Einleitung

Aufgrund der erhöhten Sterblichkeit und der stetig steigenden Prävalenz stellen die Adipositas und die damit assoziierten Komorbiditäten wie Diabetes mellitus Typ 2, Fettleber und kardiovaskuläre Erkrankungen eines der wichtigsten aktuellen Gesundheitsprobleme weltweit dar. In den Industriestaaten ist dieser Anstieg schon seit längerem evident, aber auch in Entwicklungsländern, zum Beispiel in Nordafrika, Südamerika und im arabischen Raum, zeigt die Prävalenzkurve stark nach oben. Nicht systematisch erhobene Daten aus Gesundheitsbefragungen suggerieren, dass Österreich mit einer Adipositasprävalenz von ca. 18 % bei Männern und 15 % bei Frauen bei den Ländern Europas mit den niedrigsten Raten sei [1]. Im Bericht der „Childhood Obesity Surveillance Initiative“, bei der eine repräsentative, österreichweite Statuserhebung der Übergewichts- und Adipositasprävalenz bei 8‑ bis 9‑jährigen Kindern erfolgte, liegt Österreich allerdings im oberen Mittelfeld [2]. Im Einklang mit dem globalen Trend verzeichnet die Prävalenz der Adipositas auch bei österreichischen Erwachsenen einen Anstieg zwischen 2014 und 2018 um ca. zwei Prozentpunkte [3].

Adipositas bei Erwachsenen ist definiert als ein Body-Mass-Index (BMI) von ≥ 30 kg/m2. Bei Kindern über bzw. unter 5 Jahren spricht man von Adipositas bei +3 bzw. +2 Standardabweichungen über dem Median der „Child Growth Standards“, welche von der World Health Organization (WHO) erhoben wurden [4]. Adipositas entwickelt sich durch einen anhaltenden Überschuss der durch die Nahrung aufgenommenen Kalorien im Vergleich zum Energieaufwand. Bei etwa 95 % der Menschen mit Adipositas ist die Ursache für das chronische Energieungleichgewicht multifaktoriell und auf ein Zusammenspiel von genetischen bzw. epigenetischen Faktoren und einem adipogenen Umfeld (u. a. geringe körperliche Aktivität, hohe Kaloriendichte der Ernährung, sozioökonomischer Status) zurückzuführen. Die Erblichkeit des BMI wird durch Zwillings- und Adoptionsstudien auf 40–70 % geschätzt [5, 6], Bevölkerungsstudien stufen diese Zahlen jedoch auf 30–40 % herab [7]. Eine 2018 publizierte Metaanalyse von genomweiten Assoziationsstudien konnte BMI-bezogene Loci identifizieren, die etwa 6 % der BMI-Variation erklären [8]. Obwohl es noch einige ungeklärte Fragen zur genetischen Prädisposition der polygenen Adipositas gibt, ist es klar, dass sie das Ergebnis einer komplexen Interaktion zahlreicher Genvarianten ist, bei der die jeweilige Einzelvariante nur gering zu einem erhöhten Körpergewicht beiträgt.

In einer Minderheit der Patient*innen ist eine schwer funktionelle Mutation in einem einzigen Gen alleine für das erhöhte Körpergewicht verantwortlich. Die Prävalenz dieser Adipositasformen liegt in einer Studie in Europa bei etwa 5 % [9], ist allerdings deutlich höher in Bevölkerungen mit häufiger Konsanguinität (z. B. bis zu 30 % in Pakistan, in dem 60–65 % der Ehen zwischen Blutsverwandten geschlossen werden [10, 11]). In den meisten Fällen hat die genetisch bedingte Adipositas einen frühen Beginn (vor dem 6. Lebensjahr) und ist besonders schwerwiegend. Basierend auf dem klinischen Phänotyp wurden die genetischen Adipositasformen historisch in monogene, nichtsyndromische Adipositas (ORPHA:98267) und syndromische Adipositas (ORPHA:240371) eingeteilt. Bei der monogenen Adipositas stellt das Übergewicht den Hauptaspekt dar, wobei weitere krankheitsspezifischen Merkmale vorhanden sein können. Im Rahmen syndromischer Adipositasformen tritt die Adipositas im Zusammenhang mit bestimmten klinischen Phänotypen wie z. B. mentaler Retardierung, dysmorphen Merkmalen und organspezifischen Anomalien auf.

Bemerkenswert ist, dass mehrere Polymorphismen in Genen, die für monogene [12,13,14] oder syndromische [15] Adipositas verantwortlich sind, stark mit dem BMI bei polygener Adipositas assoziiert sind. Dies unterstützt die Existenz eines Kontinuums zwischen angeborener und polygener Adipositas.

In den folgenden Abschnitten geben wir einen Überblick über die wichtigsten monogenen und syndromischen Formen der Adipositas, erörtern, wie man diese Formen im Falle eines klinischen Verdachts diagnostizieren kann, und diskutieren aktuelle sowie potenzielle zukünftige Therapiemöglichkeiten.

Monogene Adipositasformen

Die Gene, auf welche die bekanntesten monogenen Adipositasformen zurückzuführen sind, kodieren für Proteine, die im sogenannten Leptin-Melanocortin-Signalweg involviert sind (Abb. 1). Der Leptin-Melanocortin-Signalweg befindet sich im Hypothalamus und spielt eine zentrale Rolle bei der Regulation der Energiehomöostase. Kurz zusammengefasst, wird das Hormon Leptin proportional zur Fettmasse von den Adipozyten im weißen Fettgewebe in den Blutkreislauf sezerniert [16, 17]. Nach Überwindung der Blut-Hirn-Schranke steigert Leptin im Hypothalamus die Aktivität der Melanocortin-4-Rezeptor(MC4R)-Neuronen. Dies geschieht zum einen durch die Hemmung der Neuropeptid-Y-/Agouti-related-Peptid(NPY/AgRP)-Neuronen und zum anderen durch Stimulation der Proopiomelanocortin(POMC)-Neuronen. Insbesondere induziert Leptin mithilfe des Enzyms Prohormone Convertase (PC) 1/3 in den POMC-Neuronen die Produktion des melanozytenstimulierenden Hormons (α-MSH). Das freigesetzte α‑MSH aktiviert MC4R-Neuronen, welche wiederum das Sättigungsgefühl fördern und den Appetit bzw. die Nahrungsaufnahme reduzieren.

Abb. 1
figure 1

Schematische Darstellung des hypothalamischen Leptin-Melanocortin-Signalwegs. Das Hormon Leptin wird überwiegend vom Adipozyten freigesetzt. Durch die Blut-Hirn-Schranke erreicht Leptin Neuropeptid-Y-/Agouti-related-Peptid(NPY/AgRP)-Neuronen sowie Proopiomelanocortin(POMC)-Neuronen im Nucleus arcuatus des Hypothalamus. NPY/AgRP- und POMC-Neuronen regulieren, mit gegenseitigem Effekt, Melanocortin-4-Rezeptor (MC4R) exprimierende Neuronen im hypothalamischen Nucleus paraventricularis. MC4R-Neuronen erregen wiederum das Sättigungsgefühl und reduzieren die Nahrungsaufnahme. In POMC-Neuronen wird aus POMC durch das Enzym Prohormon-Convertase 1/3 (PC1/3) das α‑Melanozyten-stimulierende Hormon (α-MSH) erzeugt, welches den Rezeptor MC4R stimuliert. Im Gegensatz dazu, wird der Rezeptor MC4R von AgRP aus den AgRP-Neuronen gehemmt. Die Mutationen, auf welche die bekanntesten monogenen Adipositasformen zurückzuführen sind, betreffen die Gene (in rot angezeigt) für Leptin, den Leptinrezeptor, Proopiomelanocortin, das Enzym PC1/3, und MC4R. Therapiemöglichkeiten sind in grün dargestellt

Bei genetischen Mutationen im hypothalamischen Leptin-Melanocortin-Signalweg ist die homöostatische Appetitregulation gestört und es kann kein adäquates Sättigungsgefühl aufgebaut werden. Als Folge entwickelt sich eine chronische Hyperphagie, welche zu einer schwerwiegenden und häufig frühkindlichen Adipositas führt. Die bekanntesten Störungen des Leptin-Melanocortin-Signalwegs, welche für monogene Adipositasformen verantwortlich sind, werden in den folgenden Abschnitten behandelt und in Tab. 1 zusammengefasst.

Tab. 1 Übersicht der klinischen Merkmale und Therapiemöglichkeiten monogener Adipositasformen

Mutationen des MC4R-Gens stellen die häufigste Ursache der monogenen Adipositas dar [18] und weisen einen autosomal-(ko)dominanten Erbgang mit variabler Penetranz und Expressivität auf. Die meisten Patient*innen haben ein mutiertes Allel, jedoch können aufgrund der relativen Häufigkeit [19] in manchen Fällen biallelische Mutationen vorliegen [20, 21]. Bei MC4R-Mutationsträger*innen mit biallelischen Mutationen tritt die Fettleibigkeit ähnlich wie bei den anderen monogenen Adipositasformen im frühen Kindesalter auf. Ist nur ein Allel mutiert, entwickelt sich die Adipositas häufig (jedoch nicht immer) etwas später im Jugendalter [22, 23]. Abgesehen von einem etwas beschleunigten Wachstum und einer gesteigerten Körperendgröße [22, 23], unterscheiden sich MC4R-Mutationsträger*innen nicht wesentlich von Patient*innen mit herkömmlicher (polygenen) Adipositas.

Weitere, extrem seltene Ursachen für monogene Adipositasformen sind biallelische Mutationen in den Genen für (a) Leptin (LEP-Gen), die zu einer Fehlproduktion oder biologischer Inaktivität führen, (b) den Leptinrezeptor (LEPR-Gen), (c) POMC (POMC-Gen) und (d) das Enzym PC 1/3 (PCSK1-Gen). All diese Mutationen führen zu einer gestörten Produktion von α‑MSH und, demzufolge, zu einer fehlenden Stimulation von MC4R-Neuronen. Betroffene Patient*innen zeigen bereits in den ersten Lebensjahren eine auffallende Hyperphagie und schwere Adipositas. Darüber hinaus zeichnen sich manche dieser monogenen Adipositasformen durch weitere spezifische Merkmale aus.

Patient*innen mit LEP- oder LEPR-Mutationen sind durch verzögerte Pubertätsentwicklung aufgrund eines hypogonadotropen Hypogonadismus charakterisiert. Die Gonadotropine können sich allerdings spontan im Erwachsenenalter normalisieren. In manchen Fällen wurde eine immunologische Fehlfunktion beschrieben, die zu einer höheren Anfälligkeit für Infektionen im Kindesalter führen dürfte [24,25,26]. Darüber hinaus zeigen Kinder mit LEP-Mutationen laut einer aktuellen Studie niedrige Werte von Insulin-like Growth Factor 1, welche allerdings nicht mit einem verminderten Wachstum assoziiert sind [27].

Im Falle von Mutationen im POMC-Gen ist zusätzlich zur α‑MSH Produktion auch die Prozessierung aus POMC entstehender Peptidhormone wie MSH, MSH und ACTH gestört. Aufgrund der mangelhaften ACTH-/MSH-Produktion zeigen Patient*innen mit POMC-Mutationen sowohl eine Nebennierenrindeninsuffizienz (bisher 100 % aller Fälle [28]) als auch eine Hypopigmentierung (helle Haut und rötliches Haar, berichtet in 50 % der Fälle [28]). Eine Schilddrüsenunterfunktion, ein Hypogonadismus, ein Wachstumshormonmangel und ein Diabetes Typ 1 können ebenfalls vorliegen.

Patient*innen mit Mutationen im PCSK1-Gen weisen im ersten Lebensjahr vor Entwicklung der Adipositas schwerwiegende Durchfälle auf. Weitere charakteristische Merkmale sind Diabetes insipidus sowie corticotrope, gonadotrope, somatotrope und thyreotrope Hypophyseninsuffizienz.

Für eine noch ausführlichere Auflistung weiterer Gene, die in monogene Adipositasformen involviert sind (z. B. SIM1, BDNF, NTRK2), verweisen wir auf einen Artikel von von Schnurbein und Wabitsch [29].

Syndromische Adipositasformen

Syndromische Adipositasformen sind seltene genetische Syndrome, die sich durch einen frühkindlichen Beginn der Essstörungen (Hyperphagie, Esssucht) auszeichnen und mit neurologischen Entwicklungsstörungen (z. B. verzögerte motorische Entwicklung, intellektuelle Entwicklungsverzögerung) und/oder Organmalformationen einhergehen. Die jüngste systematische Übersichtsarbeit über syndromische Adipositas berichtete von 79 in der Literatur beschriebenen Adipositas-Syndromen [30]. Die genetischen Ursachen wurden nur bei 19 davon vollständig aufgeklärt. Das geringe Wissen über die genetischen Ursachen zusammen mit den Diskrepanzen in der Klassifikation und Nomenklatur weisen auf die Notwendigkeit weiterer Forschung in diesem Bereich hin [30]. Im Folgenden werden die Hauptmerkmale der häufigsten syndromischen Adipositasformen, das Prader-Willi-Syndrom (PWS) und das Bardet-Biedl-Syndrom (BBS), beschrieben. Aufgrund des mit BBS überlappenden klinischen Phänotyps wird auch das seltenere Alström-Syndrom (AS) geschildert. Eine Übersicht über diese drei Syndrome ist in Tab. 2 dargestellt.

Tab. 2 Übersicht der klinischen Merkmale und Therapiemöglichkeiten syndromischer Adipositasformen

Die häufigste syndromische Adipositas ist das PWS, das durch das funktionelle oder physische Fehlen des chromosomalen Segments 15q11–q13 väterlicher Herkunft entsteht. Säuglinge zeigen kurz nach der Geburt eine schwere neonatale Hypotonie und Ernährungsprobleme bzw. eine Saugschwäche, sodass häufig eine Sondenernährung notwendig ist. Das Essenverhalten verändert sich drastisch im Alter von 2–4 Jahren, wo sich eine ausgeprägte Hyperphagie, die für die schwerwiegende Adipositas verantwortlich ist, entwickelt. Zum PWS-Phänotyp gehören zusätzlich Entwicklungsverzögerungen, Verhaltensauffälligkeiten und endokrinologische Störungen (Wachstumshormonmangel, Kleinwuchs, Hypogonadismus, Hypothyreose, widersprüchliche Daten zu adrenaler Insuffizienz) sowie orthopädische (Skoliose) und thermoregulatorische Probleme. Patient*innen mit PWS haben eine reduzierte Lebenserwartung [31, 32], und mehr als 50 % der Todesfälle sind auf respiratorische Ursachen (respiratorische Insuffizienz bei Erwachsenen, Atemwegeinfektionen bei Kindern) zurückzuführen [32].

Das BBS ist eine seltene Multisystem-Ziliopathie, die durch biallelische pathogene Varianten in mindestens 26 Genen verursacht wird [33]. Die wichtigsten klinischen Merkmale sind Netzhautdystrophie, die eine Prävalenz von 94 % hat und sich ab dem frühen Kindesalter entwickelt, sowie frühkindliche zentrale Adipositas mit metabolischem Syndrom. Es können auch Polydaktylie, verzögerte Entwicklung, kognitive Beeinträchtigung und Verhaltensstörungen, hypogonadotroper Hypogonadismus und/oder Fehlbildungen des Genitourethraltrakts vorliegen [33]. Nierenerkrankungen stellen die Hauptursache für Morbidität und Mortalität in Patient*innen mit BBS dar. Die klinische Diagnose wird durch das Vorhandensein von entweder vier Hauptmerkmalen oder drei Hauptmerkmalen und zwei Nebenmerkmalen gestellt und muss genetisch bestätigt werden (siehe Tab. 1 in Forsyth und Gunay-Aygun [33]).

Eine noch seltenere genetische Multisystemstörung, die mehrere klinische Merkmale mit BBS teilt, ist das AS, das durch pathogene Varianten des ALMS1-Gens verursacht wird. Patient*innen mit AS zeigen u. a. eine Netzhautdystrophie (Inzidenz 100 % der Patient*innen), die oft zur Diagnose führt, frühkindliche Adipositas mit metabolischem Syndrom, progressive bilaterale Innenohrschwerhörigkeit und Nierenfunktionsstörungen [34]. Die klinische Präsentation variiert auch bei Patient*innen mit der gleichen Mutation. Die Krankheit ist progredient verlaufend und kann zu einem vorzeitigen Tod führen. Auch in diesem Fall ist ein Gentest die einzige Möglichkeit, die Diagnose zu bestätigen [34].

Diagnosestellung

Das Erkennen der genetischen Ursache der Adipositas ist von großer Bedeutung, da es die Patient*innen und deren Familien von einer psychischen und sozialen Belastung befreien kann. Darüber hinaus gibt es bereits wirksame therapeutische Optionen zur Reduzierung der Hyperphagie und des Körpergewichts, und neue Therapien werden gerade untersucht bzw. entwickelt (siehe unten). Aufgrund der hohen Prävalenz der Adipositas und der Seltenheit angeborener Ursachen sollte man ein genetisches Screening jedoch nur in ausgewählten Fällen anfordern.

Das wesentliche Warnsignal für eine genetische Ursache ist meist, aber nicht immer, eine frühkindliche, schwerwiegende Adipositas, die mit einer schweren Hyperphagie einhergeht, vor allem, wenn die Eltern einen normalen BMI aufweisen. Für die Durchführung eines genetischen Screenings für LEP- bzw. LEPR-Mutationen empfehlen Experten als Einschlusskriterien BMI >27 kg/m2 und %BMIP95 (Prozentsatz des 95. Perzentils des BMI für Alter und Geschlecht) >140 % im Alter von zwei Jahren, bzw. BMI >33 kg/m2 und %BMIP95 >184 % im Alter von fünf Jahren [35]. Wie bei allen genetischen Erkrankungen stellt die Angehörigkeit zu einer Ethnie mit hoher Prävalenz von Konsanguinität einen weiteren Risikofaktor dar. Laut einer Studie aus dem Jahr 2018 stammten 43 % der bis dahin berichteten Fälle monogener Adipositas mit rezessiver Vererbung aus Pakistan, die türkische Herkunft lag an zweiter Stelle mit 12 % aller Fälle [36]. Diese Daten sind in Übereinstimmung mit der Ausbeute von 10,4 % eines genetischen Screening für 41 bekannte Adipositasgene im Rahmen einer multizentrischen Studie in der Türkei [37], während ähnliche Studien in westlichen Ländern Prävalenzen von bis max. 7,3 % zeigen [9, 22, 23].

Der Verdacht auf Mutationen im Leptin-Melanocortin-Signalweg sollte bei früh einsetzender schwerer Adipositas aufkommen, insbesondere, wenn sie mit endokrinologischen Anomalien einhergeht (z. B. Hypocortisolismus bei POMC- und PCSK1-Mutationen, Hypogonadismus bei LEP- und LEPR-Mutationen, Tab. 1). Die Bestimmung von biologisch aktiven Leptin-Plasmaspiegeln, wenn möglich, kann ebenfalls hilfreich sein, um einen angeborenen Leptinmangel aufgrund fehlender Produktion oder biologischer Inaktivität auszuschließen [38]. Bei MC4R-Mutationen ist es wichtig zu bedenken, falls in einem Screening eine noch nicht beschriebene heterozygote Mutation entdeckt wird, dass eine funktionell relevante Mutation in vitro nicht notwendigerweise zu Adipositas führt [29].

Bei syndromischer Adipositas können auffällige klinische Zeichen und Symptome zu einer früheren Diagnose führen. Aufgrund deren Seltenheit und klinischen Heterogenität kann es jedoch vorkommen, dass Patient*innen mit BBS oder AS im Kindesalter nicht erkannt werden. Daher könnte bei jugendlichen bzw. erwachsenen Patient*innen mit Adipositas und Netzhautdystrophie und/oder anderen Auffälligkeiten (Tab. 2) eine genetische Untersuchung opportun sein.

Das genetische Screening sollte in erfahrenen Zentren mittels Gen-Panels (z. B.: https://www.ncbi.nlm.nih.gov/gtr/tests/520411/) durchgeführt werden. Akkreditierte medizinisch-genetische Labore in der EU und in den USA, welche genetische Diagnostik für genetisch bedingte Adipositas anbieten, können in den Datenbanken von Orphanet (https://www.orpha.net/consor/cgi-bin/index.php) und Genetic Testing Registry (GTR) (https://www.ncbi.nlm.nih.gov/gtr/) gefunden werden. Bei negativem Gen-Panel-Befund trotz auffälligem Krankheitsbild kann eine Whole-Exome-Sequenzierung oder eine Array-based Comparative Genomic Hybridization (Array-CGh) angefordert werden.

Therapiemöglichkeiten

Medikamentöse Therapien

Medikamentöse Therapien spielen eine zentrale Rolle in der Behandlung genetischer Adipositas, da Lebensstilinterventionen bei monogener und syndromischer Adipositas nicht selten aufgrund des frühkindlichen Onsets, des fehlenden Sättigungsgefühls und der ausgeprägten Hyperphagie limitierte Wirkung haben. Beispielsweise berichteten Lebensstilinterventionsstudien, die Kinder mit MC4R-Mutationen mit Kindern mit herkömmlicher Adipositas verglichen, entweder keine BMI-Veränderungen [39] oder eine moderate Gewichtsabnahme gefolgt von einer Gewichtszunahme im Folgejahr nach Intervention [40]. Bei den syndromischen Adipositasformen stellen darüber hinaus die kognitive Beeinträchtigung und die Verhaltensschwierigkeiten insbesondere bei PWS eine weitere wesentliche Hürde dar [41]. In den folgenden Abschnitten beschreiben wir zugelassene Medikamente sowie Medikamente, die aktuell in ihrer Wirkung untersucht werden.

Metreleptin.

Für Patient*innen mit kongenitalem Leptinmangel aufgrund von Mutationen im LEP-Gen gibt es die Möglichkeit einer Ersatztherapie mit dem rekombinanten Analogon des humanen Leptins (Metreleptin, Myalepta®, Amryt Pharma PLC). Die tägliche subkutane Injektion von Metreleptin reduziert den Hunger, die Nahrungsaufnahme und dadurch das Körpergewicht. Die weiteren immunologischen, endokrinen und metabolischen Störungen, die auf den Leptinmangel zurückzuführen sind, werden ebenfalls verbessert [27, 42,43,44,45,46,47].

Setmelanotid.

Der hochselektive MC4R-Agonist Setmelanotid (oder RM-493, Rhythm Pharmaceuticals Limited) hat sich als wirksam bei der Reduktion von Hunger und Gewicht bei monogener Adipositas mit Mutationen in Genen, die für Proteine upstream von MC4R kodieren, wie LEPR, POMC und PCSK1, erwiesen [48]. Seit November 2020 ist Setmelanotid in den USA zugelassen für Patient*innen ≥ 6 Jahre mit LEPR-, POMC- oder PCSK1-Genvarianten, welche als pathogen, wahrscheinlich pathogen oder als Varianten von unklarer Signifikanz (VUS) gelten [49]. Im August 2021 wurde Setmelanotid (unter dem „Imcivree“ vermarktet) für Patient*innen ≥ 6 Jahre mit genetisch bestätigten biallelischen Funktionsverlustmutationen im LEPR-, POMC- oder PCSK1-Gen in Europa zugelassen [50]. Setmelanotid ist stärker als der endogene Ligand MSH bei der Stimulierung des MC4R, und es kann die Signalübertragung in einer Untergruppe von stark beeinträchtigten MC4R-Varianten auslösen [51]. Daher hat es auch Potenzial bei zumindest einer Untergruppe von MC4R-Mutationsträger*innen. Diese Indikation wurde in einer Phase-1b-Studie getestet, die einen signifikanten Gewichtsverlust bei MC4R-heterozygoten Patient*innen nach 28 Tagen Behandlung mit 0,01 mg/kg pro Tag zeigte. Allerdings unterschied sich der Gewichtsverlust, möglicherweise aufgrund der geringen Stichprobengröße, nicht signifikant von der Placebogruppe [51]. Weitere klinische Studien, in denen Setmelanotid bei Patient*innen mit monoallelischen bzw. biallelischen MC4R-Mutationen evaluiert wird, sind deswegen erforderlich. Ebenso werden Daten zur langfristigen Wirksamkeit bei anderen Formen der monogenen Adipositas benötigt. Bei syndromischer Adipositas konnte eine Phase-2-Studie (NCT02311673) zur Wirksamkeit von Setmelanotid in Patient*innen mit PWS leider keinen Effekt auf die Hyperphagie zeigen [52]. Im Gegensatz dazu zeigte eine rezent abgeschlossene Phase-3-Studie (NCT03746522) die Wirksamkeit von Setmelanotid in der Reduzierung von Körpergewicht und Hunger bei Patient*innen mit BBS und AS [53].

Liraglutid.

Eine kürzlich durchgeführte Studie ergab, dass die Behandlung mit dem Glucagon-like-Peptide-1(GLP1)-Analogon Liraglutid (3 mg/Tag) über 16 Wochen bei MC4R-Mutationsträger*innen (N = 16) zu einem ähnlichen Gewichtsverlust (ca. 6 %) sowie zu einer ähnlichen Verbesserung des Glukose- und Lipidstoffwechsels führte wie bei Nicht-Träger*innen in der Kontrollgruppe (N = 30) [54]. Dies spricht dafür, dass Liraglutid bei Patient*innen mit MC4R-Mutationen ebenso wirksam ist wie bei Patient*innen mit herkömmlicher Adipositas und die anorektische Wirkung von Liraglutid unabhängig von MC4R funktionieren dürfte. Liraglutid hat auch bei Patient*innen mit PWS potenzielle positive Wirkungen gezeigt. In verschiedenen Fallberichten wurde eine deutliche Reduktion der Hyperphagie und des Körpergewichts nach Liraglutid-Gabe beschrieben [55,56,57,58]. Eine doppelblinde randomisierte klinische Studie (NCT02527200), die die Auswirkungen von Liraglutid auf den BMI-SDS (Standard Deviation Score) nach 16 und 52 Wochen Behandlung bei Patient*innen im Alter zwischen 6 und 18 Jahren untersuchte, wurde im November 2020 abgeschlossen, wobei die Ergebnisse noch nicht veröffentlicht wurden. Daten zum sehr potenten GLP1-Agonisten Semaglutid [59] und genetischer Adipositas sind noch nicht vorhanden.

Für Patient*innen mit PWS, für die zurzeit ein massiver „unmet clinical needzur Verbesserung der Adipositas/Hyperphagie besteht, gibt es eine Vielzahl von Molekülen, die evaluiert werden bzw. wurden [41]. Der intranasale Oxytocin-Rezeptor-Agonist Carbetocin lieferte bereits vielversprechende Ergebnisse zur Verringerung der Hyperphagie bei PWS-Patienten zw. 10–18 Jahren [60] und wird derzeit in einer Phase-3-Studie bei Kindern und Jugendlichen im Alter zwischen 7 und 18 Jahren (NCT03649477) untersucht. Diazoxid-Cholin-Tabletten mit kontrollierter Freisetzung (Diazoxide Choline Controlled-Release tablets [DCCR]) könnten auch, zumindest bei einer Subgruppe von Patient*innen mit besonders ausgeprägter Hyperphagie, den Hunger reduzieren [61]. DCCR wird gerade in langfristigen Sicherheitsstudien untersucht (NCT03714373, NCT04086810). Leider zeigten viele Studien bei PWS in der Vergangenheit negative Endergebnisse: z. B. Beloranib (Methionin-Aminopeptidase-2-Hemmer), Rimonabant (Cannabinoid-Rezeptor-Blocker), Livoletide (desacyliertes Ghrelin-Analogon) und GLWL-01 (Ghrelin O‑Acyl-Transferase-Hemmer) fallen darunter.

Bariatrische Chirurgie

Die bariatrische Chirurgie ist eine sehr wirksame Methode zur Gewichtsreduktion bei Patient*innen mit polygener Adipositas [62]. Ihre Effektivität bei Patient*innen mit angeborener Adipositas wurde bisher hauptsächlich in Fallberichten/-serien untersucht [63].

Die meisten Daten zu monogener Adipositas und bariatrischer Chirurgie gibt es zu MC4R-Mutationsträger*innen, bei welchen der Roux-en-Y-Magenbypass (RYGB) ähnliche Ergebnisse wie bei polygener Adipositas zu haben scheint [64,65,66,67,68], während die Sleeve-Gastrektomie (SG) weniger wirksam ist [68]. Die Ergebnisse des Magenbands sind widersprüchlich [63]. Eine gerade publizierte Fallserie berichtet jedoch von deutlicher Gewichtswiederzunahme im Follow-up nach bariatrischer Chirurgie (RYGB, SG und Magenband) in acht Patient*innen mit biallelischen Mutationen im MC4R- (N = 1), LEPR- (N = 5) oder POMC-Gen (N = 2) [69]. Ein signifikant geringerer Gewichtsverlust verglichen zu Nicht-Träger*innen und eine klare Gewichtszunahme sechs Jahre nach SG wurden ebenfalls in einer retrospektiven Studie aus China in elf Patient*innen mit LEP- (N = 1), LEPR- (N = 2), MC4R- (N = 5), MC3R- (N = 1), SIM1- (N = 1) oder PCSK1-Mutationen (N = 1) gezeigt [70]. Die Autoren berichten allerdings, dass alle Patient*innen heterozygot seien, wobei LEP-, LEPR- und PCSK1-Mutationen in beiden Allelen vorliegen müssten, um eine monogene Adipositas zu verursachen. Weitere Fälle von POMC- (N = 12) und PCSK1-Mutationen (N = 5) zeigten einen vergleichbaren Gewichtsverlauf nach RYGB zur Kontrollgruppe [68], aber auch in dieser Studie liegen diese Mutationen, obwohl funktionell relevant, nur monoallelisch vor und sind demnach nicht krankheitsverursachend. Interessanterweise legen Fallberichte von insgesamt sechs Patient*innen mit Mutationen im LEPR-Gen nahe, dass bariatrische Chirurgie bei betroffenen Männern (N = 3) und nicht bei Frauen (N = 3) wirksam sein könnte [71].

Bezüglich der bariatrischen Chirurgie bei Patient*innen mit syndromischer Adipositas gibt es keinen internationalen Konsensus, da die Daten dazu spärlich sind [63]. Bei Patient*innen mit BBS sind Daten über verschiedene Arten der bariatrischen Chirurgie auf Fallberichte beschränkt, mit scheinbar positiven kurzfristigen Ergebnissen ohne wesentliche Komplikationen [72,73,74]. Unseres Wissens sind bisher keine Studien bei AS veröffentlicht worden. Nur für das PWS wurden fallkontrollierte Studien mit unterschiedlichen Nachbeobachtungszeiten durchgeführt, und diese zeigten widersprüchliche Ergebnisse. Insbesondere berichteten zwei Studien von nur wenigem [75] bzw. keinem [76] Gewichtsverlust und einer deutlich höheren Rate an Komplikationen [75]. Eine weitere Studie mit 24 Kindern und Jugendlichen mit PWS zeigte einen Gewichtsverlust ähnlich wie bei Nicht-PWS-Kontrollen bis zu drei Jahren nach SG [77, 78]. Allerdings wurde in den folgenden zwei Jahren eine Tendenz zur Gewichtszunahme festgestellt, hier fehlen langfristige Daten [77].

Insgesamt sind die Daten zur bariatrischen Chirurgie bei genetischer Adipositas zu gering, um genaue Rückschlüsse auf Wirksamkeit vs. Risiko ziehen zu können. Die besten Ergebnisse gibt es bei MC4R-Mutationsträger*innen nach RYGB, aber die Stichprobe so wie die Beobachtungszeiträume müssen noch erweitert werden, um dies zu bestätigen. Bei den syndromischen Adipositasformen sollte bedacht werden, dass die Ess- und neurologischen Entwicklungsstörungen der Patient*innen nicht selten ein großes Hindernis für ihre Fähigkeit darstellen, sich an die postoperativen Maßnahmen (regelmäßige Kontrollen, Diätanpassung insbesondere bei Dumpingsyndrom, Vitamineinnahme etc.) zu halten, was zu einer höheren postoperativen Komplikationsrate führt [41]. Auch unter Berücksichtigung der Entwicklung neuer Medikamente sollte die Entscheidung für eine bariatrische Operation bei Patient*innen mit syndromischer Adipositas insbesondere bei PWS nur in Ausnahmefällen und jedenfalls im multidisziplinären Team getroffen werden.

Fazit für die Praxis

  • Das wichtigste Warnsignal für eine angeborene Form der Adipositas ist eine meist bereits im frühkindlichen Alter auftretende, schwerwiegende Adipositas mit ausgeprägter Hyperphagie. Zusätzliche endokrinologische Störungen (z. B. sekundäre Nebenniereninsuffizienz und Hypogonadismus) können ebenso auf eine monogene Adipositas hindeuten. Entwicklungsstörungen, dysmorphe Merkmale und Organanomalien (insbesondere Netzhautdystrophie) können bei syndromischen Adipositasformen auftreten.

  • Für die korrekte Diagnose ist ein genetischer Test mittels Gen-Panel notwendig. Akkreditierte medizinisch-genetische Labore in der EU findet man unter https://www.orpha.net/consor/cgi-bin/index.php. Bei negativem Befund trotz auffälligem Krankheitsbild können eine Whole-Exom-Sequenzierung oder eine Array-CGh weiterhelfen.

  • In der EU liegt für Metreleptin (Myalepta®) bei LEP-Mutationen sowie für Setmelanotid (Imcivree®) bei LEPR-, POMC- und PCSK1-Mutationen eine Zulassung vor. Bei MC4R-Mutationen scheint Liraglutid wirksam zu sein. Für Prader-Willi‑, Bardet-Biedl- und Alström-Syndrom werden aktuell einige vielversprechende medikamentöse Optionen zur Therapie der Hyperphagie bzw. Adipositas klinisch untersucht.