1999, also vor mehr als 20 Jahren erschien das erste Themenheft „Interaktionsarbeit“ der Zeitschrift für Arbeitswissenschaft. Herausgeber war der leider viel zu früh verstorbene André Büssing. Mit der Veröffentlichung der Ergebnisse des Forschungsverbundes „Interaktionsarbeit als ein zukunftweisender Ansatz zur qualitätsorientierten Organisation von Dienstleistungsprozessen“ (Böhle und Glaser 2006) sowie dem Lehrbuch „Arbeitsgegenstand Mensch: Psychologie dialogisch-interaktiver Erwerbsarbeit“ (Hacker 2009) war die erste Forschungsphase zur Interaktion beendet (Zusammenfassend: Ernst und Kopp 2011).

Zwei Elemente sorgten für die Weiterentwicklung des Schwerpunktes. Das Forschungsverbundvorhaben „Vordringliche Maßnahme: Personenbezogene Dienstleistungen am Beispiel seltener Erkrankungen“ (Bieber und Geiger 2014) zielte auf Plattformansätze zur Bildung von Communities und auf die Gestaltung kooperativer Dienstleistungssysteme hin. Das zweite Element war die Forderung der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft, die Dienstleistungsforschung zu verstärken (Bsirske 2011).

Im Zuge der Digitalisierung hat die Bedeutung der Dienstleistungswirtschaft und der Personenbezogenen Dienstleistungen weiter zugenommen. Die Szenarien zur zukünftigen Beschäftigung (z. B. Helmrich 2016) zeigen eine Fortsetzung des Branchenwandels hin zu den Dienstleistungen auf (gem. BMAS 2019 von 71,7 auf 76,3 % der Erwerbstätigen). Nach den Untersuchungen des BMAS wird allein die Branche Gesundheits- und Sozialwesen 2035 mehr Erwerbstätige als das Verarbeitende Gewerbe stellen. Insgesamt umfassen die personenbezogenen Dienstleistungen aber einen größeren Rahmen: nicht nur die Pflege, sondern Beratung vom Handel bis in die Organisationen, Bildungsdienstleistungen und Betreuung und Beratung von Personen, von der Schwangerschafts‑, Sucht- und Schuldnerberatung, über Unterstützungsangeboten für Behinderte, die Kinder- und Jugendhilfe bis zur Pflege. Diesem Wandel stellt sich die Arbeitswissenschaft mit einiger Verzögerung (z. B. Rothe et al. 2019; zu Digitalisierung und Arbeit in der Logistik, den Wissensdienstleistungen und der Sozialwirtschaft: Ernst et al. 2020).

Unter dem Eindruck der politischen Bedeutung wandte sich auch die Forschungspolitik verstärkt dem Thema der „Personenbezogenen Dienstleistungen“ zu. So ab 2017 mit dem Thema „Personennahe Dienstleistungen“ sowie mit dem Thema „Interaktionsarbeit“. In beiden Bereichen wird ab Jahre 2018/2019 eine Förderung mit jeweils 15 Mio. € erwartet.

Die einzelnen Beiträge des Schwerpunktheftes folgen den skizzierten Entwicklungslinien. Zunächst stellen die Autorinnen Thorein und Müller sowie der Autor Fischer von der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft die Bedeutung der Personenbezogenen Dienstleistungen und der Interaktionsarbeit in einer modernen Gesellschaft dar. Die Autorinnen und der Autor von ver.di beklagen insbesondere, dass Betriebs- und Personalräte – im Vergleich zur Industrie- und Büroarbeit – viel zu wenig auf bestimmte Standards zur menschengerechten Gestaltung von Interaktionsarbeit zugreifen können. Dies hat dann nach Ansicht von Thorein, Müller und Fischer auch negative Auswirkungen auf Patienten, Klienten, Bürger und Kunden. Böhle und Weihrich entfalten in ihrem Beitrag den arbeitssoziologischen Ansatz zur Interaktionsarbeit mit den Elementen der Kooperation, der (eigenen) Emotionen, den Gefühlen des Gegenübers und dem subjektivierenden Arbeitshandeln. Neben theoretischen Weiterentwicklungen fordern sie, dass die fördernden und hemmenden Faktoren, sowie der Technikeinsatz bei Interaktionsarbeit (vgl.: Waag et al. 2020) zu untersuchen sind. Der Beitrag von Hacker, Steputat-Rötze und Pietrzik orientiert sich konsequent an der psychologisch orientierten Handlungsregulationstheorie. So erlaubt er einen einheitlichen Ansatz für monologische Arbeit (z. B. Montagearbeit) und dialogisch-interaktive Arbeit (z. B. Interaktionsarbeit). Damit ermöglicht der Ansatz auch die Übertragung von Präventionskonzepten aus monologischer Arbeit auf dialogisch-interaktive Erwerbsarbeit. Wert legen Autor und Autorinnen besonders auf Verhältnisprävention, also dem Primat der Verhältnisgestaltung im Bereich der Interaktionsarbeit. Die Schwierigkeiten der Berücksichtigung arbeitswissenschaftlicher Erkenntnisse bei der Planung der Dienstleistungsprozesse im Sinne einer konzeptiven Arbeitsgestaltung sind sicher schwieriger als bei der industriellen Fertigung. Die Schwierigkeiten dürfen aber nicht dazu führen, bei der Konzeption der Interaktionsarbeit die Belange der Beschäftigten zu vernachlässigen (Bruder 2019). Der Beitrag von Petz und Mütze-Niewöhner stellt einen ersten Denkansatz zu „Produktivitätsüberlegungen“ dar (zur Problematik der Produktivität bei dialogisch-interaktiver Erwerbsarbeit s. Hacker 2009, S. 67 ff). Der Ansatz von Petz und Mütze-Niewöhner wurde bei Wissensintensiven Dienstleistungen entwickelt und kann auch Hinweise für Personenbezogene Dienstleistungen geben; denn auch bei einem Angebot von wissensintensiven Dienstleistungen mit einer Interaktionskomponente versagen rein mengenbezogene Konzepte der Produktivität, sei es, weil die Dienstleistungsqualität sinkt oder die Kundenunzufriedenheit nicht mehr akzeptable Ausmaße annimmt.

Die beiden letzten Beiträge weisen auf die notwendige Integration verschiedener Sichtweisen hin. Tisch, Beermann, Wünnemann und Windel (alle aus der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin) verlangen aus arbeitswissenschaftlicher Sicht eine Abkehr von einer (volkswirtschaftlich orientierten) Branchenbetrachtung hin zu einer übergeordneten Systematik zu den Anforderungen und Folgen von Interaktionsarbeit, um damit zu einer empirisch abgesicherten Gestaltungsbasis zu kommen. Wie Kyrill Meyer beschreibt, ist das systematische Entwickeln und Gestalten von Dienstleistungsprozessen (Service Engineering) für die Wirtschaftsinformatik ein normaler Prozess (vgl. hierzu auch das Lehrbuch (!) von Leimeister 2020). Meyer – Schüler des verstorbenen Mathematikers und Arbeitswissenschaftlers Klaus-Peter Fähnrich – stößt aber sehr schnell darauf, dass eine Verschränkung zwischen dem Service Engineering und der Arbeitsgestaltung notwendig, aber nicht vorhanden ist. Dabei weist er auch auf die Problematik der Gestaltung von Dienstleistungssystemen hin, die über die individuelle und organisationsinterne Gestaltung hinausgehen muss.

Mit diesem Sonderheft wollen wir aufzeigen, welche positive Entwicklung die (arbeits-)wissenschaftliche Forschung zur Interaktionsarbeit seit dem Erscheinen des letzten Sonderheftes im Jahre 1999 genommen hat. Aber auch die noch bestehenden Aufgaben z. B. im Bereich der Verbesserung der präventiven Gestaltung von Interaktionsarbeit oder der Integration von Service Engineering und Arbeitsgestaltung werden als zukünftige Themen der Arbeitsforschung aufgezeigt. Schließlich ist die Motivation zu einer insgesamt stärkeren Befassung der Arbeitsforschung mit dem Thema der Interaktionsarbeit ein wesentliches Ziel des Sonderheftes. Ohne Frage werden personenbezogene Dienstleistungen und damit verbunden die Interaktionsarbeit gerade in immer stärker technisch dominierten Arbeitswelten an Bedeutung gewinnen. Umso wichtiger ist es gerade für die Gestaltung von Interaktionsarbeit auf die Sicherstellung von menschengerechten Arbeitsbedingungen zu achten. Die Erarbeitung von hierfür notwendigen gesicherten arbeitswissenschaftlichen Erkenntnissen ist eine lohnende und notwendige Aufgabe für alle an der Arbeitsforschung beteiligten Expertinnen und Experten.