1 Einordnung: Arbeits- und Gesundheitsschutz bei vorwiegend informationsverarbeitenden (geistigen) Arbeitstätigkeiten

Der Arbeits- und Gesundheitsschutz betraf lange Zeit hauptsächlich den Schutz vor physischen Gefahren, beispielsweise vor Unfällen, Schadstoffen oder schädigendem Lärm. Mit der Erweiterung um psychische Belastung sind auch mögliche Gefährdungen und Beeinträchtigungen durch eine nicht menschengerechte Gestaltung vorwiegend informationsverarbeitender (geistiger) Arbeitstätigkeiten ausdrücklich einbezogen.

Auch durch diese sind Beeinträchtigungen des Wohlbefindens als Aspekt der Gesundheit, fehlendes Erhalten und Weiterentwickeln der Qualifikation sowie Leistungsbeeinträchtigungen möglich (Schütte und Windel 2017; GDA 2018).

Von vorwiegend informationsverarbeitenden Arbeitstätigkeiten wird hier gesprochen, weil bei jeder Arbeitstätigkeit Information für ihre Regulation zu bearbeiten ist. Hier sind aber Tätigkeiten gemeint, bei denen informationsverarbeitende geistige Anforderungen die physischen übersteigen. Das betrifft keineswegs nur informationsintensive Verwaltungstätigkeiten oder Tätigkeiten mit akademischer Vorbildung (zum Beispiel Konstruieren, Lehren oder Therapieren), sondern auch Tätigkeiten in der Fertigung, etwa beim Warten und Kontrollieren automatischer Systeme.

Valide Instrumente zum Erfassen von Beeinträchtigungen durch psychische Belastung und Beanspruchung existieren. Die vorgeschriebene Gefährdungsanalyse erfasst und korrigiert Fehlbelastungen, die aufgrund mangelhafter Arbeitsgestaltung vorliegen (zum Beispiel „Tätigkeit enthält nur ausführende …Handlungen; Beschäftigte haben keinen Einfluss auf … Arbeitsmethoden“ (Leitlinie Beratung und Überwachung bei psychischer Belastung am Arbeitsplatz 2018, S. 21)).

Das Arbeitsschutzgesetz (2021) und nationale und internationale Standards, insbesondere DIN EN ISO 6385-2016 und DIN EN ISO 9241-11-2018, fordern, Arbeitssysteme präventiv menschengerecht auszulegen, nicht erst nachträglich zu korrigieren, und dabei bedingungszentriert vorzugehen.

Die geforderten Merkmale menschengerechter Gestaltung gelten für alle Arbeitstätigkeiten unabhängig von ihren Arbeitsgegenständen (Objekten, Informationen, Menschen), ihren Arbeitsaufträgen (Ausführen, Organisieren, Kontrollieren) sowie den genutzten Arbeitsmitteln. Sie gelten also auch beim Einsatz digitaler Arbeitsmittel.

2 Übertragung der generischen Merkmale menschengerechter Arbeit auf konkrete informationsverarbeitende Tätigkeiten mit digitalen Arbeitsmitteln – Wie?

Digitalisierung führt nicht im Selbstlauf zu menschengerechten Arbeitstätigkeiten (Carls et al. 2020). Sie kann als Automatisierung geistige Arbeit erübrigen – das kann auch Leistungen betreffen, die zum erhalten der Qualifikation erforderlich wären – sie kann die Tätigkeitsausführung unterstützen oder auch erschweren. Erschwernisse können unter anderem den Umgang mit digitalisierten Arbeitsmitteln bei der Generation der digital immigrants betreffen.

Das Übertragen der generischen Merkmale menschengerechter Arbeitsgestaltung muss auf vielfältige Arbeitstätigkeiten mit unterschiedlichen Arbeitsgegenständen, mit unterschiedlichen Arbeitsaufträgen und mit verschiedenartigen digitalisierten Arbeitsmitteln zur Informationsübertragung, -speicherung oder -verarbeitung erfolgen.

Das Vorgehen bei dieser Übertragung kann anknüpfen an bewährte Strategien der Arbeitsgestaltung bei früheren Stufen der Automatisierung mit der Unterscheidung von technozentrischen im Gegensatz zu anthropozentrischen Vorgehensweisen (Corbett 1985; Bailey 1989). Dabei bewährt sich ein duales, iteratives und partizipatives Vorgehen:

Das duale Vorgehen bezeichnet die abgestimmte Berücksichtigung technisch-wirtschaftlicher und menschbezogener Belange, wobei der Mensch der „Hauptfaktor“ des zu gestaltenden Arbeitssystems ist (DIN EN ISO 6385 2016, Abschnitt 3.1). Bezogen auf die Funktionsverteilung zwischen Menschen und Technik geht es dabei um die menschzentrierte Zuordnung der Arbeitsfunktionen (Humanized Task Approach Allocation) im Gegensatz zum Automatisieren des Automatisierbaren (Left Over Allocation; Bailey 1989).

Iteratives Vorgehen bezeichnet ein schrittweises – erforderlichenfalls bereits bearbeitete Schritte im Interesse der Gesamtlösung korrigierendes und evaluierendes – Vorgehen (DIN EN ISO 6385 2016, Abschnitt 3.2).

Das partizipative Vorgehen bei der Arbeitssystemgestaltung betrifft das Einbeziehen nicht lediglich technischer einschließlich informationstechnischer Expertise, sondern vor allem auch der Erfahrung der Nutzenden (Grote 1994; Heinbokel et al. 1996; DIN EN ISO 6385 2016, Abschnitte 3.1 und 3.2).

Mögliche Vorgehensweisen des anthropozentrischen Gestaltens sind (Grote 1994):

  • Das Entwerfen mehrere Tätigkeitsvarianten, deren günstigste anhand festgelegter Bewertungskriterien ausgewählt wird, oder

  • das Erstellen eines Sollentwurfs der Tätigkeiten entsprechend der allgemeingültigen Merkmale der Standards und das Konkretisieren dieses Entwurfs im Verlauf des Vorgehens (dazu im Detail Dunckel et al. 1993).

Eine organisatorische Einordnungsmöglichkeit des menschzentrierten Vorgehens ist mit der geforderten Gefährdungsbeurteilung gegeben, die das Verhüten von Gefährdungen der Leistungs‑, Lern- und Gesundheitsförderlichkeit von Arbeitsprozessen einschließt (GDA 2018).

3 Menschzentrierte Arbeitsgestaltung: Merkmale nationaler und internationaler Standards

Dieser Beitrag behandelt nicht das Gestalten der digitalen Arbeitsmittel mit ihren Schnittstellen mit den Nutzern; dazu liegen Leitlinien und Untersuchungen vor (z. B. Tegtmeier 2016; Terhoeven et al. 2016), sondern Arbeitstätigkeiten mit diesen Arbeitsmitteln.

Durch die menschzentrierte Gestaltung sollen Arbeitstätigkeiten nicht nur Gesundheit, Wohlbefinden und Leistung der Arbeitenden nicht schädigen, sondern sie sollen leistungs-, lern- und gesundheitsförderlich ausgelegt sein (Härtwig und Sapronova 2021).

Dieses menschzentrierte Gestalten soll präventiv, d. h. bereits bei der Systemgestaltung, erfolgen, bedingungszentriert sein und die Arbeitenden sollen in allen Phasen des Gestaltungsprozesses einbezogen werden, weil ihre Erfahrungen eine „unverzichtbare Wissensgrundlage darstellen“ (DIN EN ISO 6385-2016, S. 10; Arbeitsschutz-Gesetz 2021, § 4 und 5).

Die bei der Arbeitssystemgestaltung zu gewährleistenden Merkmale (DIN EN ISO 6385-2016, Abschnitt 3.6; DIN EN ISO 9241–11-2018-11, Anhang A) sind in konzeptionellen Vorarbeiten (z. B. Schweitzer 1971; Volpert 1984; Ulich 2011) und umfassenden empirischen Belegen (zusammenfassend z. B. Humphrey et al. 2007; Ulich 2011) begründet.

Es gibt bisher keine belastbaren Befunde, dass diese allgemeingültigen Gestaltungsmerkmale nicht auf vorwiegend informationsverarbeitende Arbeitsprozesse mit softwaregesteuerten Systemen (z. B. Tablets, Datenbrillen) und auf Arbeitssysteme mit selbstlernender künstlicher Intelligenz übertragen werden können (Rothe et al. 2019; Sträter 2019).

In Tab. 1 sind diese Merkmale menschzentrierter Arbeitssystemgestaltung mit Untersetzungen für vorwiegend informationsverarbeitende Tätigkeiten aufgeführt.

Tab. 1 Table 1 Merkmale menschengerechter Gestaltung von Arbeitssystemen mit digitalen Arbeitsmitteln. (Differenziert nach DIN EN ISO 6385 2016; DIN EN ISO 9241-11 2018)Characteristics of human-centered job-design with digital means

Mit der Einführung informationsvermittelnder digitaler Technik können neue Steuerungsformen der Arbeit verbunden sein, die Überlegungen zur untersetzenden Interpretation einiger Merkmale menschzentrierter Arbeit erfordern (Junghanns und Morschhäuser 2013).

Das betrifft beispielweise die Handlungsträgerschaft des arbeitenden Menschen (Frost et al. 2020) im Unterschied zu ihrer Übernahme durch autonom funktionierende Systeme künstlicher Intelligenz, die den menschlichen Entscheider ablösen. Bei einer weiten Interpretation kann diese Handlungsträgerschaft enthalten sein in der Forderung, beim Gestalten von Aufgaben sei sicherzustellen, „dass die Aufgaben einen wesentlichen Beitrag zum Arbeitssystem leisten“ (DIN EN ISO 6385-2016, Absatz 3.63). Die vorgeschlagene Untersetzung soll ein Übersehen vermeiden.

Die Formulierungen der Tab. 1 beschränken sich auf die Gestaltung von Arbeitsaufgaben und Tätigkeiten. Der Standard benennt darüber hinaus Forderungen an die Arbeitsumgebung, Arbeitsraum und Arbeitsplatz sowie die Arbeitsmittel.

Das Erfüllen der geforderten Merkmale menschzentrierter Arbeitsgestaltung entsprechend der Standards beim präventiven bedingungszentrierten Vorgehen muss erfolgen

  • bei der Funktionsversteilung zwischen dem Menschen und dem softwaregesteuerten technischen System, sowie

  • bei der Gestaltung einschließlich Verteilung (Arbeitsteilung) der bei den Arbeitenden verbleibenden Arbeitsprozesse mit digitalen Arbeitsmitteln.

Dabei ist zu berücksichtigen, dass die einzelnen kognitiven Prozesse vorwiegend informationsverarbeitender geistiger Tätigkeiten ein vernetztes System mit wechselseitigen Abhängigkeiten bilden; sie sind nicht unabhängig voneinander gestaltbar.

Teile dieses Systems – z. B. Wissen als individueller Gedächtnisbesitz – können nicht folgenlos entfernt (automatisiert) werden: Entscheidungen oder Denkprozesse können nur an Inhalten, an Gedächtnisbesitz (Wissen) erfolgen. Zugang zu Datenspeichern bedeutet nicht Besitz personalisierten Wissens. Darüber hinaus ist nicht alles Wissen bewusst, in Begriffe gefasst, damit digitalisierbar und in Datenbanken als Information abgelegt.

Mit der Verbreitung agiler, d. h. kleinschrittiger prozessbegleitender Veränderungen von Arbeitsprozessen müssten des Weiteren Arbeits- und Gesundheitsschutz-Erwägungen zum beständigen Bestandteil des agilen Vorgehens werden, sofern es menschengerechte Ergebnisse anstrebt.

4 Zu Möglichkeiten menschzentrierter Gestaltung bei vorwiegend informationsverarbeitender Erwerbsarbeit mit digitalen Arbeitsmitteln und künstlicher Intelligenz

Die exemplarische Darstellung von Gestaltungsmöglichkeiten folgt der Ordnung der Gestaltungsziele menschengerechter Arbeit in der DIN EN ISO 6385, denn Gestaltungswege dienen dem Erreichen der Ziele. Je nach Ziel werden unterschiedliche Wege erforderlich (Ulich 2011): Funktionsverteilung zwischen Mensch und Technik, Arbeitsteilung bzw. – kombination zwischen den Arbeitenden oder die Gestaltung der Arbeitstätigkeiten, z. B. als Einzel- oder Gruppenarbeit.

Im Einzelnen:

4.1 Handlungsträgerschaft

Die Handlungsträgerschaft (Entscheidungsautonomie) bei der Arbeit mit Systemen mit lernfähiger Intelligenz sollte beim arbeitenden Menschen verbleiben (Frost et al. 2020). Dadurch wird das Erleben des Ausgeliefertseins an ein nicht beeinflussbares System vermieden und negativen Folgen für die Arbeitsmotivation und die Verantwortung sowie für das Beherrschen möglicher Defekte des technischen Systems durch die Bediener vorgebeugt.

Tatsächlich fehlende Entscheidungsautonomie darf dem Arbeitenden auch nicht vor-getäuscht werden. Das läge vor, wenn Eingriffe zwar möglich sind, der Arbeitende aber das Entstehen der Ursachen eines Systemdefekts nicht verfolgen – kein mentales Modell entwickeln – konnte, oder ihm für seine Entscheidungen die erforderliche Zeit (Cowan 2010) nicht eingeräumt wird.

Damit sind Forderungen erkennbar an das präventive Gestalten digitaler Systeme:

Die Digitalisierung auch informationsverarbeitender Tätigkeiten muss mit der präventiven Arbeitsgestaltung beginnen und zunächst die menschengerechte Funktionsverteilung zwischen Mensch und Technik festlegen. Sie darf sich also nicht beschränken auf Restfunktionen, die nach der Digitalisierung des Digitalisierbaren dem Menschen verbleiben.

Enge Beziehungen bestehen zum geforderten Merkmal „Handlungsspielraum“:

4.2 Handlungsspielraum

Ausreichender – nicht unbegrenzter – Handlungsspielraum ist einerseits ein ausschlaggebendes Merkmal präventiver leistungs-, lern- und gesundheitsförderlicher Arbeitsgestaltung (z. B. Junghanns und Morschhäuser 2013; Hacker und Sachse 2014). Daher darf das Automatisieren, d. h. das Erübrigen von Arbeitstätigkeiten durch Soft- und Hardware, die Entscheidungsmöglichkeiten der Arbeitenden nicht unreflektiert beseitigen oder verringern: Der Spielraum beim Erfüllen von Arbeitsaufträgen ist erforderlich

  • für eine tätigkeitsbedingte (intrinsische) Motivierung durch Anforderungsvielfalt anstatt Einförmigkeit (Hackman und Oldham 1976),

  • für den Erwerb handlungsleitender Erfahrung (Wissen), d. h. Lernen beim Arbeiten,

  • für das Erproben geeigneter Arbeitsweisen (Strategien),

  • für die Ideenentwicklung (Kreativität/Innovation) insbesondere für rasch wechselnde kundenwunschbezogene Einzel- und Kleinserienerzeugnisse materieller oder geistiger Art.

Andererseits steigen die förderlichen Wirkungen von Handlungsspielräumen nicht unbegrenzt (Vitamin-Modell; Warr 1990).

Neue Formen der Zielvorgabe und Arbeitsorganisation („neue Steuerungsformen“, Kratzer und Dunkel 2013; Junghanns und Morschhäuser 2013) können überfordernde Tätigkeitsspielräume erzeugen (in Tab. 1 Position 4), denen arbeitsgestalterisch durch organisatorische Gestaltungsentscheidungen und technische Unterstützung mittels künstlicher Intelligenz vorgebeugt werden müsste.

Für die Arbeitsgestaltung durch Digitalisierung als Automatisierung (Beseitigung) informationsverarbeitender Arbeitstätigkeiten, Festlegen von Vorgehensweisen oder Informationsangeboten in Datenbanken ist demzufolge erforderlich, zunächst zu klären, welche Handlungsspielräume den Arbeitenden wofür belassen werden und welche Entscheidungen künstlicher Intelligenz übergeben werden sollen.

4.3 Vollständige Tätigkeiten – im Zusammenhang mit vielseitigen Anforderungen und nutzbaren Rückmeldungen

Sequenziell und hierarchisch vollständige Tätigkeiten sind unter anderem durch ihre vielseitigen, wechselnden kognitiven Anforderungen, einschließlich des Kontrollierens der eigenen Tätigkeit mit dem Erfassen von Rückmeldungen, sowie ihre tätigkeitsbedingten Motivierungsangebote leistungs-, lern- und gesundheitsförderlicher als unvollständige Tätigkeiten mit einseitigerer Inanspruchnahme vorhandener Qualifikationen und beschränkteren Lernangeboten. Sie können daher zum Erfüllen mehrerer Merkmale menschzentrierter Arbeit beitragen (Oesterreich und Volpert 1999; Rau 2004; Mustapha 2020):

  • ihre vielseitigen Anforderungen schützen vor Überforderung durch einförmig gleich-bleibende Anforderungen im Sinne der „Überforderung durch Unterforderung“, die zum Beispiel bei der Reduktion der Anforderungen nur auf das Überwachen automatisierter Abläufe für den Fall einer technischen Störung vorliegen kann (in Tab. 1 Position 7);

  • sie bewahren vor Qualifikationsabbau bei fehlender Einsatzmöglichkeit (Verlernen) von Kenntnissen, Fertigkeiten oder Fähigkeiten (Tab. 1, Position 5) und

  • bewahren vor dem Fehlen von Rückmeldungen aufgrund ihres Kontrollabschnitts (Tab. 1, Position 8),

  • und bieten dadurch Lerngrundlagen (Tab. 1 Position 6);

  • vollständige Tätigkeiten ermöglichen einen motivierenden Anforderungswechsel (Tab. 1, Position 7).

Das Konzept der vollständigen Tätigkeiten (task identity) muss ebenfalls präventiv bei der bedingungsbezogenen Arbeitsgestaltung vor dem Automatisieren (Digitalisieren) informationsverarbeitender Prozesse berücksichtigt werden. Dazu liegen Gestaltungsempfehlungen für die sequentielle Vollständigkeit (vorbereitende, organisierende, ausführende und kontrollierende Tätigkeitsabschnitte) und die hierarchische Vollständigkeit (automatisierte, wissens- und denkgestützte psychische Prozesse) von Arbeitstätigkeiten vor (Hacker und Sachse 2014).

4.4 Überforderungen

Überforderungen bei informationsverarbeitenden Tätigkeiten mit vernetzten digitalen Arbeitsmitteln werden insbesondere beklagt als Informationsflut beziehungsweise Informationsüberlastung (Antoni und Ellwart 2017; Drössler et al. 2018; Piecha 2020). Überforderungen hängen häufig zusammen mit der Vernetzung digitaler Arbeitsmittel, mit deren Hilfe nicht nur mit Kollegen, sondern auch mit Kunden, Klienten, Zulieferern beziehungsweise Dienstleistern jenseits der Grenzen von Raum und Zeit kommuniziert wird. Das Erleben von informationeller Überlastung kann einhergehen mit ausgesagtem Zeit- beziehungsweise Leistungsdruck, dem Kürzen oder Auslassen von Pausen, dem Ausdehnen der Arbeitszeit, der Arbeit in der Freizeit oder dem Auslassen erforderliche Arbeitsschritte mit möglichen kritischen Folgen.

Für komplexe geistige Arbeitstätigkeiten fehlen bisher verbindliche Zeitvorgaben und Zeit-Ermittlungssysteme, die Fehlbelastungen ausschließen könnten (Hacker 2020a). Dennoch gibt es für das menschengerechte präventive Gestalten geistiger Arbeit ohne zeitliche Überforderung auch bei der Nutzung digitaler Arbeitsmittel hilfreiche Wege:

  • das innerbetriebliche Ermitteln von Rahmenrichtwerten des Zeitbedarfs von vorwiegend informationsverarbeitenden Tätigkeiten:

    Anstelle des fehlerbehafteten Schätzens des Zeitbedarfs beziehungsweise der Fertigstellungstermine von Aufträgen mit den Gefahren des „optimistischen systematischen Planungsfehlschlusses (planning fallacy)“ (Kahneman 2012) ist der tatsächliche Zeitbedarf aller Aufträge mit ihren Arbeitsschritten zu dokumentieren. Die dokumentierten Zeitbedarfswerte sind auf vergleichbare oder anforderungsähnliche neue Aufträge zu übertragen (reference class forecasting; Lovallo und Kahneman 2003).

Zeitlichen und inhaltlichen Überforderungen kann auch bei informationsverarbeitender Tätigkeit des weiteren vorgebeugt werden durch:

  • das Unterscheiden irrelevanter Daten von Informationen.

    Information im wissenschaftlichen Sprachgebrauch bezeichnet nur Sachverhalte, die Ungewissheit bezüglich einer Aufgabe beseitigen. Im Erwerbsprozess ist das der Arbeitsauftrag. Arbeitsgestalterisch folgt, die Arbeitenden abzuschirmen von irrelevanten Daten, zum Beispiel durch technische Filterung. Dazu ist zu ermitteln, was die unerlässlichen auftragsrelevanten Informationen sind. Hilfsmittel dafür existieren (Hacker 2020b).

  • das Verhüten von Störungen

    Störungen mit der Folge des Wiedereinarbeitens erzeugen Zeitverluste und emotionale Reaktionen, die zur Überforderung beitragen können (Baethge und Rigotti 2013). Präventive organisatorische Arbeitsgestaltung muss Störungen zum Beispiel durch das Fehlen von digitaler oder analoger Information, von Arbeitsmitteln, oder Materialien, vorbeugen.

Bei Humandienstleistungen ist an weitere Überforderungsformen und deren Verringerung zu denken:

  • das Reduzieren emotionaler Beanspruchung

    Emotionale Beanspruchung in Humandienstleistungen, zum Beispiel beim Erleben von fremden Leid, ist durch Bewältigungstechniken reduzierbar, die durch Vorbildlernen im kollegialen Kontakt erworben werden können (Hacker und Looks 2007). Arbeitsgestalterisch ist die geeignete Personalzuordnung hierfür zu sichern.

    Die Digitalisierung des Erwerbs dieser Bewältigungstechniken mit der Aufforderung zum begrifflichen Fixieren des schlecht verbalisierbaren emotionalen Erlebens ist ein aktueller Forschungsgegenstand. Belastbare Ergebnisse stehen unseres Wissens noch aus (Kallel und Fourati 2018).

4.5 Unterforderung und Verlernen

Längerfristig nicht genutzte Kenntnisse, Erfahrungen, Fertigkeiten und Fähigkeiten werden verlernt. Das Übertragen geistiger Leistungen an digitale Arbeitsmittel und künstliche Intelligenz kann zur Nichtnutzung und zum Verlernen führen (Mueller und Oppenheimer 2014). Wirtschaftliche Schwierigkeiten können dabei entstehen, falls bei technischen Störungen die Beschäftigten eingreifen sollen und dafür ihre verlernten Qualifikationen benötigen.

Überdies kann langfristige geistige Unterforderung im Arbeitsprozess, zum Beispiel durch das Automatisieren geistig anspruchsvoller Bestandteile, hinausgehend über das Verlernen von Handlungswissen die möglichen alterskorrelierten mentalen Einschränkungen nicht bremsen, wie das durch anspruchsvolle kognitive Arbeitsanforderungen möglich ist. Umfangreiche Befunde dazu lieferten Then et al. (2014, 2013) sowie auch Bjork und Bjork (2011).

Für die präventive bedingungsbezogene Arbeitsgestaltung mit digitalen Arbeitsmitteln einschließlich künstlicher Intelligenz bedeutet das, einerseits strikt regelgeleitete sowie einförmig wiederholte informationsverarbeitende Tätigkeiten zu automatisieren, andererseits aber Tätigkeiten, die Denken und Lernen erfordern, den Arbeitenden zu belassen und erforderlichenfalls durch digitale Arbeitsmittel zu unterstützen.

4.6 Lernförderliche Arbeitsgestaltung

Lernförderliche Arbeitsgestaltung soll das Lernen beim Arbeiten ermöglichen. Für das Gestalten von Arbeit mit digitalen Arbeitsmitteln und künstlicher Intelligenz bedeutet das:

  • Lernen darf nicht durch das Automatisieren der kognitiv anspruchsvollen Tätigkeiten mit Lernanforderungen erübrigt werden.

  • Digitale Arbeitsmittel sollten das Lernen nicht nur nicht behindern, sondern fördern, und zwar nicht allein das Erlernen des Umgangs mit diesen Arbeitsmitteln, sondern auch das Aneignen von Kompetenzen zum Bewältigen veränderter Anforderungen und zum Entwickeln innovativer Prozesse und Produkte. Eine Gestaltungsempfehlung für „informatisierte Arbeit“ gibt Sinn (2014, S. 9). Er empfiehlt das Verknüpfen von ausführenden mit gestaltenden (innovierenden) Tätigkeiten. Dadurch wird gestützt auf vernetzte digitale Information die Arbeitsteilung im Sinne vollständiger Tätigkeiten verringert.

  • Nicht-digitale Lerngegenstände (schweigendes Wissen) und Lernprozesse (Vorbildlernen, Lerntandems etc.) dürfen nicht übergangen oder behindert werden (Huchler 2017). Implizites („schweigendes“) Wissens bildet eine „Sphäre des Nicht-Digitalisierbaren“ (Hoppe 2020, S. 69): Menschen wissen mehr als sie aussagen können (Sternberg 1995). Das schweigende Wissen ist auch in zeitkritischen Situationen und in schlecht analysierbaren vernetzten, dynamischen Situationen verfügbar und nützlich beim Übertragen von Wissen und Können nach integrierter Ähnlichkeit (Herbig und Büssing 2003). Damit ist gerade dieses nicht in digitalisierbaren Begriffen gefasste Handlungswissen eine wesentliche Grundlage für Tätigkeiten in hochkomplexen Situationen sowie für Innovationen.

Eine Gestaltungsempfehlung ist das hybride Vorgehen. Es verbindet das rechnergestützte Vermitteln digitalisierter Lerngegenstände mit dem sozialen Vermitteln impliziten Handlungswissens und begrifflich nur unscharf fassbarer Information beispielsweise im Vorbildlernen.

  • Bei der menschzentrierten Gestaltung komplexer informationsverarbeitender Arbeitstätigkeiten muss schließlich dem Entstehen motivationshemmender Befürchtungen vor einer „Wissensenteignung“ durch die Nötigung der Arbeitenden, ihre Erfahrung in Datenbanken einzugeben, vorgebeugt werden. Eine Möglichkeit dafür ist, in moderierten Kleingruppenprozessen individuelle Erfahrungen auszutauschen, zu diskutieren und gemeinsam optimales Wissen zu erarbeiten, wobei keiner ärmer und jeder reicher an Wissen wird. Erforderlichenfalls kann dieses Kooperationsergebnis digital dokumentiert werden.

Die Rolle und die Gestaltungsmöglichkeiten vielseitiger Anforderungen (in Tab. 1 Punkt 7), sowie ausreichender Rückmeldungen (in Tab. 1 Punkt 8) wurden im Zusammenhang mit der Anforderung an das Gestalten vollständiger Tätigkeiten (Abschnitt 3.3) erörtert.

4.7 Ermöglichen sozialer Unterstützung

Zum Vermeiden sozial isolierter Arbeit (Tab. 1, Punkt 9) sollte die präventive bedingungsbezogene Arbeitsgestaltung insbesondere gegenseitige Unterstützungsmöglichkeiten der Arbeitenden vorsehen, ohne Unterstützung aufzuzwingen. In der herkömmlichen Fertigung bewähren sich dafür Job Rotation und wechselseitige Vertretungen, die Einblick in die Aufgaben von Arbeitskollegen als Voraussetzung effektiver Unterstützung schaffen.

Digitale Arbeitsmittel ermöglichen durch ihre Vernetzung den zwischenmenschlichen Informationsaustausch auch jenseits der Grenzen von Raum und Zeit. Derzeit wird untersucht, inwieweit digitaler Austausch für das Erleben sozialer (mitmenschlicher) Unterstützung allein ausreicht. Für das Erleben sozialer Unterstützung könnten hybride, herkömmliche und digitale, Lösungen erforderlich werden, die bei der Gestaltung digitalisierter informationsverarbeitender Tätigkeiten berücksichtigt werden müssten.

Der soziale Austausch sollte nicht nur zeitversetzt via E‑Mail, sondern auch als Gespräch stattfinden, wobei mögliche Wirkungsunterschiede von Video- und Telefonkonferenzen zu berücksichtigen sind (Tomprou et al. 2021).

5 Fazit

Auch vorwiegend informationsverarbeitende (geistige) Erwerbstätigkeiten mit digitalen Arbeitsmitteln und künstlicher Intelligenz müssen die generischen Merkmale menschzentrierter Arbeitsgestaltung erfüllen (z. B. DIN EN ISO 6385-2016).

Diese menschzentrierte Gestaltung soll präventiv, also nicht erst bei vorliegenden Beeinträchtigungen als „Reparatur-Ergonomie“, erfolgen.

Sie soll auch bei geistigen Tätigkeiten vorrangig bedingungszentrierte Maßnahmen entwickeln; Verhaltensanforderungen sind nachrangig (Arbeitsschutz-Gesetz).

Beim erforderlichen Übertragen der Merkmale des oben benannten Standards auf die vielfältigen konkreten informationsverarbeitenden Tätigkeiten mit digitalen Arbeitsmitteln können Strategien helfen, die sich bei vorangehenden Automatisierungsstufen bewährten (Corbett 1985; Bailey 1989; Grote 1994; Oesterreich und Volpert 1999; Heinbokel et al. 1996; Rau 2004): Dabei handelt es sich um das skizzierte duale, iterative und partizipative Vorgehen.

Die Einordnung in die geforderte Gefährdungsanalyse kann dafür eine organisatorische Grundlage bieten.

Bei der Anwendung der generischen Merkmale menschzentrierter Arbeitsgestaltung auf konkrete geistige Arbeitstätigkeiten sind die Abhängigkeiten der mentalen Regulationskomponenten geistiger Tätigkeiten voneinander zu beachten: Beispielsweise kann die beabsichtigte Entlastung des Gedächtnisses mit einer unbeabsichtigten Denkerschwernis einhergehen.

Künftige Forschung muss klären, wie und inwieweit Klassen geistiger Arbeitstätigkeiten mit Einsatz digitaler Arbeitsmittel gebildet werden können, für die es Systeme von klassenspezifischen menschengerechten Gestaltungslösungen gibt.