1 Einleitung: Die Zeitenwende im politischen Diskurs

„Der 24. Februar 2022 markiert eine Zeitenwende in der Geschichte unseres Kontinents“, so Bundeskanzler Olaf Scholz in seiner Regierungserklärung am 27. Februar 2022 vor dem Deutschen Bundestag. Mit dieser Aussage wollte der Bundeskanzler die politische Selbstverpflichtung zu neuen Sanktionen und Investitionen in die deutsche Verteidigungsfähigkeit legitimieren. Deutschland, unterstrich der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius im Oktober 2023, müsse „kriegstüchtig“ (Pistorius 2023) werden. Die Bundesrepublik hat bis heute auf nationaler Ebene keine Zeitenwende im Sinne einer strategischen Neuausrichtung der Außen- und Sicherheitspolitik (ASP) realisiert (vgl. Hamilton 2023). Ganz im Gegensatz hierzu bleibt Deutschland aber faktisch militärisch und sicherheitspolitisch eng an die USA angebunden und droht bei einer Wiederwahl von Donald Trump eine „weitere Zeitenwende“ zu erfahren (Gibadło 2023).

Der Begriff der Zeitenwende bezeichnet im Allgemeinen einen Wendepunkt in Politik, Gesellschaft oder Technologie (Paul 2023; Allmendinger et al. 2014, Harnisch 2023). In der Vergangenheit wurde die Zeitenwende für die Beschreibung der deutschen Teilung, der Wiedervereinigung und der Westbindung und Nato-Mitgliedschaft verwandt (Sabrow 2023). Vieles, was einst als „Zeitenwende“ empfunden wurde, war bald wieder selbstverständlich. Hierunter fallen etwa die Notstandsgesetzgebung, die Einführung des Euro, die EU-Osterweiterung 2004 oder auch die Furcht vor dem neuen Jahrtausend.

Die aktuelle Zeitenwende bezieht sich auf „eine Zäsur ‚für‘ die deutsche Außenpolitik und weniger auf eine Zäsur ‚der‘ deutschen Außenpolitik“ (Fröhlich 2023, S. 83).Footnote 1 Im Sinne einer Zeitenwende der deutschen Außenpolitik lassen sich vergleichbare Äußerungen zur „neuen deutschen Verantwortung“ bis zur Besetzung der Krim durch Russland 2014 zurückverfolgen. Vieles spräche für die Fortsetzung der außenpolitischen Kontinuität und angepasster Diskursivität zur außenpolitischen Rolle Deutschlands (siehe Bachg und Peters 2023, Dück und Stahl 2023). Die nationale Sicherheitsstrategie aus dem Juni 2023 buchstabiert die Leitidee einer „integrierten Sicherheit“ aus (Kamp 2023). Die außen- und sicherheitspolitischen Strategien bzw. Leitlinien führten gleichwohl nicht zur Neuformulierung eines neuen außenpolitischen Leitbildes (Kostić Šulejić 2023). Die nationale Strategiedebatte 2023 orientierte sich weitgehend an dem „Strategischen Kompass der EU“; Ergebnis ist eher ein „strategisches Windspiel“ (Kaim und Kempin 2022) denn eine Strategie im eigentlichen Sinne, die konkrete Zielvorgaben formuliert und Wege aufzeigt, wie die Ziele zu erreichen sind notwendigerweise für die deutsch-französische Zusammenarbeit (Ross 2024).

In Bezug auf die Ukraine ist Deutschland heute zwar der zweitgrößte Lieferant von Militärausrüstung und drittgrößter Unterstützer bei humanitärer, wirtschaftlicher und finanzieller Hilfe. Hinzu kommt, dass Deutschland ab 2025 das Nato-Ziel der Verteidigungsausgaben von 2 % des BIP erstmals seit 1992 wieder erreichen soll. Jedoch würden die bisher durchgeführten Reformen nicht ausreichen, um Deutschland zum zentralen „Garanten europäischer Sicherheit“ (Scholz) zu machen (Major und Mölling 2023). Auch ist das Engagement bei internationalen Friedenseinsätzen Deutschlands seit 2013 drastisch zurückgegangen und angesichts der angespannten Haushaltslage und steigenden Inflation scheint hier eine Trendumkehr kaum möglich (Abb et al. 2022). Die Autoren des Friedensgutachtens 2023 konstatieren: „Das im Februar 2022 kurzfristig von der Bundesregierung auf den Weg gebrachte Paket sicherheitspolitischer Maßnahmen läutet (…) für sich allein keine Zeitenwende ein.“ (ebd.). Selbst, wenn man wie Große Hüttmann und Weinmann (2023) zum Schluss gelangt, dass Deutschland eine politikfeldspezifische Zeitenwende in der sicherheitsrelevanten Frage der fossilen Energieversorgung vollzogen hat, ist damit noch keine umfassende Zeitenwende in der Außen- und Sicherheitspolitik vollzogen. Giegerich und Schreer stellen richtigerweise fest: „The Zeitenwende will be meaningful only if its effects stretch across economics, strategy and military matters“ (Giegerich und Schreer 2023).

Wie lässt sich diese Immobilität deutscher Außen- und Sicherheitspolitik, die mangelnde deutsch-französische Kooperation und die blockierte Europäisierung von Außen- und Sicherheitspolitik aus der Perspektive der Teildisziplinen der Politikwissenschaft erklären? Warum ist die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik so wenig anpassungsfähig vor dem Hintergrund der veränderten globalen Rahmenbedingungen? Inwiefern helfen uns einschlägige politikwissenschaftliche Konzepte, diesen Befund zu verstehen? Die Beantwortung dieser Fragen ist Gegenstand des vorliegenden Beitrags.

2 Zeitenwende in der Politikwissenschaft

Der Ukraine-Krieg stellt grundlegende Fragen zur internationalen Politik, zur Natur von Kriegen und Konflikten sowie zu den Reaktionen der internationalen Gemeinschaft und damit an die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik (Daenhardt 2018, Brummer und Oppermann 2018, Fix 2022). Leist und Zimmermann (2024) argumentieren, dass der Krieg nicht nur eine humanitäre und geopolitische Krise darstellt, sondern auch eine theoretische Herausforderung, welche die bestehenden politikwissenschaftlichen Konzepte von Souveränität, Demokratie und Sicherheit auf die Probe stellt. Das Wiederaufleben traditioneller Kriege sei ein „tiefer Schock des Westens“, denn der seit 1989 herrschende „Glaube an ewigen Fortschritt in der Welt“ (Reckwitz 2022) habe sich als Illusion entpuppt. Es entstehe eine neue Zeit der Unsicherheit, die als „Weltunordnung“ (Masala 2023, S. 149) vielleicht sogar zum neuen Dauerzustand wird.

Die nachfolgenden Beiträge, die den unterschiedlichen Teildisziplinen der Politikwissenschaft zuzuordnen sind, betonen die Notwendigkeit einer flexiblen und multiperspektivischen Herangehensweise, um die Auswirkungen der Zeitenwende zu verstehen. Nach Fröhlich (2023) können zwei Dimensionen der Zeitenwende unterschieden werden: erstens die globalen Machtverschiebungen und ihre Auswirkungen für die Außen- und Sicherheitspolitik, zweitens die Veränderung der deutschen ASP im Sinne ihrer strategischen Neuausrichtung (siehe auch Blumenau 2022). Eine Literaturschau verdeutlicht, dass in der einschlägigen Literatur der jeweiligen Teildisziplin prinzipiell zwischen diesen beiden Lesarten unterschieden wird.

2.1 Der Erklärungsansatz der Internationalen Beziehungen

Die globale Zeitenwende lässt sich laut Menzel festmachen „am Strukturwandel des internationalen Systems in Richtung Ost-West-Konflikt 2.0“ (Menzel 2023, S. 17) und bezeichnet den Aufstieg Chinas und den relativen Bedeutungsverlust des Westens. Die neue Systemkonfrontation zwischen demokratischen und autoritären Staaten münde in einer grundlegend veränderten Einstellung gegenüber dem Ziel der internationalen Verflechtung durch Strategien eines de-risking, reshoring oder friend-shoring. Angesichts der derzeitigen weltpolitischen Übergangsphase kehre wieder Anarchie in die Staatenwelt ein (Menzel 2023). Jeder verfolge seine eigenen Interessen, ohne Rücksicht auf andere. Ein autoritäres Jahrhundert bahne sich an. Es entsteht nach Münkler ein neues System regionaler Einflusszonen, dominiert von fünf Großmächten: USA, China, Russland, Indien und Europa (Münkler 2023).

Der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine ist hier nur der bisher letzte – und allerdings auch gravierendste – Schritt auf dem Weg in eine tiefe Krise der multilateralen Nachkriegsordnung. Baciu et al. (2024) analysieren die Krise des liberalen Interventionismus und das Wiederaufleben traditioneller Kriege. Sie argumentieren, dass die Ära des liberalen Interventionismus, geprägt durch humanitäre Interventionen und die Förderung von Demokratie und Menschenrechten, an Bedeutung verloren hat. Stattdessen beobachten die Autoren eine Rückkehr zu konventionellen militärischen Konflikten, wie im Fall des Ukraine-Kriegs. Diese Verschiebung sei auf verschiedene Faktoren zurückzuführen, darunter das Versagen liberaler Interventionen in Ländern wie Libyen und Syrien, die zunehmende Machtkonkurrenz zwischen großen Staaten sowie die Erosion des internationalen Regelwerks.

Aber was bedeuten nun die globalen Machtverschiebungen für die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik? Mit der Aussage von Münkler im Frühjahr 2022, dass Deutschland eine „Aversion gegenüber dem Denken des Worst-Case-Szenarios“ (Münkler 2022) habe, wurde die politikwissenschaftliche Debatte in Deutschland revitalisiert. Interessenbasierte Ansätze stellen nach wie vor den primären Ausgangspunkt für viele Analysen internationaler Politik dar (vgl. Czada 2022).Footnote 2 John Mearsheimer, der wichtigste neorealistische Protagonist, argumentierte in den Jahren 2014 und 2022 in Bezug auf die Ukraine, dass die USA und die europäischen Verbündeten versucht haben, die Ukraine aus der russischen Einflusssphäre zu holen und in den Westen einzubinden (Mearsheimer 2014, 2022). Dieses Expansionsstreben der Nato musste nach Auffassung Mearsheimers von Russland unweigerlich als eine Bedrohung vor der eigenen Haustür wahrgenommen werden. Die Nato, allen voran die USA, hätten über die Osterweiterungen ihren Einflussbereich nicht nur bis fast an die Grenzen Russlands fahrlässig ausgedehnt, sondern sie täten dies sogar vorsätzlich, weil ihnen bekannt gewesen sei, dass Russland dies ablehnte, so Abelow (2022).

Vor dem Hintergrund der globalen Zeitenwende und der Verunsicherung über die Verlässlichkeit des US-amerikanischen Partners wird die neorealistische Strategie des Balancing (Walt 1985, 1987, 1997) hervorgeholt und als angemessene außen- und sicherheitspolitische Strategie Deutschlands diskutiert.Footnote 3 Balancing, verstanden als Koalitionsbildung zwischen schwächeren Partnern mit dem Ziel, ein Gegengewicht gegen eine Großmacht zu bilden, sollte dann zu beobachten sein, wenn entweder die Kosten der Unterordnung unter dem Hegemon zu hoch werden oder aber das Sicherheitsversprechen zu unsicher wird. Beides trifft auf die gegenwärtige Situation zu. Nach Jakupec (2024) hat die russische Aggression gegen die Ukraine die Nato zu einer Wiederbelebung gezwungen. Im Ergebnis verstärken ihre Mitgliedstaaten die militärischen Fähigkeiten und kollektive Verteidigungsbereitschaft. Jakupec argumentiert, dass die Nato als Verteidigungsallianz eine zentrale Rolle in der neuen Weltordnung einnehmen wird, indem sie als Bollwerk gegen autoritäre Regime und als Garant für die Sicherheit ihrer Mitglieder fungiert. Er betont, dass die verstärkte Kooperation und die strategische Anpassung der Nato entscheidend seien, um den Herausforderungen der neuen geopolitischen Realität zu begegnen. Innerhalb des Bündnisses ist ihr europäischer Pfeiler durch eine gestärkte Nato-EU Zusammenarbeit auszubauen. Eine gemeinsame außen- und sicherheitspolitische Gefahrenabwehr, wenn nicht sogar ein europäischer Nuklearschirm, eine industriepolitische Fusion rüstungspolitischer Projekte zwischen Deutschland und Frankreich sowie eng getaktete Regierungskonsultationen in Bezug auf die Ukraine- und Russlandpolitik sind zentrale Bausteine deutscher Außenpolitik in der Zeitenwende (Kühn 2024, Mello 2024 und Matlé 2024).

2.2 Der Erklärungsansatz der Friedens- und Konfliktforschung

Abgeleitet aus dem Theorem des demokratischen Friedens (Doyle 1986) wurde das normative Programm der Friedens- und Konfliktforschung in Deutschland begründet. Frieden durch Integration wurde Deitelhoff zufolge zur zentralen Bezugsgröße für die europäische Integration und den Aufbau einer „kooperativen Sicherheitsordnung“ (Deitelhoff 2022, S. 226) in Europa. Weder Frieden noch Sicherheit als Ideen können allein auf militärischer Abschreckung gegründet sein: „Frieden ist, wenn er nachhaltig sein soll, immer auch auf Interdependenz und Kooperation in gemeinsamen Institutionen angewiesen“ (Deitelhoff 2022, S. 223). Kriege sind der Autorin zufolge in der Nachbarschaft „nicht isoliert und schon gar nicht allein militärisch lösbar“ und daher sollte die künftige Sicherheits- und Friedensordnung „auf kontrollierte Entflechtung und Koexistenz fokussiert sein“ (Deitelhoff 2022, S. 228). Wie sind „Entflechtung und Koexistenz“ auf der einen und „Interdependenz und Kooperation“ auf der anderen Seite also im Grunde zwei widersprüchliche Konzepte miteinander zu vereinbaren? Nicht aggressive Politiken der Vorbereitung von Kriegsfähigkeit, sondern eine „konstruktive Dissoziation“ sei die einzuschlagende Strategie, so Dembinski und Peters (2019).

Nach Zürn kann das (neo-)realistische Forschungsprogramm den Ukraine-Krieg und die deutsche Außenpolitik kaum erklären.Footnote 4 Der Krieg sei „das Ergebnis eines systemischen Kampfes zwischen einer Autokratie und einem sich demokratisierenden Nachbarn sowie zwischen einer liberalen Weltordnung und den imperialen Ambitionen des Putin-Regimes“ (Zürn 2022, S. 404). Im 21. Jahrhundert beobachtet die Demokratieforschung einen Trend zur „demokratischen Regression“ (Schäfer und Zürn 2022) und eine Welle der Entdemokratisierung wie in Russland, aber nicht nur dort, sondern sogar in Europa, weshalb die Welt nach dieser Lesart wieder unfriedlicher werden muss. Folglich greife die Politikwissenschaft stärker als bisher auf die Area Studies zurück, um innerstaatliche Bedingungen des politischen Systems verstehen zu können (Hegemann und Kahl 2023). Auch Tan (2024) erkennt die wiedererwachte Bedeutung der Theorie des demokratischen Friedens an, geht aber auch auf die bestehenden Herausforderungen ein. Diese Theorie wird weiterhin kritisiert, weil sie interne Konflikte innerhalb von Demokratien (Rauch und Söylemez 2024) und die komplexen Dynamiken von internationalen Allianzen (Fägerstein 2017) nicht ausreichend berücksichtige. Zudem weist Tan darauf hin, dass der Aufstieg populistischer Bewegungen und die Erosion demokratischer Normen innerhalb etablierter Demokratien die Prämissen der Theorie bedrohen könnten.

Nicht zuletzt ist die Warnung, dass konventionelle Kriege gegen eine Atommacht nicht gewonnen werden könnten und dass Deutschland sich wegen eines moralischen Impulses nicht in einen Atomkrieg hineinziehen lassen dürfe, in diese Tradition einzuordnen (Habermas 2022). Moralisches Handeln drohe in der internationalen Politik leicht zu einem überschwänglichen „Idealismus von Geopolitik“ (stellvertretend hierfür Tallis 2024) zu verrutschen und dürfe bei aller berechtigten Empörung nicht überzogen werden (Habermas 2022).

Nach Maihold (2022) bietet eine außenpolitische Strategie des demokratischen Containment Möglichkeiten, um den Einfluss der autoritären Staaten auf die demokratische Selbstbestimmung zu beschränken: „Beide Großmächte, Russland und China, werden als revisionistisch motiviert verstanden, sodass Überlegungen des Containment zur maßgeblichen Richtschnur militärischen und politischen Handelns geraten. Die Aufwertung des sicherheitspolitischen Denkens und der Bedeutungsverlust des deutschen Verständnisses einer „regelbasierten internationalen Ordnung“ seien die neuen Merkmale der Diskussion über die aktuelle Lage, die sich aufgrund der Konkurrenz dreier Großmächte und einer reduzierten Rolle Europas deutlich vom „Vorbild“ des Kalten Krieges zu unterscheiden sei (Maihold 2022, S. 52). Wie erklärt sich aus der Perspektive der Friedens- und Konfliktforschung schließlich die reduzierte Rolle Europas? Dem technokratischen Impetus der „ever closer union“ halten ideenbasierte Ansätze die mangelnde Parlamentarisierung von Außenpolitik auf EU-Ebene entgegen (Dembinski und Peters 2019); Europäisierung wäre hier gleichbedeutend mit einem Verlust parlamentarischer Kontrolle und damit demokratischen Gehaltes. Das aber würde fundamental der Überzeugung widersprechen, dass nur demokratisch kontrollierte Außenpolitik auch friedenspolitisch rechtfertigbar sei. Eine Europäisierung der deutschen Außenpolitik sei damit eine nur langfristig verfolgbare und außerordentlich voraussetzungsreiche Strategie.

2.3 Der Erklärungsansatz der europäischen Integration

Die außen- und sicherheitspolitischen Debatten zur Zeitenwende in den Internationalen Beziehungen und in der Friedens- und Konfliktforschung helfen nur bedingt weiter, um die mangelnde Ausrichtung auf eine interessengeleitete Außen- und Sicherheitspolitik zu verstehen. Eine an Interessen ausgerichtete deutsche Außen- und Sicherheitspolitik hätte vor dem Hintergrund der möglichen Ausrichtung der US-amerikanischen Außen- und Innenpolitik die deutsch-französische Zusammenarbeit sowie die Europäisierung von Außen‑, Sicherheits- und Verteidigungspolitik zentral gestellt. Die Außen- und Sicherheitspolitik unter Bundeskanzler Olaf Scholz ist nicht explizit auf diese Ziele in den einzelnen Politiken ausgerichtet worden.

Genschel (2022) hat in seinem viel beachteten Beitrag „Bellicist Integration“ auf die Souveränitätsvorbehalte der Mitgliedstaaten in der Außen- und Sicherheitspolitik hingewiesen und erachtet einen Transfer von staatlichen Kernkompetenzen auf die EU-Ebene für wenig plausibel. Im Gegensatz dazu wird gerade in jüngeren Beiträgen der Europaforschung eine Dynamisierung des europäischen Integrationsprozesses im Zuge des Ukrainekrieges diagnostiziert (Göler und Jopp 2021, Jopp 2023, Schäfer 2023). Wiesner und Knodt (2024) beleuchten die Auswirkungen des Ukraine-Krieges auf die Europäische Union und auch deren wirtschaftspolitischen Reaktionen (Reinhold 2024) auf die neuen geopolitischen Realitäten. Die Autor:innen der verschiedenen Beiträge analysieren, wie der Krieg die EU-Außen- und Sicherheitspolitik verändert hat und welche Maßnahmen ergriffen wurden, um Stabilität und Sicherheit in Europa zu gewährleisten. Themen wie die Stärkung der gemeinsamen Verteidigung, die Förderung der strategischen Autonomie der EU und die humanitären Reaktionen auf die Krise werden ausführlich diskutiert. Jørgensen (2024) konstatiert, dass der Krieg in der Ukraine zwar tiefgreifende Veränderungen in der Art und Weise erfordere, wie Europa Sicherheit und Frieden betrachtet und umsetzt, eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen den europäischen Staaten und eine gemeinsame Sicherheitsstrategie aber nach wie vor einen appellativen Charakter hätten. Jørgensen zeigt daher auf, wie die EU ihre Kapazitäten in der Verteidigung und Sicherheit ausbauen muss, um als eigenständiger Akteur auf der globalen Bühne bestehen zu können. Alcaro und Dijkstra (2024) argumentieren, dass die EU ihre strategische Autonomie stärken muss, um unabhängiger von externen Mächten wie den USA zu agieren und gleichzeitig ihre Rolle als globaler Akteur zu festigen. Die Autoren betonen die Notwendigkeit einer kohärenteren und effizienteren Entscheidungsfindung innerhalb der EU sowie die Stärkung der gemeinsamen Verteidigungsinitiativen. Wenn Europa sich selbst verteidigen müsse, dann sei es nur vernünftig, die Vielzahl von rüstungspolitischen Redundanzen zu verringern und europäische Antworten auf die Herausforderung zu entwickeln. Der deutsche Bundeskanzler Scholz stützt diese Erwartungen mit seiner Zeitenwende-Rede: „Wie können wir (…) in einer zunehmend multipolaren Welt als unabhängige Akteure bestehen?“, fragte er in der Zeitschrift „Foreign Affairs“ am 5. Dezember 2022 (Scholz 2022). Seine Antwort darauf lautet: Europa muss militärisch schlagfertiger werden und dafür braucht es die Führung seines größten Landes.

In deutlichem Gegensatz zur Europäisierungserwartung lassen die letzten Jahre und Monate allerdings weder einen europäischen supranationalen Integrationsschub in der „Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik“ bzw. Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GASP/GSVP) noch eine veritable Vertiefung bzw. Fusion der deutsch-französischen verteidigungs- und rüstungspolitischen Kooperation erkennen (grundlegend hierzu Schimmelfennig 2021, Seidendorf 2023): Weder bei der Ankündigung des Sondervermögens in Höhe von 100 Mrd. € für die Bundeswehr durch Olaf Scholz, noch bei seinen Vorschlägen für eine europäische Luftabwehr in Prag oder bei der Umsetzung des Vorschlags einer „European Sky Shield Initiative“ durch 15 Nato-Verteidigungsminister spielte die deutsch-französische Beziehung eine prioritäre Rolle (Seidendorf 2022; de Weck 2023). Bestehende Rüstungsprojekte mit Frankreich werden im besten Fall stiefmütterlich vorangetrieben und auch von einer systematischen europapolitischen Koordination durch den Europäischen Verteidigungsfond lässt sich nicht sprechen (Grand 2023). Anstelle dessen wird das aufgelegte Sondervermögen primär für US-amerikanische oder israelische Waffensysteme ausgegeben und steht aus vielerlei Gründen nicht für die Festigung der deutsch-französischen Kooperation zur Verfügung (Burilkov und Rieck 2023; Dorn et al. 2022). Arnold und Major (2024) beleuchten die unterschiedlichen sicherheitspolitischen Ansätze und Prioritäten beider Länder und die Auswirkungen dieser Divergenzen auf die europäische Sicherheit und Verteidigung sowie die Möglichkeiten zur Überwindung dieser Unterschiede. Trotz der bestehenden Differenzen sei eine enge Zusammenarbeit zwischen Frankreich und Deutschland unerlässlich, um die Sicherheit und Stabilität in Europa zu gewährleisten. Zudem betonen sie die Bedeutung eines konstruktiven Dialogs und einer abgestimmten Sicherheitsstrategie (siehe auch Ribeiro et al. 2024, Schramm und Krotz 2024).

Von einer Zeitenwende hin zu einer kollektiven Außen- und Sicherheitspolitik der EU kann jedenfalls aufgrund der divergierenden strategischen mitgliedstaatlichen Interessen in Bezug auf die Konflikte in der Nachbarschaft nicht die Rede sein. Dieser Befund wird nicht dadurch verändert, dass die EU mit der Friedensfazilität die European Union Military Assistance Mission in der Ukraine und aus dem Verteidigungsfonds die Waffenlieferungen finanziert. Auch engagiert sich die EU umfangreich in der humanitären Hilfe und im Wiederaufbau (Abb et al. 2022). Gleichwohl ist anzumerken, dass weder der „Strategische Kompass für mehr Sicherheit und Verteidigung der EU“ noch die sogenannte „Ertüchtigung“ den Aufbau einer europäischen Hard Power ermöglichen (Benkler et al. 2023, S. 23).

Die intergouvernementale Zusammenarbeit in der GASP zeigt täglich, wie wenig effektiv außenpolitische Entscheidungen unter dem Vorbehalt des Vetos eines der siebenundzwanzig Mitgliedstaaten sind und die europäische Außen- und Sicherheitspolitik eine „Unvollendete“ (Tallis 2024) bleibt. Selbst bei einer Einführung von qualifizierten Mehrheitsverfahren könnte immer noch eine Koalition von vergleichsweise wenigen Staaten wichtige Entscheidungen blockieren und damit in Fragen von Krieg und Frieden zu Handlungsunfähigkeit führen. Die notwendige Europäisierung des Beschaffungswesens kollidiert genauso mit den ökonomischen Eigeninteressen der Mitgliedstaaten wie die Einigung auf eine gemeinsame Politik gegenüber China oder auch in der Frage der Anwendung von Menschenrechten, die über den kleinsten gemeinsamen Nenner hinaus gehen könnte. Die Bereitschaft zu einer Vergemeinschaftung von außen- und sicherheitspolitischen Kompetenzen bricht sich an der Wahrscheinlichkeit, dass diese direkt in eine neue Politikverflechtungsfalle führt.

Die Internationalen Beziehungen können wichtige Beiträge zur Analyse des Ukrainekonflikts beisteuern, erklären aber nicht den mangelnden Politikwandel der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik. Erklärungsstärker ist eine Kombination von idealistischen Erklärungsansätzen der Friedens- und Konfliktforschung sowie institutionalistische Argumente der Regierungslehre; sie zusammen betrachtet ermöglichen ein Verständnis für die außen- und sicherheitspolitische Immobilität Deutschlands.

2.4 Der Erklärungsansatz der Regierungslehre

Eine starke Erklärung für die Immobilität der deutschen Außenpolitik bietet das Zivilmachtkonzept (Harnisch und Maull 2001, Harnisch 2023). Dem Konzept zufolge entwickeln Staaten aufgrund ihrer historischen Erfahrungen und sicherheitspolitischen Interessen über die Zeit ein bestimmtes Rollenverständnis, das auch dann stabil bleibt, wenn sich wesentliche Rahmenbedingungen verändern. Wesentliche Normen der deutschen Vergangenheit wie der Pazifismus, die transatlantische Bindung und – vor allem in Ostdeutschland – die Zusammenarbeit mit Russland (Stent 2022; Davies 2023; Dörr 2022) seien hier fest eingeschrieben und nicht kurzfristig ablösbar. Die Bundesregierung handelt demzufolge nicht bloß nach dynamisch veränderlichen Interessenslagen, sondern weist eine Identität auf, die notwendig ein hohes Maß an Kontinuität zeigt (Szabo 2023). Forderungen nach einer grundlegenden Neuausrichtung prallen entweder an dieser Rolle ab oder haben es zumindest sehr schwer, sich gegen diese durchzusetzen (Brockmeier 2023, Verbovszky 2024). Rollentheoretische Ansätze haben große Stärken in der Erläuterung von normativen Pfadabhängigkeiten für politische Entscheidungen (Dück und Stahl 2023). Derartige Pfadabhängigkeiten dürfen gleichwohl auch nicht verabsolutiert werden (Bunde 2022). Ideen und Überzeugungen unterliegen immer auch dem Wandel der Zeit, sind kontextabhängig und damit erklärungsbedürftig, wenn sie trotz veränderter Rahmenbedingungen weiterhin politische Prägekraft entfalten (Stengel 2023).

Institutionalistische Ansätze helfen hier weiter, insbesondere der „Akteurzentrierte Institutionalismus“ (Mayntz und Scharpf 1995). Fritz Scharpf (1985) hat bereits vor fast vierzig Jahren mit der Politikverflechtungsfalle auf die Möglichkeit hingewiesen, dass institutionelle Strukturen Politiken auch dann auf Dauer stellen können, wenn sie offensichtlich dysfunktional sind. Scharpf nutzte die föderalen Abstimmungsprozesse zwischen Bund und Ländern sowie die marktschaffende Politik in Europa als Beispiele dafür, wie nur mit Einstimmigkeit rückholbare Verlagerungen von Entscheidungskompetenzen in dysfunktionalen institutionellen Strukturen direkt in die Politikverflechtungsfalle führen könnten.

Sicherheitsrelevante Themen wie Cybersicherheit oder hybride Bedrohungen sind nach wie vor in der Verantwortung von Bundesländern. Die geplante Grundgesetzänderung, um die Gefahrenabwehr auf Bundesebene zu zentralisieren, steckt seit mindestens drei Jahren in der Bund-Länder Abstimmung fest. Auch die außen- und sicherheitspolitischen Entscheidungen auf der EU-Ebene führen zu der Situation, dass die Ressorts sich oftmals nicht einigen und Deutschland sich im Europäischen Rat dann enthalten muss.

Darüber hinaus basiert das Beschaffungswesen auf einem außerordentlich komplexen deutschen Verwaltungsrecht, dass erst mühsam durch den Gesetzgeber angepasst werden muss (Borchert et al. 2022). Hartmann, Janke und Rosen (2024) sehen hier aber bereits erste Anzeichen dafür, wie der Konflikt die Prinzipien und Praktiken der Inneren Führung in der Bundeswehr beeinflusst hat und als Katalysator für tiefgreifende Veränderungen in der militärischen Organisation und Kultur wirkt.

Um die deutsche Außen‑, Sicherheits- und Verteidigungspolitik in den Worten von Bundesverteidigungsminister Pistorius „kriegstüchtig“ zu machen, braucht es aber nicht nur die vollumfängliche Umsetzung der neuen verteidigungspolitischen Richtlinien vom November 2023, es bräuchte im Grunde eine weitgehende Reform zentraler Verfassungsprinzipen des „Trennungsgebots“ oder beim „Militär im Innern“. Die notwendige Zustimmung des Bundestages zum Einsatz der Bundeswehr wäre genauso zu überdenken wie die Fragmentierung des außen- und sicherheitspolitischen Prozesses zwischen den verschiedenen Ministerien. Der an sich von allen beteiligten Ministerien unterstützte Versuch, einen Nationalen Sicherheitsrat zu gründen, scheiterte letztlich an der Kompetenzverteilung zwischen Verteidigungsministerium, Auswärtigem Amt und Bundeskanzleramt sowie der mangelnden Bereitschaft, Kompetenzen in einem Haus zu bündeln (Besch und Brockmeier 2022).

Der Anspruch Deutschlands, eine Führungs- bzw. Gestaltungsmacht zu sein, bricht sich an den innenpolitischen institutionellen Gegebenheiten und dem übermäßigen Einfluss von strukturkonservativen Kräften (Barbato 2022). Im Ergebnis lässt sich sogar ein außenpolitischer „Autismus“, das heißt ein Verhaltensmuster, das durchgehend unangemessen ist, beobachten (Maull 2018). Derartige dysfunktionale Wahrnehmungen der Weltpolitik können dazu führen, dass sich Staaten kognitiv abschotten und Beobachtungen nicht mehr zur Kenntnis nehmen, die den eigenen Weltbildern nicht entsprechen. Die sich daraus ergebende „Theorie“ der Welt ist selbstreferenziell und innenbezüglich. Der Blick auf die „neue deutsche Verantwortung“ könnte in diesem Sinne darin gefangen bleiben, einmal etablierte Ideen und Weltsichten zu perpetuieren und die irritierende Komplexität in der unmittelbaren Nachbarschaft aber auch in der internationalen Politik nicht hinreichend zur Kenntnis zu nehmen. Moleta (2024) hat die Frage der nationalen Identität Deutschlands im Kontext der Zeitenwende untersucht. Er diskutiert, wie sich Deutschland zwischen den Konzepten Zeitenwende (Wendezeiten), Leitkultur (führende Kultur) und Gesamtdeutsch (gesamtdeutsche Identität) positioniert und welche Auswirkungen dies auf die nationale und internationale Politik hat. So kommen Lucca, Hoffeller und Steiner (2024) zu dem Ergebnis, dass es Sympathien für Wladimir Putin innerhalb der deutschen Öffentlichkeit gebe. Sie stellen eine durch soziale und politische Faktoren bedingte politische Entfremdung, eine sogenannte „politische Alienation“ fest.

Der in der Regierungserklärung am 27. Februar 2022 verwandte Zeitenwende-Begriff ist eine bis 2014 zurück verfolgbare rhetorische Argumentationsfigur der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik, die dort Handlungsfähigkeit suggeriert, wo die Außen- und Sicherheitspolitik faktisch innenpolitisch nicht nur in einer doppelten „Politikverflechtungsfalle“ (Scharpf 1985, Mayntz und Scharpf 1995) auf nationaler wie auf europäischer Ebene institutionell blockiert ist, sondern vielmehr in einer Politikverpflichtungsfalle der „außenpolitischen Kontinuität“ der Bundesrepublik Deutschlands und seiner wirkmächtigen Verfassungsprinzipien stecken bleibt (vgl. Janes 2022, Sandner 2024).

3 Fazit und Perspektiven

Der ehemalige und vielleicht auch zukünftige Präsident der USA, Donald Trump, lässt keinen Zweifel daran, dass Europa sich zukünftig sehr viel stärker um seine eigene Verteidigung wird kümmern müssen. Krastev konstatiert, dass selbst im Falle eines Wahlsieges der Demokraten, die Welt von gestern nicht wiederherstellbar sei: „Der Zug hat den Bahnhof verlassen und wir treten ein in eine riskante Zeit transformativer Veränderungen in ganz unterschiedlichen Ecken der Welt“ (Krastev 2023). „The Jungle Grows Back“, so brachte es Kagan (2018) auf den Punkt, indem er eindringlich dafür warb, dass die liberale Weltordnung sich auf dem Rückzug befinde oder heute nachdrücklicher verteidigt werden müsse.

Während die Beiträge verschiedener Subdisziplinen der Politikwissenschaft aus dem Jahr 2023 noch skeptisch im Hinblick auf die außen- und sicherheitspolitische Kehrtwende sind, sind die Analysen aus dem Jahr ersten Halbjahr 2024 verhalten optimistisch. Demnach sei Deutschland in einer Phase tiefgreifender sicherheitspolitischer und gesellschaftlicher Veränderungen, die durch die Zeitenwende und die aktuelle geopolitische Lage, insbesondere die russische Invasion in der Ukraine, ausgelöst wurden (O’Neal 2024, Müller-Hennig 2022). Die Beiträge verdeutlichen, dass Deutschland sich sowohl intern als auch in seiner Rolle innerhalb der Nato neu positioniert habe. Die Diskussionen über nukleare Abschreckung, die Rolle der Bundeswehr und die Beziehung zwischen Militär und Gesellschaft sind unlängst zentrale Themen geworden (Legvold 2024). Graf, Steinbrecher und Biehl (2024) stellen einen Wandel in der deutschen Haltung zur Nato nach der russischen Invasion in der Ukraine fest. Sie erklären, wie die anfängliche Zurückhaltung Deutschlands durch eine verstärkte Solidarität innerhalb der Nato ersetzt wurde. Die veränderte Bedrohungswahrnehmung und das Bedürfnis nach kollektiver Sicherheit führten dazu, dass Deutschlands sicherheitspolitische Strategie durch die Ereignisse in der Ukraine transformiert wurde. Auch Bunde (2024) argumentiert, dass die veränderte Sicherheitslage in Europa durch die russische Aggression, Deutschland dazu zwinge, seine bisher zögerliche Haltung gegenüber nuklearer Abschreckung zu überdenken. Fix (2024) beleuchtet in „The End of Civilian Power“ das Ende der traditionellen deutschen Zivilmacht insbesondere im Zusammenhang mit nuklearen Waffen.

Das Literature Review basiert auf verschiedenen Subdisziplinen der Politikwissenschaft und gelangt in der Gesamtschau zu einem ernüchternden Ergebnis. Denn vieles deutet eher auf eine mangelnde Gestaltungsfähigkeit der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik hin, die eine weitgehende Fortsetzung der transatlantischen Juniorpartnerschaft zur Folge hat und den Aufbau einer europäischen eigenständigen außen- und verteidigungspolitischen Identität Europas vernachlässigt. Diese Erkenntnis ist bei weitem nicht neu, umso erstaunlicher ist dann aber der Befund, dass zahlreiche Beiträge insbesondere aus der Integrationsforschung aber auch der praxisnahen Sicherheitsforschung eher einen appellativen als analytischen Charakter vorweisen, indem sie mit ambitionierten Forderungen an die Außen- und Sicherheitspolitik ihre teilweise disziplinär verengten Ausführungen abschließen.

Der vorliegende Beitrag macht deutlich, dass die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik von einer Politikwandel verhindernden Kombination aus institutionalistischer Politikverflechtungsfalle (z. B. Ressortprinzip, Koalitionsregierung) und idealistischer Politikverpflichtungsfalle (Kontinuität deutscher Außenpolitik) geprägt ist. Aus diesem Grund braucht es für eine zielführende wissenschaftliche Auseinandersetzung die Zusammenführung der Ansätze der politikwissenschaftlichen Teildisziplinen. Durch diese werden interessante Erkenntnisse zur Reformunfähigkeit von deutscher Außen- und Sicherheitspolitik ermöglicht. Die Erkenntnisse der Regierungslehre sowie die Tradition der Friedens- und Konfliktforschung in kombinierter Betrachtung können erklären, warum die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik in einer institutionellen Struktur der Verhinderung gefangen ist, in der die außen- und sicherheitspolitischen Entscheidungsträger den Gestaltungsrahmen der Politik auf die Fortsetzung von historischen Pfadabhängigkeiten festlegen, obwohl das außen- und sicherheitspolitische Narrative bereits auf Wandel ausgerichtet ist.