1 Rechtsstaatlichkeit unter Druck

Laut dem Rule of Law Index des World Justice Project (2023, S. 9f.) verschlechtert sich die Qualität der Rechtsstaatlichkeit im globalen Vergleich seit 2016 kontinuierlich. Die gemeinnützige Organisation veröffentlicht jährlich einen ausführlichen Bericht zur Situation der Rechtsstaatlichkeit in 142 Ländern. Bei aller gebotenen Vorsicht gegenüber derartigen Rankings erscheint die Tendenz eindeutig: „rule of law backsliding“ (Kochenov und Pech 2016) ist ein zentraler Bestandteil der weltweit zu beobachtenden Angriffe auf demokratische Regierungssysteme, die unter Begriffen wie „democratic backsliding“ (Bermeo 2016) oder „democratic decay“ (Daly 2019) vielfach beschrieben worden sind.

Die Symptome der Re-Autokratisierungstendenzen reichen von einer Ausweitung der exekutiven Macht auf Kosten des Prinzips von checks and balances über massive Eingriffe in die Presse- und Meinungsfreiheit bis zur gezielten Manipulation von Wahlen. Die Infragestellung fundamentaler Rechtsstaatsprinzipen im engeren Sinne, wie etwa der Unabhängigkeit der Justiz, spielt indes immer eine zentrale Rolle. Selbst in den USA oder der Bundesrepublik Deutschland, wo die konstitutionelle Demokratie noch als konsolidiert gelten kann, geraten die starken rechtsstaatlichen Leitplanken des demokratischen Prozesses unter zunehmenden Beschuss durch autoritär-populistische Akteure. Dieser Befund ist besorgniserregend – und erklärungsbedürftig. Wie lässt sich die massive Ablehnung gerade der „Errungenschaften des offenen freiheitlich demokratischen Verfassungsstaates“ (Kumm 2017) deuten, die die Macht des Stärkeren – in Demokratien: der Mehrheit – durch Recht begrenzen und individuelle Freiheitsrechte unabhängig von politischen Mehrheitsverhältnissen schützen? Die folgenden Beobachtungen skizzieren drei ineinandergreifende Elemente einer möglichen Antwort.

2 Rechtsstaat und Demokratie: Ein oft verkanntes Spannungsverhältnis

Rechtsstaatlichkeit ist ein „essentially contested concept“ (Møller und Skaaning 2012, S. 137). „Dünne“ und „dicke“ Konzepte existieren nebeneinander, und das angelsächsische Verständnis von rule of law unterscheidet sich deutlich vom kontinentaleuropäischen Rechtsstaatsbegriff (von Steinsdorff 2018, S. 142ff.). Im Ergebnis gibt es „an array of puzzles“ (Krygier 2011, S. 65) unterschiedlicher Erklärungsversuche, was genau der Begriff im jeweiligen Kontext bedeutet, und warum das Konzept wichtig ist. Im Kern geht es dabei meist um den komplexen Zusammenhang zwischen Rechtsstaat und Demokratie.

Anders als die – zumal in Deutschland – gängige Formel vom ‚demokratischen Rechtsstaat‘ suggeriert, besteht zwischen Rechtsstaat und Demokratie ein grundsätzliches Spannungsverhältnis. Es handelt sich um zwei Prinzipien politischer Herrschaftsorganisation, die weder historisch noch theoretisch automatisch harmonieren. Vielmehr stehen sie für unterschiedliche Pole der Freiheitssicherung: Während die Grundidee von rule of law die negative Freiheit, also den Schutz individueller Freiheit vor dem Zugriff (staatlicher) Autorität, ins Zentrum stellt, beruht Demokratie auf einem positiven Freiheitsbegriff, d. h. erst eine bestimmte Form politischer Autorität ermöglicht den Herrschaftsunterworfenen die Ausübung von Freiheitsrechten (Sejersted 1988, S. 131f.). Gemeinsam ist beiden Konzepten, dass Recht dazu dient, politische Macht zu begrenzen und an bestimmte, dem direkten Zugriff der Machtausübenden entzogene Regeln zu binden (Reitz 1997, S. 113). Während der rechtsstaatliche Gedanke der Machtbegrenzung durch Teilung und wechselseitige Kontrolle dem institutionellen Wesenskern der Demokratie entspricht, wird die Frage, wer die Regeln dieser Machtbegrenzung bestimmt, unterschiedlich beantwortet.

Konkret geht es um die Kompetenzen einer demokratisch legitimierten politischen Mehrheit, die Regeln zu setzen und gegebenenfalls jederzeit zu verändern. Je nachdem, wie umfangreich der Bereich rechtlicher Setzungen ist, der dem unmittelbaren Zugriff politischer Mehrheitsentscheidungen – etwa durch eine Festschreibung in der Verfassung – entzogen ist, wird das demokratische Mehrheitsprinzip mehr oder weniger stark begrenzt. Eine besonders sichtbare Form der Einschränkung stellen Verfassungsgerichte dar, die durch Normenkontrollverfahren parlamentarische Mehrheitsentscheidungen annullieren können, sofern sie gegen Verfassungsrecht verstoßen. Ähnlich wie bei anderen nichtmajoritären Institutionen, etwa Zentralbanken oder Ombudspersonen, handelt es sich stets um einen „Tradeoff“ (Voigt 2023, S. 283) zwischen den konstitutionellen Elementen der liberalen Demokratie, die bestimmte Kontroll- und Expertenfunktionen bewusst dem Mehrheitsprinzip entzieht, und der Notwendigkeit einer unmittelbaren demokratischen Legitimation politisch bedeutsamer Entscheidungen.

Diese countermajoritarian difficulty, die insbesondere für Verfassungsgerichte vielfach beschrieben wurde (z. B. Waldron 2006), bietet einen zentralen Ansatzpunkt für die Suche nach den Ursachen der gegenwärtig zu beobachtenden Angriffe auf die konstitutionellen Aspekte der Demokratie. Während die Begrenzung des demokratischen Mehrheitsprinzips durch recht(sstaat)liche Prinzipien fraglos zu den Grundpfeilern einer konstitutionellen Demokratie zählt, in der Minderheitsrechte und individuelle Freiheiten garantiert werden, müssen der Umfang und die Verfahren dieser Begrenzung immer wieder neu austariert werden. Die Ausblendung oder gar Leugnung dieses konstitutiven Spannungsverhältnisses zwischen Rechtsstaat und Demokratie schadet beiden Prinzipien.

3 Demokratisch motivierte Rechtsstaatsskepsis

In gewissem Maße lässt sich die gegenwärtige Kritik an rechtsstaatlichen Institutionen und Praktiken als Reaktion auf den großen Erfolg der Idee in den vergangenen beiden Jahrzehnten deuten. Seit Beginn der 2000er Jahre galt Rechtsstaatlichkeit als „international hurrah term, on the lips of every development agency, offered as a support for economic growth, democracy, human rights, and much else“ (Krygier 2011, S. 64). Diese Entwicklung stößt aus zwei Gründen auf Kritik: Zum einen werden berechtigte Einwände gegen ein zu mechanistisches Verständnis von Rechtsstaatlichkeit artikuliert, und zum anderen bekommt die keineswegs neue Skepsis gegen nichtmajoritäre Institutionen, insbesondere Verfassungsgerichte, und eine (zu) starke konstitutionelle Über-Determinierung politischen Entscheidens neuen Auftrieb.

Hauptursache des „rule of law revival“ (Carothers 2010, S. 18) war eine schmerzliche Erkenntnis der Demokratisierungsforschung, die sich nach dem Zerfall der realsozialistischen Regime zunächst auf politischen Wettbewerb und Repräsentation als Kernelemente der demokratischen Transformationsprozesse konzentriert hatte. Es zeigte sich jedoch schnell, dass Adam Przeworskis (1991, S. 10) berühmte Formulierung „democracy is a system in which parties lose elections“ kein hinreichendes Rezept für die Etablierung stabiler, liberaler Demokratien bietet. Vielmehr verfestigten sich dort, wo die Grundlagen des Konstitutionalismus defizitär blieben, so genannte „illiberale“ Demokratien (Zakaria 1997) bzw. es setzten schon bald massive Re-Autokratisierungsprozesse ein. Deshalb konzentrierten sich fortan alle Bemühungen, demokratische Transformationen zu unterstützen und dem beginnenden democratic backsliding zu begegnen, vermehrt auf die rechtlichen Grundlagen des politischen Prozesses. Man versuchte, mithilfe eines planvollen „institutional engineering“ (z. B. von Beyme 2001) die konstitutionellen und administrativen Rechtsstaats-Mechanismen zu stärken. Dabei geriet der normative Gehalt liberaler Demokratie, der durch diese Maßnahmen ja eigentlich gesichert werden sollte, mitunter aus dem Blick. Thomas Carothers spricht in diesem Zusammenhang von einer spezifischen Form des Reduktionismus, der die spannungsreiche konzeptionelle Verbindung zwischen Rechtsstaat und Demokratie zugunsten einer auf den prozeduralen Aspekt reduzierten Konzeption von rule of law minimiert (Carothers 2010, S. 23).

Zahlreiche Beispiele für eine solche mechanistische Verengung der Rechtsstaatsidee finden sich etwa im Normexport der Europäischen Union (EU) während und seit der Osterweiterung. Die EU-Institutionen konzentrierten sich auf eine Reihe formaler Rechtsanpassungen in den beitrittswilligen Staaten, die beispielsweise die Unabhängigkeit der Justiz, die Korruptionsbekämpfung oder die Nicht-Diskriminierung gesellschaftlicher Minderheiten sichern sollten. Ziel war die möglichst rasche und umfassende Abarbeitung einer vorgegebenen Checkliste von rechtlichen Maßnahmen; eine inhaltliche Auseinandersetzung mit dem politisch-kulturellen Kontext oder Vorbehalten der Bevölkerungsmehrheit gegenüber einzelnen Punkten des Maßnahmenkatalogs unterblieb weitgehend (vgl. von Steinsdorff 2018, S. 148ff.). Ähnliche „ad hoc laundry lists of [rule of law] institutions to reform“ (Kleinfeld Belton 2005, S. 7) finden sich auch in anderen Programmen zur externen Demokratisierung, etwa von USAID oder der Weltbank. Aufgrund der fehlenden Rückbindung an „ends based definitions“ (ebd.) von Rechtsstaatlichkeit bleiben solche technokratischen Förderversuche oft nicht nur wirkungslos, sondern sie können mittelfristig sogar anti-liberale, anti-konstitutionelle Demokratievorstellungen befördern.

Zentraler Bestandteil aller „Rechtsstaats-Checklisten“ sind formell unabhängige Gerichte und die Existenz einer starken Verfassungsgerichtsbarkeit. Hier setzt eine zweite Form der Kritik an, die sich im Kern auf die skizzierte countermajoritarian difficulty bezieht, mit der (Verfassungs‑)Gerichte, die Entscheidungen der Legislative annullieren können, unweigerlich konfrontiert sind. Während sich in den 1990er-Jahren, als nicht nur in den osteuropäischen Transformationsstaaten zahlreiche Verfassungsgerichte mit weitreichenden Normenkontroll-Kompetenzen etabliert wurden, kaum warnende Stimmen erhoben, werden Vorbehalte gegen die vermeintlich übertriebene Einengung des (mehrheits‑)demokratischen politischen Entscheidungsprozesses durch aktivistische Gerichte gegenwärtig sehr deutlich artikuliert.

Besonders lebhaft ist diese Kritik in den USA, wo die extreme Politisierung des US Supreme Court den schon immer vorhandenen Skeptikern starke Argumente liefert (z. B. Plebuch 2022, mit weiteren Verweisen). Der bekannte amerikanische Historiker und Verfassungsrechtler Samuel Moyn etwa formulierte fundamentale Vorbehalte gegen den Supreme Court, der seiner Ansicht nach zu Unrecht „the last word over large parts of our national political conversation“ ausübe (Moyn 2021, S. 3). Vor der von Präsident Biden eingesetzten Reformkommission zog er den Schluss: „The American higher judiciary has too much authority (…), and this fact has been grievous for our national political experience“ (ebd.). Diese Äußerungen setzen den Ton der aktuellen Debatte, die an bekannte Thesen anschließt, wie etwa die einer „judicialization of politics“ (Stone Sweet und Shapiro 2002), einer von Verfassungsgerichten ausgeübten „juristocracy“ (Hirschl 2009) oder einer „judicialization of justice“ (Maravall 2009, S. 262). Letztlich geht es auch den aktuellen Kritikern darum, die (verfassungs-)rechtlichen Begrenzungen des demokratischen Mehrheitsprinzips neu zu vermessen und das Spannungsverhältnis zwischen Demokratie und Rechtstaat neu auszutarieren.

Die problematische Wirkung, die diese grundsätzlich notwendige Diskussion in der gegenwärtigen politischen Situation entfalten kann, offenbart indes Martin Loughlins einflussreiches Buch „Against Constitutionalism“ von 2022. Der britische Rechtsprofessor kritisiert darin sehr pointiert, dass sich aus der historisch gewachsenen Idee der konstitutionellen Demokratie inzwischen eine globale Ideologie des Konstitutionalismus entwickelt habe, der ein umfassendes politisches Programm zugrunde liege. Die illegitime Veto-Macht der Gerichte gegenüber den gewählten Volksvertretungen ist laut Loughlin nur ein Aspekt dieser „total constitution“ (Loughlin 2022, S. 131). Während die Hauptaufgabe konstitutioneller Demokratie eigentlich darin bestehe, die beiden widerstreitenden Konzepte positiver und negativer Freiheitssicherung „in a state of productive irresolution“ zu halten (ebd.: 161), habe sich im ideologisch aufgeladenen Konstitutionalismus die Balance massiv zugunsten der recht(sstaat)lichen Regulierung verschoben, die im Ergebnis die gesamte politische, soziale und kulturelle Ordnung dominiere.

Bis zu diesem Punkt lässt sich Loughlins Position als möglicherweise überspitzte, aber grundsätzlich nachvollziehbare Skepsis gegenüber einer – realen oder vermeintlichen – Überbetonung der konstitutionellen Grenzen der Demokratie einordnen. Seine weiterreichende Schlussfolgerung ist jedoch demokratietheoretisch und -praktisch hoch problematisch. Angesichts der Dominanz des ideologisierten Konstitutionalismus sei es nämlich nur konsequent, so argumentiert Loughlin, dass immer mehr „illiberal democracies“ wie etwa in Ungarn und Polen entstünden, und dass rechtspopulistische, nationalistische Bewegungen auch in anderen Ländern zunehmenden Rückhalt fänden. Anstatt diese Entwicklungen als Gefahr für die konstitutionelle Demokratie zu interpretieren, sieht Loughlin sie als „reasonable responses to how constitutional democracies have been undermined by the extending influence of constitutionalism“ (ebd: 199). Diese Fehlinterpretation leistet den anti-demokratischen Angriffen auf das Rechtsstaatsprinzip durch die genannten Akteure unwillentlich Schützenhilfe.

4 Angriffe auf den Rechtsstaat durch autoritäre Anti-Demokraten

Von autoritären, rechtspopulistischen Kräften, die gegenwärtig in allen Teilen der Welt erstarken (vgl. z. B. Levitsky und Ziblatt 2018, Schäfer und Zürn 2021), geht eine spezifische Bedrohung für die rechtsstaatlichen Fundamente liberaler Verfassungsordnungen aus. Zu den konstitutiven Merkmalen dieser Bewegungen zählt ihr dezidierter Antipluralismus, das heißt sie negieren die existentielle Bedeutung von politischer Opposition und Minderheitsrechten als Grundpfeiler jeder Demokratie (Müller 2017). Im Namen eines angeblich homogenen Volkswillens berufen sie sich auf ein vermeintlich unumschränktes Mehrheitsprinzip und bekämpfen jegliche nichtmajoritären Institutionen, da diese dem unmittelbaren Zugriff der politischen Mehrheit entzogen sind. Dies erklärt die spezifische Feindseligkeit insbesondere gegenüber unabhängigen (Verfassungs‑)Gerichten und gegenüber den rechtsstaatlichen Schutzmechanismen demokratischer Regierungssysteme allgemein.

Im Unterschied zu früheren autoritären Bewegungen bekennen sich die ‚modernen‘ Rechtspopulisten allerdings nicht offen zu ihren antidemokratischen Grundsätzen. Vielmehr haben sie spezifische Mimikry-Strategien entwickelt, die Kim Lane Scheppele (2018) treffend als „autocratic legalism“ beschrieben hat. Sie schaffen die Institutionen, die sie bekämpfen, nicht einfach ab. Vielmehr bleibt die demokratische Fassade erhalten, aber die Substanz wird durch Gesetzes- oder Verfassungsänderungen – also auf formell demokratischem Wege – ‚entkernt‘ (Prendergast 2019). Im Ergebnis können zum Beispiel unter exekutive Kontrolle gebrachte Verfassungsgerichte als willfähriges Werkzeug für die weitere autoritäre Umgestaltung des politischen Systems genutzt werden (Tóth 2018). Eine weitere Strategie ist die Errichtung eines „Frankenstate“, wie Kim Lane Scheppele (2013) in Anlehnung an Frankensteins Monster die Übernahme von einzelnen rechtlichen Regelungen aus demokratischen Ländern nennt, etwa beim Wahlrecht oder bei der Einschränkung von Grundrechten. Deren gezielte Neu-Kombination führt jedoch zu einer Pervertierung des ursprünglichen Normzwecks. Auf diese Weise lässt sich der Anschein erwecken, die autokratische Umgestaltung orientiere sich bewusst an internationalen Demokratiestandards und versuche dabei lediglich, dysfunktionale Aspekte einer überbordenden Rechtsstaats-Fixierung zu überwinden.

Hier wird deutlich, wie geschickt die teils durchaus berechtigte Kritik an einer (zu) starken Determinierung des mehrheitsdemokratischen Entscheidungsprozesses durch rechtsstaatliche Schranken von autoritären Rechtspopulisten instrumentalisiert wird. Exemplarisch lässt sich dies an der Entmachtung des ungarischen Verfassungsgerichts durch Viktor Orbáns Fidesz-Regierung belegen. Die erste Generation der ungarischen Verfassungsrichter*innen hatte in den 1990er-Jahren eine sehr aktive Rolle bei der demokratischen Transformation gespielt und grundlegende (verfassungs-)politische Fragen, wie die Abschaffung der Todesstrafe oder das Verfahren zur Aufarbeitung der sozialistischen Vergangenheit, gegen den parlamentarischen Mehrheitswillen entschieden (Boulanger 2006, S. 271f.). Obwohl der deshalb verschiedentlich erhobene Vorwurf überzogen ist, das Gericht habe eine „courtocracy“ errichtet (Scheppele 2007, S. 318), nutzte ihn Viktor Orbán gezielt zur Legitimierung seines letztlich erfolgreichen Feldzugs gegen die Unabhängigkeit der Institution.

Dieses Beispiel wirft ein grelles Licht auf ein tieferliegendes Problem: Die Verzerrung und den Missbrauch der konstruktiven Debatte über das konstitutive Spannungsverhältnis zwischen Rechtsstaat und Demokratie durch autoritäre Anti-Demokraten. Wie die skizzierten Schlussfolgerungen belegen, die Martin Loughlin aus der von ihm diagnostizierten Über-Konstitutionalisierung demokratischer Regierungssysteme zieht, werden diese durch pseudo-demokratische Rhetorik getarnten Bestrebungen zu oft nicht erkannt. Insofern spielt die legitime Diskussion über notwendige Reformen innerhalb des demokratischen Verfassungsstaats den Angriffen auf dessen Grundprinzipien von außen in die Hände.

5 Fazit

Die genannten Gründe für den wachsenden Druck auf die Rechtsstaatlichkeit machen einfache Gegenstrategien schwierig. Kritische Debatten über eine mögliche Über-Determinierung konflikthafter mehrheitsdemokratischer Entscheidungsprozesse durch eine rechtsstaatliche ‚Einhegung‘ müssen geführt werden – selbst auf die Gefahr hin, dass sie von anti-demokratischen Rechtsstaatsfeind*innen erfolgreich instrumentalisiert werden könnten. Wie gezeigt, kann gerade auch eine unreflektierte, mechanistische Rechtsstaats-Gläubigkeit kontraproduktiv wirken. Entscheidend ist, das konstitutive Spannungsverhältnis zwischen Rechtsstaat und Demokratie klar zu benennen und die fortgesetzte Suche nach einer möglichst fairen Balance zwischen den Prinzipien als konstruktive Daueraufgabe des demokratischen Diskurses positiv darzustellen.