In diesem Kapitel wird die Ausgestaltung dynamisch festgesetzter Preise aus Verkäufersicht erörtert, da diese in jüngster Zeit stärker diskutiert wurden (siehe z. B. an der Heiden und Wersig (2018), Zander-Hayat et al. (2016)). Hierbei müssen Verkäufer verhaltenswissenschaftliche Überlegungen berücksichtigen und Entscheidungen zu den grundlegenden Preisdimensionen (inklusive der personenbezogenen dynamischen Preisdifferenzierung) sowie dem Einfluss von Kontextfaktoren treffen. Daneben sind auch mögliche Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Faktoren zu beachten.
Verhaltenswissenschaftliche Einflussfaktoren
Erwartungsbildung und Referenzpreiseffekte sowie Fairnesswahrnehmung sind wesentliche verhaltenswissenschaftliche Einflussfaktoren, die von Verkäufern bei dynamischer Preisanpassung zu beachten sind.
Erwartungsbildung und Referenzpreiseffekte
Die dynamische Preisanpassung kann die Preiserwartungen von potenziellen Käufern beeinflussen (Drechsler und Natter 2011). Hierbei ist der von Konsumenten erwartete grundsätzliche Markttrend, der von der Produktkategorie abhängt, zu berücksichtigen. Beispielsweise können bei langlebigen (technologischen) Konsumgütern fallende Preise zur Erwartung weiter fallender Preise und dadurch zu einer Kaufzurückhaltung bei potenziellen Käufern führen (siehe den fallenden Preistrend bis Mitte September in Abb. 4). Im Gegensatz dazu können bei Luftfahrtdienstleistungen zum Abflug hin steigende Preisverläufe zu einem frühzeitigen Buchungsverhalten führen (Spann et al. 2005). Volatile Preisverläufe, z. B. bei Hotelzimmern, erschweren die Erwartungsbildung.
Daneben wirkt sich die dynamische Preisgestaltung auf die internen Referenzpreise von Käufern aus, die auf Basis von in der Vergangenheit beobachteten Preisen gebildet werden (Kalyanaram und Winer 1995). Referenzpreise beeinflussen die Kaufentscheidung, da Preise von Käufern nicht nur absolut, sondern auch im Vergleich zu einem Referenzpreises beurteilt werden (Kalyanaram und Winer 1995). Darüber hinaus beeinflusst die dynamische Preisgestaltung ebenfalls externe Referenzpreise, sofern auch Wettbewerber ihre Preise dynamisch anpassen.
Wahrgenommene Preisfairness
Preisfairness bezeichnet das vom Käufer wahrgenommene Fairnessurteil in Bezug auf die vom Verkäufer festgesetzten Preise (Haws und Bearden 2006). Das so genannte „Dual Entitlement-Prinzip“ geht davon aus, dass Käufer Anspruch auf einen fairen Preis und Verkäufer Anspruch auf einen fairen Gewinn haben, jeweils im Vergleich zu einem Referenzpunkt (Kahneman et al. 1986). Im Rahmen der dynamischen Preisgestaltung sind die wichtigsten Referenzpunkte zur Beurteilung der wahrgenommenen Preisfairness (Haws und Bearden 2006):
Haws und Bearden (2006) zeigen, dass (1) Preisunterschiede zwischen Käufern am unfairsten wahrgenommen werden sowie (2) eine geringe Zeitdauer zwischen Preisänderungen Fairnesswahrnehmungen verringert. Priester et al. (2020) zeigen, dass Konsumenten individuelle Preisunterschiede als weniger fair im Vergleich zu gruppenbezogenen Preisunterschieden wahrnehmen.
Kosteninduzierte Preissteigerungen werden in der Regel als fair wahrgenommen, jedoch finden Lu et al. (2019), dass bei hoher Marktmacht auch kosteninduzierte Preissteigerungen als unfair wahrgenommen werden.
Im Vergleich zu nicht interaktiven dynamischen Preisen werden interaktive dynamische Preise als fairer wahrgenommen, da die Beeinflussungsmöglichkeit durch Käufer (z. B. Gebote in Auktionen) die Preisakzeptanz erhöht (Haws und Bearden 2006).
Grundlegende Preisdimensionen
Zur Ausgestaltung der dynamisch festgesetzten Preise muss ein Verkäufer zunächst die grundlegenden Preisdimensionen Markteinführungspreis und eine dynamische Preisstrategie wählen. Sofern der Verkäufer mehr als einen Verkaufskanal nutzt (z. B. Online- & Offline-Shop) müssen noch kanalbezogene Aspekte bei der Preisgestaltung berücksichtigt werden. Außerdem muss die Transparenz der Preisgestaltung festgelegt und über die Anwendung personenbezogener dynamischer Preisdifferenzierung entschieden werden.
Markteinführungspreis und dynamische Preisstrategie
Bei der Wahl des Markteinführungspreises und der langfristigen dynamischen Preisstrategie diskutiert die Preisliteratur zwei grundlegende Strategien (Simon und Fassnacht 2016): Eine Preis-Skimming-Strategie zeichnet sich durch einen hohen Markteinführungspreis aus, der sukzessive gesenkt wird. Mit dieser Preisstrategie sollen hohe Zahlungsbereitschaften zu Beginn eines Produktlebenszyklus abgeschöpft werden (Spann et al. 2015). Demgegenüber zeichnet sich eine Penetrations-Preisstrategie durch einen niedrigen Markteinführungspreis aus, um dadurch Marktanteile zu gewinnen und Skaleneffekte zu realisieren (Spann et al. 2015). Die langfristige dynamische Preisstrategie stellt den Basispreispfad dar, von dem dynamisch in Abhängigkeit von aktuellen Nachfrage‑, Angebots- und Wettbewerbsbedingungen Preise angepasst werden.
Kanalbezogene Preisunterschiede
Sofern ein Verkäufer mehrere Kanäle anbietet, stellt sich die Frage, inwiefern die dynamische Preisgestaltung in allen Kanälen gleichermaßen möglich und gewünscht ist. Insbesondere bei der Verwendung von Online- und Offline-Kanälen kann eine dynamische Preisgestaltung im Offline-Kanal oftmals nur eingeschränkt umgesetzt werden: Auch wenn zunehmend elektronische Preisschilder im Offline-Handel eingesetzt und damit die Kosten von Preisänderungen gesenkt werden, kann eine zu häufige Preisanpassung unerwünschte Effekte haben – beispielsweise wenn Kunden aufgrund einer dynamischen Preiserhöhung an der Kasse einen anderen Preis zahlen sollen als denjenigen, den sie zuvor gesehen hatten.
Sofern eine dynamische Preisanpassung nur im Online-Kanal umgesetzt wird, ergeben sich Preisunterschiede zum Offline-Kanal. Folglich können die Preise im Offline-Kanal das Ausmaß der dynamischen Preisanpassungsschwankungen limitieren, sofern Kunden nur eine maximale Preisdifferenz zwischen Online- und Offline-Kanal akzeptieren (Homburg et al. 2019). Zusätzlich kann der Verkäufer versuchen, durch unterschiedliche Produktnummern und Eigenmarken die Preistransparenz zwischen beiden Kanälen zu reduzieren. So zeigen beispielsweise Ringel und Skiera (2016), dass auf Preisvergleichsseiten mittlerweile rund 1500 verschiedene Waschmaschinen oder Staubsauger, darunter viele Eigenmarken, angeboten werden.
Transparenz der Preisgestaltung
Eine wichtige Entscheidung aus Verkäufersicht im Rahmen der dynamischen Preisgestaltung ist, ob die Anwendung dynamischer Preise gegenüber den Käufern offengelegt werden soll oder nicht. Aufgrund möglicher negativer Auswirkungen auf die wahrgenommene Preisfairness (siehe Abschn. 4.1.2) entscheidet sich die Mehrzahl der Verkäufer gegen eine explizite Offenlegung der Anwendung der dynamischen Preisgestaltung.
Diese geübte Praxis der Nichtoffenlegung kann allerdings kritisch hinterfragt werden. Hinz et al. (2011) zeigen in einem Labor- und einem Feldexperiment, dass die Offenlegung der dynamischen Preisgestaltung – in ihrem Anwendungsfall einer Name-Your-Own-Price AuktionFootnote 7 – zu sowohl höherem Gewinn des Verkäufers als auch einer höheren Kundenzufriedenheit führen kann. Hinz et al. (2011) erklären dieses Ergebnis dadurch, dass im Falle der Offenlegung Bieter informierter Entscheidungen treffen, da sie wissen, in welchem „Spiel“ sie sich befinden. Darüber hinaus führt die dynamische Preisgestaltung dazu, dass mehr Bieter erfolgreich sind und somit die Markteffizienz höher ist als im Vergleich zur Nichtoffenlegung sowie einer statischen Preisgestaltung. Zander-Hayat et al. (2016) argumentieren außerdem, dass aus rechtlicher Sicht Konsumenten über eine personalisierte Preissetzung informiert werden müssen.
Folglich kann die Offenlegung der dynamischen Preisgestaltung eine sinnvolle Strategie für Verkäufer darstellen und möglichen regulatorischen Anforderungen zur Offenlegung zuvorkommen.
Dynamische personenbezogene Differenzierung der Preise
Verkäufer müssen entscheiden, ob eine personenbezogene Differenzierung der Preise erfolgen soll (d. h. verschiedene Käufer zahlen zu einem Kaufzeitpunkt unterschiedliche Preise) oder nicht (d. h. zu einem Kaufzeitpunkt zahlen alle Käufer den gleichen Preis). Die wesentlichen Kriterien für diese Entscheidung sind Abschöpfung der Zahlungsbereitschaftsunterschiede zwischen Käufern, Datenanforderungen, rechtlicher Überlegungen und Konsumentenakzeptanz.
Der Verzicht auf eine personenbezogene Differenzierung hat den Nachteil, dass Unterschiede in Zahlungsbereitschaften zwischen Käufern nicht ausgenutzt werden können und somit die theoretisch mit der personenbezogenen Differenzierung verbundenen Steigerungen der Gewinne nicht möglich sind (cf. Pigou 1929). Empirisch ist es natürlich offen, ob diese theoretisch möglichen Gewinnsteigerungen überhaupt realisiert werden können, da dafür die Zahlungsbereitschaften auch bekannt sein müssen, was eine hinreichend gute Messung erfordert.
Dynamische Preisgestaltung ohne personenbezogene Differenzierung ist unkritischer in der Datennutzung, da lediglich aggregierte Nachfrageprognosen bzw. Schätzungen der Preissensibilität erforderlich sind. Damit ist diese Praxis auch gleichermaßen anwendbar für anonyme (Neu‑)Kunden sowie bestehende und damit bekannte Kunden.
Zudem sollte bei einer nicht-personenbezogenen dynamischen Preisgestaltung die wahrgenommene Preisfairness höher liegen, da, wie in Abschn. 4.1.2 erläutert, Preisunterschiede zwischen Käufern am unfairsten wahrgenommen werden (Haws und Bearden 2006). Dies sollte auch positiv auf die Kundenakzeptanz der dynamischen Preisgestaltung wirken.
Die Motivation für eine personenbezogene Differenzierung der Preise besteht in der Gewinnsteigerung, die durch eine Ausnutzung von Unterschieden in den Zahlungsbereitschaften zwischen Käufern ermöglicht wird (cf. Pigou 1929).
Allerdings hat diese Vorgehensweise mehrere Nachteile. Erstens können Zahlungsbereitschaften normalerweise nicht direkt beobachtet werden.Footnote 8 Daher muss auf andere Variablen als Indikator für die Zahlungsbereitschaft zurückgegriffen werden. Im Online-Handel stehen beispielsweise das Betriebssystem bzw. Zugriffsgerät (z. B. iOS vs. Android; Desktop, Mobile, Tablet), demographische Informationen, Standort des Nutzers, sowie vergangenes Suchverhalten (als Indikator von Produktinteresse) oder Kaufverhalten (u. a. Neukunde vs. Bestandkunde) zur Verfügung. Allerdings ist unklar, wie gut diese Indikatoren geeignet sind, Zahlungsbereitschaften zu identifizieren.
Zweitens ist eine personenbezogene dynamische Preisdifferenzierung aus rechtlicher Sicht kritisch zu betrachten. Die Verwendung von demographischen Indikatoren (z. B. Alter und Geschlecht) verstößt mit hoher Wahrscheinlichkeit gegen das Diskriminierungsverbot. Darüber hinaus erfordert eine personenbezogene dynamische Preisdifferenzierung die Verwendung personenbezogener Merkmale und somit entsprechende Einwilligungen der (potenziellen) Käufer im Rahmen der Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO). Die Bereitschaft dazu wird niedrig sein, da die potenziellen Käufer ja damit rechnen müssen, deswegen ggf. höhere Preise zu bezahlen.
Drittens besteht die Gefahr, dass Kunden eine entsprechende personenbezogene dynamische Preisdifferenzierung aufdecken, wenn beispielsweise anhand des Betriebssystems differenziert wird und ein Käufer ein iOS Firmen-Smartphone und ein privates Android-Gerät besitzt. Die Kundenreaktion in Folge einer solchen Aufdeckung ist vermutlich stark negativ und kann sich über soziale Medien schnell verbreiten, so dass der Reputationsschaden für das Unternehmen erheblich sein kann (Martin et al. 2018). Insofern bieten sich nur sozial akzeptierte Kriterien für niedrigere Preise, z. B. die schon weiter oben erwähnten Preisnachlässe für Familien, Studierende und sozial Benachteiligte, an.
In Anbetracht dieser Nachteile ist es nicht überraschend, dass Zander-Hayat et al. (2016) auch feststellen, dass es nur vereinzelt Nachweise über personalisierte Preise gibt. Eine Alternative zur personenbezogenen Preisdifferenzierung ist allerdings das personenbezogene Gewähren von Rabatten, beispielsweise über individualisierte Coupons. In einem solchen Fall wäre der allen Konsumenten angebotene Preis gleich, aber die Höhe der individualisierten Coupons unterschiedlich und so letztlich auch der effektiv zu zahlende Preis. Eine solche Vorgehensweise vermeidet eine ganze Reihe der oben aufgeführten Nachteile.
Kontextfaktoren für die dynamische Preisgestaltung
Kontextfaktoren für die dynamische Preisgestaltung sind mögliche Reaktionen auf Nachfrageänderungen, Änderung der Angebotsbedingungen, Produktcharakteristika und des Wettbewerbsverhaltens.
Nachfrage
Änderungen in der Preissensibilität und Nachfrageschocks (also Nachfrageveränderungen) sind wesentliche ökonomische Einflussfaktoren auf dynamische Preisanpassungen. Änderungen der Preissensibilität können dabei von Umwelt- bzw. Kontextfaktoren ausgelöst werden. Teil A von Abb. 3 stellt den Preisverlauf für eine Klimaanlage dar. Deren Preisanstieg ab Ende Mai könnte durch eine höhere Nachfrage aufgrund sommerlicher Temperaturen ausgelöst worden sein. Sofern eine personenbezogene dynamische Preisanpassung auf Basis von Kundencharakteristika erfolgen soll, werden Preise auf Basis nachfragebezogener Indikatoren der Preissensibilitäten, beispielsweise dem vergangenen Kauf- und Bestellverhalten, angepasst.
Angebot
Angebotsbezogene Einflussfaktoren auf die dynamische Preisgestaltung sind Lagerbestandsänderungen, das Ende der Verkaufsperiode sowie Kostenänderungen bei Einkauf bzw. Herstellung. Beispielsweise kann die Preissenkung der Klimaanlage ab Mitte/Ende Juni in Teil A von Abb. 3 durch kälteres Wetter (nachfragebezogene Preisanpassung), durch die Erhöhung des Lagerbestands (Angebot: Eintreffen einer neuen Lieferung vom Hersteller) oder in Reaktion auf Preisveränderungen des Wettbewerbs verursacht worden sein.
Produkt
Produktcharakteristika, die einen Einfluss auf die dynamische Preisgestaltung ausüben sind insbesondere die Produkthaltbarkeit bei verderblichen Produkten sowie technische Neuerungen. Darüber hinaus ist denkbar, dass Produktcharakteristika über die Zeit unterschiedlich wichtig sind. So weisen beispielsweise Nicht-Diesel-Autos besonders hohe Vorteile gegenüber Diesel-Autos auf, wenn Fahrverbote für Diesel-Autos vorliegen. Gleiches gilt für besonders gute FFP („Filtering Face Piece“)-Schutzklassen für Atemmasken in Zeiten von Pandemien wie COVID-19.
Wettbewerb
Insbesondere auf Märkten bei denen vergleichbare oder gleiche Produkte von mehreren Verkäufern angeboten werden, stellen die Preise der Wettbewerber einen bedeutenden Einflussfaktor auf dynamische Preisanpassungen dar (Chen et al. 2016).
Teil B von Abb. 3 stellt den Preisverlauf für einen Wäschetrockner dar. Ab Ende Dezember ist ein Zusammenhang der Preise zwischen dem Drittanbieter und Amazon ersichtlich: Amazon scheint einem Preisanstieg des Drittanbieters zu folgen (oder umgekehrt), wobei der Preis von Amazon jeweils wenige Euro über dem Preis des Drittanbieters liegt.Footnote 9
Die Bedeutung und Stärke von Wettbewerbspreisen auf das Ausmaß der dynamischen Preisanpassung hängt von der Preistransparenz im Markt ab. Märkte mit hoher Preistransparenz (wie beispielsweise auf dem Marktplatz von Amazon) zeigen hier stärkere wettbewerberbedingte Preisänderungen (siehe Teil B von Abb. 3 sowie Chen et al. 2016) als Märkte mit geringerer Preistransparenz (beispielsweise unverpackte Lebensmittel wie Obst und Gemüse).