 2) zu generieren.

4.1 Quasi-Experimentelles Setting und Datenerhebung

Für das quasi-experimentelle Setting wurden vier inhaltlich differente Unterrichtsszenarien und ein Testszenario a priori durch erfahrene Lehrpersonen konzipiert (Abschn. 4.2). Die im Staged-Format mit Darsteller*innen entwickelten Unterrichtsszenarien wurden in einem Unterrichtsraum auf Basis von Videoskripts zu unterrichtstypischen Situationen erstellt. Die Unterrichtsszenen zeigen eine kleine Lerngruppe (6 Personen) einer Förderklasse einer beruflichen Schule. Im Anschluss an die Videographie wurde das Videomaterial bearbeitet, sodass schließlich 17 Videovignetten in der Testsequenz nacheinander ablaufen. Die einzelnen Unterrichtsszenarien haben eine Laufzeit zwischen 01:16 und 01:56 min (siehe Beispielvideo der Szene 1 im zusätzlichen Onlinematerial 1).

Innerhalb des quasi-experimentellen Settings (Testzeit 45–60 min pro Person) durchliefen die Testpersonen jeweils einzeln und mit standardisiertem Ablauf alle 360°-Videos in VR. Zunächst erhielten die Testpersonen Informationen zum Ablauf der Studie, eine Anleitung zum Umgang mit der VR-Technologie sowie die Möglichkeit, Fragen zum Testablauf zu stellen. Anschließend betrachteten die Personen die Testszene, um sich mit der VR-Umgebung vertraut zu machen. Folgend erhielten sie (1.) die vier thematischen Unterrichtsszenen aus der Egoperspektive über die VR-Brille Occulus Go mit der Aufgabe, die Rolle der Lehrperson in den Unterrichtsszenen reaktiv einzunehmen. In der VR-Umgebung war neben den Schüler*innen keine weitere Lehrperson im 360°-Video. Im Anschluss daran (2.) wurden die Testpersonen aufgefordert, ihre Reaktionen (Unterrichtshandlungen) verbal zu reflektieren. Sowohl die Reaktionen als auch die Reflexionen der Testpersonen wurden videografiert. Zudem wurde (3.) die Blickrichtung (Egoperspektive) der Testpersonen über die VR-Brille aufgezeichnet. Unmittelbar danach wurden die quantitativen Daten bei den Testpersonen mittels Fragebogen erfasst. Im Folgenden wird ein kontextueller und inhaltlicher Einblick in die Unterrichtsszenen gegeben.

4.2 Beschreibung der Unterrichtsszenen

In den fünf Szenen werden unterrichtliche Situationen im Bezugsfeld der Heterogenität von Schüler*innen abgebildet, die alltägliche domänenübergreifende Problemsituationen im Unterricht thematisieren (siehe Tab. 1).

Tab. 1 Beschreibung der fünf Unterrichtsszenen der 360°-Videos in VR

4.3 Instrumente

Das Fragebogeninstrument umfasst neben demographischen Angaben zur Testperson eine Abfrage zur bisherigen Erfahrung mit VR-Brillen und 360°-Videos (via Smartphone, Desktop, VR-Brille), Skalen zur Erfassung der Technologieakzeptanz, der Immersion und des Präsenzerlebens (Forschungsfrage 1; Items siehe Onlinematerial 2) sowie einen offenen Fragenbereich zur wahrgenommenen Nützlichkeit im Kontext des individuellen Studiums und zu Entwicklungsperspektiven (Forschungsfrage 2). Die Datenerfassung erfolgte im unmittelbaren Anschluss an das quasi-experimentelle Setting online-basiert. In Tab. 2 (Abschn. 5) ist eine Übersicht der eingesetzten Skalen mit der jeweiligen Testgüte dargestellt. Die Reliabilitätswerte werden als zufriedenstellend bewertet, da sie durchweg über α = 0,70 liegen (Peterson 1994). Nachstehend erfolgt eine weitergehende Erläuterung der eingesetzten Skalen und des offenen Fragebereichs.

Tab. 2 Testgütekriterien der verwendeten Skalen

4.3.1 Technologieakzeptanz

Zur Erhebung der Technologieakzeptanz wurden 3 Skalen zur wahrgenommenen Nützlichkeit, Benutzerfreundlichkeit und Nutzungsintention adaptiert. Die Skala zur wahrgenommenen Nützlichkeit wurde anhand von 6 Items in Anlehnung an Davis et al. (1989) und Davis (1989) auf einer sechsstufigen Likert-Skala erhoben. Beispielitem: „Die Nutzung von 360°-Unterrichtsvideos erhöht die Qualität meines eigenen Unterrichts/Trainings.“ Die Skala zur wahrgenommenen Benutzerfreundlichkeit wurde anhand von 4 Items und die Skala zur Nutzungsintention anhand von 3 Items in Anlehnung an Venkatesh et al. (2003) auf einer sechsstufigen Likert-Skala erhoben. Beispielitems: „Die Bedienung der 360°-Video VR-Umgebung ist leicht für mich.“ (Benutzerfreundlichkeit); „Ich habe vor, 360°-Unterrichtsvideos so oft wie möglich im Studium/der Weiterbildung zu nutzen.“ (Nutzungsintention).

4.3.2 Immersion

Zur Erfassung der Immersion wurden 6 Items nach Ferdig und Kosko (2020) adaptiert. Die Items wurden über eine sechsstufige Likert-Skala erhoben. Beispielitem: „Ich war so in den Unterricht vertieft, dass ich in einigen Fällen direkt mit den Schüler*innen interagieren wollte.“

4.3.3 Präsenzerleben

Anhand von 4 Items wurde das Präsenzerleben allgemein erhoben. Die Items wurden ebenfalls nach Ferdig und Kosko (2020) adaptiert und über eine sechsstufige Likert-Skala erfasst. Beispielitem: „Das Video war so authentisch, dass ich manchmal dachte, ich wäre tatsächlich im Klassenraum.“ Das räumliche Präsenzerleben wurde zusätzlich in zwei Kategorien anhand von jeweils 8 Items über eine sechsstufige Likert-Skala in den zwei Bereichen Selbstlokalisation und Handlungsmöglichkeiten nach Wirth et al. (2008) erhoben. Beispielitem: „Ich hatte den Eindruck, dass ich selbst in der dargestellten Umgebung aktiv werden konnte.“.

4.3.4 Offener Fragebereich

Um explorative Anhaltspunkte zur Nutzung der 360°-Videos in VR in der Lehrpersonenbildung und zu dessen Weiterentwicklung im Hinblick auf fördernde und hemmende Aspekte der Technologienutzung im Kontext der Usability zu erhalten, wurde zusätzlich ein offener Fragebereich integriert. Die Fragen beziehen sich zum einen auf die wahrgenommene Nützlichkeit der 360°-Videos in VR für die eigene Professionalisierung in Anlehnung an die bereits quantitativ erfasste Skala zur Technologieakzeptanz und zum anderen zu Entwicklungsperspektiven (hinsichtlich der Optimierung der 360°-Videos in VR und Verbesserungsvorschlägen).

4.4 Stichprobe

Am quasi-experimentellen Setting nahmen N = 57 Testpersonen teil, die alle zum Zeitpunkt der Testung an der Universität Stuttgart Berufspädagogik oder Technikpädagogik studierten. Die Stichprobe besteht aus 33 (57,9 %) weiblichen und 22 (38,6 %) männlichen Personen, wobei 2 (3,5 %) Personen keine Angabe zum Geschlecht machten. Im Durchschnitt sind die Testpersonen 24,89 Jahre alt (SD = 3,90; MIN = 20; MAX = 37 Jahre). 33 Personen (57,9 %) befinden sich in einem Masterstudiengang und 24 Personen (42,1 %) in einem Bachelorstudiengang. Hierbei gliedert sich die Stichprobe in 23 Personen (40,4 %) aus dem Studiengang Berufspädagogik/Technikpädagogik (B. A.), 1 Person (1,8 %) aus dem Studiengang Technikpädagogik (B. Sc.) und 33 Personen (59,6 %) aus dem Studiengang Technikpädagogik (M. Sc. Profile A–C). Studierende der Technikpädagogik (außer im Master Profil C) befinden sich in einem Lehramtsstudiengang für berufsbildende Schulen im gewerblich-technischen Bereich. Zum Zeitpunkt der Erhebung haben 21 Personen (36,8 %) bereits praktische Unterrichtserfahrung, 36 Personen (63,2 %) verfügen zum Zeitpunkt der Befragung über keine entsprechende Erfahrung.

Zu Vorerfahrungen mit VR berichtet lediglich eine Testperson, dass sie privat ein VR-Brille besitzt. Bezogen auf 360°-Videos haben 52,6 % bereits Erfahrungen mit 360°-Videos über PC/Laptop (17,5 %), VR-Brille (15,8 %) oder Smartphone (19,3 %) gesammelt.

4.5 Datenauswertung

Quantitative Auswertungen wurden mit dem Statistikprogramm SPSS 28 (IBM Corp. Released 2021) durchgeführt. Das Auswertungsprogramm MAXQDA 2018.2 (VERBI Software 2019) wurde für die qualitative Auswertung eingesetzt. Allen statistischen Tests wurde ein Alpha-Niveau von 0,05 zugrunde gelegt. Die quantitativen Daten wurden zuerst deskriptiv analysiert und dann im Hinblick auf Effekte zwischen Subgruppen mit dem Merkmal Unterrichtserfahrung ausgewertet. Die qualitativen Daten wurden anhand einer inhaltlich-strukturierenden, qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring (2010) betrachtet. Hierfür wurden zunächst anhand der offenen Fragen zur Nützlichkeit und zu Entwicklungsperspektiven, bezogen auf die Videoumgebung Hauptkategorien deduktiv gebildet. Anschließend wurden die Antworten von 7 Testpersonen durch zwei unabhängige Personen mit MAXQDA 2018 (VERBI Software 2017) kodiert und dabei zu den Hauptkategorien induktive Subkategorien gebildet. Nach Abgleich dieser Kodierungen und Kategorien wurde das Kategoriensystem durch die Subkategorien sowie Kategoriedefinitionen weiterentwickelt. Anschließend wurden die Antworten aller Testpersonen doppelt unabhängig kodiert und die Intercoder-Übereinstimmung berechnet.

5 Ergebnisse

5.1 Ergebnisse zu Technologieakzeptanz, Immersion und Präsenzerleben (FF1)

Für alle Skalen, mit Ausnahme der für Benutzerfreundlichkeit, wird mittels Shapiro-Wilk-Test eine Normalverteilung der Daten festgestellt. Die Skala zur Benutzerfreundlichkeit ist rechtssteil und breitgipflig, da durchweg sehr hohe Bewertungen durch die Testpersonen abgegeben wurden (Kurtosis: B = 0,20; Schiefe: B = −0,82; M = 5,36; Median = 5,5; SD = 0,64). Es zeigt sich mit Blick auf die Mittelwerte der einzelnen Skalen, dass das Präsenzerleben generell (P, M = 4,70, SD = 0,86) und das räumliche Präsenzerleben Selbstlokalisation (RP_S, M = 4,56, SD = 0,82) durch die Testpersonen aufgrund eines hohen Mittelwerts sehr positiv bewertet wurden. Ebenso weisen die wahrgenommene Nützlichkeit (N, M = 4,53, SD = 0,85), die Immersion (I, M = 4,41, SD = 0,88), die Nutzungsintention (NI, M = 4,27, SD = 1,00) mittlere bis hohe Werte auf (siehe Tab. 2). Die Skala zum räumlichen Präsenzerleben Handlungsmöglichkeiten (RP_H, M = 3,92, SD = 1,05) weist einen im Vergleich dazu niedrigeren Mittelwert auf.

5.1.1 Betrachtung von Subgruppen

Zur Analyse, welchen Einfluss das Vorhandensein bzw. Nichtvorhandensein praktischer Unterrichtserfahrung der Studierenden auf die beobachteten nutzungsbezogenen Konstrukte hat, wurden Gruppenvergleiche mittels t‑Tests durchgeführt. Die Subgruppen wurden durch eine Gruppierungsvariable gebildet, die die Unterrichtserfahrung der Studierenden erfragt. Eine Unterscheidung zwischen Bachelor- und Masterstudierenden erschien für die Stichprobe nicht zielführend, da konsekutiv studierende Bachelorstudierende möglicherweise bereits Unterrichtserfahrung sammeln konnten, wohin gegen nicht-konsekutiv Masterstudierende noch keine Unterrichtserfahrung sammeln konnten. Hinsichtlich der Benutzerfreundlichkeit und der Immersion konnten keine signifikanten Unterschiede zwischen den Subgruppen festgestellt werden.

Bei der wahrgenommenen Nützlichkeit zeigen sich signifikante Mittelwertunterschiede zwischen Studierenden mit praktischer Unterrichtserfahrung und ohne praktische Unterrichtserfahrung (t (26) = 2,63, p = 0,01, dFootnote 1 = 0,84). Studierende ohne Praxiserfahrung (n = 36, Median=4,75, IQR = 1,00) bewerten die virtuelle Technologie nützlicher für das Studium als Studierende, die bereits über eine schulische Praxiserfahrung (n = 21, Median= 3,83, IQR = 2,40) verfügen.

Es werden signifikante Mittelwertunterschiede hinsichtlich der Nutzungsintention festgestellt (t (55) = 2,61, p = 0,01, d = 0,72). Studierende ohne praktische Unterrichtserfahrung (n = 36, Median = 4,67, IQR = 1,58) äußern eine höhere Nutzungsintention als Studierende mit schulischer Praxiserfahrung (n = 21, Median=4,00, IQR = 2,00).

Beim Präsenzerleben allgemein besteht ebenfalls ein signifikanter Mittelwertunterschied (t (55) = 2,61, p = 0,01, d = 0,72). Die Subgruppe ohne schulische Praxiserfahrung (n = 36, Median= 4,88, IQR = 1,44) bewertet dieses Konstrukt signifikant höher als die Subgruppe mit Praxiserfahrung (n = 21, Median= 4,25, IQR = 1,75). Auch beim Konstrukt des wahrgenommenen Präsenzerlebens Handlungsoptionen (t (55) = 2,48, p = 0,02, d = 0,69) zeigen sich bei der Subgruppe ohne schulische Praxiserfahrung signifikant höhere Bewertungen (n = 36, Median= 4,25, IQR = 1,44) als bei der Subgruppe mit schulischer Praxiserfahrung (n = 21, Median=3,38, IQR = 1,75). Ebenso besteht ein signifikanter Mittelwertsunterschied für das erhobene Konstrukt des wahrgenommen Präsenzerleben Selbstlokalisation (t (55) = 2,30, p = 0,03, d = 0,64). Dieses wird von der Subgruppe ohne Praxiserfahrung (n = 36, Median = 4,81, IQR = 1,19) signifikant höher bewertet als von der Subgruppe mit schulischer Praxiserfahrung (n = 21, Median= 4,25, IQR = 1,44).

5.2 Explorativer Studienteil zur Nutzung und Weiterentwicklung (FF2)

Die qualitativen Ergebnisse zur Nutzung und Weiterentwicklung von 360°-Videos in VR in der Lehrpersonenbildung umfassen insgesamt N = 148 Codierungen, die sich auf die zwei explorativen Frageaspekte (bzw. Hauptkategorien) „subjektive Bewertung zur Nützlichkeit für die eigene Professionalisierung (100 Codes)“ und „Entwicklungsperspektiven zur Technologienutzung (48 Codes)“ verteilen. Die Berechnung der Intercoder-Reliabilität mit zwei Codierer*innen ergibt für die Analyse ein Cohen’s Kappa von k = 0,74 (Min = 0,47, Max = 0,94) nach Brennan und Prediger (1981) und ist damit als gut bis sehr gut zu bewerten (Landis und Koch 1977). Im Rahmen der folgenden Ergebnisdarstellung finden ausgewählte Zitate Verwendung, um die unterschiedlichen Positionen der Befragten zu illustrieren. Bei den Interviewzitaten werden folgende weiterführende Informationen erläuternd zu den Interviewten angegeben: Studiengang (TP = Technikpädagogik, BP = Berufspädagogik), Geschlecht (m = männlich, w = weiblich, d = divers, k = keine Angabe), Bachelorstudium (B), Masterstudium (M) und Alter in Jahren.

5.2.1 Hauptkategorie Nützlichkeit für die eigene Professionalisierung (100 Codes)

Zur Nützlichkeit der 360°-Videos in VR äußern die Testpersonen, dass das Erproben des eigenen Handelns (n = 29) in einer realistischen virtuellen Unterrichtssituation als förderlich für den eigenen Professionalisierungsprozess wahrgenommen wird.

Auf jeden Fall geistig in die Situation versetzt zu werden, dass ich handeln muss. Dieses Gefühl ist tatsächlich entstanden, so dass ich mich selbst gefragt habe, was mach’ ich jetzt? (TPmM37)

Zudem wird das Erleben von realistischen Unterrichtssituationen (n = 17) und die Reflexion des eigenen Handelns (n = 11) in der im Quasi-Experiment durchgeführten Reflexionsphase als nützlich bewertet.

Solche Videos sind sinnvoll, um auf Situationen hinzuweisen, die passieren können. Damit der Lehrer mal erfährt, in welchem Ausmaß die Situationen sein können. Beispielweise denkt man, man soll Gruppenarbeit mit den Schülern machen und plötzlich kommt der Feueralarm, Schüler verletzt sich, rassistische Kommentare etc. So wird den Lehrern klar, welche Situationen auftreten können und das wird sehr gut erfahrbar gemacht mit einer 360°-Brille. (TPmM26)

Gleichzeitig wird deutlich, dass die Befragten (n = 26) in der virtuellen Umgebung auch Interaktionsmöglichkeiten von Seiten der Schüler*innen auf das Handeln der Lehrperson wünschen.

Ich würde gerne „echte“ Reaktionen zu meinen Aktionen bekommen. Oft habe ich mich machtlos gefühlt vor der Klasse, weil mich niemand beachtet hat. (TPmM29)

Zudem merkt eine kleine Anzahl auch ein fehlendes Feedback von außen zur eigenen Reaktion an (n = 3). Lediglich einzelne Testpersonen bewerten die VR-Technologie als wenig nützlich und stellen fest, dass reale Unterrichtserfahrungen für die Lehrpersonenbildung notwendig seien (n = 3), nahmen die im Video dargestellten Problemsituation als unangenehm wahr (n = 3) oder gaben keine Einschätzung zur Nützlichkeit ab (n = 8).

5.2.2 Hauptkategorie Entwicklungsperspektiven (48 Codes)

In der zweiten Hauptkategorie nannten die Testpersonen Verbesserungsvorschläge zur Optimierung der Videoumgebung. Als Hauptpunkt zur Verbesserung wurde ein Ermöglichen von Reaktion oder Interaktion mit dem Video genannt (n = 25).

Dass eventuell auf die eigenen Reaktionen durch die Personen in dem Video reagiert werden kann (also, dass Musterreaktionen des Lehrenden einprogrammiert werden bzw. ein Zufallsalgorithmus erstellt wird, der auf die Aussage der Lehrperson angepasst reagiert. Dadurch würde man eine noch realere Szene hinbekommen). Das würde das Schülerverhalten noch realer wirken lassen. (BPwB22)

Zudem sehen einige Personen mit den erlebten virtuellen Unterrichtssituationen eine grundsätzlich gute Möglichkeit, ein unmittelbares inhaltliches Feedback zur persönlichen Reaktionshandlung (n = 4) zu erhalten, alternative Handlungsmöglichkeiten zu reflektieren und somit von der Lernsituation im geschützten Raum zu lernen.

VR-Video danach, wie man mit bestimmten Situationen umgehen könnte bzw. wie man nicht reagieren sollte. (TPmM23)

6 Zusammenfassung und Diskussion

In der Forschungstradition des Lernens mit digitalen Medien (technology-enhanced learning, TEL) werden mit dem vorliegenden Beitrag erstmalig Befunde zur technologie- und zielgruppenbezogenen Eignungung von 360°-Videos in VR (Nutzung als Lehrperson in der Egoperspektive) als Educational Technology in der beruflichen Lehrpersonenbildung präsentiert. Da es bislang an einer Evidenz zur fokussierten Technologienutzung im beruflichen Lehramtsbereich fehlt und keine Befunde zur Nutzung der Technologie in der Egoperspektive mit alltäglichen Unterrichtssituationen vorlagen, wurde zwei Forschungsfragen in einem quasi-experimentellen Setting mit Studierenden der Berufs- und Technikpädagogik nachgegangen. Dabei interessiert erstens, wie Studierende der beruflichen Bildung die Technologieakzeptanz, Immersion und Präsenzerleben von 360°-Videos in VR im Kontext ihrer eigenen Professionalisierung wahrnehmen (Forschungsfrage 1). Zweitens interessiert, wie nützlich Studierende der beruflichen Bildung 360°-Videos in VR hinsichtlich der eigenen Professionalisierung bewerten und welche explorativen Entwicklungsperspektiven sich damit verbinden (Forschungsfrage 2). Im Folgenden werden die zentralen Ergebnisse, limitierenden Aspekte der Studie und die Befunde hinsichtlich der aufgeworfenen Forschungsdesiderata diskutiert.

6.1 Zentrale Ergebnisse

Zur ersten Forschungsfrage ist festzuhalten, dass die erzielten Skalenwerte zur Technologieakzeptanz, Immersion und Präsenzerleben eine durchschnittlich hohe Bewertung durch die Testpersonen aufweisen. Dies lässt Rückschlüsse auf eine insgesamt positive Wahrnehmung der 360°-Videos in VR durch die Studierenden der Berufs- und Technikpädagogik zu. Auch scheint die hohe Bewertung der Immersion durch die Testpersonen interessant, da dies die Emotionen sowie das Präsenzerleben beeinflussen und damit möglicherweise lernförderlich wirken kann (Ramalho und Chambel 2013). Insgesamt können hohe Skalenwerte zu Immersion und wahrgenommenem Präsenzerleben im Kontext der Situierung als ein entscheidender Faktor für einen erfolgreichen Lernprozess eingeordnet (Hebbel-Seeger 2018) werden, da davon ausgegangen wird, dass der Lernprozess durch hohe Immersion und ein hohes wahrgenommenes Präsenzerleben positiv beeinflusst wird (ebd.).

Die Ergebnisse der Subgruppenvergleiche zeigen, dass Studierende der Berufs- und Technikpädagogik ohne unterrichtliche Praxiserfahrung eine höhere Nützlichkeit und Nutzungsintention sowie höhere Bewertungen der 360°-Videos in VR bezüglich des Präsenzerlebens (allgemein, Selbstlokalisation, Handlungsoptionen) angeben. Studierende, die bereits unterrichtliche Praxiserfahrungen gesammelt haben, bewerten hingegen die Nützlichkeit des Settings für die eigene Professionalisierung – im Kontext ihrer hochschulischen und schulpraktischen Erfahrungen – geringer. Dies scheint, unter der Annahme, dass eine virtuelle Unterrichtssituation, trotz Realitätsbezug und immersivem Charakter, eine reale Unterrichtssituation nur bis zu einem gewissen Maß, u. a. bedingt durch die begrenzten Interaktionsoptionen, tatsächlich ersetzen kann, auch plausibel. Für Studierende ohne unterrichtliche Praxiserfahrung stellt sich hingegen – im Kontext ihrer hochschulischen und fehlenden schulpraktischen Erfahrungen – das Unterrichtshandeln in den 360°-Videos in VR nützlicher dar. Mit „begrenztem“ Erfahrungshorizont bewerten die Studierenden ohne unterrichtliche Praxiserfahrung die virtuelle praktische Unterrichtserfahrung daher auch im Hinblick auf die eigene Professionalisierung höher. Auch wenn diese Erklärung plausibel erscheint, so ist diese damit nicht belegt. Für den Subgruppenunterschied zur Nützlichkeit könnten auch andere bzw. weitere Gründe wie beispielsweise unterschiedliche Motivations- und Interessenaspekte ursächlich sein. Die Ergebnisse des quantitativen Studienteils werden durch die qualitativen Befunde gestützt.

Die Ergebnisse zur zweiten Forschungsfrage belegen, dass die befragten Studierenden in den virtuellen Unterrichtsszenarien einen geschützten Lern- und Erprobungsraum wahrnehmen. Sie begründen es damit, dass sie bei ihrem geforderten Handeln nicht einer unmittelbaren Beobachtung durch Dozierende oder Fachleiter*innen, wie bei regulären Unterrichtsproben üblich, ausgesetzt sind. Gleichzeitig geben die Testpersonen den situativen Realitätsbezug und immersiven Charakter der Interaktion im virtuellen Unterrichtsszenario als förderlich an. Das Erproben und Erleben von problemhaltigen Unterrichtssituationen werden von den Befragten in den offenen Items fast durchweg als nützlich für die eigene Professionalisierung genannt. Insbesondere Studierende ohne Unterrichtserfahrung sehen vor allem den Nutzen in einem geschützten Lern- und Erprobungsraum.

Die Befunde belegen zudem, dass die Testpersonen im quasi-experimentellen Setting neben den verbalen Reaktionen häufig auch nonverbale Reaktionen zeigen. Die nonverbalen Reaktionen stellen sich in Form von Gestik, Mimik, Körperhaltung sowie einer Raumpositionierung dar. So richteten sich Testpersonen beispielsweise einzelnen Schüler*innen zu und beugten sich über ein im 360°-Video zu sehendem Tisch oder reagierten mit erhobenem Zeigefinger. Die nonverbalen Reaktionen bestätigen den wahrgenommenen immersiven Charakter der 360°-Videos in VR. Ausgehend von der kognitionswissenschaftlichen Theorie der Embodied Cognition und den Ausführungen hierzu in Abschn. 2.2 kann sich der in den eigenen Studien belegte immersive Charakter der Technologie möglicherweise lernförderlich für die Testpersonen ausgewirkt haben.

Insgesamt deuten die Befunde des quantitativen und qualitativen Studienteils darauf hin, dass die befragten Studierenden grosso modo gegenüber der Nutzung der 360°-Videos in VR in der Lehrpersonenbildung aufgeschlossen sind. Zusammenfassend stehen die Studienbefunde im Einklang mit vorliegenden Erkenntnissen, die ebenfalls ein erhöhtes Präsenzerleben und erhöhte Immersion bei anderen Personengruppen feststellen (Ferdig und Kosko 2020; Feuerstein 2019). Darüber hinaus erweitern die eigenen Befunde den vorliegenden Forschungsstand im Bezugsfeld der Lehramtsausbildung an berufsbildenden Schulen sowie der Berufspädagogik. Mit der vorliegenden Studie werden erstmalig empirische Befunde zur wahrgenommenen Nutzung von 360°-Videos in VR – in der Egoperspektive als Lehrer*in generiert. Die eigenen Studienbefunde deuten zudem darauf hin, 360°-Videos in VR als Educational Technology in der beruflichen Lehrpersonenbildung vor den schulpraktischen Studien der Lehramtsstudierenden einzusetzen. Insbesondere für die im gewerblich-technischen Lehramt üblichen Studierenden, die i. d. R. mit einem qualifizierten ingenieurwissenschaftlichen Abschluss direkt in den Masterstudiengang Technikpädagogik einmünden und über kein grundständiges Lehramtsstudium verfügen, könnten 360°-Videos in VR damit einen geschützten zusätzlichen Lern- und Erprobungsraum darstellen und den begrenzten schulischen Praxisanteil ergänzen. Die Ergebnisse des qualitativen Studienteils liefern zudem mehrere Hinweise für eine zielgruppenorientierte Ausgestaltung und Durchführung entsprechender Szenarien mittels 360°-Videos in VR, u. a. in Hinblick auf erweiterte Interaktionsmöglichkeiten sowie einer inhaltlichen Reflexion der Unterrichtshandlungen. Diese bieten somit auch einen Anschluss an Forschungsvorhaben zur Reflexion von fremdem und eigenem Unterricht in 360°-Videos in VR (vgl. Balzaretti et al. 2019; Feuerstein 2019; Walshe und Driver 2019).

6.2 Limitationen und kritische Reflexion

Limitationen in der vorliegenden Forschungsarbeit sind hinsichtlich der Stichprobe und des inhaltlichen Zuschnitts sowie der Länge der gewählten Unterrichtsszenarien zu konstatieren. Die Testpersonen rekrutieren sich sowohl aus dem Bachelor- als auch aus dem Masterstudium der Berufs- und Technikpädagogik, wodurch sich eine Stichprobe mit heterogenen Vorerfahrungen bezogen auf unterrichtliche Lehrerfahrungen sowie in Bezug auf die universitäre Professionalisierung ergibt. In der Studie wurden keine systematischen Effekte durch die mit der freiwilligen Teilnahme verbundenen Selbstselektionseffekte der Gesamtpopulation beobachtet. Die entwickelten und erprobten unterrichtlichen Situationen fokussieren den Umgang mit Heterogenität im Unterricht. Vor dem Hintergrund der fachlich heterogenen Stichprobe wurden die Unterrichtssituationen fachunspezifisch zugeschnitten. Dieser ist für die universitäre Lehrpersonenbildung jedoch mitunter relevant, da unterrichtliches Handeln auch an fachbezogene Inhalte geknüpft sein kann und in der fachwissenschaftlichen oder fachdidaktischen Professionalisierung im Lehramt thematisiert wird. Interessant wäre daher die Durchführung einer Replikationsstudie im Kontext eines fachspezifischen Professionalisierungsaspekts (z. B. zum Umgang mit Präkonzepten in der Elektrotechnik). Die vorliegenden 360°-Videos in VR sind zeitlich limitiert (1:16 bis 1:56 min). Eine Variation der Videolängen mit systematischer Betrachtung der Effekte (u. a. auf die Technologieakzeptanz) wäre ebenfalls für weitere Forschungsarbeiten im Bezugsfeld zu 360°-Videos in VR wünschenswert.

6.3 Anschlussperspektiven

Mit der vorliegenden Forschungsarbeit verbinden sich weitere Entwicklungs- und Forschungsdesiderata. Ein Potenzial zur technischen Optimierung der 360°-Videos in VR stellt, entsprechend der Befunden, der Ausbau von Interaktionsmöglichkeiten dar. Für die Professionalisierungsforschung im Bezugsfeld des Lehrens mit digitalen Medien (technology-enhanced teaching, TET) wären daher Interventionsstudien im Kontext der methodisch-didaktischen Einbindung der virtuellen Lernumgebungen interessant. Die Ergebnisse der quasi-experimentellen Studie machen bislang keine Aussagen zur tatsächlichen Nutzungsqualität der virtuellen Unterrichtsszenarien in der hochschulischen Ausbildung und zur Entwicklung der Professionalisierung der Nutzer*innen. Dies stellt ein weiteres wichtiges Forschungsdesiderat dar. Sowohl im Hinblick auf die Förderung des Professionswissen als auch der Förderung positiver Einstellungen von Lehrpersonen zu bildungsrelevanten Themenfeldern (z. B. Inklusion, Digitalisierung), wäre eine Nutzung der Technologie denkbar. Charakteristisch für das Reaktionsverhalten der Testteilnehmenden ist, dass diese, neben ihrer verbalen Reaktion auch nonverbale Reaktionen zeigen. Folgt man der Theorie der Embodied Cognition, scheint es für die Lernforschung durchaus auch interessant zu sein, ob die wahrgenommene Immersion und das Präsenzerleben sowie der körperliche Zustand einer Person in den immersiven 360°-Videos in VR tatsächlich einen positiven Einfluss auf die Lernprozesse und das Handeln in den unterrichtlichen Settings nimmt. So stellt sich die Frage, ob die hohe wahrgenommene Immersion und das hohe Präsenzerleben der Testpersonen die „embodied experience“ von Unterrichtshandeln ermöglichen und dadurch explizites Wissen zu Unterricht mit implizitem Wissen verbunden werden kann (Ferdig und Kosko 2020, S. 852). Die vorliegenden Ergebnisse – hohe Immersion und hohes Präsenzerleben – deuten entsprechend an, dass durch die 360°-Videos in VR im Hinblick auf die Embodied Cognition erweitere Sinne der Testpersonen angeregt werden (s. oben). Zu beantworten bleibt im Bezugsfeld der Nutzung von Unterrichtsszenarien in Form von 360°-Videos in VR und Egoperspektive deshalb, ob die Auseinandersetzung mit unterrichtlichen Problemsituationen durch den situativen Bezug zum realen Unterricht auch einen tatsächlich situativen Lernprozess der Studierenden unterstützt. Hierfür wird die Auseinandersetzung mit der inhaltlichen Qualität der Reaktionen und entsprechenden Reflexionen der Testpersonen essenziell. Die verbalen Begründungen zu den Reaktionen in den einzelnen unterrichtlichen Situationen wurden im quasi-experimentellen Setting bereits videografiert und befinden sich derzeit im Auswertungsprozess. Gleiches gilt für die Analyse der Blickbewegungen (Abschn. 4.1). Auf diesem Weg will sich die Forschungsgruppe mit weiteren Analysen der Frage nähern, ob die Nutzung von 360°-Videos in VR einen Schritt weg von der Reflexion des Lehrpersonenhandelns anhand von traditionellen Unterrichtsvideos hin zum erprobenden Lehrpersonenhandeln und dem Aufbau handlungsbezogenen Wissens durch eine embodied reflection im Kontext der wahrgenommenen Bedürfnisse und Anforderungen der Schüler*innen sowie des situativen Unterrichtskontexts darstellen kann.