Steigende Raten von Adipositas bei Kindern wie auch bei Erwachsenen stellen ein weltweites Problem dar, da die Fettleibigkeit nicht nur per se zu einer Reihe von Beschwerden führt, sondern einen wichtigen Risikofaktor für viele Folgeerkrankungen wie z. B. koronare Herzkrankheit, Hypertonie oder Diabetes mellitus darstellt. Im Wesentlichen hervorgerufen durch eine zu hohe Energieaufnahme bei zu geringem Kalorienverbrauch, ist Adipositas dennoch eine komplexe Erkrankung, die in der Mehrzahl der Fälle als multifaktoriell betrachtet werden kann. Multifaktoriell bedeutet, dass Fettleibigkeit sowohl durch genetische Komponenten als auch durch Umweltbedingungen und Verhaltensweisen (Ernährungs- und Lebensstil) bedingt ist. Der Anteil der Genetik an der Adipositas wird derzeit auf 40–70 % geschätzt, wozu Summeneffekte einer Reihe verschiedener Gene ebenso wie Gen-Umwelt-Effekte (Epigenetik) beitragen. Eine Reihe dieser sogenannten Adipositas-Gene, die unter anderem in die Appetitregulation, Energiehomöostase, Insulinsekretion und -wirkung oder in die Adipogenese involviert sind, wurden anhand von GWAS (Genome Wide Association Studies) oder Kandidatengen-Analysen identifiziert und hinsichtlich ihrer Rolle bei der Entstehung bzw. Prädisposition von Adipositas untersucht.

Die Assoziation verschiedener Genvarianten (Leptin, Leptin-Rezeptor, Proconvertase, Pro-Opiomelanocortin und Melanocortin-4-Rezeptor [MC4R]) mit Fettleibigkeit konnte inzwischen in zahlreichen Studien gezeigt werden. Zudem wurden auch sehr seltene Adipositasformen identifiziert, die auf pathogene Varianten (Mutationen) einzelner Gene zurückzuführen sind.

So stellt eine Defizienz des Melanocortin-4-Rezeptors (MC4R), die durch pathogene Varianten im MC4R-Gen (OMIM 155541) hervorgerufen wird, nicht nur die häufigste bekannte Ursache einer monogenen Adipositas (OMIM 601665) dar, sondern trägt möglicherweise auch zur polygenen/multifaktoriellen Fettleibigkeit bei [1, 2].

Pathophysiologie und klinische Bedeutung

Der Melanocortin-4-Rezeptor (MC4R) ist der Familie der G‑Protein-gekoppelten Rezeptoren zuzuordnen und besitzt sieben Transmembrandomänen. Der von Gantz et al. [3] erstmals 1993 klonierte Rezeptor wird primär im Gehirn exprimiert, insbesondere in hypothalamischen Regionen, und ist an der Regulation der Nahrungsaufnahme und des Körpergewichts beteiligt [4]. Die fünf Melanocortin-Rezeptoren sind nach der Reihenfolge ihrer Charakterisierung nummeriert und unterscheiden sich in ihren Gewebs- und Bindungsspezifitäten, wobei neben MC4R auch der MC3R an der Regulation von Körperfettmasse und Gewicht beteiligt sein soll. Melanocortin-Rezeptoren vermitteln die Effekte der sogenannten Melanocortine, deren Gruppe neben Adrenocorticotropin (ACTH) noch die melanozytenstimulierenden Hormone (MSH) α‑MSH, β‑MSH und γ‑MSH umfasst, die alle aus dem Pro-Protein Proopiomelanocortin (POMC) gebildet werden. Der Name „Melanocortine“ rührt von der Fähigkeit dieser Hormone her, in Melanozyten die Melaninproduktion zu stimulieren, aber auch Kortisolbiosynthese und -ausschüttung in der Nebenniere zu induzieren.

Symptomatik und klinische Diagnostik

Beim Menschen ist eine MC4R-Defizienz durch eine euglykämische Hyperinsulinämie in der Kindheit geprägt, während im Erwachsenenalter eine Normalisierung der Insulinspiegel (ohne Diabetesmanifestation) zu beobachten ist [5]. Serumlipid- und Leptinkonzentrationen sind meist im Normalbereich, ebenso wie die freien Kortisolspiegel im Urin.

Während Patienten mit Leptin‑, Leptinrezeptor- und Prohormon-Convertase-1-Mutationen oft auch einen hypogonadotropen Hypogonadismus aufweisen, sind sexuelle Entwicklung und Fertilität in MC4R-defizienten Personen nicht eingeschränkt.

Die MC4R-Defizienz führt zu einer bereits im Kindesalter auftretenden hochgradigen Adipositas mit ausgeprägter Hyperphagie, die jedoch meist nicht so stark ist wie bei Patienten mit Leptin- bzw. Leptin-Rezeptor-Defizienz. Obwohl in Zusammenhang mit manchen MC4R-Mutationen von beschleunigtem Längenwachstum und höheren Körpergrößen oder erhöhter Knochendichte [6] berichtet wurde, beobachtet man in der Mehrzahl der Fälle eine Adipositas ohne weitere phänotypische Auffälligkeiten.

Genetische Diagnostik

Vererbung und Häufigkeit

Das MC4R-Gen ist auf Chromosom 18q22 lokalisiert [7] und besitzt ein Exon, das für 332 Aminosäuren kodiert. 0,5–5,8 % von Kindern mit Adipositas und ca. 2,3 % der fettleibigen Erwachsenen weisen MC4R-Varianten auf [8], die einen Funktionsverlust des Rezeptors mit sich bringen. Die bislang detektierten Varianten [9] wurden zumeist beim Screening Morbidadipöser (Studienpopulationen) identifiziert.

Der Erbgang ist kodominant, die Penetranz liegt aber unter 100 %, da auch heterozygote Mutationsträger beschrieben sind, die nicht von Fettleibigkeit betroffen waren. Der Begriff Kodominanz beschreibt das Phänomen, dass die zwei genetischen Varianten (Allele) eines Gens gleich stark auf den Phänotyp einwirken. Meist sind bereits heterozygote pathogene Varianten (Mutationen) im MC4R-Gen mit einer vererbten Adipositas assoziiert, es wurden aber auch homozygote bzw. Doppelmutationen in trans (auf den beiden verschiedenen Chromosomen gelegen) beobachtet, die zu einer noch schwereren Ausprägung der Adipositas führten als bei den heterozygoten Trägern.

Indikationen für eine molekulargenetische MC4R-Diagnostik

Hauptzweck des genetischen Tests ist die Differenzialdiagnose zwischen hereditärer monogener und multifaktorieller Adipositas.

MC4R-Genotypisierung ist indiziert bei Patienten mit

  • hochgradiger Adipositas im Kindesalter

  • ausgeprägter Hyperphagie

  • positiver Familienanamnese

Genetische Beratung und Implikationen bei erblichem MC4R-Mangel

Bevor eine humangenetische Analyse durch einen zuständigen einschlägigen Facharzt veranlasst und im Labor durchgeführt werden kann, sind die Patienten entsprechend aufzuklären und zu beraten. Diese humangenetische Beratung muss dokumentiert werden und die Patienten haben der Analyse schriftlich zuzustimmen. Das Ergebnis der genetischen Analyse muss in schriftlicher Form mitgeteilt und mit einer genetischen Beratung abgeschlossen werden. Die Patienten können die Durchführung der humangenetischen Analyse bzw. die Mitteilung des Ergebnisses zu jedem Zeitpunkt und ohne Angabe von Gründen widerrufen.

Nachweis einer MC4R-Mutation

  • Bestätigung der klinischen Verdachtsdiagnose

  • Prüfen, ob Symptomatik und pathogene Varianten (Mutationen) in der Familie kosegregieren (Familienanalyse bei Bedarf)

  • Therapie und Beratung zur Lifestyle-Intervention auf genetischen Befund abstimmen

Keine MC4R-Mutation nachweisbar

  • Es liegt keine hereditäre Adipositas aufgrund eines MC4R-Mangels vor.

  • Es liegt eine multifaktorielle Adipositas vor.

  • Der für eine hereditäre Adipositas kausale Gendefekt liegt in einem anderen Gen (z. B. Leptin, Leptin-Rezeptor, POMC) vor.

  • Die verwendete Analysenmethode detektiert nur bereits bekannte und/oder nicht alle Arten von Mutationen des MC4R-Gens. Es liegen in der Patienten-DNA seltene Polymorphismen vor, die dazu führen, dass ein Allel nicht amplifiziert und daher die entsprechende Mutation nicht detektiert werden kann.

Genetischer Befund: Methodik, Inhalt, Interpretation

Standard-Genanalyse ist die Sequenzanalyse des einzigen Exons des MC4R-Gens, wobei es sich bei den detektierten pathogenen Varianten (Mutationen) meist um sogenannte Missense-Mutationen (zu einem Aminosäureaustausch führende Mutationen) oder kleinere Deletionen oder Insertionen handelt.

Das MC4R-Gen enthält lediglich ein einziges für 332 Aminosäuren kodierendes Exon, das nach der Isolierung genomischer DNA aus Vollblut routinemäßig mittels Polymerasekettenreaktion (PCR) und nachfolgender Sequenzanalyse untersucht wird. Zur Detektion größerer Deletionen, die neben anderen auch das MC4R-Gen [10] betreffen können, kann zusätzlich eine MLPA (Multiplex Ligation Dependent Probe Amplification – SALSA MLPA probemix P220-B1 Obesity, MRC Holland) durchgeführt werden. Für die Analyse benötigtes Ausgangsmaterial sind 2–5 ml peripheres EDTA- oder Zitratblut (inklusive einer schriftlichen Einverständniserklärung der Patienten bzw. deren gesetzlicher Vertreter).

Von einer die Erkrankung verursachenden pathogenen Variante (Mutation) ist dann auszugehen, wenn die Mutation schon früher als mit der Krankheit assoziiert beschrieben worden ist bzw. wenn eine Kosegregation der Variante mit der Erkrankung (z. B. in der entsprechenden Familie) vorliegt. Kinder eines erkrankten Elternteiles, der auch eine MC4R-Mutation trägt, erben diese mit 50-prozentiger Wahrscheinlichkeit und haben dann ebenfalls ein erhöhtes Risiko, an Fettleibigkeit zu leiden.

Inwiefern bestimmte benigne Varianten (Polymorphismen) das Nahrungsverhalten betreffend verschiedene Makronährstoffe bzw. betreffend Diabetesentwicklung oder Gewichtsreduktion bestimmen können, wird in der Literatur kontrovers diskutiert [11, 12], ebenso, ob zukünftig Therapien zur Verfügung stehen werden, die die MC4R-Signaltransduktion wirkungsvoll beeinflussen können [13].