Zusammenfassung
Nur wenige Studien untersuchten Schutzfaktoren für körperliche Gebrechlichkeit und ihren Zusammenhang mit ersten pathologischen Veränderungen. Der Fokus wurde auf frühe Gebrechlichkeitsmarker und ihre Verbindung zum psychischen Wohlbefinden gesetzt. Da psychisches Wohlbefinden die Stressbewältigung beeinflusst und Stress das Gebrechlichkeitsrisiko erhöhen kann, wurde zusätzlich untersucht, ob chronischer Stress die Beziehung zwischen Wohlbefinden und Gebrechlichkeit erklärt. Insgesamt wurden 532 gesunde Erwachsene (49,44 % Frauen; Durchschnittsalter: 54,36 Jahre; Bereich: 40–73) untersucht. Die Greifkraft (HGS) und der Lean-Body-Mass-Index (LBMI) wurden als Gebrechlichkeitsmarker untersucht. Selbst eingeschätzter chronischer Stress wurde als Stressindikator gemessen. Das psychische Wohlbefinden stand bei Männern (p < 0,001) und Frauen (p < 0,05) in einem positiven Zusammenhang mit der HGS, nicht aber mit dem LBMI. Bei Männern, aber nicht bei Frauen, wurde der Zusammenhang zwischen psychischem Wohlbefinden und HGS (95 %-KI [−0,2135, −0,0028]) teilweise durch selbstberichteten chronischen Stress vermittelt. Dies ist die erste Studie, die darauf hinweist, dass ein höheres psychisches Wohlbefinden mit einem günstigeren HGS einhergeht, und die auf einen geschlechtsspezifischen Einfluss von chronischem Stress hindeutet.
Résumé
Peu d’études ont examiné les facteurs protégeant contre la fragilité physique et leurs relations avec les premières altérations pathologiques. Lʼaccent a été mise surtout sur les marqueurs précoces de la fragilité et leur rapport avec le bien-être psychique. Parce que le bien-être psychique peut influencer la gestion du stress et que le stress peut accroître le risque de fragilité, on a examiné aussi si le stress chronique explique le rapport entre le bien-être et la fragilité. Au total, 532 adultes sains (49,44 % de femmes; âge moyen 54,36 ans; fourchette 40 à 73 ans) ont été examinés. Les marqueurs de fragilité «force de préhension (HGS)» et «indice de masse corporelle maigre (LBMI)» ont été examinés. Le stress chronique auto-évalué a été mesuré en tant qu’indicateur de stress. Le bien-être psychique a présenté une corrélation positive avec la HGS chez l’homme (p < 0,001) et chez la femme (p < 0,05), mais non pas avec le LBMI. Chez les hommes, mais pas chez les femmes, la corrélation entre bien-être psychique et la HGS (IC à 95 % [−0,2135, −0,0028]) était partiellement médiée par le stress chronique auto-évalué. Ceci est la première étude indiquant qu’un bien-être psychique plus élevé est associé à une HGS plus favorable et qui suggère une influence du stress chronique spécifiquement liée au sexe.
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Einleitung
Gebrechlichkeit ist ein multidimensionales geriatrisches Syndrom, das die psychologische, soziale und körperliche Funktionsfähigkeit des Einzelnen beeinträchtigt [1]. Etwa 7 % der älteren Europäer:innen und 15 % der älteren Amerikaner:innen sind gebrechlich. Darüber hinaus können über 40 % der alternden Europäer:innen und 45 % der alternden Amerikaner:innen als „vorgebrechlich“ bezeichnet werden [2, 3]. Angesichts der anhaltenden demografischen Verschiebung hin zu einer älteren Bevölkerung stellen die Gebrechlichkeit und ihre Folgen eine grosse gesellschaftliche und finanzielle Herausforderung dar. Bislang gibt es nur wenige Erkenntnisse über Schutzfaktoren und deren Zusammenhang mit frühen Markern der pathologischen Entwicklung bei Frauen und Männern. Dieses Wissen ist jedoch entscheidend für die Prävention und rechtzeitige Erkennung von Gebrechlichkeit. Wenn die Gebrechlichkeit einmal eingetreten ist, ist die Wahrscheinlichkeit einer Umkehr ohne Intervention gering (unter 1 % bei prospektiven Untersuchungen), wobei das Risiko einer Verschlechterung und des Übergangs von einem höheren zu einem niedrigeren Funktionsniveau wesentlich höher ist [4].
Bestimmte Veränderungen der Körperzusammensetzung sind Teil des normalen Alterungsprozesses [5] und daher ist es wichtig, frühe Gebrechlichkeitsmarker zu finden, die empfindlich genug sind, um normale von pathologischen altersbedingten körperlichen Veränderungen zu unterscheiden. Skelett- und fettfreie Muskelmasse nehmen mit dem Alter ab und die Muskelkraft verändert sich noch schneller als die Muskelmasse [6, 7]. Die fettfreie Körpermasse erreicht sowohl bei Männern als auch bei Frauen im Alter von 30 Jahren einen Höchststand und nimmt danach ab, wobei der Rückgang nach dem Alter von 50 Jahren am stärksten ist [8]. Körperlich gebrechliche Personen haben eine geringere Muskel- und Knochenmasse, eine geringere Muskelkraft und mehr Fett im Vergleich zu kräftigen Personen desselben Alters [6]. Es gibt überzeugende Belege dafür, dass zum einen die Handgreifkraft (HGS) als Operationalisierung der Muskelkraft und zum anderen der Lean-Body-Mass-Index (LBMI) als Indikator für ein ausgewogenes Verhältnis zwischen fettfreier Masse und Gesamtkörpergewicht empfindliche Marker für frühe körperliche Gebrechlichkeit darstellen, die eine hohe Vorhersagekraft von Morbidität und Mortalität aufweisen [9, 10].
Gebrechliche Personen berichten häufig über ein geringeres psychisches Wohlbefinden (PWB) als robuste Personen, ein Effekt, der für die Gebrechlichkeit prädisponierend zu sein scheint und nicht nur eine Folge des Syndroms ist [11]. Bei Männern und Frauen zeigten prospektive Daten, dass ein höheres PWB die Wahrscheinlichkeit verringert, 4 Jahre später körperlich vorgebrechlich oder gebrechlich zu sein [12]. Ein ähnlicher (wenn auch etwas geringerer) Puffereffekt des PWB wurde bei robusten Personen festgestellt, was zu der Schlussfolgerung führt, dass das PWB ein Schutzfaktor für ältere Personen mit und ohne Gebrechlichkeit gleichermassen sein könnte [12].
Obwohl noch nicht geklärt ist, welche Prozesse zu den positiven Auswirkungen des PWB auf das Risiko der körperlichen Gebrechlichkeit führen, ist Stress ein vielversprechender Faktor, der dazu beitragen könnte. Stress, vor allem in Form von chronischem Stress, kann sich nachhaltig auf die Physiologie auswirken. Der alternde Muskel könnte besonders anfällig für die Auswirkungen von chronischem Stress sein, da sowohl Stress als auch Alterung zu einem Anstieg des Stresshormons Kortisol führen, das durch seine katabole Wirkung zu Muskelschwund und -atrophie führen kann [13], was sich auf das Risiko körperlicher Gebrechlichkeit auswirkt.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass ein hohes PWB das Risiko für körperliche Gebrechlichkeit zu senken scheint, während die Zusammenhänge mit frühen körperlichen Gebrechlichkeitsmerkmalen noch zu untersuchen sind. Stress, insbesondere chronischer Stress, stellt einen vielversprechenden Mechanismus dar, der einen Zusammenhang zwischen dem PWB und körperlicher Gebrechlichkeit vermittelt. Daher wurde in der vorliegenden Studie zum ersten Mal der Zusammenhang zwischen PWB und frühen Anzeichen körperlicher Gebrechlichkeit (HGS und LBMI) in einer grossen Stichprobe von gesunden, alternden Frauen und Männern untersucht und geprüft, ob chronischer Stress diesen Zusammenhang erklären kann.
Methoden
Studiendesign
Bei dieser Studie handelt es sich um eine Sekundäranalyse bestehend aus zusammengeführten Daten 4 unabhängiger Querschnittsstudien, die zwischen 2012 und 2018 an 2 Forschungszentren in der Schweiz durchgeführt wurden. Diese Studien umfassten alles gesunde Personen, um Hypothesen gesunden Alterns zu testen. Alle Teilnehmenden gaben eine schriftliche, informierte Einwilligung zur Teilnahme an den respektiven Studien. Die lokalen Ethikkommissionen genehmigten die einzelnen Studien und die Ethikkommission des Kantons Zürich (Schweiz) genehmigte die Zusammenführung der Datensätze (BASEC-Nr. 2019-01786). Der vorliegende Bericht folgt den Strengthening-the-Reporting-of-Observational-Studies-in-Epidemiology(STROBE)-Leitlinien.
Aufbau
Die ursprünglichen Stichproben wurden in der Allgemeinbevölkerung mithilfe von Flyern und Onlineanzeigen rekrutiert. Psychosoziale und demografische Variablen wurden mithilfe von validierten psychosozialen Onlinefragebögen erhoben. Geschultes Forschungspersonal nahm unter standardisierten Bedingungen in den Labors der jeweiligen Studienzentren anthropometrische Messungen vor. Dazu gehörten HGS, Bioimpedanzanalyse, Körpergrösse sowie in 3 der 4 Studien Speichelproben.
Versuchspersonen
Insgesamt nahmen 978 Frauen und Männer an den ursprünglichen Studien teil. Primäre Ausschlusskriterien waren eine Schwangerschaft oder Entbindung in den letzten 6 Monaten, die derzeitige Einnahme oraler Verhütungsmittel oder einer Hormontherapie, eine vorzeitige Menopause oder eine Menopause aufgrund einer Ovarektomie, eine Psychotherapie oder psychopharmakologische Behandlung in den letzten 6 Monaten oder der Konsum von mehr als einer Standardeinheit Alkohol pro Tag. Aufgrund zusätzlicher Kriterien, die für die vorliegende Studie angewandt wurden (Abb. 1), wurden 446 Teilnehmer ausgeschlossen, sodass sich insgesamt 532 Frauen und Männer mit einem Durchschnittsalter von 54,36 Jahren ergaben.
Frühe Marker für Gebrechlichkeit
Greifkraft
Die HGS (in kg) wurde mit einem Handdynamometer (Smedley, S Dynamometer, TTM, Tokio, Japan; 100 kg) gemessen, während die Teilnehmenden in einer aufrechten Position mit einem 90-Grad-Armwinkel sassen. Es wurden 2 Einzelmessungen mit der dominanten Hand der Teilnehmenden durchgeführt und der höhere dieser beiden Werte wurde für die Analysen verwendet.
Lean-Body-Mass-Index
Der LBMI wurde berechnet als fettfreie Masse (in kg) geteilt durch die quadrierte Körpergrösse (in m). Die fettfreie Masse wurde mithilfe der Bioimpedanzanalyse gemessen, die eine Schätzung der verschiedenen Gewebe (d. h. Fett, Muskeln, Wasser) anhand der elektrischen Leitfähigkeit des gesamten Körpers vornimmt (Biacorpus RX 400, Idag AG, Rapperswil, Schweiz). Der LBMI reagiert empfindlich auf altersbedingte und pathologische Veränderungen wie den Verlust von Muskelmasse und Knochendichte oder die Zunahme von Fettmasse [9].
Psychisches Wohlbefinden
Das psychische Wohlbefinden wurde mit der deutschen Version des Short Form (36) Health Survey (SF-36) ermittelt, einer 36 Items umfassenden Selbsteinschätzung der subjektiven Gesundheit und der gesundheitsbezogenen Lebensqualität, die sich bei gesunden Personen über mittlere Zeiträume als relativ stabil erwiesen hat [14]. Zur Berechnung des psychologischen Gesamtscores wurden 14 Items verwendet. Der Summenscore reicht von 14–70, wobei höhere Werte ein grösseres PWB anzeigen [15].
Chronischer Stress
Als Mass für den wahrgenommenen chronischen Stress wurde die deutsche Version des Trierer Inventars für chronischen Stress (TICS) verwendet. Um die Belastung der Teilnehmenden zu verringern, wurde die 6‑Item-Screening-Skala (SSCS) verwendet, die Stress in den letzten 3 Monaten erfasst. Es wurde ein Gesamtwert von 0–24 Punkten errechnet, wobei höhere Werte einen höheren subjektiven Stress anzeigen [16].
Statistische Methoden
Der vermittelnde Effekt von chronischem Stress auf die Beziehung zwischen PWB und frühen Anzeichen von körperlicher Gebrechlichkeit wurde getestet. Es wurden zusammenfassende Statistiken zur Beschreibung der Studienmerkmale berechnet und der Spearman-Korrelationskoeffizient, um Zusammenhänge zwischen Prädiktoren und Ergebnissen zu ermitteln. Mediationsanalysen wurden mit dem PROCESS-Makro für SPSS [17], durchgeführt, wobei Alter, sozioökonomischer Status, Familienstand, Raucherstatus, Alkoholkonsum und körperliche Aktivität als Störfaktoren berücksichtigt wurden. Die Modelle wurden getrennt für die beiden abhängigen Variablen (HGS und LBMI) getestet. Insbesondere wurde auf einen Effekt von PWB auf HGS und LBMI getestet: 1) ohne Berücksichtigung des potenziellen Mediators (d. h. Gesamteffekt c), 2) unter Kontrolle des Mediators (d. h. direkter Effekt c′ = c − ab) und 3) durch den Mediator (d. h. indirekter Effekt ab). Schliesslich wurden die statistischen Modelle getrennt für Männer und Frauen getestet.
Die Annahme der Linearität zwischen allen Variablen wurde visuell durch Scatterplots nach LOESS-Glättung bestätigt. Da mehrere Tests mit denselben abhängigen und unabhängigen Variablen durchgeführt wurden, wurde das Bootstrapping-Verfahren mit 10.000 Stichproben und heteroskedastizitätskonformen (hc) Standardfehlern (Typ 3) verwendet, um Konfidenzintervalle und Inferenzstatistiken zu berechnen. Die Anwendung von hc-Standardfehlern machen die Ergebnisse weniger abhängig vom anfänglichen Startwert der Schätzung, was bedeutet, dass die Ergebnisse zwischen den Durchläufen ähnlicher sind. Der Ausgangswert der Bootstrapping-Resamples wurde für jeden Lauf festgelegt. Effekte wurden als statistisch signifikant interpretiert, wenn das Bootstrap-Konfidenzintervall (KI) nicht Null einschloss.
Ergebnisse
Tab. 1 gibt einen Überblick über die deskriptive Statistik der Studienpopulation. Abb. 2 zeigt den Zusammenhang zwischen PWB und HGS sowie den Zusammenhang von PWB und LBMI für Männer und Frauen.
Prüfung der Hypothese, dass chronischer Stress ein möglicher Vermittler von psychologischem Wohlbefinden und frühen Gebrechlichkeitsmarkern ist
Selbstberichteter chronischer Stress wurde als Vermittler der Beziehung von PWB mit HGS und LBMI untersucht. Im Folgenden werden zunächst die Ergebnisse für die Gesamtstichprobe dargestellt, bevor die Ergebnisse für Frauen und Männer getrennt zusammengefasst werden (ergänzende Tabellen 1 und 2).
In der Gesamtstichprobe gab es keinen signifikanten Gesamteffekt von PWB auf HGS (c = −0,0385, p = 0,63) und keinen direkten Effekt von PWB auf HGS, wenn man für chronischen Stress kontrolliert (c′ = 0,084, p = 0,30). Der indirekte Effekt von PWB auf HGS durch chronischen Stress war signifikant (ab = −0,1223, 95 %-KI [−0,2091, −0,0366]), was auf eine teilweise Mediation hinweist. Es gab einen signifikanten Gesamteffekt von PWB auf den LBMI (c = −0,0797, p < 0,001), der kleiner wurde, aber statistisch signifikant blieb, wenn man für selbstberichteten chronischen Stress kontrollierte (c′ = −0,0626, p < 0,001). Der „bootstrapped“ indirekte Effekt von PWB auf den LBMI durch chronischen Stress war statistisch signifikant (−0,0171, 95 %-KI [−0,0318, −0,0030]).
Bei Frauen gab es einen signifikanten Gesamteffekt von PWB auf die HGS (c = 0,1985, p = 0,03), der auch bei Kontrolle für chronischen Stress signifikant blieb (c′ = 0,2287, p = 0,02; Abb. 3a). Der nichtsignifikante indirekte Effekt deutet darauf hin, dass es keine Mediation durch selbstberichteten chronischen Stress gab (ab = −0,302, 95 %-KI [−0,1229, 0,0592]). Es gab keinen signifikanten Gesamteffekt von PWB auf den LBMI bei Frauen (c = −0,0177, p = 0,22) und dieser blieb auch bei Kontrolle für chronischen Stress nichtsignifikant (c′ = −0,0068, p = 0,67; Abb. 3b). Darüber hinaus war der indirekte Effekt von PWB auf den LBMI durch chronischen Stress nichtsignifikant (ab = −0,0109, 95 %-KI [−0,0242, 0,0020]).
Bei den Männern war der Gesamteffekt von PWB auf HGS signifikant (c = 0,4058, p < 0,001) und blieb auch bei Kontrolle für chronischen Stress signifikant (c′ = 0,5151, p < 0,001; Abb. 4a). Darüber hinaus war der indirekte Effekt durch chronischen Stress signifikant (ab = −0,1093, 95 %-KI [−0,2135, −0,0028]), was eine teilweise Mediation darstellt, die 26 % des Gesamteffekts erklärt. Der Gesamteffekt von PWB auf den LBMI war nichtsignifikant (c = 0,0074, p = 0,63) mit nur einer Tendenz zur Signifikanz bei der Kontrolle für chronischen Stress (c′ = 0,0307, p = 0,09; Abb. 4b).
Diskussion
In dieser Studie war ein höheres PWB sowohl bei Männern als auch bei Frauen mit einer günstigeren HGS verbunden, nicht aber mit dem LBMI bei beiden Geschlechtern. Ausserdem stand eine höheres PWB in umgekehrtem Zusammenhang mit chronischem Stress. Entgegen unseren Erwartungen war höherer chronischer Stress bei Männern und Frauen mit günstigeren HGS-Werten verbunden, während nur bei Männern der Zusammenhang zwischen PWB und HGS zumindest teilweise durch chronischen Stress erklärt wurde.
Diese Studie an gesunden, alternden Männern und Frauen unterstützt die Annahme, dass das PWB als Schutzfaktor für körperliche Gebrechlichkeit wirken könnte (u. a. [12]). Dies war die erste Studie, die zeigte, dass Männer und Frauen mit einem höherem PWB einen günstigeren HGS-Wert aufwiesen, ein wichtiger Indikator für körperliche Gebrechlichkeit und allgemeine Morbidität und Mortalität [10]. In Anbetracht der Belastung durch körperliche Gebrechlichkeit bei älteren Erwachsenen ist diese Erkenntnis von grosser klinischer Bedeutung, da sie auf einen Zusammenhang zwischen Physiologie und Wohlbefinden selbst im gesunden Zustand hindeutet. Zeit ist eine kritische Komponente bei der Vorbeugung des schwächenden Verlaufs der körperlichen Gebrechlichkeit und eine frühzeitige Erkennung ist daher von grösster Bedeutung. Diese Studie legt nahe, dass die HGS ein empfindlicher Frühmarker sein könnte, der auch besser geeignet zu sein scheint, um Unterschiede bei insgesamt gesunden Personen zu erkennen, als der LBMI, was die HGS als bevorzugtes Mass in der Präventivmedizin nahelegt. In Anbetracht des Risikos psychischer Probleme im Alter, einschliesslich einer Zunahme subsyndromaler Depressionen, sollten Präventionsstrategien darüber hinaus eine Komponente des PBW beinhalten und die Bewertung des PWB sollte in die klinische Praxis aufgenommen werden.
Die Stressbewältigung in der Lebensmitte und im höheren Alter könnte besonders wichtig sein, da das Stresssystem im Allgemeinen eine altersbedingte Abnutzung zu erfahren scheint. Dies kann sich beispielsweise in einer übermässigen Kortisolausschüttung äussern, die die Muskelfunktion verschlechtern und das Risiko für körperliche Gebrechlichkeit erhöhen kann [13]. Diese Studie konnte zeigen, dass ein höheres PWB mit einem geringeren selbstberichteten chronischen Stress verbunden war, was mit früheren Untersuchungen übereinstimmt, die einen günstigen Einfluss des positiven Affekts auf die Stresswahrnehmung belegen [18]. In Anbetracht dessen war es auf den ersten Blick überraschend, dass höherer chronischer Stress mit günstigeren körperlichen Gebrechlichkeitsmarkern assoziiert war. Wir gehen davon aus, dass diese gesunden Männer und Frauen dazu neigen, angesichts von chronischem Stress adaptive Bewältigungsstrategien anzuwenden, zu denen möglicherweise auch Verhaltensweisen wie eine gesunde Ernährung oder Sport gehören, die sich daher positiv auf die untersuchten Marker für körperliche Gebrechlichkeit auswirken könnten. Tatsächlich war fast die Hälfte aller Teilnehmer regelmässig körperlich aktiv und fast alle Teilnehmer waren Nichtraucher und konsumierten nicht mehr als eine bescheidene Menge Alkohol pro Woche. Künftige Studien sollten explizit Bewältigungsstrategien untersuchen, um ein besseres Verständnis dafür zu erhalten, welche Verhaltenstendenzen Einzelpersonen bei chronischem Stress zeigen und wie diese die Auswirkungen von Stress auf körperliche Gebrechlichkeit beeinflussen könnten. Der angewandte Fragebogen zu chronischem Stress bewertete zudem die letzten 3 Monate und es könnte sein, dass nur länger anhaltender Stress die vermuteten negativen Auswirkungen auf die Stressphysiologie und letztlich die Muskelgesundheit zeigt.
Die Ergebnisse dieser Studie zeigen deutlich, wie wichtig es ist, geschlechtsspezifische Analysen von chronischem Stress durchzuführen. Während bei der Gesamtstichprobe die Auswirkung von PWB auf die HGS zumindest teilweise durch den selbstberichteten chronischen Stress beeinflusst wurde, ergaben geschlechtsdifferenzierte Analysen ein genaueres Bild und zeigten, dass dies nur für Männer galt. Die Männer in dieser Studie wiesen im Allgemeinen höhere Durchschnittswerte und eine grössere Bandbreite an chronischem Stress auf als die Frauen. Somit könnten diese Ergebnisse darauf hindeuten, dass gesunde Männer in dieser Altersgruppe eher zum Berichten von Stresserfahrungen neigen als Frauen. Es ist nicht auszuschliessen, dass ähnliche Effekte bei Frauen mit höheren Stresswerten aufgetreten wären, oder wenn wir eine andere Gruppe von Markern untersucht hätten. Eine kürzlich durchgeführte gross angelegte Studie bestätigte, dass die Determinanten von HGS geschlechtsspezifisch sind [19], wobei Männer einen stärkeren altersbedingten Rückgang aufweisen als Frauen [20]. Die Ergebnisse bei den Frauen lassen zusätzlich einen möglichen Menopauseneffekt vermuten, der in unseren Analysen nicht kontrolliert oder untersucht werden konnte. Da das Durchschnittsalter der Frauen über dem durchschnittlichen Alter der Menopause von 51 Jahren lag [21], könnte die puffernde Wirkung der Östrogene auf die Kortisolexpression bei prämenopausalen Frauen eine Stresswirkung auf die Gebrechlichkeitsmarker bei postmenopausalen Frauen überdeckt haben.
Alle unsere Ergebnisse müssen vor dem Hintergrund der Stärken und Grenzen der Studie interpretiert werden. Durch die Zusammenführung von Daten aus 4 Einzelstudien war unsere Stichprobe gross genug, um geschlechtsspezifische Analysen durchzuführen, was, wie diese Studie zeigen konnte, bei der Untersuchung der Rolle von chronischem Stress als Mediator entscheidend ist. Wir untersuchten eine hoch gebildete Gruppe an Personen aus der Schweiz, das zudem das Land mit der niedrigsten Prävalenzrate von Gebrechlichkeit in Europa ist [3]. In diese Analysen wurden nur phänotypisch gesunde Personen mit mindestens guter selbst eingeschätzter Gesundheit einbezogen. Auf diese Weise konnten wir das Risiko, Assoziationen zu erfassen, die durch die Auswirkungen vorbestehender pathologischer Zustände beeinflusst wurden, auf ein Minimum reduzieren und somit Schlussfolgerungen über einen direkten Zusammenhang zwischen Wohlbefinden, Stress und Gebrechlichkeitsmerkmalen ziehen. Die breite Altersspanne, einschliesslich Personen mittleren Alters, die in früheren Studien nicht berücksichtigt wurden, stellt eine Stärke dieser Analysen dar, insbesondere wenn man bedenkt, wie wichtig eine frühzeitige Erkennung des Gebrechlichkeitssyndroms für wirksame Interventionen ist. Das Höchstalter von 73 Jahren schränkt jedoch die Möglichkeit ein, unsere Ergebnisse auf die Gruppe der Hochbetagten zu übertragen.
Das Querschnittsdesign dieser Studie stellt einen weiteren einschränkenden Faktor dar. Auf der Grundlage veröffentlichter prospektiver Daten wurde erwartet, einen kausalen Einfluss von PWB auf die körperliche Gebrechlichkeit zu finden [12]. Unsere Ergebnisse müssen jedoch anhand von Längsschnittdaten, insbesondere von gesunden, alternden Personen, repliziert werden. Ausserdem stützt sich der Grossteil der Literatur über Gebrechlichkeit auf den Phänotyp der Gebrechlichkeit nach der Definition von Fried [1]. Mit HGS und LBMI haben wir empfindliche Marker verwendet, die Hinweise auf ein Gebrechlichkeitsrisiko in einem frühen und möglicherweise reversiblen Stadium aufdecken können. Es muss jedoch noch geprüft werden, ob diese Marker bei ursprünglich gesunden Erwachsenen eine Vorhersage für Gebrechlichkeit oder die Entwicklung von Vorgebrechlichkeit ermöglichen. In dieser Studie war es nicht möglich, für das Stadium der Menopause oder die Pensionierung zu kontrollieren, da diese Messgrössen nicht für alle Teilnehmer verfügbar waren. Schliesslich ist der SF-36 zwar ein häufig verwendetes Instrument zur Bewertung der Lebensqualität und der SSCS ist ein weit verbreitetes Mass für Stress, aber beide wurden nicht für ältere Bevölkerungsgruppen entwickelt bzw. sind nicht für diese validiert worden. Dies stellt eine mögliche Einschränkung dar, da diese Gruppen Stress und Gesundheit wahrscheinlich anders wahrnehmen als jüngere Bevölkerungsgruppen.
Schlussfolgerungen
Diese Analysen an gesunden Männern und Frauen mittleren und höheren Alters stützen die Vermutung, dass sich PWB positiv auf die körperliche Gebrechlichkeit auswirkt, und sind die ersten, die diesen Zusammenhang zwischen Wohlbefinden und Physiologie sogar im gesunden Zustand nahelegen. Ein gezielter Umgang mit chronischem Stress und Bewältigungsmechanismen könnte besonders bei Männern von Vorteil sein. In Anbetracht der Tatsache, dass Stress vor allem in der Lebensmitte ein unvermeidlicher Bestandteil des Lebens ist, sollten sich künftige Studien auf die Ermittlung des „stressempfindlichen Phänotyps“ konzentrieren, der bei chronischem Stress zur Entwicklung körperlicher Gebrechlichkeit neigt. Solche Studien sollten Informationen über den Zusammenhang zwischen Qualität und Quantität der Stressbelastung und dem Risiko liefern und Ärzt:innen Anhaltspunkte für die routinemässige Bewertung von PWB und Stress, die Erkennung stressempfindlicher Patient:innen und die Bereitstellung rechtzeitiger Interventionen bieten.
Abbreviations
- KI:
-
Konfidenzintervall
- hc:
-
Heteroskedastizitätskonformität
- HGS:
-
Greifkraft
- LBMI:
-
Lean-Body-Mass-Index
- PWB:
-
Psychologisches Wohlbefinden
- SF-36:
-
Short Form (36) Gesundheitsfragebogen
- SSCS:
-
6‑item Screening Skala des Trier Inventar für chronischer Stress
- TICS:
-
Trier Inventar für chronischer Stress
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Interessenkonflikt
S. Lozza-Fiacco, M. Grötsch, P. Stute und U. Ehlert geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Die lokalen Ethikkommissionen genehmigten die einzelnen Studien und die Ethikkommission des Kantons Zürich (Schweiz) genehmigte die Zusammenführung der Datensätze (BASEC-Nr. 2019-01786). Alle Teilnehmenden gaben eine schriftliche, informierte Einwilligung zur Teilnahme an den respektiven Studien.
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Lozza-Fiacco, S., Grötsch, M., Stute, P. et al. Psychisches Wohlbefinden als Prädiktor der frühen körperlichen Gebrechlichkeit. J. Gynäkol. Endokrinol. CH 26, 172–179 (2023). https://doi.org/10.1007/s41975-023-00322-x
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