Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine, der am 24. Februar 2022 begann und nach wie vor andauert, hat die Europäische Union (EU) und ihre 27 Mitgliedsstaaten bis auf die Grundfeste erschüttert. In einer Rede vor dem Bundestag am 27. Februar prägte der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) bekanntlich den Begriff der „Zeitenwende“. Gemeint hatte er damit die absehbar tiefgreifenden, aber in ihrer konkreten Gestalt zunächst unvorhersehbaren Veränderungen in den verschiedensten Politikfeldern, die sich als unmittelbare oder mittelbare Folge des Krieges vollziehen würden und vor deren Hintergrund ein „abrupter Politikwechsel“ (Vorländer 2023) unausweichlich sei.

Seither ist der Begriff der „Zeitenwende“ im deutschsprachigen Raum für den politischen und gesellschaftlichen Diskurs über den Krieg und seine mannigfaltigen Auswirkungen prägend. Daneben hat er sich aber auch im internationalen Rahmen und in anderen Sprachen etabliert. Insbesondere bei den Mitgliedern der EU-Institutionen scheint der Begriff Resonanz zu finden: Dieser Eindruck entsteht jedenfalls anlässlich einer Rede Scholz’ vor dem EU-Parlament in Straßburg im Mai 2023, bei der das Wort vielfach aufgegriffen wird und geradezu omnipräsent ist. Doch: Sichtbar wird an diesem Tag auch, dass der Begriff und das Ringen um seine konkrete Bedeutung sowie seine tatsächlichen Folgen nach wie vorFootnote 1 Fragezeichen bei den europäischen Nachbarn und deren Vertreter:innen hervorruft (Schlieben 2023).

Die Frage, was der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine und die damit verbundene Zeitenwende für die europäische Gemeinschaft bedeutet und welche Konsequenzen daraus resultieren, beschäftigt neben der handelnden Politik auch die Politikwissenschaft auf vielfältige Art und Weise. Vor diesem Hintergrund setzt sich der vorliegende ZPol-Focus mit dieser Frage und ihren verschiedenen Facetten auseinander.Footnote 2 Die drei Beiträge beleuchten aus unterschiedlichen Perspektiven die Bedeutung und Folgen der Zeitenwende für die EU und ihre verschiedenen Politik- und Einflussbereiche.

Barbara Lippert geht in ihrem Beitrag der Frage nach, welchen Einfluss der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine auf die EU-Erweiterungspolitik nimmt. Sie beschreibt die Nachbarschaftspolitik der EU in der postsowjetischen Region ab 1989 als eine Art „Erweiterungspolitik light“, die in den vergangenen Jahrzehnten zwar immer wieder als erfolgreiche Außenpolitik perzipiert wurde, im Endeffekt jedoch „Selbstbetrug“ sei. Darauf aufbauend argumentiert sie, dass eine Ausdehnung auf 30 und mehr Mitgliedsstaaten die Funktionsfähigkeit sowie die Legitimation der EU als Ganzes gefährde.

Niklas Helwig setzt sich in seinem Beitrag mit den Auswirkungen der Zeitenwende auf die europäische Außen- und Sicherheitspolitik auseinander. Er konstatiert: „Die EU befindet sich in einem Zustand des Kulturschocks.“ Sie finde sich plötzlich in einem weitgehend unbekannten politischen Umfeld wieder und sehe sich nun mit grundlegenden Fragen konfrontiert, deren Beantwortung nur durch die Entwicklung einer „gemeinsamen strategischen Kultur“ gelingen könne.

Daniela Braun und Ann-Kathrin Reinl analysieren in ihrem Beitrag den Zusammenhang zwischen den jüngsten europäischen Krisen und den stetig lauter werdenden Rufen nach mehr nationaler Souveränität, die sich in vielen Mitgliedsstaaten zwischenzeitlich auch in der Parteienlandschaft niederschlagen und vor dem Hintergrund der Europawahl 2024 mit besonderem Interesse beobachtet werden. Die Autorinnen argumentieren, dass es einen engen Zusammenhang zwischen internationalen Krisenereignissen und den Rufen nach nationaler Souveränität gebe und identifizieren eine Schlüsselaufgabe der Europäischen Gemeinschaft darin, dem entgegenzuwirken.