1 Hintergrund

Bereits in den vergangenen Dekaden, noch weit vor der so genannten vierten industriellen Revolution, zeichnete sich im Zuge einer sich verändernden Erwerbsarbeit eine deutliche Verschiebung hinsichtlich der Arbeitsbelastungen ab, im Zuge der Digitalisierung erfährt diese Veränderung jedoch eine neue Qualität. Neben dem noch immer annähernd gleich hohen Niveau der Belastungen durch klassische Gefährdungen – wie z. B. durch schwere körperliche Arbeit, Gefahrstoffe, Lärm – wird seit einigen Jahren insbesondere auf eine Zunahme psychischer Arbeitsanforderungen und psychosozialer Belastungen verwiesen. Dieser Anstieg wird mit dem Wandel der Arbeitswelt und korrespondierenden Entwicklungen wie etwa Flexibilisierung, Arbeitsverdichtung, Entgrenzung und Prekarisierung begründet (Lohmann-Haislah 2013; Rothe et al. 2017; Ulich 2013).

Darüber hinaus ist gut belegt, dass psychische Belastungen und beruflicher Stress psychische Störungen mitverursachen und Einfluss auf ihren Verlauf nehmen können (Junne et al. 2018). Folglich ist der Anstieg psychischer und psychosozialer Belastungen als mitverantwortlich für die Zunahme psychischer Störungen im Erwerbskontext bzw. als Risikofaktor anzusehen (BPtK 2013; Rau und Henkel 2013; Seidler et al. 2014; Stansfeld und Candy 2006; Virtanen et al. 2012).

Diesbezüglich kann in Deutschland für den Zeitraum 2007–2017 ein Anstieg der Arbeitsunfähigkeitsfälle bedingt durch psychische Störungen von 45,5 % festgestellt werden. Dieser Trend spiegelt sich in den Daten der GKV-Statistik wider und geht über alle Kassen hinweg mit einer durchschnittlichen Erkrankungsdauer von 38 AU-Tagen pro Fall bei Vorliegen einer psychischen Störung einher. Mit Blick auf das Arbeitsunfähigkeitsvolumen liegen psychische Störungen mit 27.000 Arbeitsunfähigkeitstagen pro 10.000 Pflichtmitglieder nach den Muskel-Skelett-Erkrankungen auf Platz zwei aller erfassten Krankheitsgruppen (AOK 2018; Busch 2017).

Inwieweit es sich bei der beschriebenen Zunahme um eine tatsächliche Steigerung der Prävalenz handelt oder ob diese Effekte zumindest anteilig einer sensibleren Diagnostik und einer Entstigmatisierung psychischer Störungen geschuldet sind, kann derzeit nicht abschließend beantwortet werden (Jacobi und Linden 2018; Stahmeyer et al. 2019). Weitgehend unstrittig ist jedoch die Tatsache, dass psychische Störungen im Frühverrentungsgeschehen eine prominente Rolle innehaben: Gegenwärtig ist nahezu jede zweite Frühverrentung (43 %) auf eine psychische Erkrankung zurückzuführen (Jacobi et al. 2014; Meyer et al. 2018; DRV 2019).

In Deutschland stellen psychische Erkrankungen folglich eine zentrale Größe im Arbeitsunfähigkeits- und Verrentungsgeschehen dar und gehen mit erheblichen individuellen und volkswirtschaftlichen Belastungen einher. Vor dem Hintergrund des sich vollziehenden demografischen Wandels und einer damit tendenziell abnehmenden Arbeitnehmerschaft ist diese Entwicklung gleichermaßen von vitaler unternehmerischer Bedeutung.

In Anbetracht dieser Ausgangssituation stellt sich unweigerlich die Frage, welche Konsequenzen sich diesbezüglich aus dem voranschreitenden Wandel der Arbeitswelt hin zu einer Industrie/Arbeit 4.0 ergeben. Von besonderem Interesse ist dabei, welchen Einfluss der technologische Wandel in Organisationen auf die psychische und physische Gesundheit der Beschäftigten hat.

1.1 Das Projekt „Gesunde Arbeit in Pionierbranchen (GAP)“

Von diesen Annahmen und Befunden ausgehend untersuchte das vom BMBF geförderte Verbundprojekt „Gesunde Arbeit in Pionierbranchen (GAP)“ (Laufzeit 2016 bis 2019) den Einfluss der Digitalisierung und des technologischen Wandels auf die psychische und physische Gesundheit sowie Strukturen und Maßnahmen des Arbeits- und Gesundheitsschutzes. Weiterhin sollten erste Empfehlungen und Handlungshilfen für einen „Arbeitsschutz 4.0“ abgeleitet werden.

Zum Zeitpunkt der Antragstellung als auch zum Projektbeginn bot der Kenntnisstand über Digitalisierung und Vernetzung betrieblicher Prozesse und ihre Folgen für Arbeit, Gesundheit und Beschäftigte noch zu wenig Antworten für Gestaltungsfragen. Es stand zwar die technologische Vielfalt von Industrie 4.0 im Vordergrund des öffentlichen Interesses, über Wirkungen auf die Arbeitnehmer und deren Gesundheit sowie sich verändernde betriebliche Praxen war jedoch wenig bekannt. Im Diskurs um Industrie/Arbeit 4.0 lag der Fokus primär auf ökonomischen und technischen Potenzialen sowie auf Wettbewerbsfähigkeit bzw. Standortsicherung. Die Perspektive der Arbeitnehmer respektive die konkreten Rückwirkungen auf Arbeitskraft blieben lange Zeit unbeachtet (Buhr 2015; Butollo und Engel 2015; Gerst 2015).

Übersehen wurde dabei konsequent die Tatsache, dass die (psychische) Gesundheit von Arbeitnehmern eine zentrale Ressource für Lern- und Leistungsfähigkeit darstellt und darüber hinaus in hohem Maße mit den Bedingungen der Erwerbsarbeit zusammenhängt. Es galt und gilt folglich, das Potenzial des technologischen Wandels und die Folgen für Arbeit und einen zukunftsfähigen Arbeits- und Gesundheitsschutz abzuleiten.

Zentrale Fragen zu Projektbeginn waren daher:

  1. 1.

    Welche technologischen Veränderungen in Richtung Digitalisierung und Industrie 4.0 finden wir in der betrieblichen Praxis vor?

  2. 2.

    Welche Veränderungen in der Arbeitsorganisation und für die Qualität von Arbeit sowie für die Anforderungen an Beschäftigte ergeben sich aus einem gesteigerten Einsatz von digitalen Technologien?

  3. 3.

    Wie wirken digitale Technologien auf die psychische und körperliche Gesundheit von Beschäftigten, nicht nur bei der Nutzung, sondern auch in der Einführung?

Der Fokus des Dresdner Teilvorhabens lag innerhalb des Verbundes auf den Zusammenhängen zwischen Digitalisierung und (psychischer) Gesundheit sowie den resultierenden Implikationen für die Entwicklung von Instrumenten eines zukunftsfähigen Arbeits- und Gesundheitsschutzes. So stellte sich als weitere zentrale Frage:

  1. 4.

    Welche Anpassungserfordernisse ergeben sich aus der Entwicklung für den Arbeits- und Gesundheitsschutz?

Im vorliegenden Beitrag werden diese Fragestellungen des Gesamtprojektes mittels einer Auswahl von Methoden und Ergebnissen des Teilvorhabens der TU Dresden beantwortet. Die Ergebnisse des gesamten Projektes finden sich in Engel et al. (in Vorbereitung).

2 Methode

Um den stark national geprägten Industrie 4.0 Diskurs um einen internationalen Blick auf Digitalisierungsprozesse und ihre Wirkungen zu ergänzen sowie zu klären, welche Auswirkungen von Digitalisierung und technologischem Wandel auf die Gesundheit der Beschäftigten aus der internationalen Forschung bereits bekannt sind, sollten bestehende Forschungsbefunde mit eigenen empirischen Analysen verbunden werden. Zur Beantwortung der Fragestellungen des Projektes wurde ein mixed methods Ansatz gewählt, wobei im vorliegenden Beitrag der Schwerpunkt auf zwei Methoden des gesamten Projektvorhabens gelegt wird.

Zur Darstellung des aktuellen Forschungsstandes zu gesundheitlichen Folgen des technologischen Wandels (Industrie 4.0) wurde eine systematische Literatursichtung vorgenommen. Den empirischen Forschungszugang stellte ein qualitativ-exploratives Vorgehen dar, das durch die Erstellung von Unternehmensfallstudien realisiert wurde. Die methodischen Zugänge wurden miteinander verknüpft, indem die Ergebnisse Literatursichtung bei der Konstruktion des Interviewleitfadens Berücksichtigung fanden.

Beide Methoden und deren Ergebnisse sind nachfolgend kurz dargestellt. Der Fokus liegt dabei auf den Betriebsfallstudien, da diese ein zentrales empirisches Fundament der hier vorgestellten Projektergebnisse bilden.

2.1 Literatursichtung

In Anbetracht der beschriebenen Situation und zur Abbildung des internationalen Forschungsstandes bezüglich der Wirkungen von Digitalisierungsprozessen wurde gemeinsam mit den Verbundpartnern der Universitäten Greifswald und Jena ein systematischer Review (Bretschneider et al. 2019) durchgeführt.

Das Review wurde zur Beantwortung von Fragestellung (3) Wie wirken digitale Technologien auf die psychische und körperliche Gesundheit von Beschäftigten, nicht nur bei der Nutzung, sondern auch in der Einführung? herangezogen. Dabei interessierte hier vor allem der Bereich der Produktion, d. h. die Industrie 4.0.

Die Literatursichtung wurde daher von folgenden Teilfragestellungen geleitet:

  1. 1.

    Wie gestaltet sich der Zusammenhang zwischen Merkmalen der Industrie 4.0 in Unternehmen und der psychischen und körperlichen Gesundheit der Beschäftigten?

  2. 2.

    Welche Änderungen in der gesundheitlichen Belastung ergeben sich durch die Einführung von Industrie 4.0-Technologien?

2.1.1 Ein- und Ausschlusskriterien

Um die Forschungsfrage entsprechend den PEO-Kriterien (Khan et al. 2004) zu operationalisieren, wurden Ein- und Ausschlusskriterien (Tab. 1) definiert. Dabei bedeutet „P“ die (Untersuchungs‑)Population, „E“ die Exposition und „O“ das Outcome (Ergebnis). Welche Zusammenhänge finden sich in der (P) arbeitenden Allgemeinbevölkerung zwischen (E) der Arbeit, die durch Industrie 4.0 Merkmale gekennzeichnet ist und (O) der körperlichen und psychischen Gesundheit? Die Ein- und Ausschlusskriterien wurden um methodische, zeitliche und sprachliche Aspekte erweitert. Eingeschlossen wurden nur prospektive Kohortenstudien, Interventionsstudien, experimentelle Studien, Querschnittsstudien, Metaanalysen und systematische Reviews. Ferner wurden ausschließlich englisch- und deutschsprachige Studien ab dem Publikationsjahr 2000 einbezogen.

Tab. 1 Table 1 Ein- und AusschlusskriterienInclusion and Exclusion criteria

2.1.2 Datenbankrecherche

Die elektronische Recherche (siehe Abb. 1 für das Prisma-Flussdiagramm) erfolgte sowohl in fachspezifischen Datenbanken („DBS“: u. A. Pub-Med) als auch in generischen Datenbanken („DBG“: Web of Science). Die Grundlage stellte ein an den oben dargestellten Ein- und Ausschlusskriterien ausgerichteter Suchstring dar. Er enthielt sämtliche Begriffe, die die Exposition, die Population und das Outcome abbildeten. Dabei wurde auf zum Teil bereits publizierte Suchstrings zurückgegriffen:

Abb. 1 Fig. 1
figure 1

PRISMA Flussdiagramm

PRISMA Flowchart

Population (P): Eingrenzung auf den Arbeitskontext mit angepasstem validierten Suchstring (Mattioli et al. 2010).

Exposition (E): Merkmale der Industrie 4.0 auf Grundlage des Fraunhofer-Glossars und der BMWi-Studie (BMWi 2015).

Outcome (O): Psychisches Befinden, Motivation und Leistung in Anlehnung an bestehenden Suchstring (Drössler et al. 2016) sowie physische Outcomes und körperliches Befinden (Neuentwicklung).

Nach Bereinigung der Dubletten verblieben 4782 Studien (DBS) bzw. 30.785 Studien (DBG) für das Title/Abstract Screening. Das Title/Abstract-Screening (DBS: abgeschlossen; DBG: bisher 13.550) durch je zwei unabhängige Rater führte zu einer Reduktion auf 44 (DBS) bzw. 47 (DBG) Publikationen, welche Eingang in das Volltext-Screening fanden. Die ebenfalls durch zwei unabhängige Rater durchgeführte Volltextsichtung führte zu einer weiteren Reduktion auf bisher zehn Studien (Stand Oktober 2018) zur Datenextraktion (vgl. Abb. 1). Die häufigsten Ausschlussgründe stellten Design, methodische Qualität und ein fehlender Bezug zum Kontext Industrie 4.0 und Digitalisierung dar. Die Ergebnisse der eingeschlossenen Studien wurden extrahiert und für jede Studie eine narrative Zusammenfassung mit deren zentralen Ergebnissen angefertigt.

2.1.3 Zusammenfassung der Ergebnisse

Die final eingeschlossenen zehn Studien lassen sich thematisch schließlich drei Domänen zuordnen: Akzeptanz der Technologien, körperliche Folgen des Technologieeinsatzes und psychische Folgen des Technologieeinsatzes. Nachfolgend werden die Ergebnisse zusammengefasst und erste Schlussfolgerungen abgeleitet.

  1. 1.

    Akzeptanz von Technologien & Automatisierung (2 Studien: Waytz und Norton 2014; Zanchettin et al. 2013): Die Akzeptanz technologischer Veränderungen (z. B. Wegfall von Arbeitsplätzen und Akzeptanz des „Kollegen“ Roboter) ist höher, sofern der Arbeitersatz „gerechtfertigt“ bzw. nachvollziehbar erscheint und sofern die Maschine menschenähnliche Bewegungsmuster und „Verhaltensweisen“ aufweist. Für den Bereich der stärker emotionsorientierten Tätigkeiten erhöht sich die Akzeptanz des Technologieeinsatzes, wenn bspw. Roboter eingesetzt werden, welche den Eindruck vermitteln zu Emotionalität fähig zu sein. Dies impliziert Potenziale für die förderliche Arbeits-Gestaltung der Mensch-Maschine-Interaktion und deutet darauf hin, dass die Technik unablässig an die Bedürfnisse des Menschen anzupassen ist, um die Potenziale zu nutzen, neu entstehende psychosoziale Belastungen und Stressbelastungen i. S. von Fehlbeanspruchungen zu minimieren und eine bessere Akzeptanz zu erreichen.

  2. 2.

    Automatisierung & physische Belastungen/Beanspruchungen (4 Studien: Arvidsson et al. 2012; Giberti et al. 2014; Kraft et al. 2004; Teodoroski et al. 2012): Neben positiven Effekten der Automatisierung (z. B. Verminderung von Belastungen, ungünstigen Körperhaltungen und Arbeitserleichterung i. A.) stehen neue physische wie psychische Belastungen bzw. die Verschiebung von Belastungen innerhalb der Bereiche gegenüber: Wird das Risiko einer Fehlbeanspruchung durch Automatisierung minimiert, so zeigt sich nicht selten eine Risikozunahme in anderen Bereichen. Bei physischen Belastungen fällt die „Automatisierungsbilanz“ ausgesprochen ambivalent aus: Um positive Effekte nutzbar zu machen und zugleich neu aufgetretene physische Belastungen bzw. Fehlbeanspruchungen zu minimieren bzw. auszuschalten, scheint es notwendig, die technischen Systeme stärker am Arbeitnehmer anzupassen.

  3. 3.

    Automatisierung & psychische Effekte (4 Studien: Cummings et al. 2016; Meshkati 2006; Oh und Park 2016; Tarafdar et al. 2015): Zentrales Thema ist die Verschiebung von Aufgaben aus dem ausführenden Bereich in den überwachenden Bereich. Als problematisch werden Belastungen wie Monotonie genannt, die nun nicht mehr durch repetitive Tätigkeiten, sondern durch fehlende Varianz und ausbleibende Ereignisse entstehen. Gleichzeitig wird das Problem des Dequalifizierungseffekts genannt, der durch ausbleibende Notwendigkeit des Eingreifens bei reinen Überwachungsaufgaben auftreten kann. Ein anregendes, die Aufmerksamkeit förderndes Tätigkeitsdesign stellt hierbei eine zentrale Stellschraube dar, um Effekte von Monotonie und Sättigung zu minimieren bzw. auszuschließen.

Betrachtet man stärker die Digitalisierung, so zeigt sich, dass Technostress, der sich aus der Komplexität und Unsicherheit neuer Informationstechnologien ergibt, negativ auf die Arbeitszufriedenheit wirken kann. Die erfolgreiche Einführung digitaler Technologien setzt den Einbezug der Beschäftigten voraus. Dabei ist neben der Vermittlung von Sachkenntnissen die Förderung persönlicher Kompetenzen, wie z. B. der Selbstwirksamkeitsüberzeugung, mit den Technologien auch kompetent umgehen zu können von Bedeutung.

Als Gesamtbild aller eingeschlossenen Studien zeigt sich eine Ambivalenz der Automatisierung und korrespondierender Prozesse. Deutlichen Entlastungspotenzialen stehen Belastungsverschiebungen und das Auftreten neuer Belastungen gegenüber. Deutlich wird ebenfalls, dass vor allem die Automatisierung im Fokus der Studien steht. Digitalisierte und vernetzte Prozesse im Sinne der „smart factory“ werden (bisher noch) nicht betrachtet.

Bezüglich der Automatisierung komplexer technologischer Kontrollsysteme wird resümierend festgehalten, dass Maschinen den Menschen nicht vollumfänglich ersetzen können und Mensch und Maschine sich komplementär ergänzen. Folglich ist es angebracht, die entsprechenden Arbeits- und Interaktionssysteme am Menschen auszurichten und für diesen förderlich zu gestalten. So ist zu berücksichtigen, welche Arbeitsinhalte sinnvoll zu ersetzen sind (z. B. eher kognitionsorientierte und weniger emotionsorientierte Bestandteile der Arbeit).

Weiter ist zu berücksichtigen, dass menschenähnliche Roboter mit einer höheren Akzeptanz bei den Beschäftigen verbunden sind. Auf mögliche Belastungsverschiebungen innerhalb der körperlichen Belastungen bzw. von körperlichen hin zu psychischen Belastungen ist unbedingt zu achten.

2.2 Betriebsfallstudien

In Anbetracht des Hintergrunds und des auch nach Sichtung internationaler Publikationen überschaubaren Forschungsstandes wurde im GAP-Projekt ein exploratives Vorgehen gewählt und mittels der Erstellung von Unternehmensfallstudien realisiert. Diese Fallstudien stellen einen wesentlichen Bestandteil der im Projektverlauf gewonnenen Erkenntnisse dar.

Grundlage der Fallstudien bildeten halbstandardisierte, leitfadengestützte Experteninterviews mit verschiedenen betrieblichen Akteuren, betriebliche Dokumente und Begehungsprotokolle aus den Unternehmen. Die Methode der explorativen Fallstudie wurde explizit gewählt, um verschiedene Akteursperspektiven zu berücksichtigen und um komplexe Strukturzusammenhänge sowie Prozessverläufe abbilden zu können (Meyer 2003; Pflüger et al. 2010).

Der verwandte Interviewleitfaden wurde im Rahmen des Projektes auf der Grundlage des aktuellen Forschungsstandes, unter Verwendung des Fraunhofer Glossar Industrie 4.0 und unter Einbezug der Ergebnisse der Literatursichtung entwickelt. Beispielsweise wurden die Erkenntnisse bezüglich einer sinnvollen Auswahl der zu ersetzenden Tätigkeiten und einer die Beschäftigten einbindenden Einführung neuer Technologien berücksichtigt, indem gezielt die Gründe für eine Automatisierung, die Vorgehensweisen während der Automatisierungsprozesse und die Beteiligung der Beschäftigten als Fragestellungen abgebildet wurden. Auch die vorab beschriebenen Belastungsverschiebungen und das mögliche Auftreten neuer Belastungen wurden als spezifischer Fragekomplex in den Leitfaden integriert.

Mit Hilfe der Fallstudien sollten die Fragen (1) Welche technologischen Veränderungen in Richtung Digitalisierung und Industrie 4.0 finden wir in der betrieblichen Praxis vor?; (2) Welche Veränderungen in der Arbeitsorganisation und für die Qualität von Arbeit sowie für die Anforderungen an Beschäftigte ergeben sich aus einem gesteigerten Einsatz von digitalen Technologien? und (3) Wie wirken digitale Technologien auf die psychische und körperliche Gesundheit von Beschäftigten, nicht nur bei der Nutzung, sondern auch in der Einführung? vertiefend beantwortet werden.

Die thematischen Schwerpunkte der Interviews bildeten folglich technologische Veränderungen und Digitalisierungsprozesse in den letzten Jahren, damit verbundene Veränderungen der Arbeitsorganisation, der Belastungen und der Gesundheit aus Sicht der befragten Beschäftigten und Auswirkungen auf den betrieblichen Arbeits- und Gesundheitsschutz.

Die teilnehmenden Personen wurden zu Beginn der Interviews mittels einer Studieninformation über Studienziele, Untersuchungsablauf, eingesetzte Methoden sowie über Verwendung und Speicherung der Daten informiert. Eine schriftliche Einverständniserklärung über die freiwillige Teilnahme wurde eingeholt. Die Interviews wurden aufgezeichnet und transkribiert. Anschließend wurden die Daten mittels der Software MAXQDA einer thematischen Analyse (Braun und Clarke 2006) unterzogen und darauf aufbauend insgesamt vier Betriebsfallstudien erstellt.

2.2.1 Stichprobe

Die Interviews wurden in vier Unternehmen unterschiedlicher Größe und Branchen durchgeführt. Die Spannbreite der Unternehmen reicht dabei von Großunternehmen mit stark automatisierter Großserienfertigung über klassische KMU mit Insellösungen bis hin zum gerade in ersten Digitalisierungsschritten befindlichen Spezialbetrieb. Die Unternehmen sind den nachfolgend gelisteten Bereichen zuzuordnen und die jeweiligen Interviewpartner dargestellt:

  • Unternehmen 1: Hersteller von Roboter- und Automatisierungslösungen

    Interviewpartner:

    • Abteilungsleiter Mechanik-Montage

    • Abteilungsleiter Elektro-Montage

    • kaufmännischer Leiter/stellvertretender Geschäftsführer

    • Personalreferentin

    • Leiterin Lagerliftsystem

    • Mitarbeiter Lagerliftsystem

    • Mitarbeiterin Lagerliftsystem

  • Unternehmen 2: Mikroelektronikhersteller

    Interviewpartner:

    • betriebliche Sozialberaterin

    • Leiter Arbeitssicherheit

    • Betriebsarzt

    • Leiterin Human Resources

    • Projektleiter Automatisierung

    • Ingenieur Automatisierung

    • Leadingenieur Maintenance Engineering

  • Unternehmen 3: Software-Dienstleister

    Interviewpartner:

    • Mitarbeiterin betriebliches Gesundheitsmanagement

    • Mitarbeiter Business Technology/Arbeitsschutz

    • Mitarbeiter Innovation

    • Leiter People and Ressources

    • Mitarbeiter Consulting Social Business Technology

    • Mitarbeiter Process Improvement and Excellence (Mitglied des Betriebsrats)

  • Unternehmen 4: Hersteller von Spezialglas

    Interviewpartner:

    • Geschäftsführung

    • Abteilungsleitung Arbeitsvorbereitung

    • Abteilungsleitung Produktentwicklung

    • Abteilungsleitung Vertrieb

    • Mitarbeiter Produktion

    • Mitarbeiter Zuschnitt

In jedem Unternehmen wurden Interviews mit sechs bis sieben betrieblichen Akteuren aus unterschiedlichen Unternehmensbereichen geführt und durch Arbeitsbeobachtungen und Betriebsbegehungen ergänzt. Im Folgenden sind die Unternehmen kurz beschrieben und die jeweils zentralen Ergebnisse zusammengefasst dargestellt.

Unternehmen 1, der Hersteller von Roboter- und Automatisierungslösungen ist ein mittleres im internationalen Umfeld agierendes Unternehmen, das mit der Digitalisierung der Geschäftsprozesse und der Einführung eines automatisierten Lagerliftsystems auf dem Weg zu einem stärker digitalisierten und automatisierten Arbeitsumfeld ist. Im Zuge dieser Umstrukturierungen wurden seitens der Befragten gestiegene Qualifikationsanforderungen, Arbeitsverdichtung und eine steigende Menge der zu verarbeitenden Information als belastungsrelevant thematisiert. Als Entlastungen wurden insbesondere der Rückgang körperlicher Belastungen im Lagerbereich genannt und in Zusammenhang mit dem dort realisierten Automatisierungsprozess gebracht.

Unternehmen 2, der Mikroelektronikhersteller ist als international agierendes Großunternehmen durch einen hohen Automatisierungsgrad gekennzeichnet, was sich in einer integrierten Fertigungssteuerung und Überwachung mittels RFID Technologie sowie einer gänzlich papierlosen Fertigung niederschlägt. Im Zuge der fortschreitenden Digitalisierung und Automatisierung zeigt sich ein Rückgang manueller Bedienaufgaben bei gleichzeitiger Zunahme von Überwachungs- und Entscheidungsaufgaben. Als Veränderungen im Belastungsgeschehen wurden insbesondere eine Aufgabenverdichtung, die Zuständigkeit für größere Anlagenbereiche und eine damit einhergehende Diskrepanz zwischen Qualifikation und Handlungserfordernissen sowie der Rückgang sozialer Kontakte genannt. Ferner wurde auch die mögliche Leistungsüberwachung durch technische Systeme angesprochen. Auf der Ressourcenseite wurden vor allem die Entlastung von körperlich schwerer und ergonomisch ungünstiger sowie ein damit im Zusammenhang stehender Rückgang körperlicher Beschwerden ins Feld geführt.

Unternehmen 3, der als Großunternehmen zu beschreibende Software-Dienstleister befindet sich, obschon genuin in einem digital geprägten Metier agierend, in der fortschreitenden Digitalisierung und Automatisierung interner Prozesse, was sich unter anderem in der verstärkten Nutzung von Algorithmen, Programmen und automatisierten Zeichnungsketten sowie einem zunehmenden Einsatz von Cloud-Technologien niederschlägt. Die Interviewpartner beschrieben vor allem die deutlich kürzeren Innovationszyklen in Kombination mit dem schnellen Veralten von Wissen als zentrale Veränderung. Diese geht mit einer Belastungszunahme durch steigenden Leistungsdruck, eine Verdichtung von Arbeit und mit einem deutlichen Anstieg der zu verarbeitenden Informationsmenge einher. Generell wird die Zunahme psychischer Belastung und ein gesteigertes Stresserleben berichtet. Als positiv wurde hingegen der Rückgang an rein administrativen und repetitiven Programmieraufgaben bei gleichzeitiger Zunahme kreativer Aufgaben beschrieben.

Unternehmen 4, der Hersteller von Spezialglas ist ein Kleinunternehmen, in dem Digitalisierung gegenwärtig eher im Office- bzw. indirekten Bereich stattfindet. Im Fertigungsprozess bzw. im direkten Bereich ist Digitalisierung gegenwärtig noch eher eine Zukunftsvision bzw. befindet sich das Unternehmen in der Planungs- und/oder Einführungsphase entsprechender Maßnahmen. Als mit dem Digitalisierungsprozess in Verbindung stehende Belastungen wurden die Anreicherung von Tätigkeiten als Verdichtungsproblem, psychische Belastungen aus zunehmender Informations- und Arbeitsdichte sowie die Befürchtung zunehmender Überwachung und Kontrolle geäußert bzw. antizipiert. Demgegenüber beschrieben die Interviewpartner physische Entlastung durch den Einsatz von Handlinggeräten im direkten Produktionsbereich, einen sinkenden Dokumentationsaufwand und die bessere Nachvollziehbarkeit von Arbeitsschritten sowie erleichterte Fehlersuche durch den zunehmenden Einsatz unternehmensspezifischer Software als Entlastungspotenziale.

Alleinstellungsmerkmal des Unternehmens 4 und daher explizit hervorzuheben ist eine hoch transparente, familiäre Unternehmenskultur. Diese wurde von den Beschäftigten als wichtige Ressource im Transformationsprozess beschrieben. So werden zwar insgesamt die beschriebenen neuen Belastungen erwartet, allerdings wurde auch klar geäußert, dass die als stark erlebte Mitarbeiterorientierung als wichtiger „Puffer“ wirken kann und mögliche resultierende Belastungsfolgen als weniger wahrscheinlich bzw. weniger ausgeprägt antizipiert werden. Obschon der Einfluss von sozialen Beziehungen und Führungshandeln auf Arbeitszufriedenheit seit längerem bekannt ist, unterstreicht die Fallstudie diesen Befund noch einmal deutlich anhand qualitativer, akteurszentrierter Befunde eines in Transformation befindlichen Unternehmens.

3 Ergebnisse

Im Hinblick auf Ergebnisse aus den Interviews und Fallstudien sei vorweg angemerkt, dass es die Breite der Fallauswahl erlaubt, trotz der Spezifizität der jeweiligen Unternehmen, erste generalisierbare Schlüsse zu ziehen und eine über alle Fallstudien hinweg sichtbar werdende Tendenz abzuleiten. Frage (1) nach in der betrieblichen Praxis vorzufindenden technologischen Veränderungen im Sinne der Industrie 4.0 ist zunächst dahingehend zu beantworten, dass obschon Anwendungen der Industrie 4.0 noch nicht die oftmals propagierte Verbreitung aufweisen und generell Digitalisierung oftmals eher prozessual denn disruptiv stattfindet, alle betrachteten Unternehmen mit Automatisierungs- und/oder Digitalisierungsvorhaben befasst sind. In den KMU finden sich Digitalisierungsprozesse eher im Officebereich. Im Fertigungsprozess ist Digitalisierung gegenwärtig noch eher eine Zukunftsvision bzw. befinden sich die Unternehmen in der Planungs- und/oder Einführungsphase, wobei sich aktuell spezifische Einzellösungen und weniger vollends automatisierte Fertigungsbereiche abzeichnen. In industriellen Großbetrieben hingegen finden sich im direkten Bereich etablierte Systeme sowie ein hoher Automatisierungsgrad und eine zunehmend integrierte Fertigungssteuerung sowie eine beständig zunehmende Digitalisierung im indirekten Bereich.

Bezogen auf Fragestellung (2) zeigt sich in der Gesamtschau von Literatursichtung und explorativen Fallstudien über die Einzelfälle hinweg, dass sich Arbeitsorganisation und die Anforderungen an die Arbeitnehmer bisweilen erheblich verändern. Dies wird insbesondere vor dem Hintergrund deutlich, dass gegenwärtig eher nach der Prämisse technischer Machbarkeit und weniger nach einer Ausrichtung an sich ergänzenden Mensch-Maschine-Systemen automatisiert wird. Ausführende Tätigkeiten werden einerseits zunehmend durch Überwachungsaufgaben ersetzt. Damit einhergehend weicht körperlich schwere und gefährliche Arbeit zunehmend sitzender Tätigkeit. Andererseits nehmen in einigen Bereichen kreative und wertschöpfende Aufgaben zu, während Routineaufgaben automatisiert werden. Im Zusammenhang mit veränderten Anforderungen werden etwa Zeitdruck, Arbeitsverdichtung, permanente Anpassungserfordernisse, die Zunahme kognitiv anspruchsvoller und wirtschaftlich relevanter Entscheidungsaufgaben aber auch Entwicklungen wie reine Überwachungsaufgaben oder die Reduktion auf Rest- und Zufallsaufgaben nebst deutlicher Monotonie berichtet.

Die Beantwortung von Fragestellung (3) nach den Auswirkungen digitaler Technologien auf die Gesundheit zeigt, dass bekannte Gefährdungen, z. B. körperlich schwere Arbeit, reduziert werden können. Gleichwohl lassen sich neue Gefährdungen und die Intensivierung bekannter Gefährdungen beobachten. Letzteres gilt vor allem für den Bereich der psychischen Belastungen. Ebenso werden neue Belastungen durch die Arbeitnehmer skizziert. So zeigt sich beispielsweise die Angst vor datenbasierter Überwachung und (Leistungs‑)Kontrolle als, in dieser Form neue und unmittelbar mit Digitalisierungsprozessen im Zusammenhang stehende, mentale Belastung.

Resümierend und die Ergebnisse nach Chancen und Risiken trennend zeigt sich folgendes Bild:

Chancen für gesunde digitalisierte Arbeit und potentielle Entlastungen zeigen sich in folgenden Aspekten:

  • Übernahme schwerer Arbeit durch Roboter/Maschinen und damit verbundene körperliche Entlastung

  • Übernahme gefährlicher Tätigkeiten durch Roboter/Maschinen und damit verbundene verbesserte Arbeitssicherheit

  • Entlastung durch automatische Fehlererkennung und Handlungshilfen

  • körperliche Entlastung durch Handlinggeräte

  • kognitive Entlastung durch zentral und liniennah verfügbare Produktionsdaten und weiterführende Informationen

  • individuell gestaltbares, zeit- und ortsflexibles Arbeiten (Work-Life-Balance)

  • Vorhandensein von Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten

Diesen Entlastungspotenzialen stehen auf der anderen Seite jedoch nicht unerhebliche Risiken gegenüber. Es finden sich nachfolgend dargestellt Veränderungen, die als Risiken für die Gesundheit der Beschäftigten betrachtet werden können:

  • denkbar sind körperliche Gefährdungen bzw. gestörte Handlungsregulation durch Interaktion mit Robotern

  • Diskrepanz zwischen Qualifikationsniveau und Handlungserfordernissen (spezifisches Expertenwissen trifft u. U. auf geringe Handlungserfordernisse, sofern die Anlagen störungsfrei laufen)

  • Schaffung von Zufallsaufgaben durch die Automatisierung von Arbeitsabläufen

  • psychische Belastung durch mögliche Leistungsüberwachung (Fehlertracking durch permanente Datenspeicherung, Performanzprofile und Benchmarking)

  • Verdichtung von Arbeit

  • Entgrenzung von Arbeit

  • Notwendigkeit ständiger Weiterbildung und „Permanentes Ungenügen“ (Dunkel et al. 2010) in Anbetracht der Kurzlebigkeit von Wissen und Qualifikationen

Die Prävention psychischer Belastung und damit einhergehend der Erhalt bzw. die Förderung mentaler Gesundheit ist seit langem, auch international, ein Thema von hoher Relevanz (WHO 2002, 2004) und gewinnt vor skizziertem Hintergrund nochmals an Bedeutung. Darüber hinaus ist dies mit Blick auf individuelle Folgen, den Erhalt von Arbeitsfähigkeit und langen Ausfallzeiten im Erkrankungsfall ebenfalls ein Thema von hohem gesellschaftlichem aber eben gleichermaßen unternehmerischem und letztlich volkswirtschaftlichem Interesse.

An dieser Stelle kann schließlich Frage (4) nach Anpassungserfordernissen für den Arbeits- und Gesundheitsschutz dahingehend beantwortet werden, dass die Durchführung der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen, die seit 2013 gemäß Arbeitsschutzgesetz § 5 für alle Arbeitgeber verpflichtend ist, in beständig stärker digitalisierten Arbeitswelten nochmals an Bedeutung gewinnt. Eine Erfassung psychischer Belastungen in der Gefährdungsbeurteilung berichten bisher jedoch nur 21 % der Unternehmen (Beck und Lenhardt 2019). Neben der Sicherstellung der Durchführung besteht die Notwendigkeit, bestehende Instrumente der Gefährdungsbeurteilung an die spezifischen Sachverhalte automatisierter und digitalisierter Arbeitsumgebungen anzupassen, um adäquate Präventionsmaßnahmen ableiten zu können. Im Zuge der Digitalisierung sind Unternehmen nun allerdings deutlich stärker als noch vor einigen Jahren mit sehr spezifischen und dynamischen Be- und Entlastungsentwicklungen konfrontiert, so dass allgemeingültige und beliebig übertragbare Lösungen des Arbeits- und Gesundheitsschutzes nicht mehr greifen. Aus diesem Umstand resultierend besteht auf Seiten der Arbeitgeber in Anbetracht der Komplexität des Belastungsgeschehens ein nicht unerheblicher Beratungs- und Wissensbedarf.

Um den erzielten Ergebnissen Rechnung zu tragen und einen Beitrag für einen zukunftsfähigen Arbeits- und Gesundheitsschutz zu leisten, wurden im Rahmen des Dresdner Teilvorhabens im Projekt GAP Instrumente zur Prävention arbeitsbedingter psychischer Belastungen in der digitalen Arbeit entwickelt Die Entwicklung der Instrumente basierte zum Teil auf den Erkenntnissen der Literaturrecherche und Fallstudien und zu einem großen Teil auch auf den im Laufe des Forschungsprozesses deutlich gewordenen Bedarfen der Unternehmenspartner. Davon ausgehend wurden im Projekt-Teilvorhaben der TU Dresden drei Instrumente entwickelt. Sie richten sich an betriebliche Akteure des Arbeits- und Gesundheitsschutzes. Beim Fragebogen GAP-Modul zur Ergänzung der psychischen Gefährdungsbeurteilung sind vor allem die Arbeitsmediziner und Fachkräfte für Arbeitssicherheit als Zielgruppe vorgesehen.

Fragebogeninstrument zur Ergänzung der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen der Arbeit 4.0 (GAP-Modul)

Es hat zum Ziel, spezifische Belastungen der Arbeit mit neuen Technologien abzubilden. Das GAP-Modul erfasst drei Bereiche: (1) Nutzung von Technologien bei der eigenen Arbeit: Einsatz und Nutzung digitaler Daten, Kommunikationsmittel und Vernetzung sowie von Robotik und Automaten, (2) Belastungen im Zusammenhang mit neuen Technologien, d. h. Belastungen am Arbeitsplatz, die sich als besonders relevant im Zusammenhang mit der Einführung neuer Technologien gezeigt haben und die in gängigen Gefährdungsbeurteilungen nur unzureichend erfasst werden (z. B. große Informationsmenge, Notwendigkeit ständiger Weiterbildung) und (3) Bewertungen der Arbeit mit neuen Technologien, d. h. Einschätzung, inwiefern neue Technologien die Arbeit und Arbeitsbedingungen verändert haben. Ein Durchführungsmanual unterstützt den Einsatz des Fragebogens in Unternehmen (Drössler et al. 2019a). Nach ersten Analysen erweist sich das GAP-Modul als objektives, reliables und valides ergänzendes Instrument zur Erfassung von Anforderungen der Arbeit 4.0.

(Halbtages)Workshop zur Digitalen Kommunikation

im Unternehmen – Umgang mit Informationsüberflutung am Arbeitsplatz: Er wurde orientiert an den Bedarfen eines Partnerunternehmens konzipiert, das eine zunehmende und teil ineffiziente Email-Flut berichtete. Der Workshop ist für einen zeitlichen Umfang von ca. 5 h konzipiert und setzt sich aus Phasen der Wissensvermittlung, Diskussion sowie Arbeitsphasen in Kleingruppen zusammen, in denen Problembereiche identifiziert und gemeinsam entwickelte Lösungsideen in unternehmensbezogene Vereinbarungen überführt werden. Erprobt wurde er mit den Teamleitern eines mittelständischen Unternehmens. Die Teilnehmenden bewerteten den Workshop mit „gut“. Die Relevanz des Themas und die Möglichkeit des Austausches wurden besonders hoch eingeschätzt. Stärkeres Gewicht sollte auf Lösungsfindung und weniger auf der Problemanalyse liegen. Interessierten stehen der Foliensatz sowie ein Leitfaden mit Hintergrundinformationen und unterstützenden Instruktionen für die moderierte Gruppenarbeit zur Verfügung (Drössler et al. 2019b).

Handreichung zum Umgang mit personenbezogenen Daten in Zeiten des technologischen Wandels

Sie wurde ebenfalls mit Blick auf Bedarfe der Partnerunternehmen entwickelt. Relevant wurde das Thema mit der Einführung von neuen Technologien mit denen personenbezogene Daten im Zusammenhang mit Arbeitsprozessen erfasst werden. Das elektronische Dokument (Bretschneider et al. in Vorbereitung) und beinhaltet drei thematische Schwerpunkte: (1) Einleitung – Grundlagen und Begriffe, (2) Bedeutung des Schutzes personenbezogener Daten aus arbeitspsychologischer und juristischer Perspektive und (3) Was bedeutet das für die Praxis? – Handlungshilfen für Arbeitgeber, Arbeitnehmer und Betriebsräte und einen Serviceteil mit Checklisten und Ansprechpartnern. Ziel der Handreichung ist es, alle Akteure und Beschäftigte eines Unternehmens aus arbeitspsychologischer und juristischer Sicht für einen verantwortungsvollen Umgang mit personenbezogenen Daten der Beschäftigten sensibilisieren. Eine Erprobung steht derzeit noch aus.

Alle Instrumente können unter https://gesunde-digitale-arbeit.de/praevention/ abgerufen werden.

4 Diskussion

Die Ergebnisse betonen einmal mehr die Bedeutung einer menschengerechten Gestaltung von Arbeit. Dazu gehören neben der Arbeitssicherheit im klassischen Sinne in zunehmendem Maße Fragen der mentalen Gesundheit. Die Umsetzung psychischer Gefährdungsbeurteilungen muss stärker gefordert, gefördert und unterstützt werden.

Dies legt den Grundstein für spezifische Maßnahmen und die Nutzung der Digitalisierung immanenter Potenziale. Denn obschon sich über die Fallstudien hinweg generelle Tendenzen erkennen lassen, wurde im Zuge der Interviews und Fallbetrachtungen ebenso deutlich, dass es keine einheitlichen Problemlagen bzw. Belastungs-Ressourcen Kombinationen gibt. Es zeigt sich vielmehr deutlich, dass je nach Unternehmensstruktur, Arbeitsorganisation und Digitalisierungsgrad bis hinunter auf Abteilungsebene spezifische Belastungsmuster wirksam werden und ebenso spezifische Ressourcen zur Verfügung stehen.

Gewiss stellen trotz aller Spezifizität noch immer Handlungsspielräume, Vollständigkeit der Aufgabe, Abwechslungsreichtum, soziale Beziehungen usw. die zentralen und übergreifend wirksamen protektiven Faktoren der Arbeitsgestaltung dar. Jedoch sind die Belastungskonstellationen, wie bereits angedeutet, in der Arbeitswelt 4.0 höchst divers und mögliche Belastungskumulationen nicht immer auf den ersten Blick sichtbar, so dass nur über eine adäquate Einzelfallanalyse die jeweils passenden Maßnahmen abzuleiten sind.

Eine Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung ist hier ein geeignetes Mittel, um den Istzustand und Handlungserfordernisse abzubilden. Diese ist jedoch um digitalisierungsbezogene Sachverhalte zu ergänzen. Eine praxistaugliche Möglichkeit bietet hier der im Projekt entwickelte Kurzfragebogen zum Erleben der Digitalisierung der Arbeit (GAP-Modul) (Drössler et al. 2019a; Magister et al. 2019), welcher ergänzend zu den gängigen Verfahren der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung eingesetzt werden kann.

Flankierend sollte die reine Gefährdungsbeurteilung durch nachfolgende Maßnahmen, vertiefende Analysen, Schulungen der betrieblichen Akteure, etwa Fortbildungen in der psychosomatischen Grundversorgung für Betriebsärzte, Führungskräfteschulungen und innovative Präventionsprogramme ergänzt werden. Eine interessante Ergänzung der arbeitsmedizinischen Versorgung und Prävention stellen die Konzepte der Betriebsnahen Versorgungsnetzwerke und der Psychosomatischen Sprechstunde im Betrieb (Junne et al. 2018) dar. Bislang haben entsprechende Ansätze und Maßnahmen jedoch oftmals noch Pilotcharakter. Ebenso wurde anhand der Fallstudien deutlich, dass Interventionen, welche auf eine verstärkte Partizipation der Arbeitnehmer bspw. in Fragen des Datenschutzes und eine konsequente Einbindung der Belegschaften in den Transformationsprozess zielen geeignet sind, um neue mit der Digitalisierung in Verbindung stehende Belastungen abzufedern und in ihren Auswirkungen zu minimieren ergo ihrerseits als protektive Faktoren wirksam werden. Gleichermaßen ist an dieser Stelle als Resultat der Fallstudien nochmals explizit auf die Bedeutung der sozialen Beziehungen und des Führungshandelns als Schlüsselfunktion hinzuweisen, welche bei guter Gestaltung negative Effekte psychischer Belastung deutlich minimieren kann und Ressourcen der psychischen Gesundheit zu stärken vermag (Drössler et al. 2016; Montano et al. 2016).

4.1 Limitierungen

Die im Zuge des dargestellten Vorgehens erzielten Ergebnisse sollten im Spiegel methodischer Limitierungen betrachtet werden, die sich auf die qualitativen Interviewdaten der Fallstudien beziehen. Zunächst ist festzuhalten, dass die Interviewdaten nicht hinsichtlich der Tätigkeits- und Anforderungsschwerpunkte sowie beruflichen Positionen analysiert und zunächst Ergebnisse auf allgemeiner Ebene generiert wurden. Dies ist insofern bedeutsam, da von Unterschieden zwischen den unterschiedlichen Berufsgruppen im Erleben neuer Technologien und deren Auswirkungen auf Arbeit und Gesundheit auszugehen ist. Darüber hinaus ist kritisch zu betrachten, dass insbesondere in den Unternehmen 2 und 3 Akteure der Führungs- und Steuerungsebene leicht überrepräsentiert sind. Weiterhin gilt es zu bedenken, dass die Fallstudien der Unternehmen 1 und 4 in zeitlicher Nähe zu technologischen Veränderungen erstellt wurden und sich ggf. einstellende, die Belastungsfolgen potentiell moderierende, Adaptationseffekte und Gegenstrategien unberücksichtigt bleiben.

Weitere Studien sollten deshalb klären, ob und welche berufsgruppenspezifischen psychischen Belastungskonstellationen vor dem Hintergrund der Automatisierung und Digitalisierung sichtbar werden und welche gezielten Präventionsmaßnahmen daraus abgeleitet werden können. Ebenso sollten die hier gewonnenen Erkenntnisse künftig im Längsschnitt und anhand repräsentativer Stichproben geprüft und beurteilt werden.

5 Schlussfolgerungen

Trotz der dargestellten Einschränkungen und der Notwendigkeit weiterer Forschung, kann die vorliegende Studie einen Beitrag zur Beschreibung von aktuellen Digitalisierungsprozessen und deren Wirkungen leisten sowie Empfehlungen und Hinweise zu Anpassungen des Arbeits- und Gesundheitsschutzes geben.

Kurzum: die gegenwärtige Arbeitswelt ist geprägt von Digitalisierung und Automatisierung, demographischem Wandel, einem Bedeutungszuwachs psychosozialer Belastungen bei gleichzeitig hoher Krankheitslast aufgrund psychischer Erkrankungen. Um dieser Entwicklung zu begegnen, bedarf es einer Sensibilisierung der Akteure für die vielfältigen, oftmals ambivalenten Wirkungen der Digitalisierungsprozesse sowie eines Mentalitätswandels bezüglich psychischer Belastungen und der Gefährdungsbeurteilung ebendieser.

Diese Veränderungen und eine umfassende sowie konsequente Durchführung der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung auch in Klein- und Mittelständischen Unternehmen stellen eine wesentliche Rahmenbedingung für eine auch in Zukunft gesunde Arbeit dar und sind für einen Arbeitsschutz 4.0 unerlässlich. Denn nur, wenn Belastungen und Ressourcen bekannt sind, können diese adäquat vermindert bzw. genutzt werden.

Gleichwohl bedarf es in Anbetracht der Tragweite psychischer Belastungen und der vielfältigen Effekte der Digitalisierung ebenso einer Qualifizierung der Fach- und -Führungskräfte sowie innovativer und tragfähiger Präventionsmaßnahmen. Insbesondere ist darauf zu achten, dass Verhaltens- und Verhältnisprävention eng verzahnt werden und nicht unverbunden nebeneinanderstehen.

Werden diese Rahmenbedingungen beachtet und klassische Instrumente mit innovativen Ansätzen verknüpft, so stellt dies die adäquate Reaktion auf die Befunde des Projekts und den Schlüssel für eine gesunde Arbeitswelt 4.0, mentales Wohlbefinden der Arbeitnehmerschaft und, vor dem Hintergrund der demografischen Veränderungen, den langfristigen Erhalt der Arbeitsfähigkeit dar.

Abschließend ist darauf hinzuweisen, dass, bei aller Fokussierung des Beitrags auf psychische Belastungen, klassische Themen des Arbeitsschutzes und physische Gefährdungen keineswegs absent sind. Im Sinne eines umfassend wirksamen Arbeits- und Gesundheitsschutzes und der Schaffung gesundheitsförderlicher digitaler Arbeit sind das Weiterbestehen der klassischen Gefährdungen und die Verschiebungen im Gefüge der physischen Belastungen ebenso beständig mit zu reflektieren.