1 Einleitung

Lernaufgaben, die Lernende zu Wissenskonstruktionsaktivitäten anregen (im Folgenden als auf Konstruktion zielende Lernaufgaben bezeichnet), fördern das Verständnis. Dieser Gedanke, der von Theorien und Rahmenmodellen des Wissenserwerbs (z. B. generative learning theory, siehe Fiorella und Mayer 2016; ICAP framework, siehe Chi und Wylie 2014; Perspektive der fokussierten Informationsverarbeitung, siehe Renkl 2011) breit untermauert wird, hat sich als äußerst fruchtbare Grundlage für die Gestaltung von Lernaufgaben erwiesen. So zeigt sich in zahlreichen empirischen Studien, dass Lernaufgaben, die vorwiegend der Funktion dienen, Wissenskonstruktionsaktivitäten wie beispielsweise das Organisieren und Elaborieren von neu zu lernender Information oder das Generieren von Schlussfolgerungen auf der Basis gegebener Information anzuregen, das Verständnis bedeutend fördern können (für jüngere Übersichten, siehe z. B. Dunlosky et al. 2013; Fiorella und Mayer 2016).

Prototypische auf Konstruktion zielende Lernaufgaben, welche die genannten Wissenskonstruktionsaktivitäten anregen und zudem das Verständnis nachweislich fördern können, sind beispielsweise Aufgaben, die Lernende dazu anregen, sich Lernmaterialien (z. B. Lehrtexte oder gegebene Beispiele) selbst zu erklären oder Erklärungen für andere Lernende zu generieren (z. B. „Erkläre anhand der gerade bearbeiteten Grundlagen zum Bohrschen Atommodell: Warum hat Lithium drei Elektronen und zwei Elektronenschalen?“; siehe Bisra et al. 2018; Lachner et al. 2021; Roelle et al. 2017a), Aufgaben, die Lernende dazu anregen, neue Konzepte und Prinzipien mittels eigener Beispiele zu illustrieren (z. B. „Schreibe ein Beispiel aus der Praxis auf, das das Konzept des fundamentalen Attributionsfehlers veranschaulicht.“, siehe Rawson und Dunlosky 2016) oder Aufgaben, die Lernende anregen, Textpassagen miteinander in Verbindung zu bringen, um über den Textinhalt hinausgehende Schlüsse zu ziehen (z. B. Roelle et al. 2015a). Auch Aufgaben, die Lernende dazu anregen, während des Lesens eines naturwissenschaftlichen Texts Zeichnungen von den beschriebenen Prozessen zu erstellen (z. B. von der Immunreaktion des menschlichen Körpers bei einer Grippeinfektion; z. B. Schmeck et al. 2014), Aufgaben, die Lernende zum Erstellen von Concept Maps anregen (z. B. Hilbert et al. 2008; Schroeder et al. 2018) und Aufgaben, die Lernende zum Schreiben eines Lerntagebuchs anregen, in denen sie neu behandelte Lerninhalte reflektieren und ausarbeiten (z. B. „Versuche, die wichtigsten Inhalte in Deinem Lerntagebuch hervorzuheben und Zusammenhänge deutlich zu machen.“ und „Versuche, in Deinem Lerntagebuch Verbindungen zwischen den Inhalten und Deinem eigenen Wissen und Deinen eigenen Erfahrungen herzustellen“, siehe Moning und Roelle 2021; Nückles et al. 2020) lösen vorwiegend Wissenskonstruktionsaktivitäten wie das Organisieren, Elaborieren und Generieren aus.

Die theoretische Erklärung für die förderlichen Effekte der genannten prototypischen Wissenskonstruktionsaktivitäten auf das Verständnis ist, dass sie die Struktur der von den Lernenden gebildeten mentalen Repräsentationen verbessern und den Grad der Integration dieser mentalen Repräsentationen in das Vorwissen erhöhen (z. B. Fiorella und Mayer 2016). So werden beispielsweise im Rahmen des Organisierens interne Verknüpfungen zwischen den zu lernenden Informationen konstruiert (z. B. inhaltliche Bezüge oder Hierarchien innerhalb zu lernender Konzepte; vgl. Weinstein und Mayer 1986), was die Kohärenz der gebildeten mentalen Repräsentationen erhöht. Beim Elaborieren, was beispielsweise durch das Ausdenken eines eigenen Beispiels für ein zu lernendes Konzept oder das Beziehen von neu zu lernenden Konzepten auf zuvor gelernte Konzepte oder eigene Erfahrungen erfolgen kann, werden externe Verknüpfungen zwischen den zu lernenden Informationen und dem Vorwissen konstruiert, was die Integration der neu gebildeten mentalen Repräsentationen in das Vorwissen der Lernenden fördert. Auch beim Generieren werden die mentalen Repräsentationen der Lernenden bedeutungsvoll angereichert bzw. es werden neue abstrahierte Wissensstrukturen konstruiert (z. B. in Form des Herausarbeitens einer Regelmäßigkeit bei der Besetzung der Elektronenschalen eines Atoms gemäß des Bohrschen Atommodells), was sich förderlich auf das Verständnis auswirkt.

Empirische Befunde, die nahelegen, dass die Quantität und Qualität der Ausführung der skizzierten Wissenskonstruktionsaktivitäten tatsächlich der entscheidende Mediator der förderlichen Effekte von auf Konstruktion zielenden Lernaufgaben auf das Verständnis sind, unterstützen die theoretischen Annahmen zu den Wirkungen von Wissenskonstruktionsaktivitäten (z. B. Berthold et al. 2007; Hefter et al. 2014; Lachner et al. 2018; Roelle et al. 2017b). Empirische Befunde zeigen jedoch auch, welche Funktion Wissenskonstruktionsaktivitäten eben nicht oder nur zu einem geringen Ausmaß erfüllen. So deuten jüngere Studien darauf hin, dass auf Konstruktion zielende Lernaufgaben hinsichtlich der Förderung des langfristigen Behaltens von neu gelerntem Wissen nicht optimal sind. Im Speziellen zeigte sich, dass auf Konstruktion zielende Lernaufgaben, die beispielsweise das Erstellen von Concept Maps, von Notizen oder von eigenen Beispielen anregen, hinsichtlich der Leistung in zeitlich verzögerten Wissenstests (z. B. nach einer oder mehreren Wochen) schlechtere Ergebnisse bzw. höhere Vergessensraten mit sich bringen können als Lernaufgaben, die Lernende zu Abrufübung, also zum Abrufen von Lerninhalten aus dem Gedächtnis, anregen (z. B. in Form von freiem Gedächtnisabruf, bei dem Lernende alles niederschreiben, was sie in Bezug auf einen Lerninhalt noch erinnern; z. B. Karpicke und Blunt 2011; Roelle und Nückles 2019; Rummer et al. 2017).

Eine theoretische Erklärung für dieses Befundmuster ist, dass auf Konstruktion zielende Lernaufgaben vorwiegend die Funktion erfüllen, dass kohärente und wohlintegrierte neue mentale Repräsentationen gebildet werden und weniger der Funktion dienen, die gebildeten mentalen Repräsentation zu konsolidieren. Es ist fraglos theoretisch plausibel und empirisch gut untermauert, dass wohlstrukturierte mentale Repräsentationen zu besseren Behaltensleistungen führen können als weniger wohlstrukturierte mentale Repräsentationen, da sie mehr Möglichkeiten zur Aktivierung und somit zum Abruf der jeweiligen Wissenselemente beinhalten (z. B. Kintsch et al. 1990; Surprenant und Neath 2013). Entsprechend dienen Wissenskonstruktionsaktivitäten durchaus in gewissem Maße auch einer Konsolidierungsfunktion. Zumindest im Vergleich zu Lernaufgaben, die vorwiegend Abrufübung anregen, scheint diese Konsolidierungsfunktion von auf Konstruktion zielenden Lernaufgaben jedoch weniger stark ausgeprägt zu sein.

Die starke Konsolidierungsfunktion von Lernaufgaben, die vorwiegend Abrufübung anregen, wird damit erklärt, dass der Abruf von Wissenselementen aus dem Gedächtnis die Anzahl von Abrufreizen (Cues) erhöht, die mit den abgerufenen Wissenselementen assoziiert werden. Der Ursprung dieser zusätzlichen Abrufreize wird derzeit vorwiegend zwei Quellen zugeschrieben. Im episodic context-Ansatz (Karpicke et al. 2014) wird die Zunahme an Abrufreizen grob dargestellt darüber erklärt, dass die abgerufenen Wissenselemente mit einer zunehmenden Anzahl an Merkmalen des episodischen Kontexts (z. B. Raum, Zeit, Stimmung der Lernenden) verknüpft werden. Bei jedem erfolgreichen Abruf werden die abgerufenen Wissenselemente mit Merkmalen des vorherrschenden episodischen Kontexts verknüpft, wodurch sich die Menge der mit den Wissenselementen verknüpften episodischen Kontextmerkmale mit jedem erfolgreichen Abruf erhöht. Hierdurch wird der zukünftige Abruf erleichtert. Der elaborative retrieval-Ansatz (Carpenter 2009) nimmt darüber hinaus an, dass es beim Abruf von Wissenselementen zu einer Aktivierungsausbreitung kommt, bei der nicht nur die abgerufenen, sondern automatisch auch eng mit diesem Konzept assoziierte Wissenselemente aktiviert werden. Durch die simultane Aktivierung werden die abgerufenen Wissenselemente enger mit den assoziierten Wissenselementen verknüpft.Footnote 1 Hierdurch können fortan auch diese assoziierten Wissenselemente als effektive Abrufreize genutzt werden.

Herauszustellen ist insgesamt, dass der Prozess des Abrufens selbst bedeutend zu den förderlichen Effekten beiträgt und Abrufübung entsprechend sogar in dem Fall die Behaltensleistung steigert, dass Lernenden kein Feedback und keine Möglichkeit zum Beheben von Wissenslücken gegeben wird (vgl. Roediger und Karpicke 2006). Unterstützend kommt in vielen Settings hinzu, dass die Lernenden im Rahmen der Abrufübung erkennen bzw. aufgezeigt bekommen, welche Inhalte sie noch nicht hinreichend abrufen konnten und diese Inhalte entsprechend in nachgelagerten Lernphasen besonders fokussieren (sog. indirekte Effekte von Abrufübung; vgl. Karpicke und Grimaldi 2012; siehe auch Endres & Renkl in diesem Themenheft; für detailliertere und umfassendere Darstellungen der zugrundeliegenden Mechanismen abrufbasierten Lernens seien interessierte Leser*innen zudem auf Karpicke (2017) sowie auf Tempel und Pastötter (2021) verwiesen).

Vor dem Hintergrund dieser theoretischen Annahmen und der skizzierten Befundlage, die auf eine starke Konsolidierungsfunktion von Abrufübung und auf eine weniger starke (aber dennoch vorhandene) Konsolidierungsfunktion von auf Konstruktion zielenden Lernaufgaben hinweist, sind in den letzten Jahren in der pädagogisch-psychologischen Forschung einige Bemühungen initiiert worden, die das Ziel verfolgen, Abrufübung und damit eine starke Konsolidierungsfunktion auch im Kontext von auf Konstruktion zielenden Lernaufgaben zu realisieren (z. B. Blunt und Karpicke 2014; Endres et al. 2017; Hinze et al. 2013; Roelle und Berthold 2017; Rummer et al. 2019). Diese Bemühungen sind äußerst begrüßenswert, da sowohl in der Schule als auch an der Universität eines der zentralen Ziele nicht nur darin besteht, den Lernenden tiefes Wissen zu vermitteln, wozu auf Konstruktion zielende Lernaufgaben gut geeignet sind, sondern auch, dass die Lernenden das Wissen langfristig behalten und im Idealfall ein Leben lang flexibel einsetzen können. Gleichwohl hat zumindest die Instruktionsforschung das nachhaltige Lernen bisher weitgehend ignoriert. So haben beispielsweise nur 23 von 328 Artikeln, die in den Jahren 2016 und 2017 in den Vorzeige-Zeitschriften Learning and Instruction und Journal of Educational Psychology erschienen sind, den Lernerfolg eine Woche nach der Lernphase oder noch später erfasst. Die allermeisten Studien erfassen den Lernerfolg unmittelbar nach der Lernphase und sind entsprechend kaum an einer Konsolidierungsfunktion von (auf Konstruktion zielenden) Lernaufgaben interessiert. Auch in der Unterrichtsforschung, in der unter anderem die Untersuchung von Unterrichtsqualität im Fokus steht (z. B. Kunter und Ewald 2016; Praetorius und Nehring 2020), sind Studien zur Konsolidierung (schulischen) Wissens eher rar. So wird zwar auch in dieser Forschung, analog zur Beschäftigung der Instruktionsforschung mit auf Konstruktion zielenden Lernaufgaben, die Verarbeitungstiefe und die kognitive Aktivierung von Lernenden verhandelt (z. B. Praetorius et al. 2020) – das Konsolidieren von Wissen bzw. Üben des Wissensabrufs wird im Vergleich dazu jedoch kaum eingehend thematisiert bzw. untersucht.

Einer der im Rahmen der begrüßenswerten Bemühungen zur Realisierung einer starken Konsolidierungsfunktion im Kontext von auf Konstruktion zielenden Lernaufgaben eingeschlagenen Wege ist es, Abrufübung unmittelbar in diese Lernaufgaben zu integrieren. Im Speziellen besteht der Weg darin, auf Konstruktion zielende Lernaufgaben in einem sogenannten Closed-Book-Format zu implementieren, bei dem die Lernenden während sie die Lernaufgaben bearbeiten, nicht mehr auf die zugrundeliegenden Lernmaterialien zugreifen können und entsprechend die zur Bearbeitung der Lernaufgaben benötigten Lerninhalte aus dem Gedächtnis abrufen müssen. Für die oben genannten Lernaufgaben des Concept Mappings oder des Zeichnens würde dies beispielsweise bedeuten, dass die Lernenden beim Erstellen ihrer Concept Maps oder Zeichnungen nicht mehr in das zuvor gelesene oder bearbeitete Lernmaterial (z. B. einen Lehrtext) hineinschauen dürfen (das Lehrbuch ist also geschlossen während der Aufgabenbearbeitung). Der Charme dieses Closed-Book-Formats liegt darin, dass hiermit Abrufübung äußerst niederschwellig integriert werden kann und die Integration entsprechend keine bedeutenden Änderungen der auf Konstruktion zielenden Lernaufgaben an sich erfordert – die einzig notwendige Änderung besteht tatsächlich darin, dass die Lernenden während der Lernaufgabenbearbeitung eben nicht auf das zuvor bearbeitete Lernmaterial zugreifen können. Ein Closed-Book-Format von auf Konstruktion zielenden Lernaufgaben verspricht im Grunde also, dass zwei zentrale Lernaktivitäten (Wissenskonstruktion und Abrufübung) auf einen Streich, also mit einer Lernaufgabe angeregt werden.

2 Closed-Book-Format von auf Konstruktion zielenden Lernaufgaben

Das skizzierte Closed-Book-Format von auf Konstruktion zielenden Lernaufgaben stellt auf den ersten Blick keine Innovation in der Forschung zu dar. So werden zahlreiche auf Konstruktion zielende Lernaufgaben wie beispielsweise das Schreiben von Lerntagebüchern (für eine Übersicht, siehe Nückles et al. 2020), das Lernen durch Lehren (z. B. Lachner et al. 2021) oder Selbsterklärungsprompts beim Lernen aus Lösungsbeispielen (für eine Übersicht, siehe Renkl 2014) von jeher in der Regel so implementiert, dass die Lernenden während der Bearbeitung der Lernaufgaben keinen oder nur eingeschränkten Zugriff auf das zuvor bearbeitete Lernmaterial haben. Allerdings wurde dieses teilweise oder vollständige Closed-Book-Format in aller Regel nicht als potenzielle aktive Zutat der jeweiligen auf Konstruktion zielenden Lernaufgaben aufgefasst und reflektiert. Entsprechend wurde bisher bei keiner der auf Konstruktion zielenden Lernaufgaben systematisch und eingehend untersucht, ob das Closed-Book-Format den Lernerfolg bzw. das langfristige Behalten der erworbenen mentalen Repräsentationen gegenüber einem Open-Book-Format, bei dem die Lernenden während der Aufgabenbearbeitung durchgehend auf das Lernmaterial zugreifen können, fördert.

Die Nichtbeachtung des Closed-Book-Formats als potenzielle Zutat in der skizzierten Forschung zu auf Konstruktion zielenden Lernaufgaben bedeutet allerdings nicht, dass das Closed-Book-Format überhaupt noch nie als potenzielle Design-Variation von Lernaufgaben diskutiert wurde. Schon vor bereits ca. 40 Jahren wurde es in der Forschung zu adjunct questions (eine Form von Lernaufgaben, die häufig im Kontext des Lernen aus expositorischen Texten eingesetzt wird) zumindest eine Zeit lang unter dem Label Nonlookback-Format gefasst und beleuchtet (für eine Übersicht siehe Hamaker 1986) – damals allerdings vorwiegend im Kontext der externen Validität von Lernaufgaben (nonlookback adjunct questions, bei denen man nicht in den jeweiligen Lehrtext zurückblicken konnte, wurden als wenig extern valide eingestuft, da Lernende beim Lernen in der Regel das jeweilige Lernmaterial erneut einsehen können; vgl. Duchastel 1983). Teilweise wurde das Nonlookback-Format in diesem Forschungsbereich auch experimentell mit einem Lookback-Format (Open-Book-Format) verglichen, bei dem die Lernenden bei der Bearbeitung der jeweiligen adjunct questions noch Zugriff auf das Lernmaterial hatten und entsprechend bei der Aufgabenbearbeitung nicht auf Gedächtnisabruf angewiesen waren (z. B. Andre 1981). Diese Studien waren allerdings äußerst rar und nicht in der Forschung zu Abrufübung verortet, so dass sie im Kontext der skizzierten Integration von Abrufübung in auf Konstruktion zielende Lernaufgaben kaum rezipiert wurden. Ein systematischer Unterschied zwischen Lernaufgaben im Lookback- und Nonlookback-Format in Bezug auf den Lernerfolg wurde in den wenigen Studien zu dieser Thematik nicht festgestellt (Hamaker 1986).

Größeres Interesse an den Potenzialen eines Closed-Book-Formats von auf Konstruktion zielenden Lernaufgaben wurde erst vor etwas mehr als 10 Jahren durch eine Publikation von Agarwal et al. (2008) geweckt. Agarwal et al. berichten hier über zwei Studien, in denen sie den Nutzen relativ oberflächlicher auf Konstruktion zielender Lernaufgaben, nämlich Aufgaben, die mittels kurzer Ausführungen, die im Wesentlichen schon im Lernmaterial (hier: verschiedene Lehrtexte) enthalten waren und entsprechend kaum Wissenskonstruktionsaktivitäten wie das Organisieren, Elaborieren oder Generieren erforderten, beantwortet werden konnten. Eine der experimentellen Variationen, die in diesem Kontext untersucht worden ist, bestand darin, ob die Lernaufgaben in einem Open-Book- oder in einem Closed-Book-Format bearbeitet wurden. Zudem wurde variiert, ob die Lernenden, die Closed-Book Lernaufgaben erhielten, anschließend Zugriff auf das Lernmaterial erhielten und ihre Antworten überprüfen sollten.

In beiden Experimenten zeigte sich, dass die Open-Book Lernaufgaben substantiell besser beantwortet wurden als die Closed-Book Lernaufgaben. Bei einem Wissenstest, der eine Woche später durchgeführt wurde, zeigte sich allerdings zumindest im Vergleich zu dem Closed-Book-Format, bei dem die Lernenden anschließend ihre Antworten überprüfen sollten, keine Überlegenheit eines Open-Book-Formats. Auf den ersten Blick könnte dieses Befundmuster als ein Hinweis darauf interpretiert werden, dass das Closed-Book-Format aufgrund der in die Lernaufgabe integrierten Abrufübung zu geringeren Vergessensraten führt als ein Open-Book-Format. Erhärtet wird diese Vermutung dadurch, dass auch in der Closed-Book Bedingung ohne anschließende Überprüfung die Vergessensraten scheinbar geringer ausfielen als in der Open-Book Bedingung (die Autor*innen haben diese Unterschiede allerdings nicht genauer analysiert). Einschränkend muss allerdings angeführt werden, dass diese Unterschiede nur sehr gering waren. Zudem gaben die Autor*innen keine Auskunft darüber, wie gut die Lernenden in der Closed-Book Bedingung mit Überprüfungsmöglichkeit ihre Antworten korrigiert haben (die Lernenden durften ihre ursprünglich gegebenen Antworten nicht verändern im Rahmen des Überprüfungsprozesses), so dass unklar ist, ob die Closed-Book Lernenden, die eine Überprüfungsmöglichkeit hatten, nicht gegebenenfalls schon in der initialen Lernphase in Bezug auf die Antwortqualität im Grunde zu den Open-Book Lernenden aufgeschlossen haben. Sollten die Closed-Book Lernenden mit Überprüfungsmöglichkeit bereits in der initialen Lernphase zu den Open-Book Lernenden aufgeschlossen haben, würde der nicht vorhandene Unterschied im verzögerten Wissenstest nicht auf unterschiedliche Vergessensraten, sondern auf ähnliche Vergessensraten unter Open-Book und Closed-Book Bedingungen hindeuten. Die Studie von Agarwal et al. (2008) lässt also zwar unter Umständen ein gewisses Potenzial des Closed-Book-Formats erahnen – ein belastbares Argument für den Nutzen eines Closed-Book-Formats von auf Konstruktion zielenden Lernaufgaben lässt sich hieraus allerdings keineswegs ableiten.

Stärkere Evidenz hinsichtlich des Potentials eines Closed-Book-Formats lieferte einige Jahre später allerdings eine Studie von Blunt und Karpicke (2014). Im zweiten Experiment dieser Studie variierten die Autor*innen unter anderem, ob die auf Konstruktion zielende Lernaufgabe Concept Mapping in einem Open-Book- oder einem Closed-Book-Format implementiert wurde. In einem Wissenstest, der eine Woche nach der Lernphase stattfand, schnitten die Lernenden, die in der Lernphase im Closed-Book-Format gearbeitet hatten, signifikant besser ab (kleiner bis mittelgroßer Effekt) als die Lernenden, die im Open-Book-Format gearbeitet hatten. Dieser Effekt kann nicht darauf zurückgeführt werden, dass die Closed-Book Lernenden in der Lernphase ausführlichere Concept Maps erstellt hätten und somit potenziell reichhaltigere mentale Repräsentationen der Lerninhalte aufgebaut hätten als die Lernenden in der Open-Book Gruppe. Zwar gab es inmitten der Lernphase eine kurze Gelegenheit (5 min) für die Closed-Book Lernenden, erneut in das Lernmaterial zu blicken und somit potenzielle Erinnerungslücken zu schließen – insgesamt deckte die Closed-Book Gruppe allerdings weniger der im Lernmaterial enthaltenen Idea Units in ihren Concept Maps ab als die Lernenden in der Open-Book Gruppe. Mutmaßlich aufgrund des höheren Anteils an Abrufübung in der Lernphase und entsprechend aufgrund geringerer Vergessensraten war beim Lernerfolgstest, der nach einer Woche stattfand, dennoch das Closed-Book-Format überlegen.

Weitere Evidenz zu den Vorzügen eines Closed-Book-Formats, die ebenfalls vorwiegend auf direkte Effekte von Abrufübung zurückgeführt werden kann, stammt aus einer Studie von Roelle und Berthold (2017). In dieser Studie fanden die Autor*innen, dass eine Lernaufgabe, die Lernende zum Zusammenfassen kurzer Lehrtexte aufforderte, nach einer Woche zu einem höheren Lernerfolg führte, wenn die Lernenden sie in einem Closed-Book-Format anstatt in einem Open-Book-Format bearbeiteten. Da in dieser Studie kein Feedback und keine Möglichkeiten zum Korrigieren der (Closed-Book) Zusammenfassungen gegeben wurden, ist für diesen Effekt vermutlich das erhöhte Maß an Abrufübung in der Closed-Book Gruppe verantwortlich. Diese Erklärung wird dadurch erhärtet, dass auch der Leistungsunterschied zwischen einem unmittelbaren Wissenstest und einem um eine Woche verzögerten Wissenstest (die Verzögerung des Wissenstests war ein Zwischensubjektfaktor in dieser Studie) weniger stark unter Closed-Book Bedingungen als unter Open-Book Bedingungen ausfiel, was auf verringerte Vergessensraten hinweist, die aus theoretischer Sicht mit einem Closed-Book-Format verbunden sein sollten.

Ebenfalls starke Evidenz für die Vorzüge eines Closed-Book-Formats liefert eine Studie von Rummer et al. (2019). In dieser Studie beantworteten Studierende der Psychologie, nachdem sie einem Vortrag bzw. Referat in einer Seminarsitzung zugehört hatten, noch innerhalb der jeweiligen Seminarsitzung Testaufgaben, die zentrale Aspekte der vorherigen Vorträge bzw. Referate berührten. Diese Aufgaben wurden innerhalb von 10 min jeweils entweder in einem Open-Book- oder in einem Closed-Book-Format bearbeitet. Nachdem dieser Vorgehensweise über sieben Wochen gefolgt wurde, gab es in der achten Woche einen unangekündigten Lernerfolgstest, der sich auf die Inhalte aller sieben vorhergehenden Wochen bezog. In diesem Test schnitt die Closed-Book-Gruppe deutlich besser ab als die Open-Book-Gruppe (mittelgroßer Effekt). Auch in der weitere acht Wochen später folgenden Modulabschlussklausur zeigte sich eine Überlegenheit (großer Effekt) der Closed-Book-Lernenden bei den Themengebieten, die in den sieben Seminarsitzungen behandelt wurden. Zum besseren Verständnis des Befundmusters, das klare Vorteile für das Closed-Book-Format widerspiegelt, muss allerdings hinzugefügt werden, dass in dieser Studie, anders als bei Blunt und Karpicke (2014) und Roelle und Berthold (2017), verschiedene Erklärungen für die Vorzüge des Closed-Book-Format plausibel sind. So könnten sowohl das erhöhte Maß an Abrufübung innerhalb der Seminarsitzungen, aber auch ein erhöhter Vorbereitungsaufwand für die nächsten Seminarsitzungen im Anschluss an die ersten Closed-Book-Tests sowie ein erhöhter Nachbereitungsaufwand seitens der Closed-Book-Lernenden zu den Effekten beigetragen haben.

Mit Ausnahme der möglicherweise aus zufälligen Gründen einfach sehr gering ausgefallenen Effekte in der Studie von Agarwal et al. (2008) erwecken die bisher vorgestellten Studien zu den Effekten eines Closed-Book-Formats allesamt den Anschein, dass das Closed-Book-Format im Wesentlichen förderliche Effekte mit sich bringt. Das Prinzip Zwei auf einen Streich bei der Integration von Abrufübung in auf Konstruktion zielende Lernaufgaben scheint also durchaus vielversprechend zu sein. Allerdings beziehen sich die skizzierten Befunde aus den Studien von Agarwal et al. (2008), Rummer et al. (2019) und Roelle und Berthold (2017) jeweils auf Lernaufgaben, die Wissenskonstruktionsaktivitäten von eher geringer Tiefe erfordert haben. So erforderten weder die Testaufgaben in Agarwal et al. und Rummer et al. noch die Zusammenfassungsaufgaben in Roelle und Berthold, dass die Lernenden substantiell über die im Lernmaterial explizit enthaltenen Informationen hinausgehen mussten. Auch die Concept Mapping-Lernaufgabe in Blunt und Karpicke (2014) evozierte vermutlich vergleichsweise wenig Organisation und Elaboration. So wurde das Concept Mapping in dieser Studie nicht explizit trainiert bzw. über einen längeren Zeitraum geübt, was für erfolgreiches Concept Mapping allerdings essentiell ist (vgl. Schroeder et al. 2018; siehe auch Redford et al. 2012), und im Wesentlichen als eine Form des Notizenmachens konzipiert, so dass die Lernenden das für Concept Mapping typische Organisieren und Elaborieren der Lerninhalte (vgl. Renkl und Nückles 2006) wohl nur in geringem Ausmaß ausgeführt haben dürften. Hinsichtlich der eingangs skizzierten Lernaufgaben, die in deutlich größerem Ausmaß die Anregung des Organisierens, Elaborierens und Generierens zum Ziel haben, sind die bisher dargelegten Effekte eines Closed-Book-Formats entsprechend potenziell nur eingeschränkt gültig. In der Tat zeigt sich, dass sich das Befundmuster deutlich verändert, wenn das Closed-Book-Format bei auf Konstruktion zielenden Lernaufgaben eingesetzt wird, die eine höhere Verarbeitungstiefe anregen.

2.1 Die Rolle der Verarbeitungstiefe

Obgleich in Theorien und Rahmenmodellen des Wissenserwerbs durchaus Annahmen zu Wissenskonstruktionsaktivitäten von unterschiedlicher Tiefe enthalten sind (vgl. Anderson und Krathwohl 2001; Craik und Lockhart 1972; Chi und Wylie 2014), ist es schwer, klar definierte Stufen der Verarbeitungstiefe im Bereich des bedeutungsvollen Lernens festzulegen. Pragmatisch kann jedoch festgehalten werden, dass die Tiefe bedeutend vom Ausmaß abhängt, in dem die Lernenden in ihren Wissenskonstruktionsaktivitäten über die gegebenen Informationen hinausgehen (z. B. beim Ausdenken eigener Beispiele für neue Konzepte oder beim Ziehen von Schlussfolgerungen) und vom Ausmaß, in dem Lernende die Struktur der gegebenen Information verändern bzw. umarbeiten (z. B. beim Herausarbeiten von Zusammenhängen oder einer Hierarchie innerhalb gegebener Informationen). Mit der Tiefe steigt oftmals zudem auch die Menge an Wissenselementen, die simultan verarbeitet werden müssen, um die Lernaufgabe erfolgreich zu bearbeiten (Komplexität von Lernaufgaben). So erfordert das Ausdenken eines eigenen Beispiels in der Regel, dass Lernende alle Merkmale eines bestimmten Konzepts simultan berücksichtigen. Aufgrund der starken Konfundierung von Verarbeitungstiefe mit Komplexität in den im vorliegenden Beitrag diskutierten Studien wird im Folgenden keine Differenzierung dieser beiden Konstrukte vorgenommen. Für ausführlichere Betrachtungen des Konstrukts der Komplexität von Lernaktivitäten im Kontext des Lernens durch Abrufübung seien interessierte Leser*innen auf Rummer (2021) sowie den Beitrag von Rummer und Schweppe in diesem Themenheft verwiesen.

Ausgehend von der dargestellten Operationalisierung der Tiefe von Wissenskonstruktionsaktivitäten deutete die bereits erwähnte Studie von Roelle und Berthold (2017) als eine der ersten an, dass die Effektivität eines Closed-Book-Formats mit zunehmender Tiefe der angeregten Wissenskonstruktionsaktivitäten abnimmt. So zeigte sich bei Lernaufgaben, die im Vergleich zu den oben erwähnten Zusammenfassungsaufgaben deutlich stärker das Generieren von Schlussfolgerungen auf der Basis zuvor gegebener Information erforderten, sogar ein abträglicher Effekt des Closed-Book-Formats auf den unmittelbar und verzögert gemessenen Lernerfolg im Vergleich zu einem Open-Book-Format. Zwar war auch bei diesen Lernaufgaben der Leistungsabfall zwischen dem direkten und verzögerten Wissenstest geringer, wenn die Lernenden in einem Closed-Book-Format gearbeitet hatten – insgesamt schnitt jedoch bei beiden Messzeitpunkten das Open-Book-Format deutlich besser ab als das Closed-Book-Format.

Ähnliche Befunde berichten Hiller et al. (2020) in einer Studie mit Achtklässler*innen verschiedener Gymnasien. Die untersuchten Lernaufgaben waren in dieser Studie Selbsterklärungsprompts, die die Lernenden anregten, gegebene Beispiele mittels zuvor eingeführter Grundlagen und Prinzipien des Bohrschen Atommodells zu erklären (z. B. „Erkläre anhand der gerade bearbeiteten Grundlagen zum Bohrschen Atommodell: Warum hat Lithium drei Elektronen und zwei Elektronenschalen?“). Da die zuvor eingeführten Grundlagen keinerlei direkte Bezüge zu den Beispielen aufwiesen und keine direkten Antworten auf die Selbsterklärungsprompts beinhalteten, mussten die Lernenden also auch bei diesen auf Konstruktion zielenden Lernaufgaben bedeutend über die gegebenen Informationen hinausgehen. Wenn die Selbsterklärungsprompts in einem Open-Book-Format bearbeitet wurden und die Lernenden also während der Bearbeitung noch Zugriff auf die Grundlagentexte zum Bohrschen Atommodell hatten, schnitten die Lernenden in einem unmittelbar folgenden Wissenstest bedeutend besser ab, als wenn die Selbsterklärungsprompts in einem Closed-Book-Format bearbeitet wurden. Bei einem weiteren Wissenstest, der eine Woche später folgte, erreichte dieser Unterschied allerdings keine statistische Signifkanz mehr. Auch in Waldeyer et al. (2020) zeigten sich bei Organisations- und Elaborationslernaufgaben keine zuträglichen Effekte eines Closed-Book-Formats gegenüber einem Open-Book-Format bei einem um eine Woche verzögerten Wissenstest, bei Roelle und Nückles (2019; Exp. 2) waren sogar abträgliche Effekte eines Closed-Book-Formats zu erkennen. In den beiden letztgenannten Studien wurde allerdings das zeitliche Intervall des Wissenstests nicht variiert, so dass anders als in Hiller et al. keine Aussagen zu möglichen Veränderungen dieser Effekte über die Zeit getroffen werden konnten.

Eine Erklärung für diese verringerten bzw. in Teilen sogar umgekehrten Effekte eines Closed-Book-Formats bei zunehmender Tiefe der auf Konstruktion zielenden Lernaufgaben liegt darin, dass das Closed-Book-Format gegenüber einem Open-Book-Format zwar das Ausmaß an Abrufübung steigert, aber die Qualität und Quantität der ausgeführten Wissenskonstruktionsaktivitäten substantiell verringert. So zeigte sich sowohl in der Studie von Roelle und Berthold (2017) als auch in beiden Experimenten von Hiller et al. (2020), dass die Lernenden im Closed-Book-Format in der Lernphase bedeutend weniger korrekte Schlussfolgerungen bzw. Selbsterklärungen generierten als im Open-Book-Format (jeweils mittelgroße Effekte). In den Studien von Waldeyer et al. (2020) und Roelle und Nückles (2019; Exp. 2) zeigten sich ähnliche Befunde – auch hier war die Qualität der ausgeführten Wissenskonstruktionsaktivitäten bzw. die Menge der in diesen Wissenskonstruktionsaktivitäten abgedeckten Inhalte bedeutend größer, wenn die Lernenden die Lernaufgaben im Open-Book-Format bearbeiteten. Ebenfalls auf einen abträglichen Effekt eines Closed-Book-Formats auf die Wissenskonstruktionsqualität deuten Studien aus dem Bereich des generativen Zeichnens hin. So zeigen Studien von Schleinschok et al. (2017) und Kollmer et al. (2020), auch wenn hier das Closed-Book-Format nicht mit einem Open-Book-Format verglichen wurde, dass die Lernenden im Closed-Book-Format lediglich Zeichnungen von geringer Qualität konstruieren konnten, was in deutlichem Kontrast zu Befunden zum generativen Zeichnen im Open-Book-Format steht (vgl. Leutner und Schmeck im Druck).

Die Erklärung für diesen abträglichen Effekt des Closed-Book-Formats auf die Ausführung der anvisierten tiefen Wissenskonstruktionsaktivitäten liegt wiederum darin, dass der Abruf aus dem Gedächtnis in aller Regel nicht perfekt ist. Sobald Lernende aber bestimmte zur Ausführung der Wissenskonstruktionsaktivitäten benötigte Wissenselemente nicht erfolgreich aus dem Gedächtnis abrufen können, können sie entsprechend auch die anvisierten Wissenskonstruktionsaktivitäten nicht mehr ausführen (z. B. eine Selbsterklärung oder eine Schlussfolgerung nicht mehr korrekt generieren). Sobald die durch das Closed-Book-Format implementierte Abrufhürde also nicht genommen werden kann, wird die Ausführung der jeweiligen Wissenskonstruktionsaktivitäten behindert. Dieser hinderliche Effekt wirkt sich natürlich nicht nur bei tiefen, sondern auch bei oberflächlicheren auf Konstruktion zielenden Lernaufgaben auf die Quantität und Qualität der ausgeführten Wissenskonstruktionsaktivitäten aus. Allerdings sollten die Auswirkungen umso größer sein, je mehr Wissenselemente für die Ausführung einer bestimmten Aktivität erforderlich sind (vgl. Rummer & Schweppe in diesem Themenheft).

Bei eher oberflächlichen Wissenskonstruktionsaktivitäten wie beispielsweise dem Zusammenfassen haben nicht erinnerte Wissenselemente vermutlich oftmals eher sehr lokale abträgliche Effekte – das Zusammenfassen anderer Wissenselemente wird nicht oder kaum behindert, wenn beispielsweise ein einzelnes Wissenselement nicht erfolgreich abgerufen werden kann. Bei tiefen auf Konstruktion zielenden Lernaufgaben hingegen können einzelne nicht erinnerte Wissenselemente potenziell eine große Menge anderer erfolgreich erinnerter Wissenselemente entwerten. Wenn eine Schlussfolgerung oder eine Selbsterklärung das Erinnern von vier Wissenselementen erfordert und nur eines von diesen vier Elementen nicht korrekt erinnert wird, kann unter Umständen die gesamte Schlussfolgerung bzw. Selbsterklärung nicht (korrekt) generiert werden, so dass auch die übrigen drei Wissenselemente keinen Wert mehr hinsichtlich der Ausführung der Wissenskonstruktionsaktivitäten haben. Die aus den skizzierten deutlich abträglichen Effekten resultierende verringerte Wissenskonstruktionsqualität hat in den angeführten Studien zu tiefen auf Konstruktion zielenden Lernaufgaben mutmaßlich jeweils den Vorzug des Closed-Book-Formats, der aus dem höheren Maß an Abrufübung resultierte, neutralisiert bzw. sogar überwogen – entsprechend war das Closed-Book-Format hinsichtlich des Lernerfolgs nicht besser bzw. teilweise sogar schlechter als das Open-Book-Format.

Ein Aspekt, der also insbesondere bei tiefen auf Konstruktion zielenden Lernaufgaben beachtet werden sollte, ist, dass das Closed-Book-Format nach Möglichkeit so implementiert werden sollte, dass die damit einhergehende Abrufhürde keine abträglichen Effekte auf die Qualität und Quantität der ausgeführten Wissenskonstruktionsaktivitäten hat. Denn selbst wenn sich in den Settings der oben skizzierten Studien bei noch länger verzögerten Wissenstests das Befundmuster möglicherweise in Richtung einer Überlegenheit eines Closed-Book-Formats umkehren würde, so kann es dennoch keineswegs im Sinne einer lernförderlichen Integration von Abrufübung in Lernaufgaben zur Verständnisförderung sein, dass sich hinsichtlich der Qualität der in der Lernphase gebildeten mentalen Repräsentationen und somit hinsichtlich des initial erworbenen Verständnisses der Lerninhalte abträgliche Effekte zeigen.

2.2 Wege, um abträgliche Effekte eines Closed-Book-Formats zu verringern

Es gibt verschiedene Mittel, um den skizzierten abträglichen Effekten auf die Menge und Qualität der ausgeführten Wissenskonstruktionsaktivitäten entgegenzuwirken. Ein gangbares Mittel, um diese abträglichen Effekte zu verhindern bzw. zu reduzieren, liegt darin, den Lernenden Möglichkeiten einzuräumen, das Lernmaterial erneut einzusehen und dabei Erinnerungslücken zu schließen (vgl. Nückles et al. 2009). Diese offensichtliche Lösung für das Problem der abträglichen Effekte eines Closed-Book-Formats auf die ausgeführten Wissenskonstruktionsaktivitäten wird bisher vorwiegend auf zwei Arten umgesetzt.

Zum einen – und das ist in der Forschung zu Abrufübung wohl derzeit der am weitesten verbreitete Weg – können die Closed-Book Phasen durch fest vorgegebene Open-Book Phasen unterbrochen werden, in denen die Lernenden vollen Zugriff auf das Lernmaterial erhalten. Obgleich dies wahrscheinlich die abträglichen Effekte eines Closed-Book-Formats in vielen Fällen abmildern kann, zeigt die Studie von Blunt und Karpicke (2014) allerdings, dass diese Möglichkeit zum Schließen von Erinnerungslücken schon bei eher oberflächlichen auf Konstruktion zielenden Lernaufgaben nicht geeignet ist, um hinsichtlich der ausgeführten Wissenskonstruktionslernaktivitäten vollständig zu einem Open-Book-Format aufzuschließen. Obwohl diese Unzulänglichkeit vermutlich auch von der Häufigkeit und Länge der Open-Book Phasen abhängig ist, was bisher allerdings kaum untersucht wurde, scheint eine potenziell vielversprechendere Möglichkeit darin zu bestehen, den Lernenden während der gesamten Closed-Book Bearbeitungsphase die Möglichkeit einzuräumen, das Lernmaterial bei Bedarf erneut einzusehen. Dieses Open-Book-bei-Bedarf-Format, bei dem die Lernenden ihre Erinnerungslücken im Grunde just-in-time beheben können, wurde von Waldeyer et al. (2020) in einem Experiment mit Neuntklässler*innen eines Gymnasiums untersucht. Die Autor*innen konnten zeigen, dass dieses Format hinsichtlich der Wissenskonstruktionsaktivitäten zu einem Aufschließen zu einem Open-Book-Format führte und hinsichtlich des Lernerfolgs nach einer Woche sowohl einem reinen Open-Book als auch einem reinen Closed-Book-Format signifikant (kleiner bis mittelgroßer Effekt) überlegen war.

Auch hinter diesem von Waldeyer und Kolleg*innen entwickelten Format steht allerdings keine reine Erfolgsgeschichte. So fanden Roelle und Renkl (2020) in zwei Experimenten mit Achtklässler*innen eines Gymnasiums, dass ein Open-Book-bei-Bedarf-Format nur für diejenigen Lernenden einen Vorteil bei einem direkten und um eine Woche verzögerten Wissenstest gegenüber einem reinen Closed-Book-Format mit sich brachte, die ein eher geringes akademisches Selbstkonzept bezüglich der thematisierten Lerninhalte (hier: Inhalte aus dem Fach Chemie) hatten. Aufgrund der Instruktion, das Open-Book-Format nur bei Bedarf zu nutzen und die Open-Book Zeit insgesamt zu minimieren, haben die Lernenden mit hohen akademischen Selbstkonzepten mutmaßlich zu selten einen für sie hinreichenden Bedarf erkannt, weswegen sie von der Open-Book Option insgesamt nur wenig Gebrauch gemacht haben.

Eine andere Möglichkeit, die abträglichen Effekte eines Closed-Book-Formats auf die ausgeführten Wissenskonstruktionsaktivitäten zu verringern, besteht darin, die Verarbeitung der Lernmaterialien in der initialen Lernphase, also bevor die Closed- oder Open-Book-Lernaufgaben gegeben und bearbeitet werden, zu verbessern. Je besser die Lernenden das Lernmaterial eingangs verarbeiten, desto höher sollte der Abruferfolg bei der Bearbeitung der Lernaufgaben sein und desto geringer sollte die Unterlegenheit eines Closed-Book-Formats gegenüber einem Open-Book-Format hinsichtlich der ausgeführten Wissenskonstruktionsaktivitäten ausfallen. Dieser Ansatz wurde in den zwei Experimenten von Hiller et al. (2020) untersucht. Im Speziellen haben die Autor*innen untersucht, ob in der initialen Lernphase die Gabe von Prompts zur Anregung einer fokussierten Verarbeitung der Lerninhalte, die zentral für die Bearbeitung der anschließenden (Closed- oder Open-Book) Lernaufgaben sind, den abträglichen Effekt des Closed-Book-Formats verringert. Die Autor*innen fanden in beiden Experimenten, dass in den Gruppen, in denen in der initialen Lernphase die Prompts zur fokussierten Verarbeitung gegeben wurden, keine Unterlegenheit des Closed-Book-Formats hinsichtlich der ausgeführten Wissenskonstruktionsaktivitäten vorlag. Trotz dieses Ausgleichs in Bezug auf die ausgeführten Wissenskonstruktionsaktivitäten ergab sich in dieser Studie allerdings keine Überlegenheit des Closed-Book-Formats hinsichtlich des Lernerfolgs nach einer Woche (Exp. 2).

Die skizzierten Studien von Waldeyer et al. und Hiller et al. zeigen zwar erste vielversprechende Befunde hinsichtlich der Verringerung der abträglichen Effekte eines Closed-Book-Formats auf die Menge und Qualität der ausgeführten Wissenskonstruktionsaktivitäten, liefern aber bei näherer Betrachtung insgesamt dennoch mehr Fragen als Antworten. So ist es hinsichtlich des Ansatzes von Waldeyer et al. beispielsweise unklar, wie die in Roelle und Renkl (2020) berichteten abträglichen Effekte für Lernende mit hohem akademischen Selbstkonzept zuverlässig verhindert werden könnten und wie eine optimale Verwendung dieses Formats angeleitet werden müsste. Theoretisch sollte ein so-viel-Closed-Book-wie-möglich-so-wenig-Open-Book-wie-nötig-Format am aussichtsreichsten sein – ob dies allerdings empirisch Bestätigung finden würde und wie Lernende entsprechend dieser Logik angeleitet werden sollten, ist aber derzeit unklar. Auch in Bezug auf den Ansatz, der in Hiller et al. berichtet wird, bestehen einige offene Fragen. So ist derzeit offen, welche Form der Verarbeitung von den Prompts zur fokussierten Verarbeitung angeregt werden sollte, um den Abruf während der Bearbeitung der Closed-Book Lernaufgaben zwar erfolgreich aber nicht zu einfach werden zu lassen. Entsprechend des retrieval-effort-Ansatz, der in der Forschung zu wünschenswerten Erschwernissen entwickelt wurde und empirisch inzwischen einige Bestätigung gefunden hat (vgl. Bjork und Bjork 1992; siehe auch Karpicke 2017), sollte der Abruf erfolgreich, aber zugleich nicht zu einfach sein, um die gewünschten Effekte hinsichtlich der Konsolidierung der Gedächtnisinhalte zu erzielen. Auch ist unklar, ob die Prompts zur fokussierten Verarbeitung an das Vorwissen der Lernenden angepasst werden müssten, um potenziell abträgliche Redundanzeffekte zu vermeiden (vgl. Roelle und Berthold 2013; Roelle et al. 2015b) und ob in Abhängigkeit der Art der anschließenden Lernaufgaben (z. B. Lernaufgaben, die zum Erstellen von Zeichnungen anregen vs. Lernaufgaben, die das Schreiben eines Lerntagebuchs anregen) das Format der Prompts angepasst werden sollte, um optimale Effekte zu erzielen.

3 Weiterführende offene Fragen zum Closed-Book-Format

Neben den bisher skizzierten offenen Fragen, die sich stark auf die lokalen Befunde der wenigen bisher publizierten Studien zu den Effekten eines Closed-Book-Formats beziehen, gibt es auch davon losgelöste, größere offene Fragestellungen bzw. Baustellen, die in der Forschung zum Closed-Book-Format adressiert werden sollten. Ein Komplex an Fragestellungen bezieht sich auf die Effekte eines Closed-Book-Formats auf die ausgeführten Wissenskonstruktionsaktivitäten. Die bisherige Befundlage zeigt vergleichsweise klar und konsistent, dass das Closed-Book-Format die Ausführung der Wissenskonstruktionsaktivitäten aufgrund der integrierten Abrufhürde erschwert und behindert. Bisher kaum in den Blick genommen wurde allerdings, inwiefern und unter welchen Umständen sowohl die Quantität als auch die Qualität der ausgeführten Wissenskonstruktionsaktivitäten gleichermaßen betroffen sind und inwiefern diese abträglichen Effekte von der Art der auf Konstruktion zielenden Lernaufgaben abhängen. So ist es beispielsweise plausibel anzunehmen, dass Lernende bei ungerichteten auf Konstruktion zielenden Lernaufgaben, die ihnen Freiheitsgrade hinsichtlich der Inhalte, die sie verarbeiten, einräumen, im Closed-Book-Format nicht zwingend Wissenskonstruktionsaktivitäten von geringerer Qualität ausführen als im Open-Book-Format. Wenn die Lernaufgaben, wie es beispielsweise in der Lerntagebuchforschung oftmals der Fall ist, also so gestellt sind, dass die Lernenden selbst auswählen können, welche Inhalte sie verarbeiten (z. B. „Veranschauliche die zentralen Inhalte mittels eigener Beispiele“ oder „Stelle Zusammenhänge zwischen den zentralen Inhalte heraus“; vgl. Nückles et al. 2020), dann könnten die Lernenden im Closed-Book-Format den Fokus vorwiegend auf gut abrufbare Inhalte richten und mutmaßlich in Bezug auf diese Inhalte Wissenskonstruktionsaktivitäten von ähnlicher Qualität wie unter Open-Book Bedingungen ausführen.

Auch in Bezug auf die Quantität der ausgeführten Wissenskonstruktionsaktivitäten sollten Closed-Book-Lernende unter diesen Umständen nicht zwangsläufig Open-Book-Lernenden unterlegen sein. So könnten sie in Bezug auf die Lerninhalte, die sie erfolgreich abrufen können, jeweils mehr Wissenskonstruktionsaktivitäten als Open-Book-Lernende ausführen und somit zu Open-Book-Lernenden, die potenziell zu mehr Lerninhalten jeweils weniger Wissenskonstruktionsaktivitäten ausführen, aufschließen. Im Falle von ungerichteten auf Konstruktion zielenden könnten die abträglichen Effekte eines Closed-Book-Formats also potenziell vorwiegend den Grad der Abdeckung der zentralen Lerninhalte betreffen, während die insgesamte Quantität und Qualität der Aktivitäten potenziell kaum betroffen sind. Bei gerichteten auf Konstruktion zielenden Lernaufgaben, die Elaborationen oder Schlussfolgerungen hinsichtlich bestimmter zentraler Lerninhalte erfordern (z. B. die Anwendung eines bestimmten Prinzips in einem vorgegebenen Szenario, vgl. Heitmann et al. (2018), oder das Generieren einer Selbsterklärung auf der Basis mehrerer grundlegender Prinzipien, vgl. Hiller et al. 2020), können die Lernenden hingegen nicht den inhaltlichen Fokus bei der Ausführung der Wissenskonstruktionsaktivitäten verschieben. Hier sollten die abträglichen Effekte eines Closed-Book-Formats entsprechend auch die Quantität und Qualität der ausgeführten Wissenskonstruktionsaktivitäten bedeutend betreffen. Aus der skizzierten Betrachtung folgt, dass hinsichtlich des Lernerfolgs die abträglichen Effekte eines Closed-Book-Formats stärker bei gerichteten als bei ungerichteten auf Konstruktion zielenden Lernaufgaben ausfallen sollten. Die Prüfung dieser Hypothese verspricht einen erheblichen Erkenntnisgewinn bei der Erforschung des Closed-Book-Formats.

Eine zweite Baustelle in der Forschung zum Closed-Book Format bezieht sich auf die theoretischen Beiträge der angeführten Studien. Die bisherigen Studien leiten das Closed-Book-Format jeweils von unterschiedlichen Theorien bzw. Mechanismen ab. Beispielsweise verorten Agarwal et al. (2008) die Vorzüge eines Closed-Book-Formats im retrieval effort-Ansatz sowie in Befunden zu förderlichen Effekten verzögerten Feedbacks. Blunt und Karpicke (2014) sowie Roelle und Berthold (2017) ziehen vorwiegend den episodic context-Ansatz heran und Rummer et al. (2019) verweisen auf den elaborative retrieval-Ansatz und den Ansatz der transferangemessenen Verarbeitung. Da die Studien sich allesamt vorwiegend als pädagogische Anwendungen von Abrufübung verstehen und entsprechend keine Untersuchung der zugrundeliegenden Prozesse der Effekte von Abrufübung vornehmen, mag die angenommene zugrundeliegende Erklärung der Effekte von Abrufübung auf den ersten Blick sekundär erscheinen. Auf den zweiten Blick dürften sich allerdings in Abhängigkeit der herangezogenen theoretischen Erklärung unterschiedliche Arten der Implementation des Closed-Book-Formats als theoretisch optimal anbieten. So müssten beispielsweise bei einer Betrachtung aus der Perspektive des retrieval effort-Ansatzes vorwiegend Arten der Implementation gesucht werden, die den Abruf, solange er gelingt, als so schwer wie möglich gestalten (z. B. über den Einbau von Pausen zwischen initialer Lernphase und Bearbeitung der jeweiligen Lernaufgaben). Bei einer Betrachtung aus der Perspektive des episodic context-Ansatzes oder des elaborative retrieval-Ansatzes hingegen müsste die Abrufübung im Grunde jeweils so implementiert werden, dass der Abruf von den Lernenden wesentlich über das Erinnern von Elementen des episodischen Kontextes oder über semantische Assoziationen bewerkstelligt wird. Studien zum Closed-Book-Format von auf Konstruktion zielenden Lernaufgaben, die sich hinsichtlich der konkreten Ausgestaltung des Formats und der jeweiligen Instruktionen noch stärker an den angenommenen theoretischen Wirkmechanismen orientieren, könnten entsprechend den Beitrag dieser Forschung zur Theorieentwicklung stärken und zudem innovative Wege zur weiteren Optimierung des Closed-Book-Formats aufweisen.

4 Zwei auf einen Streich oder lieber eins nach dem anderen?

Eine weitere wichtige offene Frage, welche stärker als die oben genannten offenen Fragen die Integration von Abrufübung in Aufgaben zur Verständnisförderung im Allgemeinen betrifft, ist, ob sich ein Closed-Book-Format, bei dem Wissenskonstruktion und Abrufübung im Wesentlichen simultan erfolgen, insgesamt überhaupt gegenüber einer sequentiellen Bearbeitung von auf Konstruktion zielenden Lernaufgaben und auf Konsolidierung zielenden Lernaufgaben (Abrufübungsaufgaben) bewähren würde. So könnte eine einfache Form der Sequenzierung beispielsweise darin bestehen, dass die Lernenden die auf Konstruktion zielenden Lernaufgaben in einem erstem Durchgang im Open-Book-Format bearbeiten und anschließend Abrufübungsaufgaben erhalten, die sich auf die jeweiligen Lerninhalte bzw. im Rahmen der auf Konstruktion zielenden Lernaufgaben gebildeten mentale Repräsentationen beziehen (z. B. Lernaufgaben, die freien Gedächtnisabruf erfordern oder ein zweites Mal die gleichen auf Konstruktion zielenden Lernaufgaben, allerdings im Closed-Book-Format). Eine solche Sequenzierung hätte gegenüber einem Closed-Book-Format den Vorzug, dass keine potenziell kompliziert zu instruierenden und zu bearbeitenden Maßnahmen in das Closed-Book-Format integriert werden müssten, um die abträglichen Effekte auf die Wissenskonstruktionsaktivitäten zu kompensieren. Hinsichtlich der Lerneffizienz (Zeitaufwand im Verhältnis zum Lernerfolg) und der Bereitschaft der Lernenden, in die Aufgaben hinreichend Denkanstrengung zu investieren, wäre möglicherweise jedoch das Closed-Book-Format überlegen.

Neben der Frage, ob und unter welchen Umständen eine sequenzierte Bearbeitung der beiden Lernaufgabenarten einem (optimierten) Closed-Book-Format über- oder unterlegen wäre, könnte ein Vergleich eines Closed-Book-Formats mit Sequenzen von Wissenskonstruktions- und Abrufübungslernaufgaben auch die für beide Forschungsfelder (Wissenskonstruktion und Abrufübung) relevante Frage adressieren, ob es eine Rolle spielt, welche der beiden Lernaufgabenarten zuerst bearbeitet werden. Beide möglichen simplen Abfolgen, nämlich eine erst-Wissenskonstruktion-Sequenz und eine erst-Abrufübung-Sequenz, sollten jeweils mit Vorzügen und Nachteilen verbunden sein. Der zentrale Vorzug einer erst-Wissenskonstruktion-Sequenz sollte darin liegen, dass sich die Konsolidierung durch Abrufübung auf mentale Repräsentationen von relativ hoher Qualität bezieht, da diese vorab durch Wissenskonstruktion erhöht wurde. Eine erst-Abrufübung-Sequenz brächte demgegenüber folglich den Nachteil mit sich, dass durch die Abrufübung mentale Repräsentationen von geringerer Qualität konsolidiert bzw. dass die strukturverbesserten mentalen Repräsentationen, die durch Wissenskonstruktionsaktivitäten im Anschluss an die Abrufübung entstehen, nicht konsolidiert würden. Dieser Vorzug einer erst-Wissenskonstruktion-Sequenz steht im Einklang mit Phasenmodellen des Wissenserwerbs (z. B. Bjork et al. 2013). Diese Modelle nehmen an, dass es in einer frühen Phase des Wissenserwerbs wichtig ist, ein grundlegendes Verständnis aufzubauen (acquisition phase), bevor es in einer späteren Phase wichtig ist, die gebildeten mentalen Repräsentationen zu konsolidieren (retention phase).

Ein zentraler Vorzug einer erst-Abrufübung-Sequenz sollte hingegen darin liegen, dass die Lernenden während der Wissenskonstruktion die zu verarbeitenden Lerninhalte bereits gut verfügbar bzw. abrufbar haben. Dies sollte es den Lernenden erleichtern, die zu lernenden Inhalte beispielsweise durch das Ausdenken eigener Beispiele zu elaborieren und durch das Herausarbeiten von Bezügen zwischen den Wissenselementen zu organisieren, da sie die Informationen zu den Lerninhalten zu Beginn der Bearbeitung der auf Konstruktion zielenden Lernaufgaben nicht durch erneutes Lesen des Lernmaterials (z. B. des Lehrtexts) potenziell mühevoll ins Arbeitsgedächtnis holen und aktiv halten müssen, sondern diese zumindest zu großen Teilen jeweils einfach durch Abruf aus dem Langzeitgedächtnis aktivieren können. Eine erst-Wissenskonstruktion-Sequenz brächte entsprechend den Nachteil mit sich, dass die zu verarbeitenden Lerninhalte bzw. Lernmaterialien potenziell erneut gelesen und während des Bearbeitens der Lernaufgabe mühevoll aktiv gehalten werden müssen, was ggf. die Qualität der Wissenskonstruktionsaktivitäten und das Ausmaß, in dem alle zentralen Lerninhalte von diesen Aktivitäten abgedeckt werden, verringert. Eine eingehende Untersuchung dieser potenziellen Vorzüge und Nachteile beider Sequenzen wäre für Forschung, die Wissenskonstruktion mit Abrufübung in Zusammenhang bringt, von großem Interesse.

5 Fazit

Ein Closed-Book-Format, bei dem Lernenden während der Bearbeitung der jeweiligen auf Konstruktion zielenden Lernaufgaben nicht mehr auf die Lernmaterialien zugreifen können, ist ein vielversprechendes Mittel, um Abrufübung in Aufgaben zur Verständnisförderung zu integrieren. In Abhängigkeit der Tiefe der auf Konstruktion zielenden Lernaufgaben sind jedoch ergänzende instruktionale Unterstützungsmaßnahmen nötig, um zu verhindern, dass die förderlichen Effekte der Abrufübung durch die verringerte Quantität und Qualität der ausgeführten Wissenskonstruktionsaktivitäten und den verringerten Grad der Abdeckung der zentralen Lerninhalte durch die Aktivitäten aufgezehrt werden. Was diese instruktionalen Unterstützungsmaßnahmen anbetrifft, steckt die Forschung zum Closed-Book-Format jedoch noch in den Kinderschuhen. Entsprechend sind weitere Anstrengungen erforderlich, um das fraglos hohe lernförderliche Potenzial des Closed-Book-Formats voll auszuschöpfen.

Neben dieser Forschung innerhalb des Closed-Book-Formats sollten zudem stärker die simultane Anregung von Wissenskonstruktion und Abrufübung im Rahmen von auf Konstruktion zielenden Lernaufgaben im Closed-Book-Format mit verschiedenen Sequenzen von Wissenskonstruktion und Abrufübung verglichen werden. Angesichts dessen, dass diese Lernaktivitäten nicht nur im Rahmen von Lernaufgaben, sondern auch im Kontext der selbstregulierten Anwendung von Lernstrategien zum Alltag beinahe aller Lernenden gehörten dürften, wären systematische und eingehende Untersuchungen in den skizzierten Feldern von hohem Interesse und Wert für die nutzeninspirierte Grundlagenforschung und die pädagogische Praxis.