1 Einleitung

Das Konzept der Diversität hat seit einiger Zeit Hochkonjunktur. Es fungiert als Leitbegriff für die offene, kosmopolitische Gesellschaft, als normativer Horizont der Bemühungen um Antidiskriminierung, Gleichstellung und Inklusion. Wir leben in einem „Zeitalter der Diversität“ (Vertovec 2012). Die Bezugnahme auf Diversität dient in gegenwärtigen Diskursen dazu, die offenkundige Diskrepanz zwischen dem demokratischen Versprechen der gleichen Berücksichtigung einerseits und dem andauernden Ausschluss von gesellschaftlicher Teilhabe andererseits zu thematisieren (vgl. Foroutan 2019: 27ff). Diversität ist dabei in den letzten Jahrzehnten zur Losung und zum zentralen Paradigma der Aushandlungen um demokratische Gleichheit geworden. Vor diesem Hintergrund wird in diesem Aufsatz das demokratische Potenzial von Politiken der Diversität diskutiert.

Diversität etablierte sich zunächst als progressiver Begriff sozialer Bewegungen. Er zielte auf die Berücksichtigung und Sichtbarmachung bislang marginalisierter Gruppen, die von struktureller Ausgrenzung betroffen sind. Inzwischen wird mit Maßnahmen der sogenannten Diversitätspolitik der Versuch unternommen, sozialstrukturelle Differenz institutionell sowie prozedural abzubilden und einzubinden: Affirmative Action, Diversity Mainstreaming, Gleichstellungskommissionen und Diversitätssensibilisierung sind in den öffentlichen und privaten Institutionen demokratischer Gesellschaften weit verbreitet (vgl. dazu u. a. Salzbrunn 2014; Bührmann 2020). In der Geschlechterforschung und in einer postkolonialen Perspektivbildung wird jedoch vielfach kritisiert, dass sich diese omnipräsenten Strategien allzu nahtlos in neoliberale Logiken umfassender Effizienzorientierung und Wettbewerbsfähigkeit einfügten (vgl. u. a. Sauer 2007; Çağlar und Chan de Avila 2021; Lepperhoff et al. 2007). Häufig seien die Maßnahmen eine Art Feigenblattpolitik. Damit ist eine Strategie ähnlich des „Pink“- oder „Greenwashing“ gemeint, mit der sich Unternehmen, Organisationen oder Kommunen auf Diversity als Leitbegriff berufen und ihr Image aufbessern, indem sie vorgeben, sich für Vielfalt und gegen Diskriminierung einzusetzen, ohne aber die entsprechenden Maßnahmen tatsächlich umzusetzen oder sogar die damit verbundenen Zielsetzungen unterlaufen. Sara Ahmed spricht in diesem Zusammenhang von einer „nicht-performativen Diversity-Sprache“ (Ahmed 2012: 117), die als Deckmantel fungiere, um bestehende Ungerechtigkeiten und Machtasymmetrien aktiv zu de-thematisieren (vgl. Ahmed 2012; Berrey 2015; Lentin und Titley 2008). Diese Kritiken werfen nachdrücklich die Frage auf, ob das Konzept der Diversität zielführend für die Verwirklichung des demokratischen Gleichheitsversprechens ist.

Der vorliegende Aufsatz nimmt diese Frage zum Ausgangspunkt, um aus feministischer und postkolonialer Perspektive die Potenziale und Grenzen des Diversitätskonzeptes und dessen demokratietheoretische Implikationen zu untersuchen. Es geht dabei also nicht um die Diskussion gegenwärtiger Ausprägungen von Diversitätspolitiken, sondern um das Ausloten theoretischer Zugänge, die ein enthierarchisiertes – also an Gleichheit orientiertes – Verständnis von gesellschaftlicher Verschiedenheit versprechen. Das Ziel ist, kanonbildende demokratietheoretische Ansätze, die die Frage des Umgangs mit gesellschaftlicher Vielfalt in demokratischen Gesellschaften thematisieren, durch Theorieansätze, die die Herstellung sozialer Ausschlüsse adressieren, kritisch zu reflektieren und zu vertiefen. Feministische und postkoloniale Ansätze arbeiten aus einer machttheoretischen Perspektive heraus, wie Differenzen konstruiert und damit verbundene Hierarchisierungsprozesse wirken, mithin wie Differenzkonstruktion und Ausschluss in und durch Vielfalt produktiv hervorgebracht werden.Footnote 1 Sie haben mit der Kritik sowie der Entgrenzung identitätslogischer Verallgemeinerungen in Prozessen der Repräsentation und der Inklusion wirksame analytische Instrumente entwickelt, um etwa koloniale, rassistische, vergeschlechtlichte und heteronormative Machtverhältnisse und Praktiken des Ausschlusses in der Demokratie offenzulegen. Diese Perspektiven eignen sich daher in besonderer Weise als analytische Linse, um Verkürzungen der Demokratietheorie hinsichtlich der Zielsetzung, egalitäre Teilhabe mit Diversität zu vermitteln, aufzudecken und entsprechend produktiv zu ergänzen (vgl. Castro Varela 2010; Sauer 2011: S. 130ff.; Swan 2016). Vor diesem Hintergrund wird ein demokratietheoretisches Plädoyer für einen Begriff der Diversität entfaltet, der Ungleichheiten und Ausschlüsse benennt und eine interventionistische Praxis in den Mittelpunkt rückt.

Im Folgenden wird zunächst der doppelte Bedeutungsgehalt des Konzeptes der Diversität herausgearbeitet: Dabei wird deutlich, dass dem Konzept der Diversität unmittelbar ein Bezug auf Gleichheit eingeschrieben ist. Sowohl die historische Entstehung im Kontext sozialer Bewegungen als auch der heutige Gebrauch des Begriffes zeigen: Differenz wird in der Absicht betont, ihr vermeintliches Gegenteil zu erreichen (vgl. Toepfer 2023). Diversität thematisiert also sozialstrukturelle Verschiedenheit im Vorgriff auf den normativen Horizont demokratischer Gleichheit (vgl. Kap. 2).

Daraufhin werden vor dem Hintergrund feministischer und postkolonialer Perspektiven Problematiken und Herausforderungen der Vermittlungsversuche von Vielfalt und Gleichheit herausgearbeitet. Zurückgegriffen wird auf die im Zuge des sogenannten „cultural turn“ ab den 1980er-Jahren geführte demokratietheoretische Debatte um die Sicherstellung von Vielfalt in inklusiven politischen Willensbildungsprozessen. Es werden hierfür der in dieser Debatte kanonbildende liberale Ansatz des Multikulturalismus und der feministisch-deliberative Ansatz der Differenz diskutiert. Beide Ansätze stellen für die Demokratietheorie wirkmächtige Versuche dar, demokratische Teilhabe angesichts von Vielfalt gerecht zu gestalten. Anhand ihrer Vorschläge zur Vermittlung von Vielfalt mit demokratischen Inklusions- und Repräsentationsverhältnissen lässt sich exemplarisch diskutieren, welche spezifischen Herausforderungen mit Blick auf eine nicht-hierarchische Berücksichtigung von Diversität auftreten (vgl. Kap. 3).

Aus den hier gewonnenen Einsichten werden schließlich erste Konturen einer „interventionistischen Diversität“ entwickelt, die zweierlei beinhaltet: Die Dimension negativer Diversität beschreibt erstens ein Verständnis von Diversität als Leerstelle der Repräsentation. Diversität bezeichnet sodann zweitens ein Potenzial für politische Interventionen der Ausgeschlossenen, die in pluralen Allianzen bestehende Grenzsetzungen des demokratischen „Wir“ hinterfragen und dabei ein neues Selbstverständnis hervorbringen. Dieses vermag auch hegemoniale Deutungen dessen herauszufordern, was unter Diversität verstanden, verhandelt, gehört und repräsentiert wird (vgl. Kap. 4).

2 Diversität als Paradigma der Aushandlung von Gleichheit in demokratischen Gesellschaften

Als politisches Schlagwort wurde Diversität im Kontext sozialer Bewegungen um Gleichstellung und Antidiskriminierung geprägt und manifestiert sich heute zunehmend auch institutionell als Diversitätspolitik. Dabei lassen sich, auch im Spiegel der teilweise umfassenden Kritik, verschiedene Bedeutungsebenen rekonstruieren, die für die Auslotung von dessen demokratischem Potenzial relevant sind. Trotz seiner großen semantischen OffenheitFootnote 2 zeigt sich, dass der Begriff der Diversität im gegenwärtigen Diskurs das Faktum gesellschaftlicher Vielfalt als Anspruch auf Gleichheit formuliert. Im Kern meint Diversität Verschiedenheit im Vorgriff auf demokratische Gleichheit.

Auch wenn pluralistische Vorstellungen von Gesellschaft und Verhandlungen egalitärer Vielfalt sowohl in wissenschaftlichen als auch in öffentlichen Diskursen seit Ende des 19. Jahrhunderts zunahmen, blieb die Terminologie der Diversität bis in die 1970er-Jahre auf den biologischen Kontext in Hinblick auf Debatten um Biodiversität beschränkt (Toepfer 2020).Footnote 3 Der Begriff der Diversität bzw. „Diversity“ etablierte sich in politisch-gesellschaftlichen Kontexten zunächst innerhalb der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung und diffundierte dann in das breitere Umfeld neuer sozialer Bewegungen der 1970er und -80er-Jahre (vgl. u. a. Dilger und Warstat 2021, S. 14ff; Krell 2014b). Hier diente der Begriff als ein maßgeblicher normativer Horizont für die formulierten Forderungen nach Antidiskriminierung und gesellschaftlicher Teilhabe. Gerade in der Frauenbewegung, insbesondere bei women of colour, sowie der Homosexuellen- und Indigenenbewegung wurde der Begriff als Norm und politische Strategie für eine inklusive Gesellschaft prominent und zu einem wichtigen Ansatzpunkt von progressiven sozialen Bewegungen, die auf die Ausweitung und Vertiefung von Gleichstellung in Anerkennung von Differenzen zielten. Er diente dazu, die historischen und strukturellen Erfahrungen der Unterdrückung, Verfolgung und Ausbeutung aufzugreifen und strategisch jene identitätsstiftenden Kategorien wie race oder gender, entlang derer sich Diskriminierung vollzieht, zu betonen. Die im Kontext dieser Proteste seit den 1960er-Jahren etablierten affirmative action-Programme stehen am Anfang einer mittlerweile langen Entwicklung von institutionalisierten Diversitätspolitiken (vgl. Henderson und Herring 2012; Carr 2018; Kelly und Dobbin 1998; Lindau 2010; Rhoads 2016).Footnote 4 Auch in Europa zeigten sich unter dem Terminus der Diversität mit einer solchermaßen „spezifischen Signalwirkung in der politisch-sozialen Sprache“ (Toepfer 2019, S. 6) ab den beginnenden 2000er Jahren institutionelle Bemühungen zur Inklusion von gesellschaftlich benachteiligten und diskriminierten Gruppen.Footnote 5 Es etablierte sich zunehmend ein „normatives Repräsentationsregulativ“ (Toepfer 2020, S. 141) der angemessenen Abbildung und Berücksichtigung von faktischer Diversität. In öffentlichen Institutionen (etwa in Hochschulen, Ministerien oder kommunalen Verwaltungen) werden verschiedene Maßnahmen der Organisations- und Personalentwicklung im Sinne einer solchen Reflexion als „Diversity Mainstreaming“ bezeichnet (siehe etwa Antidiskriminierungsstelle des Bundes 2015). Im Zuge dieser Diversitätsdiskurse und -maßnahmen haben die Kämpfe gesellschaftlich marginalisierter Gruppen und Personen neue Sichtbarkeit erlangt.

An die Maßnahmen der Diversitätspolitik haben sich jedoch insbesondere aus feministischen und postkolonialen Perspektiven eine Reihe von gewichtigen Kritikpunkten gerichtet (u. a. Ahmed 2012, Ahmed und Swan 2006; Berrey 2015; Boulila 2021; Castro Varela und Dhawan 2010; Dankwa et al. 2021; Lentin 2008; Lentin und Titley 2008; Çağlar und Chan de Avila 2021; Lepperhoff et al. 2007; Thompson und Vorbrugg 2018; Zanoni et al. 2010). So wurde immer wieder darauf hingewiesen, dass das Konzept einem neoliberalen ParadigmaFootnote 6 Vorschub leiste, das in der unternehmerischen Personalpolitik, dem sog. Diversity Management, offen zutage tritt, aber auch die Abbildung von Diversität in öffentlichen Institutionen betrifft (vgl. u. a. Sauer 2007; Thompson und Vorbrugg 2018; von Alemann und Shinozaki 2019). Viele Autor*innen zweifeln daran, ob Diversitätspolitik überhaupt in der Lage ist, die tiefreichenden Strukturen der Diskriminierung in diversen Gesellschaften zu erreichen. Mithin wird kritisiert, dass die Umsetzung von Diversitätspolitik gar diskriminierende Strukturen verdeckt und reproduziert. Das Sprechen über Diversität gehe einher mit dem evasiven „Schweigen über Rasse“ in Europa, argumentiert zum Beispiel Alana Lentin (Lentin 2008; Lentin und Titley 2008). Die andauernde „klassifikatorische Macht“ (Lentin 2008, S. 490) von race werde so ausgeblendet: „Focusing on the expunging of race from European public political discourse reveals how it continues to shape contemporary formulations of diversity and integration in postcolonial Europe“ (Lentin 2008, S. 495). Auch Sara Ahmed kritisiert, dass die „Diversity-Sprache“ öffentlicher Institutionen, die sich dem Konzept der Diversität im Rahmen von Gleichstellungs- und Antidiskriminierungsstrategien verschrieben haben, die weiterhin bestehenden strukturellen Ursachen von Rassismus rhetorisch zu verdecken drohe. Diversität kann entsprechend als ein nicht-performativer Sprechakt bezeichnet werden, der Machtverhältnisse reproduziert, indem sie als überwunden vorgestellt werden (Ahmed 2012, S. 117ff.).

Eine Gesamtschau auf das Feld der empirischen Untersuchungen zu Diversitätspolitik weist aber auch darauf hin, dass die normativen Bezüge, die mit dem Konzept aufgerufen werden, disparat, inkohärent und widersprüchlich sind (Schiller 2015). Es zeigt sich insgesamt, dass einem Gerechtigkeitsparadigma zumindest in der normativen Grundausrichtung vieler Diversitätspolitiken eine große Bedeutung zukommt.Footnote 7 Zum Beispiel werden, im Rahmen des Diversity Mainstreaming öffentlicher Organisationen nicht nur ein ökonomisches Nutzen-Argument herangezogen, sondern auch Bemühungen um Antidiskriminierung und soziale Gerechtigkeit stark gemacht (Dobusch 2017; Çağlar und Chan de Avila 2021). Die Handreichung der Antidiskriminierungsstelle des Bundes grenzt sich explizit von einer Logik „wirtschaftlichen Profitstrebens“ ab und nennt Chancengleichheit und den Kampf gegen gesellschaftliche Ungleichheiten als zentrale Ziele von Diversitätspolitik in der öffentlichen Verwaltung (Antidiskriminierungsstelle des Bundes 2015, S. 12). Für die pädagogische Praxis wird der Versuch unternommen, ein diskriminierungskritisches Diversity-Konzept entlang von „radikaler Vielfalt“ zu entwickeln (Czollek et al. 2019; 2011). Auch die Critical Diversity Studies arbeiten daran, einen (de-)konstruktiven Ansatz zu entwickeln, der auf die intersektionale Verschränkung sozialer Kategorien Bezug nimmt (vgl. Krell 2014a; Zanoni et al. 2010), und zielen darauf, Diversitätsprogrammen eine „gesellschafts- und herrschaftskritische Ausrichtung“ zu geben (Fereidooni und Feoli 2016, S. 9).Footnote 8 Die Forcierung solch normativer Bezüge sagt noch nichts darüber aus, ob die Strategien und Maßnahmen tatsächlich den benannten Zielen gerecht werden und etwa der skizzierten Gefahr einer Nicht-Performativität (Ahmed 2012) entgehen. Sie zeigen aber, dass Diversitätspolitik, die ihren Ausgangspunkt in Emanzipationsbewegungen und Bemühungen um Antidiskriminierung nahm, heute zwar in einem disparaten, unabgeschlossenen Bedeutungsfeld situiert ist.Footnote 9 Die Bedeutungsstruktur ihrer historischen Ausgangslage bleibt aber weiterhin zentral: Diversität beschreibt Vielfalt im Vorgriff auf die Realisierung demokratischer Gleichheit. Gerade der Ursprung des Konzepts in den Kämpfen sozialer Bewegungen kann Diversität als Beitrag zum demokratischen Gleichheitsversprechen plausibilisieren. Mit dem Diversitätskonzept wurde und wird Differenz benannt und auf dieser Basis politische Maßnahmen gefordert – in dem Verständnis und mit dem Ziel, gleiche Teilhabe politisch und sozial substanziell zu etablieren (Toepfer 2020, S. 136, 141). Die politische Rede von und Bezugnahme auf Diversität ist damit zum zentralen Paradigma der Aushandlung um demokratische Gleichheit geworden. Diversität beschreibt nicht einfach gesellschaftliche Vielfalt, sondern rekurriert auf das Faktum sozial hergestellter Verschiedenheit und trägt dabei den Anspruch auf Gleichheit bereits in sich. Dem Konzept der Diversität ist also eine doppelte Bedeutungsstruktur eingetragen, weil es gleichzeitig auf Verschiedenheit und Gleichheit rekurriert. Diese paradox anmutende Doppelstruktur des Diversitätsdenkens – „von Verschiedenheit sprechen, um Gleichheit zu erzielen“ (Toepfer 2023, S. 239) – kann an die Erkenntnisse der in der feministischen Theoriebildung geführten „Gleichheits-Differenz-Debatte“ anschließen, die das wechselseitige Verhältnis von Gleichheit und Verschiedenheit u. a. in der begrifflichen Verbindung der „Egalitären Differenz“ (Prengel 2001, S. 93) fasst (vgl. u. a. Fraser 2001; Benhabib et al. 1993; zusammenfassend vgl. Maihofer 1998 und Pimminger 2019). Die doppelte Bedeutungsstruktur birgt das Potenzial für ein transformatives Diversitätskonzept, das in der Aufrufung partikularer Anliegen politische Artikulations- und Handlungsfähigkeit für jene Gruppen eröffnet, die bislang marginalisiert und von politischer Teilhabe ausgeschlossen waren. Die Berücksichtigung der doppelten Bedeutungsstruktur von Diversität ist demnach ein wesentlicher Schritt hin zur Rückgewinnung der „Produktivkraft“ aus den Debatten um Gleichheit und Differenz (Sauer 2007, S. 43).

3 Demokratietheoretische Verhandlungen von Vielfalt in der Politik

Wurde unter der demokratischen Berücksichtigung von Vielfalt lange Zeit dem liberalen Paradigma folgend insbesondere der Schutz von Meinungs- und Interessenpluralismus in Abstraktion von sonstigen Unterschieden verstanden, setzte sich in den letzten Jahrzehnten mit dem Konzept der Diversität zunehmend eine politische und soziale Grammatik durch, die die Wertschätzung und Anerkennung der Vielfalt u. a. von Geschlecht, Herkunft, Klasse, race, sexueller Orientierung, Behinderung – also sozialstruktureller Differenzen – als notwendige Bedingung demokratischer Gleichheit auffasst. Zunehmend ist dabei die Spannung von Gleichheit und Vielfalt/Differenz ins Blickfeld demokratietheoretischer Auseinandersetzungen geraten.Footnote 10

Die Fallstricke der egalitären Reflexion von Vielfalt zeigen sich in der demokratietheoretischen Debatte um einen repräsentativen wie inklusiven Willensbildungsprozess. Die Auseinandersetzung zwischen dem liberal-multikulturalistischen und dem feministisch-differenzaffirmativen Ansatz und die Konfrontation mit einer postkolonialen Kritikperspektive weisen auf die Problematiken der Essentialisierung und der Reproduktion von epistemischen Machtverhältnissen hin, die schließlich eine Neudeutung von Diversität informieren. Während die Demokratietheorie vor allem mit der Konzeptualisierung demokratischer Politik, ihrer Begründung und Realisierung beschäftigt ist, richtet eine postkoloniale Perspektivbildung den Fokus auf die durch die Geschichte und Praktiken des Kolonialismus hervorgebrachten hierarchisierenden und exkludierenden Denkweisen und Ordnungsmuster. Zugleich demonstriert diese Kritik die Notwendigkeit, die Berücksichtigung von Vielfalt über den demokratischen Prozess im engeren Sinne hinaus zu erweitern. Gleichheit hängt von der Möglichkeit einer egalitären gesellschaftlichen Teilhabe ab, die erst dazu in die Lage versetzt, den essentialistischen und machtvollen Zuschnitt demokratischer Gleichheit aufzubrechen.

3.1 Der liberale Ansatz des Multikulturalismus und die Gefahr der Essentialisierung

Multikulturalistische Positionen der Berücksichtigung von Vielfalt zielen vor allem auf die Begründung von kulturell, sprachlich oder religiös fundierten Gruppenrechten (u. a. Taylor 1993; Kymlicka 1995). Aus der Kritik am klassisch-liberalen Gebot politischer Neutralität und einem methodologischen Universalismus wird eine Perspektive entwickelt, die den effektiven Schutz von kulturellen Bedürfnissen als Grundlage gleicher Staatsbürger*innenschaft versteht. Eine solche Politik der Anerkennung kultureller Vielfalt orientiert sich an einem liberalen Verständnis gleicher Freiheit, argumentiert jedoch, dass dieses den Schutz und die Gewährleistung kultureller Identität und gemeinschaftlicher Partikularität voraussetzt. Sowohl Charles Taylor als auch Will Kymlicka versuchen demgemäß, die Anerkennung kultureller Mannigfaltigkeit in das Register liberaler Grundrechte zu übersetzen. Dabei werden individuelle und kollektive Bezugspunkte neu zueinander ins Verhältnis gesetzt. Der Schutz der kulturellen Identität sowie die damit verbundenen kollektiven Bezugsgrößen (Kultur und Gemeinschaft) werden als Grundlage und Möglichkeitsbedingung von individueller Freiheit und politischer Gleichheit verstanden (Kymlicka 1995, S. 75ff). Entgegen den Integrationsstrategien, wie etwa der sog. „melting pot“ in den USA, welche Heterogenität in die homogene Einheit einer nationalen Kultur überführen möchten (vgl. Scherr und Inan 2018, S. 216f.; Putnam 2007), wird hier ein politisch reguliertes Nebeneinander verschiedener ethnisch-kultureller Gruppen aufgerufen und kulturelle Vielfalt als ein selbstständiger Wert betont.

Durch den einseitigen Fokus auf kulturelle Anerkennung verstärken sich jedoch andere Ungleichheitsformen, die konzeptionell und praktisch nicht reflektiert werden (vgl. u. a. Fraser und Honneth 2003, S. 21ff; Faist 2010). Ein multikulturalistisches Verständnis demokratischer Vielfalt dementiert und zementiert dadurch gewichtige Differenzlinien (vgl. Kosnick 2014). Sozio-ökonomische Asymmetrien im Rahmen globaler Arbeitsteilung und das darin eingelassene Erbe kolonialer Herrschaft etwa werden in einer Überbetonung kultureller Vielfalt ausgeblendet, verstärkt noch durch die häufig nationalstaatlich enggeführten Ansätze in Theorien des Multikulturalismus (vgl. Castro Varela und Dhawan 2016, S. 23ff). Die Einschränkung auf ethnisch-kulturelle Gruppen deckt nur ein begrenztes Spektrum sozialstruktureller Positionen ab und ist entsprechend nur bedingt geeignet, die faktische Komplexität gesellschaftlicher Verschiedenheit aufzugreifen und normativ in Stellung zu bringen.

Feministische und postkoloniale Arbeiten kritisieren darüber hinaus, dass durch das Konzept des Multikulturalismus einem reduktiven und essentialistischen Kulturverständnis Vorschub geleistet wird. Für Taylor rekurriert das Recht „kultureller Selbsterhaltung“ (Taylor 1993, S. 50) auf homogen konzipierte Gruppen und einheitlich aufgefasste kollektive Identitäten (vgl. Fraser 2001, S. 262ff; Benhabib 1999). Somit werden interne Asymmetrien und intersektionale Ungleichheitsstrukturen ebenso wie multiple Mitgliedschaften und die „Hybridität von Kulturen“ (Bhabha 2012) der Thematisierung entzogen.

Postkoloniale Ansätze argumentieren, dass ein affirmatives Vielfaltsverständnis, das über die Kategorie der kulturellen Differenz demokratische Inklusion fordert, entgegen der eigentlichen Zielsetzung Gefahr läuft, Differenzen zu essentialisieren und so weiterhin an Hierarchisierungsprozessen beteiligt ist: Kulturelle Differenzen werden demnach ontologisiert und naturalisiert, ihnen wird ein unveränderlicher Wesenskern zugeschrieben. In einem gesellschaftlichen Kontext, in dem die Träger*innen dieser Differenzen auf Basis historisch gewachsener Deutungsmuster und hierarchischer Ordnungen als „die Anderen“ und „Fremden“ abgewertet und als nicht zugehörig verhandelt werden, hat dies gesellschaftliche und politische Ausschlüsse zur Folge. Diese Ausschlüsse entziehen sich aber der Kritik eines durch den Multikulturalismus geprägten Diskurses, da der affirmative Bezug auf vermeintlich vorpolitisch bzw. vordiskursiv gegebene kulturelle Unterschiede den Blick auf die dahinterliegenden Differenzierungs- und Ausschlussprozesse verdeckt (vgl. Ahmed 2000; Boulila 2021; Cooper 2004; Lentin 2004; 2008).

Theorie und politische Praxis des Mulikulturalismus rücken die Kategorie „Ethnizität“ bzw. kulturelle Differenz als „affirmativer Gegenentwurf zu biologistischen Rassenklassifikationssystemen“ (Boulila 2021, S. 83) in den Mittelpunkt und prägen damit maßgeblich die Diskurse um Integration und Zugehörigkeit bzw. Nicht-Zugehörigkeit der letzten Jahrzehnte (vgl. Lentin 2008). Postkoloniale Kritik problematisiert diese Perspektivverschiebung: Das im Multikulturalismus zugrunde gelegte Ideal der Gleichberechtigung verschiedener Kulturen laufe Gefahr, die ethnische und/oder nationale Herkunft zu überzeichnen, während etwa die Geschichte kolonialer Unterdrückung oder gruppeninterne Differenzen und Hierarchien wie patriarchale Gewalt- und Unterdrückungsverhältnisse verdeckt werden (vgl. u. a. Davis 1996; Bannerji 2000). Die vorrangige Beschäftigung mit der Kategorie „Ethnizität“ verdränge eine Beschäftigung mit Prozessen der Rassialisierung (Gunew 1997, S. 23, 30).Footnote 11 Eine solche Kulturalisierung bzw. „Rückkehr der Ethnizität“ (Hall 2018) wird in der postkolonialen Theorie entsprechend auch als „Rassismus ohne Rassen“ (Mbembe 2020, S. 23) beschrieben.

„[D]ort, wo rassifizierende Praxen und Diskurse ihre Subjekte erst als unterschiedlich und ungleichwertig hervorbringen, führt der Versuch einer bloßen ‚Aufwertung’ von subalternen Positionen im Rahmen von ethnisierenden Diversitätsansätzen zu einer Verschleierung eben jener Herstellungsmechanismen von Hierarchien, die weiterhin an hegemoniales Weißsein geknüpft sind.“ (Kosnick 2014, S. 304)

Postkoloniale Analysen kommen so zu dem Schluss, dass der von liberal-multikulturalistischen Positionen mobilisierte Kulturbegriff zu einer Reproduktion von Homogenität führt und Rassifizierungsprozessen Vorschub leistet (vgl. Neuhold und Scheibelhofer 2010). Sie weisen darauf hin, dass im Nebeneinander verschiedener kultureller Gruppen implizite Hierarchisierungsverhältnisse angelegt sind, die den gegenwärtigen Diskursen um Vielfalt eingeschrieben seien. Das in Demokratietheorien des Multikulturalismus aufgerufene Diversitätsverständnis läuft somit Gefahr, die „Anderen“ als Träger*innen der Vielfalt im Sinne der Verschiedenheit zu verstehen, während die Mehrheitsgesellschaft als unmarkierte Norm gar nicht in den Blick gerät (vgl. Di Blasi 2016). Einerseits signalisiert ein solcher Ansatz, dass Vielfalt Anerkennung verlangt, andererseits wird zugleich aber auch expliziert, dass „Andere“ oder „Fremde“ unterschieden werden und weiterhin verschieden sind. Dabei kann ein solches OtheringFootnote 12 nicht nur über negative, schematisierende Zuschreibungen entstehen. Vielfalt wird häufig auch als „Buntes“, Exotisches gedeutet. Diese Andersartigkeit erfüllt dann gerade über die Affirmation des „Fremden“ den Zweck, Differenz andauernd zu markieren: Ahmed spricht von einem „stranger fetish“, über welchen in Prozessen des Othering ontologische Differenz erst hergestellt wird (Ahmed 2000, S. 3).Footnote 13 Vielfalt bleibt in einem solchen Verständnis letztendlich die Ausnahme von der Norm der weißen Dominanzgesellschaft (vgl. De Jong 2014, S. 91), und dient zugleich der Legitimation der eigenen Vorrangstellung, mit der auch die Macht einhergeht, zu definieren, wer anerkannt wird und unter welchen Bedingungen.

3.2 Der feministisch-deliberative Ansatz einer Politik der Differenz und die Gefahr der Reproduktion epistemischer Machtverhältnisse

Vertreter*innen der feministisch-deliberativen Demokratietheorie schlagen gegenüber liberal-multikulturalistischen Ansätzen einen anderen Zugang zur demokratischen Reflexion von Vielfalt vor (vgl. u. a. Benhabib et al. 1993; Benhabib 1995, 1999; Fraser 1994, 2001; Young 1990).Footnote 14 Gefordert wird in unterschiedlichen Ansätzen und Spielarten Gleichheit in der Differenz, also eine Form politischer Ordnung, die assimilatorische und identitätslogische Verallgemeinerungen vermeidet, um zu einer egalitären Berücksichtigung von Vielfalt zu gelangen.

Insbesondere Iris M. Young entwickelt ein Verständnis von egalitärer Differenz, das sich weder unter ein klassisch-liberales Konzept der Verfahrensgleichheit noch unter die kulturalistische Vielfaltsaffirmation des Multikulturalismus subsumieren lässt. Youngs Fokus richtet sich auf strukturelle Benachteiligungen und Ausbeutungsverhältnisse, die Differenz hervorbringen. Deren Komplexität beschreibt Young systematisch anhand von fünf Formen der Unterdrückung: Unterdrückt ist eine Gruppe, wenn sie Ausbeutung, Marginalisierung, Machtlosigkeit, Kulturimperialismus und/oder willkürliche Gewalt erfährt (vgl. Young 1996, S. 112ff). Wesentlicher Bezugspunkt der Überlegungen Youngs ist das Konzept der sozialen Gruppe (vgl. ebd.: 104ff; Young 2002, S. 81ff). Soziale Gruppen gründen nicht in homogenen Zusammenhängen geteilter Herkunft, Interessen oder Identität, sondern in gemeinsamen Erfahrungen der Unterdrückung und Beherrschung und einer daraus resultierenden gemeinsamen Perspektive. Es handelt sich demnach um eine relationale Konzeptualisierung von sozialen Gruppen als überlappend, dynamisch und mehrdimensional, die „mitnichten durch eindeutige und feststehende Grenzen determiniert sind“ (Bausch 2014, S. 63). Jenen geteilten Perspektiven sollen durch alternative Formen der politischen Inklusion, insbesondere auf den Wegen institutionalisierter Gruppenrepräsentation, gegen die hegemonialen Normierungen und Teilhaberelationen Geltung verschafft werden (vgl. Young 1997), um derart „institutionalisierte Wege zur ausdrücklichen Anerkennung und Repräsentation unterdrückter Gruppen zu schaffen“ (Young 1993, S. 279). Young begründet den demokratietheoretischen Anspruch auf spezifische Gruppenrechte also ausgehend von einem Konzept der gruppendifferenzierten Staatsbürger*innenschaft, welches sie dem „Mythos“ des universalen Staatsbürgerstatus entgegenhält (ebd.: 276).

„Die […] sozialen Bewegungen besetzen die Bedeutung von Differenz selbst als ein Feld der politischen Auseinandersetzung, statt die Differenz der Rechtfertigung von Ausschluß und Unterordnung zu überlassen. Die Unterstützung von Politikinhalten und Regeln, die die Gruppendifferenz beachten, um Unterdrückung und Benachteiligung abzubauen, ist nach meiner Meinung ein Teil jenes Kampfes.“ (Ebd.: 300)

Young wendet sich gegen Vereinheitlichungs- und Homogenisierungstendenzen und plädiert dafür, Diversität durch Benennung von Machtverhältnissen zu politisieren. Sie fokussiert dabei besonders auf die Ebene der politischen Entscheidungsfindung, also Repräsentation und Partizipation im Zuge öffentlicher Deliberation (vgl. Young 1996, S. 124). Eine solche diskurstheoretische Reflexion demokratischer Vielfalt richtet den Blick auf die Frage der Teilhabe an den Debatten darüber, was als gerecht gilt und wessen Bedürfnisse gehört werden. Gefordert werden Beteiligungsmöglichkeiten von Betroffenen auch jenseits institutionalisierter Pfade der liberalen Demokratie in kämpferischen Auseinandersetzungen darüber, welche Differenzen normativ ausgezeichnet, wie Differenzdimensionen definiert und interpretiert werden und welche Marginalisierungserfahrungen berücksichtigt und behoben werden müssen. Young verbindet über diese Negativbestimmung, mithin der Benennung von Herrschafts- und Unterdrückungsstrukturen, ein auf Handlungsmacht und Emanzipation ausgerichtetes Demokratieverständnis, indem „Differenz nicht länger als Hindernis für das Projekt demokratischen Selbstregierens erscheint, sondern vielmehr als eine seiner wesentlichen Ressourcen“ (Martinsen und Flügel-Martinsen 2013, S. 45; vgl. Young 2002, S. 81ff).

Eine prozessorientierte, mit öffentlicher Deliberation notwendig verknüpfte Diversitätspolitik richtet den Blick auf die Kräfteverhältnisse, die den Differenzwahrnehmungen und -konstruktionen selbst zugrunde liegen. Politische Repräsentation muss aus Sicht verschiedener feministisch-differenzsensibler Perspektiven daher einer kritischen Reflexion demokratischer Gleichheit folgen, um Inklusion zu gewährleisten (vgl. neben Young u. a. Mainsbridge 1999; Williams 1998, 2000). Sie wird also an der Herausforderung gemessen, mehrdimensionale Ungleichheitslagen abbilden zu können (vgl. Mangold 2019). Dieser demokratietheoretische Maßstab fokussiert das Problem der intersektionalen Verwobenheit von Unterdrückungsformen (vgl. Hill Collins 1999, S. 263).Footnote 15 Aus der Perspektive Youngs genügt es vor diesem Hintergrund nicht, an den klassischen liberalen Repräsentationsformen festzuhalten, die noch der multikulturalistischen Betonung von Gruppenrechten zugrunde liegt. Denn gruppenbezogene Identitäten bestehen nicht vor-politisch und lassen sich nicht statisch eingrenzen, sondern werden im Repräsentationsprozess selbst immer wieder erzeugt, statt nur abgebildet.Footnote 16 Repräsentation versucht hier responsiv und dynamisch das Faktum sozialstruktureller Differenzen zu berücksichtigen, die im Akt der Repräsentation struktureller Benachteiligungen erst mit-hervorgebracht werden.

Young legt mit ihrem Werk ein wichtiges theoretisches Konzept zum Umgang mit Differenzen in der Demokratie vor, mit dessen Analyserahmen an gegenwärtigen Diversitätspolitiken aufgezeigt werden kann, dass sie strukturelle Fragen der Ungleichheit übergehen und Phänomene „interner Exklusion“ (Young 2002, S. 55) hervorbringen (vgl. hierzu die Analyse von De Jong 2014). Dennoch steht auch ihre differenz- und machtsensible Perspektivierung auf ein deliberativ ausgerichtetes, öffentlichkeitszentriertes Modell vor der Frage, ob es die epistemische Tiefenstruktur politischer Repräsentation ausreichend adressieren kann. Dieses Problem reicht über Fragen der institutionellen Umsetzung von Gruppenrepräsentation und dort produzierter Essentialismen hinaus (vgl. zur Übersicht über diese Debatte Bausch 2014, S. 30ff). Die diskurstheoretisch bedingte Unterstellung der prinzipiellen Möglichkeit einer einzigen öffentlichen Diskursgemeinschaft, in welcher der „Zwang des besseren Arguments“ Grundlage politischer Entscheidungen ist, relativiert die Tiefe der Ausschlussmechanismen und Grenzziehungspraktiken, die für die Konstitution und Aufrechterhaltung jeder tatsächlich existierenden Gemeinschaft wesentlich sind. So bleibt der Diskursraum in einem deliberativen Modell bestimmt von prozeduralen Rahmenbedingungen, die von hegemonialen Normen und Strukturen durchzogen sind (vgl. Flügel-Martinsen und Martinsen 2013, S. 45ff). Epistemische Gewalt wirkt also auch hier durch „dominante Wissens-und Repräsentationssysteme“ (Castro Varela und Dhawan 2004, S. 217) in Form gewaltsamer Klassifikationen,Footnote 17 (Identitäts-)kategorien, Denk-und Bewertungsrastern, die die „Aneignung, Vermachtung und Stillstellung von Differenz“ zur Folge haben (Hark 2021, S. 151).Footnote 18 Zwar übersieht Young diese Herausforderungen nicht und schlägt in machtkritischer Auseinandersetzung mit bestehenden Konzepten deliberativer Demokratie vor, politische Entscheidungen responsiv an die partikularen Erfahrungen und Perspektiven anzuschließen und politische Kommunikationsformen zu diversifizieren (vgl. Young 2002). Dem lässt sich jedoch aus einer postkolonial informierten Perspektive weiter entgegenhalten, dass die Fähigkeit, den Standpunkt des Anderen einzunehmen, stets von Formen der epistemischen und klassifikatorischen Gewalt durchformt ist, die sich dem Bild einer Deliberationssituation der reziproken und allgemeinen Begründung von politischen Urteilen notwendigerweise entziehen.

Gayatri Spivak verweist vor diesem Hintergrund auf den doppelten Boden von (Gruppen-)repräsentation. Sie argumentiert, dass auch ein vermeintlich authentisches Sprechen im Zuge von ‚Selbstrepräsentationen‘ Identitätskategorien erst hervorbringt und Differenzen perpetuiert werden. Spivak unterscheidet dabei zwei Formen von Repräsentation: vertreten (stellvertretend im politischen Kontext) und darstellen (inszenieren, Bedeutung geben in Kultur und Ästhetik) (Spivak 2020, S. 30ff; 36ff). Vertreten meint ein Sprechen für. Darstellen ist ein Sprechen über, es bringt politische Subjekte erst hervor. Repräsentation bedeute immer beides: ein Sprechen für ‚Andere‘ und zugleich eine Darstellung, die den*die Andere*n nicht tatsächlich abzubilden vermag. Selbst in einem vermeintlichen Akt der Inklusion liegt dabei die Gefahr einer assimilierenden Vereinnahmung:

„[…] die Verstummung der subalternen Stimme [erfolgt] nicht nur durch die Absonderung, Ausklammerung, sondern gegebenenfalls auch über die Vereinnahmung der Stimmen selbst. In diesem Zusammenhang bezeichnet Subalternität das Moment der Unterwerfung unter ein herrschendes diskursives Diktat, in dem das Ausgeschlossene als Ausgeschlossenes trotz eines möglichen Anscheins liberaler Partizipation (re)produziert wird.“ (Gutiérrez Rodríguez 2003, S. 30)

Repräsentation kann demnach als ein „Feld hegemonialer Sichtbarkeit“ (Schaffer 2008, S. 21) dazu führen, dass die sichtbar gemachte Minderheitenposition in den dominanten Deutungsrahmen eingepasst wird und Stereotype (re-)produziert werden oder, dass Minderheiten nur dann tatsächlich sichtbar werden und ihre Rechte in Anspruch nehmen, wenn sie das Souveränitätsgefühl der hegemonialen Position nicht zur Disposition stellen und die feststehenden Artikulationsformen nicht übertreten. Die institutionellen Repräsentationsstrukturen und -verfahren bleiben so Manifestationen politischer Willensbildung, in die koloniale Episteme eingelassen sind.

3.3 Zwischenfazit: der Umgang mit Vielfalt in der Demokratie

Der hier erfolgte knappe Einblick in die Debatte, in welcher sich postkoloniale und feministische Positionen kritisch mit der Aushandlung von Vielfalt im Multikulturalismus auseinandergesetzt haben, hat aufgezeigt, dass sich der liberal-multikulturalische Ansatz der demokratischen Reflexion gesellschaftlicher Vielfalt als unzulänglich erweist. Aus einer postkolonialen und feministischen Kritikperspektive führt der Ansatz zur Produktion von (kulturellen) Essentialismen, die letztlich zu einem homogenisierenden Zugriff auf Vielfalt und der Ignoranz gegenüber impliziten Rassifizierungsprozessen führt. Eine demokratische Anerkennung von Vielfalt wird so von gesellschaftlich konstituierten Differenzlinien und systematischen Ausschlüssen abgetrennt, die letztlich reifiziert werden. Dementgegen zeichnet der feministisch differenzaffine Ansatz ein Verständnis von demokratisch relevanter Vielfalt, das sensibel ist für die komplexen Konfliktlagen, Machtverhältnisse und Exklusionsmechanismen, die diese Vielfalt hervorbringen und formen. Er formuliert das Anliegen, die Vielstimmigkeit gesellschaftlicher Positionierungen in der Ausgestaltung politischer Willensbildung konsequent in Form der Gruppenrepräsentation zu berücksichtigen. Es ist der Verdienst der feministischen und postkolonialen Debatte, darauf hinzuweisen, dass Repräsentation mit der Konstruktion vermeintlich vorpolitischer Identitäten, basierend auf „unterstellten Gemeinsamkeiten“ (Sauer 2019, S. 108), verbunden ist. Insofern erlaubt es Youngs debattenprägender Ansatz einer deliberativ konzipierten Politik der Differenz in das „liberale Dispositiv der Repräsentation“ (Sauer 2019, S. 104) zu intervenieren und damit bestehende Strukturen ausgehend von Perspektiven marginalisierter Gruppen zu kritisieren (vgl. De Jong 2014; Czollek et al. 2011). In einer postkolonialen Perspektivierung wird allerdings deutlich, dass die vorausgesetzte Einheit der Diskursgemeinschaft sowie die prozeduralen Regeln, in die die Aushandlungen um Diversität eingebettet sind, die epistemischen Bedingungen politischer und sozialer Macht nicht ausreichend in den Blick bekommt. Postkoloniale Ansätze sensibilisieren dafür, dass und wie über Repräsentationsprozesse Ausschlüsse entstehen (vgl. Castro Varela und Dhawan 2004, 2007; Sauer 2019). Die Annahme einer zu repräsentierenden Identität ist erstens verbunden mit Essentialisierungen, d. h. Naturalisierungen der Differenz, die ihrerseits mit einer Hierarchisierung und Abwertung verbunden sind. Zweitens hat die identitätslogische Funktion „hegemonialer Repräsentationstechniken“ immer den Ausschluss eines Nicht-identischen „Anderen“ zur Folge (vgl. Gutiérrez Rodríguez 2003, S. 26f). Damit erfasst eine solche Analyseperspektive die Ambivalenz von Diversität, wenn sie auf bestehende Repräsentationsmodi trifft: Um egalitäre Teilhabe zu erlangen, wird Differenz betont – mit der paradoxen Gefahr, dass durch diese Betonung eben wieder jene Ungleichheiten, die den Differenzen zugrunde liegen, systemisch stabilisiert und reproduziert werden.

Die explizierten Herausforderungen weisen darauf hin, dass die egalitäre Berücksichtigung von sozialstruktureller Differenz nicht auf die Gestaltung des politischen Prozesses beschränkt sein kann. Essentialisierung und Othering können ebenso wenig wie epistemische Machtverhältnisse mittels demokratischer Willensbildung weiterreichend politisiert und transformiert werden, weil sie selbst als Rahmungen der Institutionen und Verfassungsbestimmung demokratischer Politik wirken. In seiner grundlegenden Stoßrichtung (nicht in der aktuellen Umsetzung) gewinnt das Projekt der Diversitätspolitik somit gewissermaßen als Rückseite der vorherigen Diskussion an demokratietheoretischer Relevanz. Die doppelte Bedeutungsstruktur der Diversität – Anerkennung faktischer Vielfalt im Vorgriff der Aushandlung von Gleichheit – muss über den politischen Prozess hinaus in die gesellschaftlichen Strukturen und besonders die öffentlichen und gesellschaftlichen Institutionen, die deren Mittelpunkt bilden, erweitert werden. Die Verteilung gesellschaftlicher Teilhabe bildet einen unerlässlichen Ansatzpunkt zur demokratischen Reflexion von Vielfalt.

4 Interventionistische Diversität

Angesichts der Produktion von Essentialismen und der Ausblendung von epistemischen Machtverhältnissen, die den demokratietheoretischen Ansätzen zu Vielfalt eingetragen sind, wird hier für einen interventionistischen Begriff der Diversität plädiert, welcher die essentialistischen Wendungen zugunsten komplexer und hochgradig hybrider gesellschaftlicher Differenzkonstellationen zurückweist und die Reflexion sozialstruktureller Vielfalt als Einbruch in die etablierten Paradigmen politischer und sozialer Repräsentation mobilisiert. Ein solcher Zugang, der auf interdependenten Differenzbeziehungen beruht, ermöglicht es, Diversity-Konzepten in Institutionen kritisch und zugleich produktiv zu begegnen. Konstruktiv ausgelotet wird so das demokratietheoretische Potenzial von Diversität, das basierend auf der zuvor diskutierten Kritik an den inklusions- und repräsentationsgebundenen Deutungen von Diversität kritisch über die herkömmlichen Konzepte der Repräsentation und Inklusion hinausgeht. Adressiert werden damit die zuvor aus einer postkolonialen und feministischen Perspektive diskutierten Problemfelder des gegenwärtigen Umgangs mit Vielfalt in der Demokratie: Das der Essentialisierung (1) und des Ausblendens epistemischer Gewalt (2), das Inklusion und Repräsentation nur unter den Bedingungen der hegemonialen Diskursmacht und Wissensordnung ermöglicht. Aus den oben diskutierten Problemen ergibt sich die Frage, wie solche Mechanismen der Reifikation von Differenz, die in gegenwärtigen Diversitätspolitiken eingeschrieben sind, unterbrochen werden können.

Die hier vorgeschlagene Konzeptualisierung von Diversität erschließt über ein Prinzip der „Negativen Diversität“ Räume für die Kritik an Leerstellen der Repräsentation (1), aus welchen darüber hinaus Potenziale für Interventionen neuer pluraler Allianzen folgen (2). Der erste Schritt, die Zurückweisung essentialistischer und homogenisierender Träger*innenschaft von Vielfalt in Modi der Repräsentation, folgt der feministischen Intervention in den Diskurs und in die Theorie des liberalen Multikulturalismus. Young weist mit Nachdruck darauf hin, dass sich soziale Gruppen nicht aufgrund von vor-politisch strukturierten Zusammenhängen einer gemeinsamen Kultur oder kollektiven Identitäten ergeben, sondern sich maßgeblich aufgrund von gemeinsamen Erfahrungen der Unterdrückung konstituieren, die zeit- und kontextabhängig variieren können. Ein solches Verständnis zeigt an, dass Maßnahmen der Diversität und die Repräsentation marginalisierter Positionen auch als Teil ausschließender Praxen zu verstehen sind, wenn sie einseitig als „Raum des Anderen“ zelebriert werden (Castro Varela 2010, S. 257). Es bedarf folglich demokratischer Verfahren und Reflexionsprozesse, die diese hinterfragen, kritisieren, zur Disposition stellen und in demokratischen Aushandlungen alternative Deutungsangebote einbringen können. Doch auch differenzsensible Ansätze, die vielfaltsaffine Semantiken auf ihre abstrahierenden und naturalisierenden Wirkungen hin befragen und auf einen permanenten Prozess demokratischer Neuverständigung drängen, tendieren dazu, die Spannungslagen politischer Repräsentation nicht ausreichend zu adressieren. Die deliberative Thematisierung struktureller Differenz und deren egalitäre Aufhebung geschieht unter den Bedingungen einer epistemischen Tiefenstruktur, die eine Gleichverteilung von Sichtbarkeit und also die Gleichberücksichtigung der Anliegen deutlich erschwert.

4.1 Negative Diversität als Leerstelle der Repräsentation

Wie in Kap. 2 dargelegt wurde, sensibilisieren Arbeiten aus der feministischen und postkolonialen Tradition dafür, dass Diversität in gegenwärtigen Diskursen und Politiken häufig mit Verständnissen von Repräsentation und Inklusion verbunden werden, die Ausschlüsse (re-)produzieren und Differenzen naturalisieren. Postkoloniale und feministische Kritik vermag aufzuzeigen, welche Wirkungen solche Prozesse der Differenzbildung haben. So braucht es nach Ahmed einen genaueren Blick darauf, wie in Diversitätskonzepten durch Prozesse der Inklusion und Exklusion „Die Anderen“ (re-)produziert werden (vgl. Ahmed 2000, S. 6). Während einige Autor*innen daraus schließen, dass die tiefgreifenden Ungleichheiten und Ausschlüsse in Demokratien nicht durch Konzepte der Diversität einzuholen sind, argumentieren andere, dass dem ambivalenten Konzept der Diversität durchaus ein Interesse an der Durchsetzung sozialer Gerechtigkeit und gesellschaftlicher Transformation innewohnen kann (Castro Varela 2010; Ahmed 2012; Squires 2007). Tyler sieht hiervon ausgehend die Notwendigkeit, in Diversität das Potenzial zur Kritik und Infragestellung normativer Ordnungen freizulegen: „[…] the question then becomes not how difference can be made to fit into an organizational norm, but rather how difference has the potential to rupture the normative conditions and corporate imperatives governing its organization.“ (Tyler 2019, S. 53) Genau hier setzt das Konzept der negativen Diversität an. Dieses weist nicht das Konzept der Diversität zurück, wie es in den sozialen Kämpfen präfiguriert und den Maßnahmen der Diversitätspolitik, wenngleich in oftmals verzerrter Form, zugrunde liegt. Angesichts der Notwendigkeit, epistemische Machtverhältnisse genauer auszuleuchten und zu benennen, dient das Konzept vielmehr dazu, die konstitutiven Leerstellen der jeweiligen Repräsentationsregimes zu thematisieren und die Vereinnahmung von Stimmen und Positionen zu durchkreuzen. Die ‚negative‘ Konzeptualisierung von Diversität meint hier also keine normative Ablehnung von Vielfalt, sondern schlägt vielmehr als Gegenbegriff zu einer ‚positiven‘ Diversität einen Perspektivwechsel vor: Statt Vielfalt affirmativ zu betonen und dabei, wie im Kapitel zum Multikulturalismus gezeigt, im Rahmen einer zu „feiernden Vielfalt“ Differenzen essentialistisch zu verstärken und zu reifizieren (auch, weil stereotype Repräsentationen lediglich binär umgekehrt werden, statt sie zu dekonstruieren) sowie dahinter stehende Diskriminierungssysteme zu verdecken, wird hier auf die exkludierenden Funktionsweisen der Repräsentation und der Inklusion von Vielfalt hingewiesen. Negative Diversität verweist auf die Unterrepräsentation bestimmter Subjektpositionen in Institutionen, sowohl in Form der verkörperten Präsenz als auch in Form der fehlenden Repräsentation von Identitäten, Erfahrungen und Perspektiven. Negative Diversität geht zudem weiter und verweist auf die fehlende Thematisierung diskriminierender Strukturen wie etwa rassisierter Repräsentationsregime.

Man kann dies auch fassen als eine „demonstrative Politik“, um den „Mythos der Repräsentation“ sichtbar zu machen (Sauer 2011, S. 134). Dabei geht es beim Prinzip der negativen Diversität nicht um die Abkehr vom Modus der Repräsentation, sondern vielmehr um eine Antwort auf das „repräsentationalistische Paradox“ (Sauer 2019). Sauer beschreibt damit den Umstand, dass während gleichstellungspolitische Maßnahmen immer stärker institutionalisiert werden, diese in ihrem Fokus auf bloße Repräsentationsverfahren das eigentliche System der Exklusion unangetastet lassen, es verdecken oder dieses in Prozessen der Fehlrepräsentation und des Assimilierungsdrucks, wie oben mit Spivak und Ahmed beschrieben, stabilisieren. Diese „repräsentationalistische Falle“ (Sauer 2019, S. 104) lässt sich mit zahlreichen Studien zu gegenwärtigen Diversitätsmaßnahmen als Modus der Repräsentation und Inklusion belegen, die bestehende Ausschlüsse und diskriminierende Strukturen unsichtbar machen und reproduzieren (vgl. u. a. Ahmed 2012; Thanem und Wallenberg 2016).

Vor dem Hintergrund der Ansätze postkolonialer Theoretiker*innen wie Spivak zeigt sich, dass das Prinzip der Repräsentation letztlich unausweichlich ist. Selbst in der Partizipation wird repräsentiert. Hieraus folgt die Frage, wie in einer Demokratie Repräsentation so umgesetzt werden kann, dass sie als steter und offener Prozess verstanden wird und immer wieder die eigenen Exklusionen und performativen Subjektverständnisse, die sie hervorbringt, zu reflektieren vermag. Bei „negativer Diversität“ geht es also um das Aufdecken von Unterrepräsentation, die hier auch verstanden wird als eine Form von Repräsentation, nämlich als Repräsentation von Ungleichheit und Ausschluss.

Das Konzept der „negativen Diversität“ dient also auch dazu, das Diversity-Regime oder die Rede von Diversity selbst kritisch auf seine Ausschlüsse zu befragen, also: Wer fällt eigentlich unter die damit benannte und repräsentierte Gruppe von Subjektpositionen und wer nicht? Welche Menschen werden in diesem von Macht durchzogenen Diskurs exkludiert? Inwiefern führt die Rede von oder Politik der Diversität dazu, Menschen(gruppen) – auch im Bestreben nach fairerer Repräsentation, inklusiveren Institutionen und sozialer Gerechtigkeit – zu essentialisieren, zu stereotypisieren und abzuwerten? Welche Diversitätsdimensionen werden vernachlässigt oder ignoriert? Die Herangehensweise zielt entsprechend darauf ab, zunächst einmal dem Begriff „Diversität/Diversity/Vielfalt“, wenn er in sozialen oder institutionellen Räumen verwendet wird, ein kritisches und auch selbstreflexives Misstrauen entgegenzubringen. Ahmed und Swan argumentieren ausgehend von ihrer postkolonialen Analyse ähnlich, wenn sie betonen:

“diversity matters not as a description of such spaces (of what they are, or what they have) but as a sign of what they are not. […] it might point also to how organisations are orientated around whiteness, around those who are ‘already in place’. The happy smiling face of diversity would not then simply rebrand organisations, but would point instead to what gets concealed by this very image: the inequalities that are behind it, and which give it its surface appeal. In other words, if the appeal of diversity is that it conceals inequalities, then we can expose such inequalities by exploring the terms of its appeal.” (Ahmed und Swan 2006, S. 99)

Der Diskurs um (und zu einem gewissen Grad auch die Politik der) Diversität eröffnen im hier vorgeschlagenen Verständnis von „negativer Diversität“ ein Interventionsfeld, das es erlaubt, das demokratische Ungenügen einer bestehenden „Aufteilung des Sinnlichen“ (Rancière 2002) auf den Begriff zu bringen. Die Anteilslosen werden durch die diversitätssensible Demonstration der Leerstellen von Repräsentation sichtbar gemacht. Durch die Anwesenheit der Nicht-Anwesenden eröffnet sich ein Raum für Kritik und Intervention (Rancière 2002, 2019). Diversität ist in diesem Sinne ein Konzept des „noch nicht“: Es erlaubt, die Repräsentation von sozialstruktureller Differenzierung innerhalb und außerhalb des politischen Prozesses selbstreflexiv zu wenden und also den Abstand zwischen dem Faktum der Vielfalt und der Realisierung des demokratischen Gleichheitsversprechens zu vermessen. Dieser Abstand kann unterschiedlich ausgeprägt und institutionell (insbesondere mit Blick auf die demokratischen Verfahren politischer Selbstbestimmung) ausgestaltet sein.

4.2 Diversität als Intervention

Die demokratische Reflexion der Vielfalt darf nicht zu einer Ontologisierung, Essentialisierung und Homogenisierung von Verschiedenheiten führen und die konstitutiven Leerstellen der jeweiligen Repräsentationsregime, die durch diversitätspolitische Maßnahmen mitbegründet werden, nicht der Auseinandersetzung entziehen. Der Ausweis der Leerstellen der Repräsentation erfordert hierauf aufbauend eine interventionistische Praxis, die den Abstand zwischen dem Faktum der Vielfalt und der Realisierung des demokratischen Gleichheitsversprechens aktiv demonstriert. Die Modalität der Intervention muss dabei von der Modalität der Konsolidierung unterschieden werden. Eine konsolidierende institutionelle Praxis zielt darauf ab, die bestehenden Repräsentationsmuster und die etablierte Verteilung gesellschaftlicher Teilhabe beizubehalten. Sie folgt einer Logik der Vereinnahmung, die aus einer postkolonialen Kritikperspektive formuliert wurde. Derartig aufgefasste Inklusionsbemühungen stehen dem hier vorgeschlagenen Verständnis von Diversität entgegen. Ein negatives Verständnis von Diversität zielt hingegen darauf ab, die epistemischen Hierarchien und Repräsentationsasymmetrien offenzulegen und dadurch reflexive Umwendungen zu irritieren. Statt Vereinnahmung und Vereinheitlichung geht es um Vervielfältigung der Perspektiven der „Anderen“ und die Gewährleistung von Dissens und Disruption. Im Bild des Migrationssoziologen El-Mafaalani (2018) geht es dabei nicht darum, dass zunehmend mehr Menschen mit am Tisch sitzen und ein Stück vom Kuchen abhaben wollen, sondern dass durch die Diversifizierung zur Sprache gelangt, welcher Kuchen überhaupt auf den Tisch kommt.

Diversitätspolitiken können solche Interventionen ermöglichen und ein demokratisches Potenzial, einen Halt für den Vorgriff der Gleichheit, bereitstellen. Wenn sich heute Institutionen – von den Vereinten Nationen bis zu den Rathäusern deutscher Kleinstädte – offiziell und deutlich auf Diversität verpflichten, dann kann dies auch als Chance gewertet werden, durch eben diese Selbstverpflichtung, so abstrakt und evasiv sie auch sein mag, kontestatorische Forderungen nach Teilhabe und Antidiskriminierung zu formulieren, die die herrschenden Aufteilungen infrage stellen. Das Programm einer Diversifizierung öffentlicher Institutionen eröffnet ein Interventionsfeld, um die Grenzziehungen politischer Beteiligung und gesellschaftlicher Teilhabe zu hinterfragen. Sie kann aber auch solche Möglichkeiten einschränken. Das zeigt sich reihenweise an der gegenwärtigen Umsetzung diversitätspolitischer Maßnahmen, die Tendenzen homogenisierender Integrationsphantasmen, essentialisierender Identitätskategorien und einer nicht-performativen „happy-talk-Rhetorik verfolgen (Ahmed 2012, S. 153; Mohanty 2003, S. 193). Das demokratische Potenzial von Diversität als Intervention besteht also nicht unabhängig von den je konkreten Verteilungen und Artikulationen gesellschaftlicher Teilhabe und den je etablierten Formen und Institutionen politischer Repräsentation, gegen das es sich wendet. Ein negatives Verständnis von Diversität affirmiert ein taktisches Kalkül, das den jeweiligen Kontext auf Modalitäten der Konsolidierung und Intervention hin beobachtet.

Aus den durch das Konzept der negativen Diversität erschlossenen Räumen der Kritik folgt ein politisches Handlungspotenzial. Dieses vermag sich aus einem neu gewonnen Selbstverständnis pluraler Allianzen zu speisen, die eine Erweiterung des demokratischen „Wir“ jenseits der herrschenden normativen Ordnung einfordern. Diversität wird damit nicht nur auf ein „negatives“ Prinzip der Benennung von Leerstellen der Repräsentation reduziert, sondern durch die hier eröffneten Räume der Intervention neu aufgeladen. Mit Judith Butler könnte man sagen, dass das gemeinsame politische Handeln der „Diversen“ Potenzial zur Inanspruchnahme des „Rechts zu Erscheinen“ beinhaltet (Butler 2016). Menschen, so die Grundannahme ihrer feministisch-kritischen Lesart der Hegelschen Anerkennungstheorie, sind grundsätzlich angewiesen auf intersubjektive Beziehungen und eine sie in ihrer Subjektwerdung erst ermöglichende Infrastruktur. Butler spricht von Interdependenz als Existenzbedingung (vgl. ebd.: 63). Werden diese Bedingungen vorenthalten, geraten Menschen in eine Situation der Prekarität, sie sind verletzlich und werden als „frei verfügbar betrachtet“ (Ebd. 38). Diese Vulnerabilität bzw. Bedingungen der Prekarität sind differenziell verteilt. Sie sind Resultate verwehrter Anerkennung und verunmöglichter Zugänge zu ökonomischen Ressourcen und zur öffentlichen Sphäre. Diversität lässt sich aus dieser Perspektive so fassen, dass Vielfalt in Form unterschiedlicher systemischer Ungleichheiten und historisch hierarchisierter Zuweisungen von Anerkennung und Inklusion in Körper eingeschrieben sind (vgl. Weheliye 2014; Butler 2016; Ahmed 2000). Werden also Diversitätskategorien wie race und gender in diese Überlegungen einbezogen, wird deutlich, dass von ebenjenen Kategorien Teilhabe und Anerkennung respektive Ausschluss und Abwertung abgeleitet wurden und werden.

„Diese Sicht der räumlichen Beschränkung und Zuteilung mit Blick darauf, wer erscheinen darf – wer also effektiv ein Subjekt des Erscheinens werden darf – geht von einer Funktionsweise der Macht aus, die sowohl durch Ausschluss als auch durch differenzielle Zuteilung wirkt.“ (Butler 2016, S. 116)

Der Ausschluss erfolgt wie oben aus postkolonialer Perspektive diskutiert über hierarchisierende Prozesse des Kategorisierens und Klassifizierens – in Halls Worten: „Differenz in Form eines fortwährenden Markierens und Neumarkierens“ (Hall 2002, S. 235) –, die in Repräsentationsmodi Eingang finden und dort re-produziert werden. Wie Spivak mit Verweis auf die Wirkung epistemischer Gewalt herausgearbeitet hat, können überhaupt nur jene repräsentiert werden, die als Subjekte anerkannt werden. „Die Anerkennung als Subjekt geht der Repräsentation unweigerlich voraus.“ (Castro Varela und Dhawan 2007, S. 32) Klassifikationsprozesse, die Hierarchien etablieren, wirken daher auch dann, wenn sich positiv auf die „Diversen“ bezogen wird und es normativ um Inklusion geht. Die Anerkennung des Subjekts erfolgt dabei über eine „assimilierende Inklusion“ (Butler und Athanasiou 2013, S. 34) nach den Bedingungen der hegemonialen Norm. Damit einher geht wie oben beschrieben ein „stranger fetish“ (Ahmed 2000, S. 3), durch welchen „der*die Andere“ als ontologische Differenz wahrgenommen wird: „[…] strangers can be made into subjects as long as they ‘consent to the terms of inclusion’“ (Ahmed 2012, S. 163).

Ein solcher Ansatz hilft zu verstehen, wie Institutionen, die sich formal zu Gleichstellung bekennen und Diversitätskonzepte entwickeln, weiterhin Inklusion so praktizieren, dass bestehende Exklusionen aufrechterhalten werden oder neue entstehen. Mehr noch: Mit dieser Perspektive lässt sich eine grundlegend demokratietheoretische Herausforderung für die Frage nach der Vermittlung von Vielfalt in der Demokratie adressieren: Wer gehört eigentlich dazu? Wer ist gemeint, wenn von „allen“, vom „Volk“ oder dem demos die Rede ist? Wird der Blick auf die intersubjektiven Beziehungen gerichtet zwischen jenen, die anerkannt werden und jenen, denen dies verwehrt wird, zeigt sich, wer aus den Definitionen des „Wir“ herausfällt. Es geht dabei um die „Veränderung des Verhältnisses zwischen den Anerkennbaren und den Nichtanerkennbaren“, um „(a) Gleichheit zu verstehen und anzustreben und (b) „das Volk“ einer weitergehenden Ausarbeitung zugänglich zu machen“ (Butler 2016, S. 12).

Von der Vulnerabilität marginalisierter Gruppen ausgehend das Handlungspotenzial von Diversität zu erschließen, bedeutet, abgrenzend von liberalen Diversitätsverständnissen, Differenz und Ungleichheit zu unterscheiden (vgl. Butler 2016; Govrin 2022). Dies ermöglicht eine Kritik gegenwärtiger Diversitätsdiskurse und -konzepte, in welchen Ungleichheiten eingeschrieben sind, unter deren Deckmantel also eine „hierarchisierte Vielfalt“ (re-)produziert wird (vgl. Boulila 2021, S. 84). In liberalen Diversitätsverständnissen, die häufig auf das Erbe des Multikulturalismus zurückgreifen – gleichzeitig diesen Begriff wegen seiner politischen Implikationen aber meiden – wird häufig affirmativ das (marktwirtschaftliche) Potenzial von Differenzen betont und keine Unterscheidung von Differenzen und Ungleichheiten geleistet. Letztere werden vielmehr verschwiegen. Einerseits wird damit verdeckt, dass der Diskurs selbst produktiv an Hierarchisierungsprozessen beteiligt ist, andererseits werden dadurch Differenzen ontologisiert, das heißt Unterschiede naturalisiert, weil die dahinterstehenden historischen Klassifikationsprozesse nicht reflektiert werden (Vgl. Ebd. 83ff; Ahmed 2000; Cooper 2004). Demgegenüber kann ein alternatives Diversitätsverständnis, das sich aus der postkolonialen und feministischen Kritik an Diversity informiert, die Berücksichtigung und Reflexion historisch gewachsener Machtverhältnisse bei der Herstellung von Differenz leisten. Neben dem Prinzip der „negativen Diversität“, welches diese Ungleichheiten in Institutionen benennt und aufdeckt, erschließt der Rückgriff auf ein performativ-interventionistisches Diversitätsverständnis im gemeinsamen Protest der Ausgeschlossenen das Potenzial zu einer transformativen Irritation bestehender Inklusions- und Repräsentationsmechanismen.

Dabei widerspricht es einem solchen Ansatz nicht, im Sinne eines „strategischen Essentialismus“ (Spivak 1988) auch affirmativ auf bestimmte Differenzkategorien zurückzugreifen. Bei interventionistischer Diversitätspolitik geht es nicht um die essentialisierende Betonung von Identitäten mit einem ontologischen Wesenskern und naturalisierenden Grenzziehungen, sondern darum, egalitäre Teilhabe im Namen der Diversität von Seiten exkludierter Subjektpositionen einzufordern. Im Akt des sich Ermächtigens im öffentlichen Raum findet eine plurale Subjektivierung statt, d. h. es werden dabei performativ neue Formen eines kollektiven Selbstverständnisses hervorgebracht. Dieses Potenzial erfolgt nach Butler in ihren Überlegungen zur Versammlung über das gemeinsame „Geltendmachen der pluralen Existenz“ (Butler 2016, S. 26), sie spricht auch von „pluralen Inszenierungen“ (Ebd.: 28), ausgehend von gemeinsamen Erfahrungen der Prekarität.

Eine interventionistische Diversitätspolitik knüpft an eine konstruktivistische Tradition an, die von einer laufenden Reartikulation von Identitäten ausgeht, die als widersprüchlich, heterogen und nicht konstant charakterisiert werden (vgl. Hall 2016) und die jüngst von Schubert und Schwiertz im Ansatz der „konstruktivistischen Identitätspolitik“ weiter ausgearbeitet und auf aktuelle Phänomene identitätspolitischer Subjektivierungsprozesse angewandt wurde (Schubert und Schwiertz 2021). Zentral hierbei ist anlehnend an Stuart Hall, dass in dieser „nicht bestehende Differenzkategorien affirmativ gewendet, sondern weitere heterogene Elemente einbezogen [werden], sodass es zur Vervielfältigung von multiplen Identitäten kommt“ (Ebd.: 582; vgl. Hall 1994a, S. 19, 1994b, S. 78). Überlegungen zur Identitätspolitik beziehen sich aber dennoch meist auf eine Differenzkategorie (hier auf Migrant*innen und queere Kämpfe um Teilhabe). Das Konzept interventionistischer Diversitätspolitik zielt nun aber noch stärker auf hybride Differenzallianzen ab, die in ihrer Kritik bereits von intersektionalen Ungleichheitsdimensionen ausgehen. Hybridität lässt sich in diesem Sinne mit Homi K. Bhaba als Ort potenzieller Kritik „hierarchischer Identitätskonstruktionen und einseitiger Machtverhältnisse“ (Babka und Posselt 2012, S. 9) verstehen, in der eine nichtrepräsentierbare Differenz neu repräsentiert wird (Ebd.: 67). Paradoxerweise konstituiert sich gerade über eine Nicht-Identität ein handlungsfähiges kollektives Subjekt (Ebd.: 65), als ein Ausgangspunkt „des Aushandelns von Differenzen mit dem Ziel der Überwindung von Hierarchisierungen […]“ (Babka und Posselt 2012, S. 12).

Auf der gemeinsamen Erfahrung der Vulnerabilität und der Prekarisierung werden Allianzen zwischen verschiedenen Gruppen jenseits „identitärer Ontologien“ (Butler 2016, S. 94) möglich. Die Pluralität „wird nicht im vorneherein durch die Identität eingeschränkt, d. h. es ist kein Kampf zu dem nur einige gehören können, sondern ganz entschieden ein Kampf, der versucht, die Bedeutung dessen, was wir mit ‚wir‘ meinen, auszudehnen“ (Ebd.: 91). Eine so verstandene interventionistische Diversitätspolitik ermöglicht die Reflexion und Auseinandersetzung mit grundlegenden Fragen der demokratischen Ordnung. Plurale Allianzen erschließen ein neues kollektiv-plurales Selbstverständnis, das bestehende Strukturen des Demokratischen und demokratischer Institutionen neu reflektiert und das vorherrschende Verständnis von Diversität innerhalb dieses Rahmens selbst hinterfragt, um so zur Definition eines neuen demokratischen „Wir“, einer neuen kollektiven Selbstbeschreibung des „pluralen Zusammenlebens“ (Hark 2021) zu gelangen.Footnote 19

In der Doppelstruktur des Konzepts der Diversität, die als normatives Leitbild Gleichheit in der Differenz fordert, entzieht sich diese Ausweitung des „Wir“ dem Zwang zur Assimilation. Zentral bleibt dabei ein solidarisch ausgerichteter Fokus, der plurale Allianzen (vgl. Foroutan 2019) über Identitätsgrenzen hinweg und intersektionale Bündnisse ermöglicht. Die hier vorgeschlagene Deutung von Diversität nimmt die postkoloniale Kritik an gegenwärtigen Diversitätspolitiken zum Ausgangspunkt, argumentiert jedoch, dass im Diversitätskonzept selbst ein demokratisches Potenzial liegt, das es zu bergen gilt. Es kann die Grundlage für Allianzen verschiedener von Diskriminierung betroffener Gruppen bilden, die partizipativ und kollektiv in institutionalisierte Diversitätspolitiken intervenieren, im Sinne einer „Dauer-Irritierung“ (Castro Varela 2010) und diesen eine kritische Reflexion und mögliche neue Deutungen entgegenstellen.

5 Schlussbetrachtung: Interventionistische Diversität als Demokratisierung

In diesem Artikel wurde auf Basis einer feministischen und postkolonialen Kritikperspektive eine demokratietheoretische Aktualisierung des Konzepts der Diversität vorgenommen. Das Konzept der Diversität fokussiert auf Hinsichten sozialstruktureller Differenz, die es zur Realisierung von gleicher Teilhabe zu berücksichtigen gilt. Während die Rede von Diversität in vielen Fällen der institutionellen Umsetzung bestehende Modi der Repräsentation und Inklusion konsolidiert, schöpft dieser Zugriff den Begriff nicht aus. Seine historischen Wurzeln in sozialen Bewegungen verweisen vielmehr auf das egalitäre Kernanliegen des Diversitätsdenkens: Personengruppen, die von historischer Unterdrückung und struktureller Marginalisierung betroffen waren oder sind, formulieren den Anspruch auf gleiche Teilhabe – in Anerkennung einer Form von Differenz, die sich auf kollektivierende Kategorien der Ungleichheit wie etwa race, gender oder Homosexualität bezieht. Diversität beschreibt somit sozialstrukturelle Verschiedenheit „im Vorgriff“ auf den normativen Horizont demokratischer Gleichheit. In diesem an Egalität orientierten Kern der Diversitätssemantik liegt das demokratische Potenzial von Diversitätspolitik. Sie kann, so verstanden, als eine Praxis der Intervention der „Ausgeschlossenen“, politische Handlungs- und Artikulationsmacht ermöglichen.

Wenn das Oszillieren zwischen Gleichheit und Verschiedenheit als „zentrale Dialektik des Diversitätsdenkens“ (Toepfer 2023) verstanden wird, stellt sich die Frage nach den demokratietheoretischen Implikationen. Diese wurden anhand des liberalen Ansatzes des Multikulturalismus (Taylor und Kymlicka) und des Ansatzes einer Politik der Differenz (Young) herausgearbeitet und aus einer feministischen und postkolonial informierten Kritikperspektive diskutiert. Sie zeigen auch und insbesondere jene Praktiken des Ausschlusses und der machtvollen Normierung auf, die mit dem Inklusions- und Repräsentationsversprechen von „Diversität“ einhergehen.

In der demokratietheoretischen Reflexion gesellschaftlicher Vielfalt erweisen sich sodann zwei zentrale Problematiken. Während multikulturalistischen Ansätzen die Problematik der Kulturalisierung und Essentialisierung innewohnt, läuft eine feministisch-deliberative Konzeption einer Politik der Differenz Gefahr, epistemische Machtverhältnisse nicht ausreichend zu adressieren. Beide Positionen verstehen Vielfalt als Grundlage demokratischer Ordnung, scheitern aber letztlich in dem Versuch, das Faktum gesellschaftlicher Differenzlinien (vollständig) egalitär zu wenden. Die beiden Herausforderungen weisen zugleich darauf hin, warum die egalitäre Berücksichtigung von Vielfalt (auch) in demokratischen Gesellschaften über den politischen Prozess im engeren Sinne hinaus erweitert werden muss und nicht auf die etablierten Verfahrensbestimmungen demokratischer Meinungs- und Willensbildung beschränkt bleiben kann. Diversität in einem solchen Verständnis ist nicht auf politische Repräsentation beschränkt, sondern zielt auf eine umfangreichere Transformation der gesellschaftlichen Strukturen.

Das hier vorgeschlagene Konzept der „interventionistischen Diversität“ soll einen Beitrag dazu leisten, dieses Potenzial zu erschließen. Statt Vielfalt lediglich zu affirmieren, ermöglicht das Konzept – über das Benennen von herrschenden Diskriminierungsformen und der Demonstration von Leerstellen – Interventionen in Institutionen und öffentliche Diskurse, die sich der Semantik und der Norm der Diversität bedienen.

Eine solche negative Ausrichtung fördert in einem ersten Schritt ein Verständnis von Diversität als Grundlage von hochgradig hybriden gesellschaftlichen Differenzkonstellationen, in die intersektionale Mechanismen des Unterscheidens, Hierarchisierens und Otherings historisch eingeschrieben sind. Prozesse des Klassifizierens, Hierarchisierens und Assimilierens, die in solcherart Repräsentations- und Inklusionsmodi Eingang finden und dort reproduziert werden, werden benenn- und kritisierbar. Negative Diversität wird so, in einem zweiten Schritt, zum Mittel einer interventionistischen Praxis „der Anteilslosen“, die diese Ausschlüsse offenlegen und in pluralen Allianzen (Foroutan 2019) zu einem neuen Selbstverständnis gelangen. Sie trägt zur Demokratisierung der Demokratie bei, weil in den Forderungen sozialer Bewegungen mit und um Diversität Ressourcen für Handlungsmacht und Emanzipation wurzeln. Das neue Selbstverständnis eines „pluralen Wir“ (Butler 2016) gründet auf intersektionalen und interdependenten Differenzbeziehungen. Die Bezugnahme auf das Konzept der Diversität ermöglicht auf diese Weise solidarische Bündnisse in Einbezug multipler Ungleichheitslagen und über identitätsbasierte Gruppengrenzen (vgl. Schubert und Schwiertz 2021) hinweg. In diesem Verständnis vermag das Diversitätskonzept potenziell nicht nur das „Social imaginary“ (Vertovec 2012) zu verändern, sondern erlaubt eine Neuverhandlung der demokratischen Identität darüber, wer einer politischen Ordnung zugehörig ist und wer darin gehört wird.

Diversität als demokratische Intervention kann so essentialistische Wendungen zugunsten historisch hervorgebrachter und sozial reproduzierter Differenzkonstellationen zurückweisen. Das Konzept mobilisiert darüber hinaus diese Reflexion sozialstruktureller Vielfalt als Einbruch in die etablierten Paradigmen politischer und sozialer Repräsentation. Nicht zuletzt fordert eine interventionistische Diversität eine ständige (Selbst‑)Reflexion der dem Konzept der Diversität inhärenten Fallstricke und kann als kritischer Prüfstein für Institutionen und politische Verfahren dienen, die immer wieder aufs Neue auf ihre Ausschlussmechanismen hin befragt werden müssen. Damit wird eine Kritik jener Diversitätspolitiken möglich, die das Gleichheitsversprechen der Demokratie nicht einlösen.