Kasuistik

Eine 82-jährige Patientin wird bei zunehmenden Schluckstörungen von der Hausärztin zur Gastroskopie überwiesen. Zu diesem Zeitpunkt hat die Patientin bereits mehr als 5 kg abgenommen. In der durchgeführten Gastroskopie (Abb. 1) zeigt sich ein stenosierendes, exulzeriertes, nicht aktiv blutendes Kardiakarzinom. Die weiterführende Histologie ergab ein Adenokarzinom aufgrund wohl eines Barrett-Ösophagus. Es wurde im stationären Setting eine Familienanamnese erhoben. Diese ergab, dass ihr Sohn 2009 im 42. Lebensjahr an einem Magenkarzinom verstorben ist. Daraufhin erfolgte unsererseits die Bitte an den Pathologen, die MSI(Mikrosatelliteninstabilität)-Testung durchzuführen, außerdem erfolgte eine Vorstellung in der Humangenetik zur genetischen Testung. Im Zusammenschau ergab diese die Diagnose eines Lynch-Syndroms. Dies führte dazu, dass ihre 45-jährige Tochter (ebenfalls Lynch-Syndrom) in ein Vorsorgeprogramm aufgenommen werden konnte.

Abb. 1
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Stenosierendes, exulzeriertes, nicht aktiv blutendes Kardiakarzinom

Einleitung

In einer Ära der zunehmenden personalisierten Medizin geht der Trend Richtung Multiple-gene-Panels und Whole Genome Sequencing der Tumoren. Neue genomische Marker werden identifiziert und ihre prognostische und prädiktive Wichtigkeit wird immer mehr untersucht. Aufgrund dessen kommen immer mehr Informationen von lange bekannten genetischen Tumorsyndromen ans Licht – dies verändert unser Screeningverhalten und natürlich auch unsere Therapiestrategien. Wir beginnen langsam immer mehr über Tumorgenomics zu verstehen.

Dieser Artikel soll einen kurzen Überblick über vererbbare bzw. familiäre gastrointestinale Tumorerkrankungen geben. Außerdem wird das Pankreaskarzinom zusätzlich kurz gestreift, da die Patientengruppe, die eine genetische Prädisposition aufweist, immer mehr in unseren klinischen Fokus rückt.

Kolorektales Karzinom

Rund 25 % aller Patienten mit kolorektalem Karzinom (KRK) weisen eine positive Familienanamnese auf.

Die erblichen Darmkarzinome werden in 2 Hauptgruppen unterteilt, in die seltenen Polyposissyndrome und die häufigeren nichtpolypösen Tumorsyndrome.

Familiäre adenomatöse Polyposis (FAP)

Die familiäre adenomatöse Polyposis coli (FAP) ist eine seltene Krankheit, die durch das Auftreten multipler Polypen (mehr als 100) im gesamten Dickdarm gekennzeichnet ist. Die Vererbung erfolgt autosomal-dominant (allerdings haben ca. 20–25 % der Patienten die Erkrankung vermutlich infolge einer Spontanmutation erworben; Abb. 2).

Abb. 2
figure 2

Patientin, die initial zur Reizdarmabklärung zugewiesen wurde. Familienanamnese: Mutter und Großmutter an KRK (Kolorektalkarzinom) verstorben. Diagnose: familiäre adenomatöse Polyposis (FAP)

Die FAP ist sowohl bei somatischer als auch bei Keimbahnmutation mit einer Deletion des langen Arms von Chromosom 5 (inkl. des APC-Gens) assoziiert. Dies führt zum Fehlen von Tumorsuppressorgenen, deren Proteinproduktion neoplastisches Wachstum hemmt.

Das Gardner-Syndrom als Sonderform der FAP ist dadurch gekennzeichnet, dass es neben kolorektalen Adenomen auch zu Adenomen im Duodenum, zu Papillenkarzinomen sowie zum Auftreten von Epidermoidzysten und Osteomen kommen kann. Treten maligne Tumoren im ZNS im Rahmen eines FAP auf, handelt es sich um das Turcot-Syndrom.

Sofern FAP-Patienten nicht rechtzeitig diagnostiziert und kolektomiert werden, entwickeln laut Literatur praktisch alle Patienten aufgrund des hohen Risikos bis zum 40. Lebensjahr ein Dickdarmkarzinom.

Mildere Formen werden meist als attenuierte FAP (AFAP) bezeichnet, allerdings ist auch hier das Risiko, ein KRK zu entwickeln, sehr hoch.

Lynch-Syndrom

Mit ca. 3–5 % aller KRK ist das Lynch-Syndrom – das noch in manchen Lehrbüchern als HNPCC-Syndrom bezeichnet wird – das häufigste hereditäre Prädispositionssyndrom. Allerdings muss erwähnt werden, dass auch verschiedene andere Karzinome damit vergesellschaftet sind und aus diesem Grund ist der Begriff HNPCC sicherlich irreführend. Leider wird das Lynch-Syndrom im klinischen Alltag oft nicht erkannt.

Geschichtliches

Bereits 1895 beobachtete der Pathologe Alfred Warthin aus Michigan eine Häufung von verschiedenen Karzinomerkrankungen bei mehreren Mitgliedern einer Familie.

Henry T. Lynch beschrieb 1966 2 Krebsfamilien, in denen neben KRK auch gehäuft Magen- und Endometriumkarzinome auftraten.

Heute weiß man, dass sich bei Familien mit Lynch-Syndrom auch Tumoren mit extrakolonischer Manifestation, wie Ovarial‑, Endometrium, Magen-, hepatobiliäre und auch Urothelkarzinome, gehäuft finden.

Patientencharakteristik

Patienten mit Lynch-Syndrom zeichnen sich besonders durch ein frühes Erkrankungsalter (mittleres Alter KRK 44 Jahre, mittleres Alter Endometriumkarzinom 47 Jahre) aus.

Auch die Lokalisation spielt eine Rolle: ca. 60 % der Tumoren treten im rechten Hemikolon auf, im Gegensatz dazu ist das Rektum und das linke Hemikolon deutlich seltener betroffen (rund 20 %).

Wir wissen auch heute, dass beim Lynch-Syndrom eine verkürzte Adenom-Karzinom-Sequenz besteht. Häufige Vorsorgeuntersuchungen sind damit ein wichtiger Bestandteil bei der Betreuung von Lynch-Patienten (Tab. 1).

Tab. 1 Gegenüberstellung internationaler empfohlener Früherkennungsuntersuchungen für Lynch-Syndrom-Patienten und Hochrisikopersonen. (Mit Genehmigung aus [1]; © Georg Thieme Verlag KG)

Der Verdacht auf ein Lynch-Syndrom kann durch die Erhebung der Familienanamnese – die sicher älteste und kostengünstigste Möglichkeit, um familiäre gastrointestinale Tumorerkrankungen herauszufinden – und die Anwendung der revidierten Bethesda- und Amsterdam-II-Kriterien gestellt werden:

  • 3 oder mehr Verwandte sind an einem histologisch bestätigten kolorektalen Karzinom erkrankt,

  • einer von ihnen ist ein Verwandter ersten Grades der anderen beiden,

  • mindestens eines der kolorektalen Karzinome wurde vor dem 50. Lebensjahr diagnostiziert,

  • mindestens 2 Generationen waren vom Karzinom betroffen,

  • eine FAP muss ausgeschlossen sein.

Daran schließen sich immunhistochemische Untersuchungen der Mismatch-Reparatur-Gene, eine BRAF-Untersuchung im Fall eines immunhistochemischen Expressionsverlusts von MLH1, ggf. zusätzlich eine Bestimmung der Mikrosatelliteninstabilität (MSI) und zuletzt der Mutationsnachweis durch Gensequenzierung an (Abb. 3).

Abb. 3
figure 3

Diagnostischer Algorithmus bei Verdacht auf Lynch-Syndrom. (Mit Genehmigung aus [1]; © Georg Thieme Verlag KG)

Allerdings muss an dieser Stelle gesagt werden, dass bei strikter Anwendung der Amsterdam-Kriterien 10–37% der Patienten mit Lynch-Syndrom übersehen werden!

Sicherlich sind die Möglichkeiten, Patienten mit Lynch-Syndrom durch pathologische Untersuchungen nach der operativen Sanierung zu identifizieren, mittlerweile ausgezeichnet. Aber diese Untersuchungen sollten bereits präoperativ, das heißt zum Zeitpunkt der endoskopischen Diagnosestellung, eingeleitet werden, um so die Möglichkeit einer prophylaktisch erweiterten chirurgischen Resektion mit dem Patienten und ggf. eine leitliniengerechte, rein prophylaktische Chirurgie des Uterus und evtl. der Ovarien mit den (postmenopausalen) Patientinnen zusätzlich individuell zu besprechen.

Genetische Merkmale

Ursächlich für das Lynch-Syndrom ist eine Keimbahnmutation in einem der DNA-Mismatch-repair(MMR)-Gene MLH1, MSH2, MSH6 oder PMS2.

Bei vielen der Patienten mit klinischen Hinweisen auf ein Lynch-Syndrom (mikrosatelliteninstabile Tumoren und ein immunhistochemischer Ausfall eines MMR-Proteins) werden klar pathogene Varianten in den MMR-Genen gefunden. Bei etwa 15–20 % der Patienten werden jedoch unklare Varianten in den MMR-Genen gefunden, deren Pathogenität und funktionelle Relevanz noch nicht eingeschätzt werden kann, darunter vor allem Missense-Varianten, die einen Aminosäureaustausch im Protein verursachen, und stille Mutationen.

Aber es gibt auch Familien oder Individuen, bei denen der dringende Verdacht auf ein Lynch-Syndrom besteht, die also den gleichen Phänotyp besitzen, bei denen jedoch keine genetische Erklärung gefunden werden kann. Diese PatientInnen werden unter der Gruppe des „Syndrom X“ zusammengefasst.

Hereditäres Magenkarzinom

Generell gilt für Verwandte ersten Grades (Eltern, Geschwister, Kinder) eines Patienten mit Magenkarzinom, dass das Magenkarzinomrisiko um das 2‑ bis 3Fache erhöht ist. Ist mehr als ein Verwandter ersten Grades an einem Magenkarzinom erkrankt, ist das Risiko etwa 10fach erhöht.

Bei ca. 1–3 % der Patienten mit Magenkarzinom liegt eine Keimbahnmutation zugrunde und damit ein hereditäres Magenkarzinom. Dieses lässt sich in 3 Gruppen unterteilen:

  • hereditäres diffuses Magenkarzinom (HDGC; autosomal-dominanter Erbgang);

  • familiäres intestinales Magenkarzinom (FIGC; autosomal-dominanter Erbgang)

  • gastrales Adenokarzinom mit proximaler Polypose des Magens (GAPPS; autosomal-dominant).

Bei ca. 40 % der Patienten sind heterozygote inaktivierende Keimbahnmutationen im CDH1-Gen die Ursache des diffusen Magenkarzinoms. Träger der Keimbahnmutation haben bis zu ihrem 80. Lebensjahr ein 70%iges (Männer; 95 %-Konfidenzintervall 59–80 %) bzw. 56%iges (Frauen; 95 %-Konfidenzintervall 44–69 %) Lebenszeitrisiko für die Entwicklung eines Magenkarzinoms. Das kumulative Risiko von Frauen mit CDH1-Keimbahnmutation, an einem lobulären Mammakarzinom zu erkranken, beträgt 42 % (95 %-Konfidenzintervall 23–68 %). Vor Kurzem zeigte sich in einer Arbeit von van Post, dass die Prognose bei Patienten mit CHD‑1-Mutation sehr schlecht ist. Das 5‑Jahres-Überleben liegt bei 4 % im Gegensatz zu 13 % bei Patienten ohne diese spezifische Mutation.

Wann sollte das HDGG in Betracht gezogen werden? Das International Gastric Cancer Consortium etablierte und publizierte Kriterien für erst- und zweitgradige Verwandte:

  • 2 Magenkarzinome unabhängig vom Alter, eines davon sollte ein diffuses Magenkarzinom sein;

  • ein Fall von diffusem Magenkarzinom bei einem Patienten unter 40 Jahren;

  • Eigen- oder Familienanamnese von diffusem Magenkarzinom oder lobulärem Brustkrebs, eines davon im Alter von unter 50 Jahren diagnostiziert;

  • bilateraler lobulärer Brustkrebs oder familiäre Anamnese von 2 oder mehr Fällen von dieser Art des Brustkrebses unter 50 Jahren;

  • Eigen- oder Familienanamnese von Lippen‑/Gaumenspalte in Patienten mit diffusem Magenkarzinom;

  • In-situ-Siegelringzellen und/oder pagetoide Ausbreitung von Siegelringzellen.

Auf Basis eines 3‑Generationen-Baums sollte die genetische Analyse erfolgen. Diese Analyse kann bereits Jugendlichen im Alter von 16–18 Jahren angeboten werden, da es Fälle gibt, bei denen Patienten vor dem 18. Lebensjahr ein diffuses Magenkarzinom entwickeln.

Pankreaskarzinom

Mit der Identifizierung molekularer Alterationen und der Entwicklung der personalisierten Therapie rückt die Bedeutung der genetischen Testung auch beim Pankreaskarzinom zunehmend in den Vordergrund. Dadurch gewinnt auch hier das Screening bei positiver Familienanamnese mehr an Bedeutung.

Bei etwa 10 % aller Patienten mit Pankreaskarzinom lassen sich Keimbahnmutationen nachweisen.

Aktuell sind 12 Gene bekannt, die mit einem erhöhten Risiko der Entwicklung eines Pankreaskarzinoms einhergehen. Allerdings ist das Risiko, ein Karzinom tatsächlich zu entwickeln, unterschiedlich (Tab. 2).

Tab. 2 Gene, die das Risiko erhöhen, an PDAC zu erkranken

Laut der ASCO-Leitlinien 2019 sollte bei jedem neu diagnostizierten Pankreaskarzinompatienten eine Familienanamnese erhoben werden.

Bei positiver Familienanamnese wird empfohlen, eine genetische Untersuchung durchzuführen.

Das Cancer-of-the-Pancreas-Screening(CAPS)-Konsortium – das ebenfalls rezent seine Leitlinien neu publiziert hat – empfiehlt, alle Patienten mit STK11-Mutationen, Träger einer CDKN2A-Mutation, Träger einer Keimbahnmutationen in BRACA2, BRACA1, PALB2, ATM, MLH1, MSH2 oder MSH6 und mit wenigstens einem betroffenen Verwandten ersten Grades zu screenen.