1 Einleitung: Wandel als Verfassungsnormalität

Eine Verfassung muss werden. Längst ist dieser Satz, so oder so ähnlich formuliert, zur Standartlosung in zahllosen Texten über Verfassungen geworden. Prägnant beschrieben wird damit der stete Wandel, dem Verfassungen unterliegen (müssen). Denn will eine Verfassung beständig und dauerhaft wirksam – und damit aus einer normativen Perspektive erfolgreich – sein, ist ein immerwährender Balanceakt notwendig: Einerseits muss eine Verfassung stets im Wandel begriffen sein und an die vorherrschenden zeitlichen Gegebenheiten, Entwicklungen und Herausforderungen angepasst werden. Andererseits muss sie so robust konstruiert sein, dass sie sich nicht in ihren Grundfesten erschüttern lässt oder gar gänzlich aus diesen ausgehebelt werden kann. Das erfolgreiche Balancieren zwischen diesen Anforderungen ist maßgeblich entscheidend für die (dauerhafte) Qualität einer Verfassung, welche die Grundlage des Zusammenlebens der Bürgerinnen und Bürger in einem Staat darstellt. Gelingt dieser Balanceakt nicht, sind auch rechtstheoretisch als „gut“ eingestufte Verfassungen, wie etwa die Weimarer Reichsverfassung, absehbar zum Scheitern verurteilt.Footnote 1

Aus globaler Perspektive hat der Siegeszug der Verfassungen längst stattgefunden: Mit Großbritannien, Neuseeland und Israel verzichten gegenwärtig nur drei Staaten weltweit auf eine niedergeschriebene Verfassung. Analytisch unterschieden werden können in vergleichender Weise normative, nominalistische und semantische Verfassungen. Dabei haben Verfassungen normativen Charakters gewissermaßen die „größte Reichweite“ in verschiedene Belange des gesellschaftlichen Zusammenlebens sowie der politischen Organisation eines Staates. Als nominalistisch werden solche Verfassungen bezeichnet, die zwar „auf dem Papier“ gültig sind, den realen Politikbetrieb aber nicht beeinflussen (können). Semantisch werden Verfassungen genannt, die zwar in der Realität angewendet werden, jedoch allein dem Machterhalt des bzw. der Herrschenden dienen (Detjen 2009, S. 16).

Das deutsche Grundgesetz, welches in diesem Jahr sein 75-jähriges Bestehen feiert, kann gemäß dieser Kategorisierung als gutes Beispiel einer normativen Verfassung gelten. Beständig wird – berechtigterweise – ihr tiefes Hineinwirken in das gesamtgesellschaftliche Zusammenleben hervorgehoben. Dem oben beschriebenen Balanceakt sah und sieht sich gleichwohl stets auch das Grundgesetz ausgesetzt. Immer wieder musste es in der Vergangenheit angepasst oder erweitert werden, um zeitaktuellen Herausforderungen adäquat begegnen zu können. Die daraus resultierende und nicht selten kritisierte Folge, dass das Grundgesetz heute mehr als doppelt so dick ist (rund 23.000 Wörter) wie in seiner Ursprungsversion 1949 (etwa 11.000 Wörter), kann, jedenfalls zum Teil, als Nachweis dieser Entwicklung gedeutet werden.

2 Das Bundesverfassungsgericht als „Hüter der Verfassung“

Die Aufgabe, die im Grundgesetz niedergeschriebenen Verfassungsnormen zu schützen und ihre Einhaltung mittels seiner Rechtsprechung zu überwachen, kommt im politischen System der Bundesrepublik Deutschland dem Bundesverfassungsgericht zu. In bewusster Abgrenzung zur oben erwähnten Weimarer Reichsverfassung haben die Mütter und Väter des Grundgesetzes das Bundesverfassungsgericht als eigenständiges Verfassungsorgan als „Hüter der Verfassung“ etabliert. Als Bewertungsmaßstab für die Verfassungsrichterinnen und -richter dient dabei allein das Grundgesetz, politische Abwägungen dürfen bei den Entscheidungen hingegen keine Rolle spielen – das Bundesverfassungsgericht sei kein „politischer Akteur“, wie es in der Aufgabenbeschreibung des Gerichts selbst heißt (Bundesverfassungsgericht 2024).

Gleichwohl ist unstrittig, dass das Bundesverfassungsgericht mit seinen weitreichenden Entscheidungen die bundesdeutsche verfassungs- und gesellschaftspolitische Wirklichkeit maßgeblich mitbestimmt. Exemplarisch für die zentrale Rolle des Bundesverfassungsgerichts, welche der Verfassungsgeber für die obersten Richterinnen und Richter von Beginn an vorgesehen hat, ist die für den demokratischen Kompass der bundesrepublikanischen Gesellschaft elementare Begriffsbestimmung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung, deren Ausgestaltung vor dem Hintergrund zunehmender politischer und gesellschaftlicher Polarisierung einen neuen Bedeutungszugewinn erfährt.

Trotz achtfacher Nennung im Grundgesetz, darunter mehrfach im Grundrechtsteil und ebenfalls prominent im „Parteienartikel“ (Art. 21 GG) haben die Urheberinnen und Urheber des Grundgesetzes 1949 auf eine Legaldefinition verzichtet (Thielbörger 2021). Am Beispiel der Bestimmungen in Art. 21 GG Absätze 2 und 3 lässt sich der Deutungs- und Gestaltungsspielraum illustrieren, der dem Bundesverfassungsgericht durch das Grundgesetz eingeräumt wird: In beiden Fällen wird die freiheitlich-demokratische Grundordnung wörtlich erwähnt, ohne jedoch an dieser oder anderer Stelle festzulegen, welche inhaltlichen Aspekte von dem Begriff adressiert werden. Nicht der Gesetzgeber, sondern die Richterinnen und Richter des Bundesverfassungsgerichts hatten bzw. haben nach dem Grundgesetz also über diese gesamtgesellschaftlich bedeutende Frage zu entscheiden, die in der Praxis mehrfach im Zuge von ParteiverbotsverfahrenFootnote 2 verhandelt wurde.Footnote 3

Für die Deutung und Bestimmung zentraler Begriffe wie der freiheitlich-demokratischen Grundordnung haben die Urheberinnen und Urheber des Grundgesetzes eine tragende Rolle für das Bundesverfassungsgericht offenkundig von Beginn an vorgesehen, weshalb sich in diesem Zusammenhang geäußerte Kritik in der Regel auf inhaltliche Aspekte bezogen hat. Anders verhält es sich in Fällen, in denen das Bundesverfassungsgericht in der Wahrnehmung einiger Kritikerinnen und Kritiker an die Grenzen seiner Kompetenzen – oder gar darüber hinaus – ging. In diesen Fällen sehen sich die Richterinnen und Richter dem Vorwurf ausgesetzt, als „Übergesetzgeber“ (Voigt 2015, S. 70) den eigenen Kompetenzbereich zu überschreiten. Laut wird diese Kritik meistens dann, wenn das Bundesverfassungsgericht nach der Deutung der Kritikerinnen und Kritiker über die eigene Zuständigkeit hinaus „aktiv Politik macht“.

Das jüngste markante Beispiel ist das Urteil zum Nachtragshaushaltsgesetz 2021 (Urteil: 2 BvF 1/22). Dieses hat das Bundesverfassungsgericht im November 2023 für grundrechtswidrig und damit für nichtig erklärt und mit dieser Entscheidung ein mittleres politisches Erdbeben ausgelöst. Die Richterinnen und Richter stützten sich dabei zwar auf eine juristische Argumentationslinie: Verschiedene Grundsätze, die sich aus den Bestimmungen des Grundgesetzes ergeben, seien in dem Nachtragshaushalt missachtet worden, im Ergebnis liege insbesondere ein Verstoß gegen die Ausnahmeregelung der „Schuldenbremse“ (Art. 109 i. V. m. Art. 115 GG) vor (siehe zur Urteilsbegründung genauer: Bundesverfassungsgericht 2023). Die politischen Folgen des Urteils waren gleichwohl eklatant: In der Bundeshaushaltsplanung für das Jahr 2024 fehlten dadurch vor allem für verschiedene Klimaschutzmaßnahmen fest eingeplante Investitionssummen in Höhe von 60 Mrd. € (Tagesschau 2023), was abermals kontroverse Diskussionen über die Inhalte des Urteils, darüber hinaus aber auch über die politische Rolle des Bundesverfassungsgerichts generell auslöste.

3 Reicht der rechtliche Schutzrahmen für das Bundesverfassungsgericht?

All diesen von Zeit zu Zeit geführten (Grundsatz‑)Debatten zum Trotz, ist die enorme Bedeutung des Bundesverfassungsgerichts für die liberale Demokratie in Deutschland unbestritten. Die Unabhängigkeit der Richterinnen und Richter sowie die Absenz jedweder politischer Einflussaufnahme auf die Urteilsfindung, stellen zwei der wesentlichen Elemente des in Deutschland eng verknüpften Demokratie- und Rechtsstaatsverständnisses dar.

Gleichwohl lässt sich auch hierzulande, sowohl auf Bundes- als auch Landesebene, ein Aufschwung extremer politischer Kräfte beobachten, die diesen vermeintlichen Konsens zumindest in Frage stellen und aktiv herausfordern (Janisch und Mayer 2024). Vor diesem Hintergrund wird gegenwärtig mit neuer Vehemenz eine Debatte über die strukturelle Stärkung des Bundesverfassungsgerichts qua Verfassungsänderung geführt. Im Kern sieht der Vorschlag der Bundesregierung aus dem Januar 2024 vor, dass das Bundesverfassungsgerichtsgesetz nicht mehr wie bisher mit einfacher Mehrheit, sondern fortan nur noch mit Zweitdrittelmehrheit verändert werden kann (Redaktionsnetzwerk Deutschland 2024). Der Entwurf scheiterte im ersten Anlauf am Veto der Unionsparteien, deren Zustimmung aufgrund der erforderlichen Zweitdrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat im Zuge einer Grundgesetzänderung notwendig wäre. Für die nahe Zukunft sind jedoch neue Gespräche zwischen Bundesregierung und Union anberaumt (Spiegel Online 2024).

Dass diese Debatte in Deutschland aktuell geführt wird, ist freilich kein Zufall: Zur Begründung des Vorstoßes wird seitens der Bundesregierung auf das abschreckende Beispiel Polens verwiesen, wo während der Regierungszeit der rechtsnationalen PiS-Partei (2015-2023) der Verfassungsgerichtshof im Sinne der Regierungspartei umgestaltet wurde (Redaktionsnetzwerk Deutschland 2024). Eine ähnliche Entwicklung könnte, so wird befürchtet, in Deutschland bevorstehen, wenn sich die derzeitigen Wahlumfragen bezüglich der diesjährigen Europa- sowie der Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen in Wahlergebnisse umwandeln sollten.

Generell verdeutlicht der international vergleichende Blick, dass antidemokratische und antirechtsstaatliche Kräfte, welche die auf umfassende gesellschaftliche und politische Anerkennung angewiesenen liberal-demokratischen Spielregeln außer Kraft setzen wollen, auf dem Vormarsch sind. Neu ist dieser Befund, der im politikwissenschaftlichen Diskurs meist unter dem Schlagwort „democratic backsliding“ diskutiert wird, zwar nicht – doch unterstreicht er die Dringlichkeit für liberale Demokratien, sich gegen antidemokratische Kräfte zu wappnen. Empirisch greifbar wird diese Notwendigkeit anhand der jüngst publizierten und aus pro-demokratischer Perspektive besorgniserregenden Ergebnisse des Bertelsmann Transformation Index, die belegen, dass Demokratie und Rechtsstaatlichkeit weltweit massiv unter Druck geraten sind (Bertelsmann Stiftung 2024).

4 Focus-Beiträge im Überblick

Vor dem Hintergrund der beschriebenen und global stattfindenden Entwicklungen widmet sich der vorliegende ZPol-Focus der Frage nach dem Zustand sowie der Zukunft von Verfassung und Rechtstaat. Zunächst setzt sich der Beitrag von Markus Kotzur mit der Verfassungszukunft Europas auseinander. Der Autor konstatiert, dass sich liberale Demokratien aufgrund des Erstarkens autoritärer Kräfte in einem Zustand „demokratischer Selbstentfremdung“ befänden. Ein Ausweg liege in der Stärkung der individuellen Rechte wie auch der Grundreche, wobei den europäischen (Verfassungs‑)Gerichten eine Schlüsselrolle zukomme.

Silvia von Steinsdorff unternimmt in ihrem Beitrag einen „Erklärungsversuch“ für die weltweit vorhandene Gefahr des rule of law backslidings. Dabei wirbt die Verfasserin für eine neue Akzeptanz gegenüber dem oft bestrittenen Spannungsverhältnis zwischen dem Rechtsstaatsprinzip auf der einen und dem Demokratieprinzip auf der anderen Seite. Ausschlaggebend sei eine Balance zwischen beiden Prinzipien im Rahmen der vielfältigen Möglichkeiten des demokratischen Verfassungsstaates.

Der Beitrag von Thomas Demmelhuber und Peter Lintl beleuchtet die israelische Justizreform im Kontext der Verfassungsentwicklungen in der Region des Nahen Ostens. Anhand der dortigen Entwicklungen, argumentieren die Autoren, lasse sich aufzeigen, dass selbst in autokratischen Ordnungen um Verfassungen und ihre Bedeutung gerungen wird. Am Fallbeispiel der israelischen Justizreform zeichnen die Autoren zudem nach, wie sich das Fehlen einer Verfassung auf die Legitimität der de facto vorhandenen Verfassungsorgane sowie auf Prozesse der Staatenbildung und Verfassungsentwicklung auswirkt.