FormalPara Klaus Mehnert

Ein Deutscher in der Welt. Erinnerungen 1906–1981, Stuttgart 1981, 448 S. (DVA).

FormalPara Martin Greiffenhagen

Jahrgang 1928. Aus einem unruhigen Leben, München 1988, 198 S. (Piper).

FormalPara Iring Fetscher

Neugier und Furcht. Versuch, mein Leben zu verstehen, Hamburg 1995, 480 S. (Hoffmann und Campe).

FormalPara Theodor Eschenburg

Also hören Sie mal zu. Geschichte und Geschichten 1904 bis 1933, Berlin 1995, 320 S. (Siedler).

FormalPara Theodor Eschenburg

Letzten Endes meine ich doch. Erinnerungen, Berlin 2000, 288 S. (Siedler).

FormalPara Christian Graf von Krockow

Zu Gast in drei Welten. Erinnerungen, Stuttgart/München 2000, 350 S. (DVA).

FormalPara Gilbert Ziebura

Kritik der „Realpolitik“. Genese einer linksliberalen Vision der Weltgesellschaft. Autobiografie, Münster 2009, 396 S. (Lit).

FormalPara Hans Maier

Böse Jahre, gute Jahre. Ein Leben 1931 ff., München 2011, 420 S. (Beck).

FormalPara Ekkehart Krippendorff

Lebensfäden. Zehn autobiographische Versuche, Berlin 2012, 476 S. (Graswurzelrevolution).

FormalPara Arnulf Baring

Der Unbequeme. Autobiografische Notizen, Wien u. a. 2013, 398 S. (Europa).

FormalPara Claus Leggewie

Politische Zeiten. Beobachtungen von der Seitenlinie, München 2015, 476 S. (Bertelsmann).

FormalPara Konrad Löw

„Lasst uns trotzdem weiterkämpfen!“ Erfahrungen mit dem Versuch, „Verantwortung vor Gott und den Menschen“ zu leben. Eine Autobiografie, [Bad Schussenried] 2015, 302 S. (Gerhard Hess).

FormalPara Klaus von Beyme

Bruchstücke der Erinnerung eines Sozialwissenschaftlers, Wiesbaden 2016, 242 S. (Springer).

FormalPara Hans-Peter Schwarz

Von Adenauer zu Merkel. Lebenserinnerungen eines kritischen Zeitzeugen, hrsg. von Hanns Jürgen Küsters, München 2018, 734 S. (DVA).

FormalPara Wolfgang Rudzio

Im Schatten der Politik. Ein Leben, Wiesbaden 2018, 347 S. (Springer).

FormalPara Bassam Tibi

Von Damaskus in die deutsche Gubra. Migration und Integration, veranschaulicht am Beispiel meines Lebens, Stuttgart 2022, 470 S. (ibidem).

1 Fragen an die Autobiographien

Es gehört zum Geschäft von Politikwissenschaftlerinnen und Politikwissenschaftlern, Strukturen zu erfassen und den Blick weniger auf das Individuelle zu lenken; dennoch haben manche der Versuchung nicht widerstanden und das eigene Leben aufgeschrieben. Autobiographien sind eine heikle Angelegenheit. Der Vorwurf der Selbstbespiegelung liegt in der Natur der Sache. Wer über sich schreibt, muss aufpassen, dass er die eigene Person nicht zu wichtig nimmt. Zugleich kann es reizvoll sein, den Leserinnen und Lesern Rechenschaft über Leben und Werk abzulegen, zumal wenn dieses politische Geschehnisse reflektiert.

Folgende Maxime sollte für jede Autobiographie gelten: Alles Mitgeteilte muss erlebt, aber nicht alles Erlebte mitgeteilt sein, im Interesse des Verfassers, der nicht jede Begebenheit auszubreiten hat, wie im Interesse des Lesers, den nicht jede Intimität etwas angeht. Und Wahrhaftigkeit läuft selbst bei größtem Bemühen nicht immer auf Wahrheit hinaus, denn im Laufe der Zeit verblasst die Erinnerung. Davor ist kein Autobiograph gefeit.

Dieser Beitrag will nicht chronologisch Autobiographie für Autobiographie abhandeln.Footnote 1 Die Leitfrage lautet: Wie spiegelt sich das Fach in allen Autobiographien der Politikwissenschaftler? Welches Gewicht messen diese ihrer Disziplin zu? Was wird über Politikwissenschaft ausgesagt, was über Politikwissenschaftler? Die ursprüngliche Idee, Untersuchungskriterien für die Autobiographien aufzustellen (z. B. mit Blick auf Sprache, Informationsreichtum, Originalität, Fairness, Selbstkritik) wurde verworfen, weil ihnen höchst Subjektives innewohnt, das ein solches Kriterienraster unterläuft. Eine Orientierung daran hätte etwas Schulmeisterliches. Was ebenso unterbleibt: die Autobiographien mit den biographischen Texten über die Autoren zu konfrontieren (im Hinblick auf Parallelen und Unterschiede). Zum einen würde dies den Umfang sprengen, zum anderen mangelt es bei manchen Autobiographen an genügend aussagekräftigen biographischen Zeugnissen, etwa zu Konrad Löw und Wolfgang Rudzio.

Zunächst gilt es nach diesen einführenden Hinweisen zu klären, welche Werke untersuchungswürdig sind. Das ist nicht immer ganz einfach (Kapitel 2). Schließlich ist eine kurze Würdigung der Autobiographien sinnvoll, und zwar nach dem jeweiligen Publikationsjahr. Der Inhalt mit den vom Autor gewählten Schwerpunkten nimmt größeren Platz ein (Kapitel 3). Danach steht im Mittelpunkt, welche Rolle der jeweilige Autor (es waren stets Männer) dem eigenen Fach in der Autobiographie zuschreibt (Kapitel 4) und wie intensiv er sich auf die Fachkollegen einlässt (Kapitel 5). Die abschließenden Überlegungen sind vergleichender Natur (Kapitel 6). Ein übergreifender Gesichtspunkt schlägt sich bei den Kapiteln am Ende nieder: Stets kommt ein Vergleich der Autobiographien der beiden wohl produktivsten Politikwissenschaftler – gemessen am Umfang der Publikationen – kurz zur Sprache. Die Unterschiede zwischen denen von Klaus von Beyme und Hans-Peter Schwarz fallen ungeachtet gewisser Parallelen beachtlich aus.

2 Auswahl

Die Grenzen zwischen einer ausgewachsenen Autobiographie und autobiographischen Zeugnissen sind fließend. Der Verfasser hat sich dafür entschieden, nur solche Werke einzubeziehen, die von deutschen Hochschullehrern der Politikwissenschaft stammen und die eigens als autobiographisch gekennzeichnet sind. Der Begriff der Autobiographie wird eng ausgelegt. Unveröffentlichte Memoiren wie die von Winfried Steffani (1999) oder die von Jürgen Seifert (2002/2003), die zum Teil in der Literatur auftauchenFootnote 2, fallen ebenfalls unter den Tisch.

Warum bleiben die Zeugnisse von Wolfgang Abendroth (1976), Rainer Eisfeld (2022), Hans-Hermann Hartwich (2008), Peter Graf Kielmansegg (2020), Eugen Kogon (1997), Ludger Kühnhardt (2021/2022), Gerhard Lehmbruch (2021), Gesine Schwan (2015), Eric Voegelin (1994) und Michael Wolffsohn (2017) unbeachtet? Abendroths Gespräche mit Barbara Dietrich und Joachim Perels betreffen sein Leben, seine Zeit und sein Werk. Zwar kommt viel Wichtiges zur Sprache, freilich in Form eines Interviewbandes, in dem Abendroth auf Fragen antwortet. Der „autobiographisch inspirierte Band“ von Rainer Eisfeld (2022: S. 11, Hervorhebungen im Original) schildert und dokumentiert den Universitätsalltag vor allem Anfang der 1970er-Jahre. Er verknüpft das mit einem spezifischen Verständnis von Politikwissenschaft, doch reicht dies nicht für eine Autobiographie aus. Hans-Hermann Hartwichs „Autobiographisches“ handelt einen kleinen Lebens- und Zeitabschnitt ab: vor allem das Jahrfünft zwischen 1944 und 1949. Hartwich musste drei Jahre im Speziallager „Fünfeichen“ des NKWD verbringen, des Volkskommissariats für Innere Angelegenheiten. Nach der Flucht in den Westen nahm Hans-Hermann Schulz den Namen „Hartwich“ an, um nicht in ein Gefängnis der Kommunisten zu geraten. Für Peter Graf Kielmansegg gilt das Gleiche wie für Wolfgang Abendroth. Das Gespräch zwischen ihm und Ahmet Cavuldak über sein Leben und Werk bietet wichtige Informationen, kann jedoch eine Autobiographie nicht ersetzen. Eugen Kogons „Begegnungen“, als sechster Band der „Gesammelten Schriften“ erschienen, erinnern an Stationen seines Lebens – zum Teil waren die Texte veröffentlicht, zum Teil noch nicht. Die Lebensberichte, die sein Sohn Michael Kogon aus den vielen Quellen zusammengestellt hat, gehen kaum auf die Professur des Vaters in Darmstadt ein. Schließlich war Eugen Kogon, in den 1960er-Jahren Moderator des Fernsehmagazins „Panorama“, vor allem als Publizist bekannt. Ludger Kühnhardts zweibändige voluminöse Sammlung „Verknüpfte Welten“ schildert anschaulich seine Reisen in alle Staaten der Welt sowie die zahlreichen Treffen mit Politikern – eine Autobiographie im herkömmlichen Sinne ist damit freilich nicht entstanden. Seine demnächst erscheinende Werkbiographie (2024) dürfte ebenso autobiographische Bezüge aufweisen. Gerhard Lehmbruchs Memoirenwerk beschreibt ausschließlich, wiewohl detailliert, unter Einbeziehung der Familiengeschichte, seine Jugendzeit in einem Pfarrhaushalt und endet mit dem Abitur. Eine Aufnahme in diese Kategorie ist daher nicht zu rechtfertigen.

Michael Wolffsohns „Deutschjüdische Glückskinder“ sind Erinnerungen, die auch das Leben der Eltern und der Großeltern würdigen. Sie präsentieren höchst anschaulich viele Episoden, ebenso aus der Universität, nicht nur erfreuliche. Zu der deutsch-jüdischen Familiengeschichte steuert Wolffsohn zahlreiche Erlebnisse aus seinem Leben bei. Die Annahme Stefana Sabinas, es sei im Kern „seine Autobiographie, die als Familiengeschichte getarnt ist“ (Sabina 2017: S. 36), dürfte nicht ganz falsch sein, da aber der Autor, mit einer Doppelhabilitation in Geschichtswissenschaft wie in Politikwissenschaft versehen, an der Universität der Bundeswehr in München eine Professur im Fach Geschichte besaß, sieht der Verfasser davon ab, das Werk einzubeziehen. Kein Grenzfall ist Gesine Schwans Schrift „Ich bin ein leidenschaftlicher Mensch“. Sie enthält vornehmlich autobiographische Skizzen, die selbstbewusst vor dem Ausbreiten eigener Probleme nach dem Tode ihres Mannes Alexander nicht zurückschrecken, ferner Texte von Michael Albus sowie dessen Interviews mit Schwan, darunter sehr persönliche. Dieser Zusammenstellung, die fast ohne Passagen zur Politikwissenschaft auskommt, fehlt es an Kohärenz. Für die „Autobiographischen Reflexionen“ von Eric Voegelin gilt das Gesagte zu Abendroth und Kielmansegg. Hervorgegangen aus Interviews, fußen die „Reflexionen“ – das sind sie! – vor allem auf den Lehren der Vorkriegszeit. Autobiographisch angelegte Aufsätze von Politikwissenschaftlern kommen nicht zum Zuge, weil sie in der Regel nur auf spezifische Punkte abheben, etwa von Ernst Fraenkel (1973). Erst recht gilt das für Erinnerungssplitter, etwa von Jürgen W. Falter (2008, 2013). Von diesem sind demnächst ausführliche Erinnerungen zu erwarten (2024).

Die Memoiren dreier Personen (Heinrich Brüning, Golo Mann, Carlo Schmid), alle Gründungsprofessoren der Politikwissenschaft an ihrer Universität, finden aus anderen Gründen keine Aufnahme. Die großenteils schon in den 1930er-Jahren geschriebenen Memoiren Brünings, der nach seiner Harvard-Professur an der Universität zu Köln von 1951 bis 1955 sporadisch lehrte, wurden erst nach seinem Tod im Jahre 1970 veröffentlicht (Brüning 1970). In ihnen rechtfertigt Brüning seine Deflationspolitik als Reichskanzler zwischen 1930 und 1932. Von 1960 bis 1965, nahm Golo Mann, krankheitsbedingt diskontinuierlich, eine Professur für „Politische Wissenschaften“ an der Technischen Hochschule Stuttgart wahr. Seine beiden Memoiren-Bände betreffen die Zeit bis 1940 (Mann 1986, 1999). Carlo Schmid, der zwischen 1953 und 1968 eine Professur für die Wissenschaft von der Politik in Frankfurt am Main bekleidete, erwähnt in den Memoiren diese nur auf einer halben Seite im Zusammenhang mit seinem Abschied (1979, S. 821 f.). Das ist wohl ein Indiz für den eher geringen Stellenwert, den er ihr beimaß.

Ebenfalls unberücksichtigt bleiben die Autobiographien deutsch-jüdischer Emigranten, die im Ausland eine Professur im Fach Politikwissenschaft erhielten. Sie nahmen nach 1945 keinen Lehrstuhl in Deutschland an, ungeachtet zahlreicher Gastaufenthalte, so die US-Amerikaner Reinhard Bendix (1985), John H. Herz (1984), Henry KissingerFootnote 3, so die Franzosen Alfred Grosser (2011) und Joseph Rovan (2000). Hierzu zählen auch die erst jüngst veröffentlichten Memoiren Karl Loewensteins (2023), der ungeachtet des von ihm gewählten Titels mindestens so sehr Politikwissenschaftler wie Jurist war.Footnote 4

3 15 Autobiographien in 16 Bänden

Die erste Autobiographie eines deutschen Politikwissenschaftlers kam 1981 heraus (der Feder Klaus Mehnerts entsprungen), die bisher letzte 2022 (von Bassam Tibi). Die unterschiedliche Anlage solcher Werke liegt auf der Hand. Manche Erinnerungswerke sind betont subjektiv geschrieben, manche achten (mehr) auf Distanz. Die einen rücken ihr Leben (nicht selten auch: ihr Licht) in den Vordergrund, die anderen ihr Werk, die dritten die Zeitumstände. Wer eine Autobiographie schreibt, kann folglich höchst unterschiedliche Gesichtspunkte präferieren, persönliche, berufliche, gesellschaftliche. Die verschiedenartige Akzentsetzung, bedingt durch Mentalität und Vorlieben, ist keineswegs kritikwürdig. Repräsentativität für die Politikwissenschaft vermag eine solche Bestandsaufnahme nicht zu beanspruchen.

Klaus Mehnert (1906–1984), studierter Historiker, promovierte mit 21 Jahren bei Otto Hoetzsch, erhielt einen eigens für ihn eingerichteten Lehrstuhl für Politische Wissenschaft an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen, und zwar erst mit 55 Jahren. Er sei anfangs „mit Leib und Seele Professor“ (S. 342)Footnote 5 gewesen, später weniger. Die Autobiographie, publiziert mit 75, schildert sein abenteuerliches Leben (mit der Kindheit in Moskau sowie Kontakten zu Ernst Röhm, Kurt von Schleicher und Otto Straßer). Der leidenschaftliche Publizist erzählt lebhaft von zahlreichen Begegnungen auf mehreren Kontinenten. Seine Bücher, vornehmlich über China und Russland (1958, 1977) wurden häufig Bestseller. Die Autobiographie (Auflage: 100.000 Exemplare) macht da keine Ausnahme. Mit seinen Rundfunk- und Fernsehkommentaren in den 1950er und 1960er-Jahren über „die Weltpolitik“ hatte er, schon früh auf den Weg eines „Beobachters der Politik“ (S. 8) geraten, sich eine große Gemeinde erschlossen.

Martin Greiffenhagen (1928–2004) ist in seinen bereits mit 60 Jahren veröffentlichten Memoiren darum bemüht, das „Verallgemeinerungsfähige“ (S. 9) seines Lebens herauszustellen: so das Aufwachsen in einem Pfarrhaushalt, das Wirken als Flakhelfer, das Studium in Heidelberg, die Lehrtätigkeit an verschiedenen Universitäten, die vielen Reisen, familiäre Krisen. Den ersten 30 Jahren räumt Greiffenhagen deutlich mehr Platz ein als den zweiten. Die Erinnerungen sind von Reflexion geprägt, weniger von Erlebnissen. Besonderes Gewicht kommt dem Universitätsleben zu. Beim Vergleich zwischen der einstigen „Ordinarienuniversität“ und der heutigen „Gruppenuniversität“ fällt das Urteil ambivalent aus. Ob der folgende Satz wirklich der Wahrheit entspricht: „Als einen der schwärzesten Tage in meinem Leben habe ich den Tag meiner Ernennung zum Professor auf Lebenszeit in Erinnerung“ (S. 160)? „Ausstiege und Umstiege“ (S. 160) sind jedoch immer möglich, wie nicht zuletzt Christian Graf von Krockows Aufgabe des Lehrstuhls belegt.

Iring Fetscher (1922–2014) hat seine Memoiren mit 73 Jahren vorgelegt. Sie reichen nur bis zu seinem Ruf an die Frankfurter Universität im Dezember 1962.Footnote 6 Kindheit und Jugend, Kriegszeit sowie die Studien- und Assistenzzeit bei dem ihn beeindruckenden Eduard Spranger stehen im Vordergrund, wobei der 1947 zum Katholizismus Konvertierte sich häufiger auf Tagebucheinträge stützt. „[W]er nur in seinen Tagebuchaufzeichnungen und Briefen aus längst vergangenen Jahren blättert, ist nicht immer angenehm überrascht. Oft genug hat er Mühe, zu verstehen und zuzugeben, dass, der das einst geschrieben hat, ‚er selbst‘ ist oder doch einmal ‚war‘“ (S. 9). Seinem am letzten Kriegstag von einer SS-Streife erschossenen Vater, einem bekannten Dresdner Arzt, setzt Fetscher in einem eigenen Kapitel ein Denkmal. Viel Raum nimmt die Freundschaft mit dem Hegel-Interpreten Alexandre Kojève ein, wie überhaupt zahlreiche philosophische Kontemplationen den Text durchziehen. Ungeachtet Fetschers Kritik an Lenin und Stalin ließen seine vielen Marxismusstudien in den 50er-Jahren gewisse Sympathien für Marx erkennen, zumal den frühen.

Theodor Eschenburg (1904–1999), mitunter als „Praeceptor Germaniae“ charakterisiert, hat gleich zwei Memoirenbände vorgelegt, für die Zeit von 1904–1933 und für die Zeit von 1933–1999.Footnote 7 Die ersten 30 Lebensjahre kommen viel anschaulicher und ausführlicher zur Sprache als die letzten 60. Die umfassend geschilderten Kontakte des jungen Mannes zu Stresemann gingen auf seine Doktorarbeit über Ernst Bassermann zurück, den Vorgänger Stresemanns als Vorsitzender der Nationalliberalen Partei im Kaiserreich. Eschenburg geriert sich keineswegs als Widerstandskämpfer.Footnote 8 Er wählte die innere Emigration, trat nicht in die NSDAP ein und aus der SS wieder aus, fand schließlich eine gehobene Position in der Kurzwarenindustrie. „Nun hörte ich auch auf zu publizieren. Selbst die einzige Ausnahme von diesem Entschluss hatte mit der Arbeit zu tun, die in diesen zwölf Jahren wirklich zum Halt für mich wurde – ein Aufsatz über die Entstehungsgeschichte des Knopfes, geschrieben für eine bulgarische Fachzeitschrift“ (Bd. 2, S. 39). Für die Zeit nach 1945 zielt der Text vor allem auf seine wichtige Rolle bei der Bildung Baden-Württembergs 1952 und auf die legendären „Zeit“-Kolumnen.Footnote 9 Der erste Band kam im Alter von 91 heraus, der zweite, weitgehend ein Torso, in seinem Todesjahr 1999.

Christian Graf von Krockow (1927–2002) ist ein „weißer Rabe“. Er quittierte seine Laufbahn als Hochschullehrer nach Stationen in Göttingen, Oldenburg, Saarbrücken und Frankfurt am Main mit 42 Jahren. Die Gründe, vor allem die Frustration über Querelen an den Universitäten, kommen in seinen im Alter von 73 Jahren verfassten Erinnerungen deutlich zur Sprache. Diese sind chronologisch in drei große Teile gegliedert: von Pommern und Preußen, vom Lernen und Lehren, vom Schreiben und Erzählen. Die erste Großpassage lässt eine versunkene Epoche lebendig werden. Gewiss, melancholische Züge sind vernehmbar, doch niemals findet sich auch nur ein Hauch von Revanchismus. Graf von Krockow, der selber Biografien verfasst hat, etwa über Bismarck, Churchill und Wilhelm II., beschreibt anschaulich seinen Lebensweg, ohne allzu privat zu werden.Footnote 10 Im Schriftstellerdasein sah er, der das Ende der „alten Universität“ (S. 218) betrauert, seine Berufung. Unverkennbar ist sein Stolz über die von der Öffentlichkeit anerkannten publizistischen und schriftstellerischen Meriten (Krockow 1985, 1990, 1992).

Gilbert Ziebura (1924–2013) stellt sein Memoirenwerk, das zwar erst mit 85 Jahren veröffentlicht, aber einige Jahre zuvor geschrieben wurde, unter die folgenden Fragen: „Wie bin ich mit politischen Konstellationen, von der Jugend unter Hitler, der Zeit (scheinbarer) Allmacht der Politik, bis zur Globalisierung aller Lebensverhältnisse seit Ende des 20. Jahrhunderts, der Zeit (scheinbarer) Ohnmacht der Politik, umgegangen, wie habe ich meinen ganz persönlichen Weg zwischen Engagement und Kritik, zwischen Wagnis und Irrtum, zwischen Ideal und Wirklichkeit gesucht“ (S. 1)? Wer den Text studiert, erkennt jedoch, dass der Kern seines Unterfangens wohl in seinem Plädoyer gegen „Realpolitik“ besteht. Der leidenschaftliche Anhänger einer deutsch-französischen Freundschaft, der mitunter auf seine früheren Texte Bezug nimmt, begreift sich als dezidiert Linksliberaler, dem Kritik von pragmatischen Anhängern des Status quo entgegenschlug wie von unduldsamen Revolutionären. Als Linkskatholik stand er bei den ausgiebig geschilderten Universitätskonflikten oft zwischen den Fronten.

Hans Maier (geb. 1931) wählt für die Erinnerungen, publiziert in seinem 80. Lebensjahr, eine Vorgehensweise, die frei von jeder Form prosekutorischer Sichtweise ist und die durch Diskretion besticht. In ihnen überlagern die „guten“ Jahre bei weitem die „bösen“. Das gilt für alle drei große Abschnitte seines Lebens: die Zeit in Freiburg bis zur Habilitation 1962, der schnell drei Rufe folgten (nach Berlin, Mainz und München); die Münchner Phase, die vor allem die Tätigkeit als bayerischer Kultusminister bis zum Rücktritt 1986Footnote 11 betrifft; die Zeit danach (Rückkehr an die Universität und „Unruhestand“ mit vielen Hobbys, so dem Orgelspiel). Maier, intern mehrfach als Bundespräsident gehandelt, weiß in seiner Menschenfreundlichkeit (fast) all seinen Begegnungen Positives abzugewinnen. Und bei der Schilderung von Konflikten, etwa mit Joseph Ratzinger oder Franz Josef Strauß, geschieht dies niemals in einer bös-bissigen Form. Maier ist neben Peter von Oertzen (Kufferath 2017) – von 1970 bis 1974 niedersächsischer Kultusminister – der einzige Politikwissenschaftler von Rang, der als Politiker Karriere gemacht hat.

Ekkehart Krippendorff (1934–2018) wählt ein für seine Autobiographie, veröffentlicht mit 78 Jahren, ungewöhnliches, nicht-chronologisches Vorgehen. Anhand von zehn – zum Teil miteinander verwobenen – Lebensfäden lässt er seine Entwicklung Revue passieren, wobei das eigene Werk nur ein Randthema ist: Krieg, Theater, Universitäten (das weitaus umfangsreichste Kapitel), Nazismus, Amerika, Juden, Italien, DDR, Musik, Religion. „Die Dominanz des Zeitgeschichtlichen ist beabsichtigt und macht, möglicherweise, den exemplarischen Wert dieser Erinnerungen aus. Das Private, obwohl es, wie es einmal hieß, auch das Politische ist, tritt hier in den Hintergrund“ (S. 139). Der Text lässt breite Bildung erkennen, gepaart mit leichter Arroganz. Wie der flüssig geschriebenen Autobiographie des politischen Globetrotters zu entnehmen ist, lag das Interessenfeld von Krippendorff, auch in Italien und in den USA beheimatet, in einem weitgespannten interdisziplinären Sektor. Friedensforschung zählte zu den von ihm mit ins Leben gerufenen Themen. Der Umtriebige fiel politisch auf, und zwar durch linke Radikalität. Diese ist durch Altersweisheit nun milder geworden.

Arnulf Baring (1932–2019) hat an der Freien Universität Berlin mit „Auszeiten“, so für einen dreijährigen Forschungsaufenthalt in Bonn über ein Buchprojekt zu den Anfangsjahren der sozial-liberalen Koalition, in den 1970ern, 1980ern und 1990ern gelehrt, zunächst Politik-, später, ab Mitte der 70er-Jahre Geschichtswissenschaft. Er beschreibt im Alter von 81 Jahren höchst anschaulichFootnote 12 seinen durch viele Zufälle gezeichneten Lebens- und Berufsweg. Geprägt hat ihn das Erlebte am Ende des Zweiten Weltkrieges, als er beim Feuersturm auf Dresden am 13. Februar 1945 beinahe ums Leben gekommen wäre. Der „Medienprofessor“ beklagt den „Hang zum Konformismus“ (S. 15). Wenn Baring sich über die „permanente Aufgeregtheit“ (S. 157) Kurt Schumachers echauffiert, fühlt sich der Leser lebhaft an seine Talkshowauftritte erinnert, von denen wenig die Rede ist. Die persönlichen Erfahrungen kommen gleichermaßen zum Zuge wie die großen politischen Ereignisse. Baring, ein weltgewandter Wissenschaftler, ist deprimiert über das seines Ermessens nach mangelnde hiesige Nationalgefühl.

Claus Leggewie (geb. 1950) vergegenwärtigt sich sein bewegtes Leben und seine Begegnungen bereits mit 65 Jahren – angefangen bei der Kindheit in Köln über die dortige Universitätszeit, die Göttinger Assistenz und die Gießener Professorenjahre bis zur Tätigkeit als Direktor des Kulturwissenschaftlichen Instituts Essen. Diese Aufzählung kann in die Irre führen, denn der Verfasser – „der antikommunistische Linke, der katholisch fühlende Agnostiker, der angeschlossene Außenseiter, der respektvolle Grenzverletzer“ (S. 128) – berichtet wenig über die Universität, sondern, oft organisiert durch die Goethe-Institute, mehr über seine Reisen (in ungefähr ein Viertel aller Staaten) und seine dortigen Erfahrungen, etwa in Ländern wie Algerien, Frankreich und den USA. Der Wandel Leggewies, nicht im Sinne eines radikalen Renegaten, verlief etappenweise. Heute heißt es bei dem einstigen Gegner der deutschen Einheit: „Westbindung und Wiedervereinigung gingen 1990 sehr wohl zusammen, per Artikel 23 wurden neue Länder angeschlossen“ (S. 239). Der Autor, unbedingter Befürworter der Universalität der Menschenrechte, gewinnt mittlerweile der einst geschmähten Totalitarismustheorie Positives ab, hält sie für „eine geeignete Beschreibung der gemeinsamen Züge der braunen und roten (womöglich auch der islamistisch-grünen!) Diktaturen“ (S. 240).

Konrad Löw (geb. 1931), ein erzkonservativer Demokrat, rechnet in den Erinnerungen, veröffentlicht im 84. Lebensjahr, mit seinen Kritikern ab. Dem ersten Teil („Allerlei aus meinem Leben“) folgen drei Kapitel, in denen der Autor seine Fehden ausbreitet. Dabei hat der Bayreuther es nicht vermieden, die Gerichte wegen falscher Wiedergabe der eigenen Positionen anzurufen (mit unterschiedlichem Erfolg). Das erste Kapitel betrifft die geharnischte Kritik an Karl Marx und dem Marxismus, das zweite die Kritik an den scharfen Kritikern der Moon-Organisation, das dritte die Verteidigung der deutschen Bevölkerung im Dritten Reich, die entgegen manchen Legenden keineswegs dem Antisemitismus unisono Vorschub geleistet habe, obgleich ihr wohlwollende Passivität, und das fehlt beim Autor, eigen war. Wiewohl Löw bei allen drei Streitfragen in ein Wespennest stach und prinzipiell richtig lag, stört doch die etwas rechthaberisch-selbstgerechte Art. Im letzten Kapitel ist von seinem Vermächtnis die Rede, der Wahrhaftigkeit. Das erste Zitat im Titel bezieht sich auf ein Wort Alfred Grossers, der Löw beigesprungen ist.

Klaus von Beyme (1934–2021), dessen Feder allein nach der Emeritierung 1999 15 Monographien entsprungen sind, spricht im Untertitel der mit 82 Jahren publizierten Memoiren von „Bruchstücken“, um einerseits die Unvollständigkeit der Memoiren anzudeuten und anderseits seiner Rolle als Sozialwissenschaftler gerecht zu werden. Wie der Großvater mütterlicherseits, Kurt von Rümker, ein berühmter Pflanzenzüchter, sieht sich Beyme als ordnungsliebenden Pedanten, der Vorbehalte gegen schriftliche Erinnerungen hegt, die häufig langweilig ausfielen. Erfrischend, ohne Pathos, zeichnet der wissenschaftliche Tausendsassa wesentliche Stationen seines Lebens nach, mitunter leicht selbstironisch: die schlesische Kindheit als Sohn eines Gutsbesitzers, die Flucht aus dem Osten und dann bald die Flucht aus Sachsen-Anhalt, die Schulzeit in Niedersachsen (mit einem „Einser“ in Deutsch und einem „Fünfer“ in Mathematik), die ihn wenig befriedigende Buchhändlerlehre in Braunschweig, das Studium verschiedener Fächer, die Assistentenjahre in Heidelberg, die Tübinger Zeit als „Jungprofessor“, die Ära als wohlbestallter Ordinarius von 1973 bis 1999 – erneut in Heidelberg (fortan allen Versuchungen widerstehend, an andere akademische Orte im In- und Ausland zu gehen), schließlich die produktive Emeritus-Phase.

Hans-Peter Schwarz (1934–2017) hat, kein Wunder, die umfangreichste Autobiographie abgeschlossen, wenige Wochen vor seinem Tod. Schwarz, der keine Schule begründet hat, lässt den Leser an der Entstehung und Konzeption seiner Bücher teilhaben (erst alle Quellen erschließen, dann in einem Zug schreiben), darunter eine Monographie über das 20. Jahrhundert im Spiegel des „Polit-Thrillers“ (Schwarz 2006). Bei dem Pessimisten – Klagen über den Leistungsverfall an den Universitäten wie über den schnell wechselnden Zeitgeist sind zu vernehmen – ist viel von verhinderten Katastrophen die Rede, wenig von verpassten Chancen. Seine Skepsis gegenüber einem europäischen Bundesstaat ist deutlich: „Vielleicht verspüren aufmerksame Leser auch den Kummer darüber, dass etwas Kostbares zu Ende geht: der demokratische, selbstbestimmte deutsche Nationalstaat und die Identität des tüchtigen, wenngleich seiner selbst unsicheren deutschen Volkes, das Besseres verdient hätte“ (S. 16). Ausführlich und nicht ohne subtile Spottlust schildert der durchsetzungsstarke Nonkonformist akademische Erlebnisse, berufliche Stationen sowie Grabenkämpfe in Gremien.

Wolfgang Rudzio (geb. 1935), dessen Memoiren konventionell gehalten sind, hatte es als Flüchtling aus Ostpreußen schwer. Er musste beengte Verhältnisse durchstehen – die Jahre als Flüchtlingskind in der Dorfgesellschaft waren ebensowenig einfach wie die auf dem Gymnasium als „Fahrschüler“ mit dreieinhalb Stunden Fahrzeit täglich und als der „Klassenarme“ (S. 121). Die Zeit bis zum Abitur nimmt über ein Drittel des Umfangs ein. Rudzio zeichnet sein damaliges linkes Engagement nach, etwa im Rahmen der IG Metall, wobei Ende der 1960er, Anfang der 1970er-Jahre allmählich Pragmatismus die Oberhand gewann. Anders als bei vielen führte ihn die von „Bürgerkindern“ getragene Studentenrevolte nicht nach links. Die Zeit in Oldenburg war – jedenfalls bis etwa Mitte der 1980er-Jahre – für ihn wegen der politischen Streitigkeiten nicht einfach. Repräsentanten der Frankfurter Schule und DKP-nahe Positionen vergällten ihm zeitweilig die Arbeit. Rudzio berichtet offen über die schwierigen Anfänge seiner Ehe, ohne Koketterie, ohne Euphemismen. Die Autobiographie, im Alter von 83 Jahren auf den Buchmarkt gebracht, gewinnt durch das Erwähnen von Umwegen, Problemen und selbst von Niederlagen an Authentizität.

Bassam Tibi (geb. 1944) hat mit 78 Jahren eine Autobiographie vorgelegt (ein Geleitwort stammt von Michael Wolffsohn), die ihresgleichen sucht. Der Autor, ausgewiesen durch zahlreiche Publikationen zu den Themen Islam und Islamismus, nimmt kein Blatt vor den Mund, weder sich noch andere schonend. 1962 als Abiturient und Sohn einer notablen Familie von Syrien nach Deutschland kommend, die Zeit zuvor wird nahezu ausgeblendet, brachte er es innerhalb eines Jahrzehnts zum Professor für Internationale Beziehungen in Göttingen, ohne dass dies seine Entwurzelung gravierend milderte. Wer das mit üppigen Wiederholungen behaftete Erinnerungswerk als das Beispiel eines Egomanen begreift, trifft ins Schwarze. Tibi sieht sich in Deutschland als verkannt an, wobei die vielen Preise dem offenkundig widerstreiten. Der folgende Satz ist nicht gesucht und belegt die Eitelkeit des renommierten Forschers: „Unter den weit mehr als 100 Städten, in denen ich auf fünf Kontinenten in den vergangenen 75 Jahren als wissenschaftlich forschender, kulturell hybrider Mensch gelebt und gearbeitet habe, ragen nur drei als diejenigen heraus, die für mein Leben besonders wichtig waren; diese sind und bleiben Damaskus, Frankfurt und Cambridge/MA.“ (S. 228).

Die Lektüre der zumeist mit großer Lebendigkeit verfassten Memoiren ruft selten Langeweile hervor. Was angesichts der späten Etablierung des Faches in den Universitäten nicht verwundern mag: Viele Autoren sind keine „ursprünglichen“ Politikwissenschaftler. Theodor Eschenburg, Klaus Mehnert und Gilbert Ziebura wurden in der Geschichtswissenschaft promoviert, Iring Fetscher, Martin Greiffenhagen, Christian Graf von Krockow in der Philosophie, Arnulf Baring und Konrad Löw in der Rechtswissenschaft. Eschenburg, Löw, Mehnert, Rudzio und TibiFootnote 13 gelangten zur Professur ohne Habilitationsschrift. Dieser Befund sagt weder etwas über die Qualität der Autoren aus noch über die der Memoiren.

Mit Klaus von Beyme und Hans-Peter Schwarz, jeweils Jahrgang 1934, sind Erinnerungswerke der beiden Politikwissenschaftler mit dem größten Output in breitgefächerten Themengebieten vertreten. Der eine Autor, sozialwissenschaftlich orientiert, repräsentiert den Mainstream links der Mitte, der andere, mit einem Faible für Zeitgeschichte, rechts davon. Jeweils ihre Arbeit(en) in den Vordergrund stellend, erwähnen sie sich gegenseitig nicht.Footnote 14 Das belegt ein gewisses Lagerdenken und ist kritikwürdig.Footnote 15

4 Politikwissenschaft im Spiegel der Autobiographien

Leserinnen und Leser, darunter nicht wenige aus der Politikwissenschaft, wollen erfahren, welchen Stellenwert das eigene Fach in den Erinnerungswerken einnimmt. Es liegt nahe, sich bei den Autobiographien daher auf die Fragen zu konzentrieren, welchen Rang die Autoren der eigenen Disziplin in ihren Memoiren zuschreiben und wo sie dort ihren Platz sehen. Kommen Wandlungen zur Sprache, seien es thematische, seien es politische?

Klaus Mehnert geht nur in einem einzigen der 70 Kapitel eigens auf die Politikwissenschaft ein, allerdings in einem ergiebigen. Freimütig gesteht er – „in Russland geboren, anderthalb Jahrzehnte in der Sowjetunion, in China und Amerika wohnhaft, jährlich viele Monate in fernen Weltteilen unterwegs, mit häufigen Auftritten in den Medien“ (S. 344) – sein Außenseiterdasein im Wissenschaftsbetrieb ein. Der Verfasser verstand sich weder als genuiner Politikwissenschaftler noch als Theoretiker. Seine Maxime: „erst die Fakten zu sehen, zu sammeln, zu interpretieren und zuletzt, wenn möglich, zu allgemein verwertbaren Schlussfolgerungen zu gelangen“ (S. 345). Dieses von Ergebnisoffenheit geprägte Vorgehen traf bei der aufbegehrenden Studentenschaft in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre auf wenig Akzeptanz. Ihm kam entgegen, dass die Studenten der technischen Fächer (Politikwissenschaft galt in Aachen zunächst nicht als Hauptfach) „vorrangig an verwertbaren Erkenntnissen interessiert [waren], nicht an Theorien“ (S. 341).

Das Politikverständnis von Martin Greiffenhagen wurzelt in jenem von Aristoteles. Politik sei ein eigenes und wichtiges Feld menschlicher Existenz. Der Verfasser hielt es für richtig, als Politikwissenschaftler keiner Partei beizutreten, um seine Unabhängigkeit und seine „Leidenschaft zur Analyse“ (S. 177) zu bewahren, wobei die Nähe zur SPD eingeräumt wird. Zu aktueller Tagespolitik habe er zumeist Abstand gewahrt (die heftige Kritik am Extremistenbeschluss von 1972 fällt unter die wenigen Ausnahmen). „Wenn ich rechtsstaatliche Sicherungen, insbesondere den Schutz von Meinungsfreiheit, für gefährdet halte, lasse ich mich für politischen Protest gewinnen. Dann konvergiert mein analytisches Interesse mit dem politischen Engagement, weil eines die Voraussetzung des anderen ist“ (S. 177). Insgesamt überwiegt bei ihm eine „skeptisch-distanzierte Haltung“ (S. 179). Er sei mehr an der Klärung unterschiedlicher Positionen interessiert, weniger am Erhalt von „Gesinnungsbeifall“ (S. 178) und erst recht nicht an „parteiischen Kampfspielen“ (S. 177).

Als Schüler von Helmuth Plessner und Rudolf Smend selber nicht im Fach Politikwissenschaft sozialisiert, beschreibt Christian Graf von Krockow dieses als eine neue Disziplin, die es angesichts der Widerstände zumal aus den Reihen der Geschichts- und Rechtswissenschaft zunächst schwer hatte, an den Universitäten zu prosperieren. Krockow zählte neben Martin Greiffenhagen, Wilhelm Hennis, Hans-Peter Schwarz und Kurt Sontheimer zu den Jungprofessoren, die ihre Karriere Anfang der 60er-Jahre mit einer Stelle an einer Pädagogischen Hochschule in Niedersachsen begannen. Das (zeitweilige) Abschaffen des Faches an der Saarbrückener Universität unter einem sozialdemokratischen Ministerpräsidenten ist für ihn, den langjährigen Sozialdemokraten, Anlass zu Sarkasmus. Sein Verständnis von Politikwissenschaft wird nicht eigens erörtert, wobei ihm jede Form des Extremismus abging. Linker Dogmatismus verleidete dem undogmatischen Linken die Lehre. Die radikalen „Rebellen von 1968“ (S. 210) beäugte er skeptisch.Footnote 16

Iring Fetscher erwähnt die Zeit als Frankfurter Professor praktisch überhaupt nicht mehr. So sind die Aussagen zum Fach knappgehalten, wiewohl die Memoiren öfter Kontroversen mit anderen Autoren nachzeichnen, freilich vorwiegend aus dem philosophischen Bereich. Der Autor lässt seine Skepsis gegenüber der ökonomischen Theorie der Demokratie eines Anthony Downs durchblicken: „Einmal, weil sie die Citoyens lediglich als wählerische Konsumenten von Politikangeboten ansieht, und zum anderen, weil bei der kleinen Auswahl konkurrierender Parteien nicht gut von einem ‚freien politischen Markt‘ geredet werden könne“ (S. 474). Stand Fetscher dem DDR-Regime stets ablehnend gegenüber, konnte der langjährige Herausgeber von „Marxismusstudien“ mit den Theorien des jungen Marx mehr anfangen. Seine Sympathien gehörten Rosa Luxemburg, doch wäre eine Charakterisierung als Marxist unangemessen.

Obwohl von den Anfängen her Historiker, stellt Theodor Eschenburg in dem Kapitel „Professor, Publizist, Präzeptor“ (Bd. 2, S. 189–227) zu Recht sein großes Engagement beim Aufbau der hiesigen Politikwissenschaft heraus, gegen Vorbehalte etablierter Fächer. Auch die Initiativen zugunsten der politischen Bildung im Zusammenwirken mit dem Freiburger Arnold Bergstraesser auf Geheiß des CDU-Kultusministers Wilhelm Simpfendörfer fehlen nicht.Footnote 17 Bei seiner Lehrtätigkeit kam ihm die frühere Praxis zugute. „Ich sammelte Beispiele aus Politik und Verwaltung und habe sie auch nach bestimmten Mustern klassifiziert. Das gab mir gegenüber den meisten meiner Kollegen einen Vorteil, denn sie argumentierten zumeist aus der Theorie heraus“ (Bd. 2, S. 206 f.). Eigens wird die Kehrseite ohne Wenn und Aber betont: „das Theorie-Defizit war bei mir beträchtlich“ (Bd. 2, S. 207).

Hans Maier verblüfft mit einer Erkenntnis: „So hatten die ‚Zählwissenschaften‘ bei mir stets einen Stein im Brett“ (S. 98). Ist dies eine verkappte Kritik an Bergstraessers eben gerade nicht empirisch ausgerichteter Freiburger Schule (Schmitt 1995) der Politikwissenschaft? Das trifft nicht zu, denn voller Achtung ist von der Freiburger Atmosphäre die Rede, wie überhaupt auffällt: Maier ackerte auf den verschiedensten Wissenschaftsfeldern, der Geschichte, der Jurisprudenz, der Ökonomie, der Philosophie. Das von Bergstraesser ins Leben gerufene „Colloquium politicum“, bei dem Maier mitwirkte, war ein eindrückliches Beispiel für das Studium Generale. Der Gelehrte spart in den Memoiren den Verweis auf seine Habilitationsschrift über „Polizeiwissenschaft“, die Neuland betrat, keineswegs aus. „Nie wieder habe ich mich später so intensiv, so unabgelenkt der Forschung widmen können wie damals – fast zwei volle Jahre lang“ (S. 91).

Promoviert bei Theodor Eschenburg, sollte Ekkehart Krippendorff Assistent Klaus Mehnerts werden, doch wurde er es bei Ernst Fraenkel, wiewohl nur ganz kurz. Bergstraesser hatte ihm als „Jungspund“ gesagt: „Sie müssen Wissenschaftliche Politik studieren. Und er sagte das mit so viel Sicherheit und Selbstverständlichkeit, dass mir eigentlich keine Wahl blieb“ (S. 116). Sein Interesse war nicht, innerhalb seiner Disziplin zu reüssieren – jedoch „zwischen den Stühlen der Disziplinen und Fachbereiche, zwischen den ExpertInnen, zwischen den Schulen – ‚von Sokrates bis Mozart‘ – und auch zwischen den Nationen“ (S. 14). Diese Sichtweise dürfte nicht frei von Arroganz sein. Die Abschiedsvorlesung über seine nicht eben positive Bilanz zur Politikwissenschaft – „erstaunlicherweise gibt es keinen Text, der mir so viele Reaktionen eingetragen hat wie dieser“ (S. 188), – mag manche Parteigänger verwundert haben (Krippendorff 1999).

Arnulf Baring verstand sich ganz und gar nicht als Theoretiker. Der Nachfolger des Demokratie- und Pluralismustheoretikers Ernst Fraenkel teilte nicht die Forschungsgebiete des Emigranten. So wechselte er später, nach dem Tode Fraenkels, zur Geschichtswissenschaft über, die ihn, den Volljuristen, mehr anzog. Das Analysieren des Handelns von Personen lag ihm, nicht das von Strukturen. Pointiert heißt es: „Als Historiker hat man es mit einem soliden Fach zu tun. Man kann keine Traumschlösser bauen, wie es immer bei Politikwissenschaftlern der Fall ist, die gewagte Hypothesen aufstellen, obwohl ihnen das Basiswissen fehlt“ (S. 191). Trotzdem finden sich in den Memoiren genuin politikwissenschaftliche Aspekte, so zum „Niedergang der Parteienkultur“ (S. 317), zum „Zeitalter der kommunikativen Verwahrlosung“ (S. 320), zum Fehlen einer „erkenntnisfördernden Streitkultur“ (S. 320), zu den „Sozialutopien eines alimentierenden Staates“ (S. 325), zur „Sentimentalisierung des Euro-Problems“ (S. 340).

Ohne je Politikwissenschaft studiert zu haben, erhielt Leggewie, der in den Gremien des Faches später nicht groß in Erscheinung trat, eine Assistentenstelle im Fach. Trotz mancher Bezugnahme auf seine Disziplin gibt es nur ein einziges (kleines) Kapitel über „Politische Wissenschaft“. Die „tiefschwarze“ (S. 408) Kölner Schule von Ferdinand A. Hermens mit ihrem Engagement für die Mehrheitswahl habe ihn abgeschreckt. Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus sah Leggewie die Politikwissenschaft, der enges Spezialistentum vorgeworfen wird, als „Demokratiewissenschaft“ (S. 410), nicht als Transformationsforschung. Ihn reizt die Zusammenarbeit mit Vertretern anderer Fächer wie den Naturwissenschaften oder der Stadtplanung. Seine Form der normativen Politikwissenschaft profitiert von den vielen Reisen, die ihn, wahrlich keinen Stubengelehrten, zu neuen Erkenntnissen führten (Leggewie 2022).

Konrad Löw schildert weniger sein stark juristisch geprägtes Verständnis vom Fach Politikwissenschaft, wohl aber seine Faszination für den Beruf bis zum Schluss. „Als 1971 der Ruf an mich erging, künftig als ordentlicher Universitätsprofessor der Universität Erlangen-Nürnberg zu wirken, fühlte ich mich am Ziel einer geheimen Sehnsucht, die bis in die Gymnasialjahre zurückreicht“ (S. 47). Er gibt die Zufriedenheit seiner Studenten mit ihm wieder, etwa in Prüfungsangelegenheiten, obwohl das „Verschenken“ guter Noten unterblieb. Und Löw vergisst nicht zu erwähnen, dass Kritiker seiner Vorlesungen die Möglichkeit zum Widerspruch erhielten. Von seinen Veröffentlichungen ist ihm besonders wichtig der Aufsatz zum Wahlrecht für Kinder, ausgeübt durch ihre Eltern (Löw 1974). Galt diese Idee damals als anachronistisch, ist sie heute in aller Munde.

Klaus von Beyme fungierte nicht nur als Vorsitzender der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft (1973–1975), sondern auch als Vorsitzender der International Political Science Association (1982–1985). Hatte er es bei der deutschen Vereinigung mit politischen Querelen zu tun, ging es der internationalen u. a. um die Aufnahme der Volksrepublik China. Der Autor äußert sich befriedigt über das Ausbleiben einer Abspaltung bei der internationalen Politologenvereinigung, hingegen befremdet über den Vollzug einer nationalen Abspaltung in Form der Deutschen Gesellschaft für Politikwissenschaft 1983. Beyme deckte in seinen Publikationen alle Gebiete der Politikwissenschaft ab (Panreck 2021). Davon zeugen die Erinnerungen nur begrenzt, da der Autobiograph seine Produktivität nicht plakativ herauskehrt, wobei die Rankings vorkommen (mit Beyme an der Spitze). Der Polyglotte räumt ein, thesenhafte Zuspitzungen bei den Publikationen seien nicht seine Sache gewesen. Nüchterne EmpirieFootnote 18 überlagerte meist starke normative Positionen. Sein Ansatz galt später zuweilen als traditionell, als „Opas Politikwissenschaft“ (S. 221), wie der Autor kokettierend meint.

Hans-Peter Schwarz verteidigt seine historisch grundierte Art des Faches gegenüber mancher Theorie- und Methodenhuberei. Der in der Politikwissenschaft Promovierte neigte immer mehr zur Zeitgeschichte, obwohl seine Professuren in Hamburg, Köln und Bonn stets der Politikwissenschaft zugeordnet waren. In seiner Autobiographie ist viel von seinen Auslandsaufenthalten und den voluminösen Biographien zu Konrad Adenauer, Helmut Kohl und Axel Springer die Rede. „Dass die Schilderung meiner Erfahrungen auf der jeweiligen Zeitebene vielfach mit mehr oder weniger knappen Ressourcen aus heutiger Sicht gewürzt wird, gehört nun einmal zum Genre der Autobiographie, das seinen Reiz aus der Montage zweier Zeitebenen bezieht“ (S. 665). Der von ihm geprägte Begriff der „Demokratiewissenschaft“ (Schwarz 1962: S. 303) für die hiesige Politikwissenschaft in den ersten zwei Jahrzehnten setzte sich durch, traf hingegen auf sein Wissenschaftsverständnis weniger zu.

Die frühe „Neigung zum Quantifizieren“ (S. 129) fand zwar im Studium der Mathematik bei Wolfgang Rudzio Niederschlag, nicht aber in seinem Verständnis von Politikwissenschaft, stand der quantifizierende Ansatz ihm doch fern. Der Oldenburger Politikwissenschaftler avancierte mit seiner entschiedenen Ablehnung extremistischer Strömungen zu einem „Demokratiewissenschaftler“, wovon nicht nur sein Erinnerungswerk zeugt, sondern auch das regelmäßig auf den neuesten Stand gebrachte Lehrbuch zum politischen System der Bundesrepublik Deutschland.Footnote 19 Mit diesem Werk erklärt er seine Reputation in der Politikwissenschaft. Details zum Fach fehlen. Über seinen Lehrer Carlo Schmid heißt es: „Carlo machte kein Hehl daraus, dass er seit 1945 kein politikwissenschaftliches Buch gelesen hatte. Das stellte bei dem damaligen Stand der deutschen Politikwissenschaft kein so großes Manko dar, wie es später gewesen wäre, und dank seiner Belesenheit gab es keine Schwierigkeiten“ (S. 186). Dies wirft gleichwohl einen Schatten auf den Homme de Lettres.

Sofern Bassam Tibi das Fach Politikwissenschaft berührt, wird eine Jeremiade über das seiner Meinung nach unzureichende Ansehen der eigenen Person angestimmt. Allerdings findet sich bei ihm eine Reihe von Gegenbeispielen. Die Frankfurter Jahre nimmt er von der Klage aus, das seinerzeitige Wirken als junger Wissenschaftler betraf weniger die Disziplin der Politologie, mehr das Umfeld der „Frankfurter Schule“ um die von ihm verehrten Theodor W. Adorno und Max Horkheimer. Tibi, der in Göttingen „die sozialwissenschaftliche Islamologie durch zwei Buch-Trilogien“ (S. 354) begründet habe, erwähnt zu Recht sein Konzept der europäischen „Leitkultur“Footnote 20, die ihn zwischen alle Stühle brachte. An dem deutschen Wissenschaftsbetrieb lässt der Deutsch-Syrer kein gutes Haar, ohne dass genau klar wird, was ihn daran stört. Ist es, wie angedeutet, der ausgebliebene Ruf?

Was bei Autobiographien bekannter Politikwissenschaftler etwas verwundert: Reflexionen über das eigene Fach sind eher dünn gesät. Das mag viele Gründe haben. Manche der Autoren waren Seiteneinsteiger wie Klaus Mehnert und Arnulf Baring, konnten sich mit dieser Disziplin nicht recht identifizieren. Die meisten dürften gemeint haben, tiefschürfende Überlegungen zur Politikwissenschaft passten in keine Autobiographie und interessierten die Leserschaft nicht. Das mag so sein, aber gerade Politikwissenschaftler greifen zur Lektüre solcher Bücher. Am ehesten erfahren Leser etwas über das Fach bei Beyme und Ziebura, wobei leider niemand den Alltag am Schreibtisch systematisch eingefangen hat. Dabei verläuft das Leben eines Wissenschaftlers vorwiegend dort, zumal die Autobiographen nahezu ausnahmslos (vielleicht bis auf Rudzio) zu den Vielschreibern zähl(t)en, wobei diesem Wort keine pejorative Konnotation innewohnen soll.

Beyme, der mehr an der Politikwissenschaft interessiert war als an der Politik, und Schwarz, für den das weniger zutraf, haben den eigenen Arbeiten in ihren Autobiographien besondere Aufmerksamkeit angedeihen lassen. Von selektiver Wahrnehmung sind sie dabei nicht frei. Macht Klaus von Beyme es sich nicht etwas einfach, wenn es heißt, ihm – wie M. Rainer Lepsius – habe die Wiedervereinigung „weit mehr bedeutet als anderen Kollegen“ (S. 194)? Unabhängig davon: Hat er (und nicht nur er) vor 1990 entschieden genug die Illegitimität des DDR-Systems zur Sprache gebracht? Diese Frage bleibt unbeantwortet. Und Hans-Peter Schwarz meint, sein damaliges deutschlandpolitisches Selbstverständnis sei mit der Politik der sozialliberalen Koalition und später jenes des christlich-liberalen Bündnisses etwa deckungsgleich. Wirklich? Immerhin heißt es: „Ungern lese ich heute, dass der Aufsatz auch die These enthielt, ‚dass eine Wiederherstellung des Bismarck-Reichs nicht mehr möglich ist‘“ (S. 267). Und Beyme gesteht ein, den Aufstieg der Grünen nicht erkannt zu haben. „Ich zog damals eine soziale Bewegung vor, die auf alle Parteien Druck ausübt“ (S. 190). Irrtümer stärker einzuräumen, ist keine Schwäche, sondern eine Stärke. Doch passiert das selten. Beyme und Schwarz bilden bei diesem offenbar als neuralgisch angesehenen Punkt keine Ausnahme.

5 Fachkollegen im Spiegel der Autobiographien

Politikwissenschaftler agieren nicht im luftleeren Raum. Sie schreiben zuweilen nicht nur für die „breite Masse“, sondern auch für die – mehr oder weniger – „lieben“ Kollegen. Kommen diese in den Memoiren vor, eher lobend, eher tadelnd? Oder spielen sie nahezu keine Rolle, werden Kontroversen – persönliche, politische oder fachliche – ausgeblendet?

Klaus Mehnert erwähnt als ExotFootnote 21 in seinem Fach die Kollegen praktisch nicht. Sein langjähriger Assistent Winfried Böttcher wird hochgelobt, sein Nachfolger Kurt Lenk, der einen ganz anderen Ansatz repräsentierte, kurz genannt. Arnold Bergstraesser und Carlo Schmid treten nicht in ihrer Eigenschaft als Professoren der Politikwissenschaft auf, sondern in einem ganz anderen Kontext: Bergstraesser im Zusammenhang mit dem Deutschen Akademischen Austauschdienst, Schmid im Zusammenhang mit einer Rundfunkdiskussion. Mehnert blieb selbst in seiner Zeit als Aachener Professor mehr Publizist als Politikwissenschaftler, im Grunde ein Fremdkörper im Fach, ungeachtet seiner kontaktfreudigen Art, die sich allerdings nicht auf die Kollegen im Fach erstreckte.

Ebenso ursprünglich kein Politikwissenschaftler, hebt Martin Greiffenhagen manche seiner ihn beeindruckenden Lehrer hervor, wie etwa die Philosophen Karl Löwith und Hans-Georg Gadamer oder den Soziologen Alfred Weber. Selbst der konservative Philosoph Robert Spaemann findet positive Erwähnung, jedoch kaum ein Politikwissenschaftler. „Freund“ (S. 87) Christian Graf von Krockow zählt zu den Ausnahmen. Diese Reserviertheit mag mit Greiffenhagens Maxime zusammenhängen, vor allem die Aspekte des Generalisierbaren zu betonen. An sich war der Stuttgarter Gelehrte im Fach gut integriert, wovon zahlreiche Herausgeberschaften zeugen, an denen viele Politikwissenschaftler mitgewirkt haben.

Für Iring Fetscher gilt Ähnliches. Dies beruht wesentlich auf dem Auslaufen der Memoiren nach dem Beginn der Frankfurter Professur. Er schildert seine Kontakte mit Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, denen er bescheinigt, nicht nur heftige Kritiker der westlichen „Massenkultur“ gewesen zu sein, sondern auch des sowjetischen Marxismus-Leninismus. Seine Absicht, bei Horkheimer eine Habilitationsschrift zu verfassen, zerschlug sich, als dieser ihm mitteilte, er müsse „in unserem Sinne“ (S. 473) schreiben. Sein konservativer Lehrer Eduard Spranger habe derart Verräterisches niemals verlauten lassen. Anders als Adorno, der von einer „ehrgeizigen Betriebsnudel“ (S. 475) spricht, lobt Fetscher Hannah Arendt als „interessanteste und anregendste Kollegin“ (S. 480). Er hatte sie während seines Aufenthaltes an der New School for Social Research in New York City kennengelernt.

Theodor Eschenburg, der Fetscher zur Habilitation verhalf, spart das Nennen von Namen politikwissenschaftlicher Kollegen ebenso weithin aus. Juristen wie Günter Dürig, Historiker wie Hans Rothfels, Altphilologen wie Wolfgang Schadewaldt und Philosophen wie Eduard Spranger werden hingegen mit großem Feingefühl porträtiert. Ist dies ein Indiz dafür, dass sich Eschenburg gar nicht als Politikwissenschaftler gesehen hat? Klaus von Beyme, der 1967 den zweiten Lehrstuhl am Tübinger Institut bekam, wird, warum auch immer, gar nicht erwähnt. Zwei Gründungsväter des Faches dagegen sind wohlwollend charakterisiert: Arnold Bergstraesser und Carl Joachim Friedrich. Alfred Weber habe Eschenburg bei einer Diskussion abgekanzelt. „Ich war sehr deprimiert, vor allem über die sehr spöttische und zynische Art von Alfred Weber“ (S. 208).

Christian Graf von Krockow, von seinen Lehrern Helmuth Plessner und Rudolf Smend fasziniert, lobt die erste Generation der deutschen Politikwissenschaft, darunter Emigranten wie Ernst Fraenkel, Richard Löwenthal und Eric Voegelin. Ansonsten fehlen nähere Charakterisierungen der Kollegen. Karl Dietrich Bracher, Martin Greiffenhagen, Wilhelm Hennis und Peter von Oertzen tauchen eher beiläufig auf. Und wenn Krockow „Heimtücke“ (S. 217) bei einem Kollegen ausmacht, fällt dessen Name nicht. Der Abschied von der Universität ist ihm offenbar recht leichtgefallen, sei es wegen der dortigen Unzulänglichkeiten, sei es wegen der Verlockungen, sich als Publizist und Schriftsteller zu beweisen. Kein Kollege konnte ihn von seinem ungewöhnlichen Entschluss abbringen.

Gilbert Ziebura ist voll des Lobes über Ernst Fraenkel, seinen Lehrer, dem er viel verdankt. „Unser persönliches Verhältnis konnte kaum besser sein“ (S. 138). Das mutet überraschend an, da Ziebura nicht dessen Verständnis von einer normativen Demokratiewissenschaft teilte. Den jungen Lehrstuhlinhaber unterstützten „zwei hoch befähigte, engagierte Mitarbeiter, Arnulf Baring und Ekkehart Krippendorff, beide promoviert, gereifte, selbstsichere wissenschaftliche Persönlichkeiten, motiviert und, jeder auf seine Weise, ehrgeizig, mit einem Hang zur Selbstgerechtigkeit“ (S. 166). Die Memoiren der beiden unterstreichen diese Charakterisierung als treffend. Engen Kontakt gab es u. a. zu den Kollegen Josef Esser und Richard Löwenthal, der Lob und Tadel erfährt.

Hans Maier rühmt seinen Doktor- und Habilitationsvater Arnold Bergstraesser, das Haupt der Freiburger Schule als „einen Mann von großer Liberalität und erstaunlichem Einfühlungsvermögen“ (S. 82). Auch die Mitstreiter Manfred Hättich, Gottfried-Karl Kindermann, Dieter Oberndörfer, Alexander Schwan, Hans-Peter Schwarz und Kurt Sontheimer, um nur die bekanntesten zu erwähnen, nennt Maier mehr als einmal, ebenso Wilhelm Hennis, seinen Co-Herausgeber einer Buchreihe, ferner Wissenschaftliche Assistenten, darunter Heinrich Oberreuter. Vor allem Gelehrte aus anderen Fächern imponierten ihm, etwa Gerhard Ritter und Franz Schnabel. Maier, das ist wohl ein Wesenszug seiner in sich ruhenden Persönlichkeit, meidet Kritik an Kollegen. Und wenn sie unvermeidlich erscheint, dann wird eine milde Form gewählt, weniger bei Martin Heidegger, dessen „orakelhafte Worte“ (S. 103) ihm nicht sonderlich gefielen.

Ekkehart Krippendorff äußert sich zu den Kollegen, selbst zu solchen außerhalb Deutschlands, weitaus pointierter als Maier. Sein Urteil über Fraenkel, dessen hohe Qualifikation er zwar ganz und gar nicht in Frage stellt, fällt deutlich anders aus als das Zieburas. „Ernst Fraenkel war ein schwieriger Mann mit einer schwierigen Lebensgeschichte. […] Von seinen Assistenten – wie auch von seiner Sekretärin – erwartete er unbedingte Unterwerfung; mindestens zweimal wöchentlich ‚hielt er Hof‘, indem [er] seine drei Assistenten (einer davon war ich ab September 1963 geworden) in gebührlichem Abstand von seinem Schreibtisch Platz nehmen ließ, während er seine Briefe diktierte […]“ (S. 149). Hingegen kommt der Doktor- und Habilitationsvater Theodor Eschenburg besser weg, erst recht Arnold Bergstraesser.

Kurt Sontheimer und Gilbert Ziebura ist Arnulf Baring für das Angebot zur Habilitation dankbar. Mit Ernst Fraenkel, seinem Vorgänger auf dem Berliner Lehrstuhl, beklagte er die Politisierung an den Universitäten, und teilte er dessen Sorge über die studentische Rebellion, die wesentlich auf die Elterngeneration gezielt habe. Baring hebt ausländische Wissenschaftler wie Maurice Duverger, Peter Gay, Alfred Grosser, Henry Kissinger und Fritz Stern bald mehr hervor als hiesige. Hingegen spielen Literaten eine größere Rolle, sei es eine negative (wie Günter Grass), sei es eine positive (wie Hans Werner Richter). Das ist wohl Ausdruck von Barings beschränktem Interesse für das Fach Politikwissenschaft, kein Indiz für unbeschränktes Desinteresse an Personen generell, ganz im Gegenteil.

Claus Leggewie erwähnt die Kollegen seines Faches kaum – am ehesten habe er sich mit Wilhelm Hennis, Dolf Sternberger und Eugen Kogon verbunden gefühlt, weil sie über ihre Disziplin hinausschauten. Das Verhältnis zu seinem Doktorvater Bassam Tibi sei extrem angespannt gewesen, nach der Göttinger Zeit jedoch besser geworden. „Das einzig Gute an dem Zerwürfnis war, dass ich meines Wissens nie wieder protegiert wurde und unabhängig von Schulverpflichtungen die mir zugewiesene Außenseiterrolle im Fach annahm. Insofern war Göttingen ohne Lehrer eine Lehre“ (S. 89). „Stalltreue“ (S. 267) von Kollegen wundert ihn. Sein Dank am Ende des Werkes gilt zahlreichen Weggefährten, wohl nicht zufällig kaum Politikwissenschaftlern. Immerhin nennt Leggewie vier Schüler, denen er viel verdanke: Sigrid Baringhorst, Christoph Bieber, Benjamin Drechsel, Erik Meyer.

Zu den Außenseitern im Fach Politikwissenschaft, aber in einem anderen Sinn als Leggewie, gehört ebenfalls Konrad Löw, zum einen wegen der stark juristischen Argumentation, zum andern wegen der dezidiert konservativen Haltung. In seinen Memoiren tauchen hiesige Politikwissenschaftler kaum auf. Peter C. Mayer-Tasch, der für ihn eine „Ehrenerklärung“ (S. 256) abgegeben habe, zählt zu den Ausnahmen. Hingegen nehmen die Kontakte zu Ex-Kommunisten wie Hermann von Berg, Stéphane Courtois, Gerd Koenen und Günter Schabowski einen breiten Platz ein. Alfred Grosser, der Löws Position in der Frage der Unterstützung von Juden im Dritten Reich durch Nicht-Juden prinzipiell teilt, sammelt Sympathiepunkte.

Für Klaus von Beyme kommt von der Gründergeneration der deutschen Politikwissenschaft sein Lehrer Carl Joachim Friedrich besser weg als der Tübinger Kollege Theodor Eschenburg, dieser seinerseits besser als der Heidelberger Dolf Sternberger, dessen Lehrstuhl von Beyme später übernahm. Kein Kollege ist nach Friedrich und Eschenburg derart oft erwähnt wie Krippendorff. Dieser war, wie der Zufall spielt, sein Klassenkamerad 1945/46 in Halberstadt, „schon damals […] aufmüpfig und originell“ (S. 213). Auch Hennis wird – trotz des anderen Ansatzes – Respekt gezollt. Beyme nennt zwei Professoren, die sich später der Kunst widmeten und ihm „dadurch innerlich noch näherkamen: Krippendorff in der Literatur, Udo Bermbach in der Musik“ (S. 213). Der „Einzelkämpfer“ (S. 219) würdigt eigens Wolfgang Merkel und Manfred G. Schmidt für ihr Koordinationsvermögen.

Hans-Peter Schwarz beeindruckt am meisten die Persönlichkeit Bergstraessers und dessen „Freiburger Intellektuellen-Seminar für Politische Wissenschaft“ (S. 145) – etwas überraschend heißt es: „Wohl am weitesten rechts stand Ekkehart Krippendorff, damals Bundesführer des Wandervogels“ (S. 146). Zum Bergstraesser-Nachwuchs gehörten neben Schwarz u. a. Manfred Hättich, Gottfried-Karl Kindermann, Hans Maier, Dieter Oberndörfer, Alexander Schwan und Kurt Sontheimer. Angesichts der unterschiedlichen Ansätze lasse sich von keiner „Schule im strengen Sinne“ (S. 173) sprechen. Ausgiebige Würdigungen erfahren seine Baseler Lehrer Karl Jaspers, dem „Altersradikalität“ (S. 117) bescheinigt wird, Werner Kägi und Edgar Salin. Im Vergleich zu dem Privatdruck „Arbeitstage“ fehlen manche unterhaltsame, vornehmlich auf Personen bezogene Passagen (Schwarz 2012). Schwarz schien dies wohl zu privat zu sein.

Der politische Wandel Wolfgang Rudzios, zunächst auf dem linken Flügel der SPD beheimatet, später (2015) die CDU wegen ihrer Energie‑, Europa- und Bevölkerungspolitik verlassend, führte ebenso zu einem Wandel der personellen Kontakte innerhalb des Faches. Er kooperierte in Frankfurt am Main als Assistent bei Carlo Schmid mit Otwin Massing und Ingeborg Maus. In Oldenburg, wo es scharfe Konflikte mit DKP-nahen Kollegen gab, gedieh eine gute Zusammenarbeit mit Helmut Freiwald, Karl-Heinz Nassmacher und Herbert Uppendahl. Hermann Weber, den Rudzio gerne als Kollegen gehabt hätte, nahm den Oldenburger Ruf auf eine politikwissenschaftliche Professur wegen des DKP-Einflusses nicht an. Sonst fallen beiläufig Namen aus der Politikwissenschaft, etwa Paul Kevenhörster, Ferdinand Müller-Rommel und Dietrich Thränhardt.

„Ich bin traumatisiert, äußere also die Bitte, den Ton zu verstehen“ (S. 357) – selbst wer deswegen viel Empathie für Bassam Tibi aufbringt, kann sein Abrechnen mit Kollegen nicht gutheißen. Einen Satz wie den folgenden schreibt man nicht: „Ich kann keine einzige Person nennen, die mich in Göttingen je geistig befruchtet hat“ (S. 229). Bassam Tibi ist nicht feige und attackiert heftig renommierte Wissenschaftler wie Herfried Münkler, ohne die Affekte sachlich zu unterfüttern. Unter seiner permanenten Ad-personam-Kritik leidet die Argumentation. Nur wenige Wissenschaftler, meistens ausländische, können vor seinen Augen bestehen, etwa Francis Fukuyama. Der eigene Doktorvater – Iring Fetscher – bleibt ebenso von negativer Kritik verschont.

Politikwissenschaft ist bekanntlich nicht die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Deswegen erstaunt, wie viele der Autoren Parteimitglieder waren und sind.Footnote 22 Für die beiden „Alten“, Theodor Eschenburg und Klaus Mehnert, galt dies nicht. Sie ließen sich schwer einer politischen Richtung zuordnen, anders als Martin Greiffenhagen, der der SPD nahestand, und Claus Leggewie, einem dezidierten Anhänger der Grünen. Beide traten gleichwohl niemals einer Partei bei, im Gegensatz zu den anderen. Greiffenhagen begründet dies mit einer Eigentümlichkeit von Intellektuellen: „Ihre Leidenschaft zur Analyse ist stärker als ihr Machtwille, die Lust der Erkenntnis größer als die Freude [zu] politischer Gestaltung“ (S. 177). Die meisten gehörten (zeitweilig) der SPD an: Arnulf Baring, Klaus von Beyme, Iring Fetscher (Spitzenreiter mit 68 Jahren Mitgliedschaft, von 1946 bis zu seinem Tod 2014), Ekkehart Krippendorff, Christian Graf von Krockow, Bassam Tibi und Gilbert Ziebura, Hans Peter Schwarz, Hans Maier und Konrad Löw der CSU. Niemand fand, jedenfalls nicht im Sinne einer Parteizugehörigkeit, seine politische Heimat bei den Liberalen und den Grünen. Die Zahl der Parteiaustritte reicht von Baring über Krippendorff, Krockow und Löw bis zu Tibi. Rudzio, zunächst Sympathisant des Blocks der Heimatvertriebenen und Entrechteten, zahlte Mitgliedsbeiträge sogar für drei Parteien, die er allesamt wieder verließ: kurz dem Bund der Deutschen von Joseph Wirth, am längsten der SPD und ein paar Jahre der CDU. Bei Tibi, zwischen 1975 und 1980 SPD-Angehöriger, später Mitglied der Wertekommission der CDU, ohne ihr je beizutreten, heißt es undiplomatisch: „Die schlimmsten Parteien als Kollektive sind heute für mich Die Grünen und die Linke, sie sind als Kollektive ebenso schlimm wie die AfD der Deutsch-Nationalen. Alle drei haben anti-westliche Illiberalität gemeinsam“ (S. 294).

Hatte Klaus von Beyme 1953 die Union favorisiert, trat er 1957 nach deren Wahltriumph zum Missfallen der konservativen Familie der SPD bei, ohne diese jemals zu verlassen; nur bei der vorgezogenen Bundestagswahl 2005 ging seine Stimme eigenem Bekenntnis zufolge an die CDU. „Bei der Ehrung zum 50jährigen Partei-Jubiläum […], für die meine Partei mit dem damaligen Minister Olaf Scholz eine gänzlich unverdiente overkill capacity aufgefahren hatte, konnte ich meinen SPD-Landtagsabgeordneten Lothar Bindig beruhigen: er hatte ordnungsgemäß meine erste Stimme bekommen“ (S. 142, Hervorhebung im Original). Beyme, anfangs eher auf dem linken Flügel seiner Partei angesiedelt, verlor 1969 bei der Delegiertenkonferenz gegen den langjährigen Bundestagsabgeordneten Friedrich Schäfer die Kandidatur für den Wahlkreis Reutlingen-Tübingen. Später beteiligte er sich allenfalls an Kampagnen für die Partei im Vorfeld von Wahlen, ohne jemals wieder ein politisches Amt anzustreben. Bei Hans-Peter Schwarz lag der Sachverhalt eher umgekehrt. Ursprünglich ein Liberaler, wandelte sich der Anhänger Adenauers in seiner Hamburger Zeit (1966–1974) zu einem dezidiert Konservativen. Obwohl bereits bei der Konrad-Adenauer-Stiftung engagiert, glaubte Schwarz seinerzeit noch, „ein Politikwissenschaftler würde seine Unabhängigkeit dadurch gefährden – eine Fehlannahme“ (S. 265). 1980 schließlich folgte die formelle Parteimitgliedschaft, die bis zu seinem Tod anhielt, wenngleich seine Skepsis gegenüber der Politik Angela Merkels auf den verschiedensten Feldern immer mehr zunahm.

6 Vergleichende Aspekte

Wer die Schriften Revue passieren lässt, kann viele Aspekte in den Vordergrund rücken. Es dürfte deutlich geworden sein: Für eine gute Autobiographie (ob Politikwissenschaftler oder nicht) gibt es kein Patentrezept. Selbstverständlich muss jede Person, die ein solches Vorhaben angeht, Akzente nach eigenem Gusto setzen. Allerdings: Bloßstellungen und Häme auszubreiten, zumal über Tote, verbietet sich. Diese Grundsätze sind prinzipiell gewahrt worden. Kollegenschelte kommt eher selten vor, und wenn, dann fallen keine Namen – nur manchmal sind Sottisen unübersehbar. So heißt es etwa bei Klaus von Beyme: „Meine Assistentenkollegen in Heidelberg kamen Ende der 60er und Anfang der 70er-Jahre auch ohne Habilitation auf Lehrstühle, wie Udo Bermbach, Franz Nuscheler, Peter Haungs, Arnd Morkel oder Klaus Landfried – die drei letzten in Rheinland-Pfalz, wo unser alter Assistentenkollege Bernhard Vogel es zum Kultusminister gebracht hatte“ (S. 129). Zuweilen werten die Schreiber ihr wissenschaftliches Ansehen indirekt durch Aussagen anderer auf. Das gilt besonders für Konrad Löw sowie – natürlich – für Bassam Tibi. Und Klaus von Beyme erwähnt ein Zitat seines Konkurrenten bei der Wahl zum Rektor der Universität Tübingen: „Herr Kollege, so können Sie Herrn von Beyme nicht beikommen. Er hat die dickste Habilschrift von 1000 Seiten geschrieben, die ich kenne. Wenn die ihrem Kind auf den Kopf fällt, ist es tot“ (S. 145).

Die Leserschaft will nicht nur etwas über das Fach und die Person erfahren, sondern auch über das Wahrnehmen der Zeitläufte durch den Autobiographen. Manche Studien geben einerseits einen Einblick in einen Zweig der Wissenschaftsgeschichte und spiegeln andererseits exemplarisch die deutsche Nachkriegsgeschichte wider, liefern eine Art Sittengemälde ihrer jeweiligen Epoche. Nicht bloß Martin Greiffenhagen etwa fängt die 68er-Bewegung anschaulich und facettenreich ein, Klaus Mehnert die Ostpolitik der 60er und 70er-Jahre.

Allerdings besteht beim Schildern politischer Vorgänge die Gefahr, Irrtümer und Fehleinschätzungen im Nachhinein zu verdrängen. Die Kontinuität des eigenen Denkens wird überbetont, etwa von Baring, Krippendorff und Rudzio. Hingegen räumen Leggewie und Tibi Brüche in ihrem wissenschaftlichen und politischen Leben ein. Insofern sind Autobiographien von Politikwissenschaftlern für die Perzeption politischer Ereignisse keine zuverlässige Quelle, so interessant es sein mag, einen Abgleich zwischen den Autoren vorzunehmen.

In den Autobiographien der Politikwissenschaftler ist von Schulen innerhalb des Faches (Jesse 2016) kaum die Rede. In der Tat liefern sie für die universitäre Schulenbildung wenig Erkenntnisse. Die Unterschiede zwischen „Lehrern“ und „Schülern“ fallen beträchtlich aus. Lässt Fetscher, habilitiert bei Eschenburg, des Öfteren demokratietheoretische Kontroversen anklingen, werden diese bei seinem Doktoranden Tibi von persönlichen überlagert. Und dessen Doktorand Leggewie schlug wiederum eine weder von Fetscher noch von Tibi beeinflusste Karriere ein. Tibi ist nicht von Fetscher, Leggewie nicht von Tibi geprägt worden. Die Habilitation von Fetscher, Krippendorff und Schwarz jeweils bei Eschenburg ist nicht im Mindesten ein Zeichen für die Bildung einer Schule. Der Tübinger Lehrstuhlinhaber gilt nach Krippendorffs gescheiterter Habilitation 1970 in Berlin gemeinhin als der Helfer seines früheren Doktoranden. Beyme berichtet jedoch, „wie schwierig es gewesen war, den alten Herren [Eschenburg] dazu zu bewegen, und er mich veranlasste, mein Zweitgutachten zuerst zu schreiben, weil er mit dem Buch ‚Amerikanische Strategie‘ nichts anfangen konnte“ (S. 213). Und Beyme bat Krippendorff, „nicht – wie in Berlin – im Mao-Look vor die Fakultät zu treten“ (S. 213).

Wiewohl die Autobiographien wenig Erkenntnisse zur Schulenbildung bieten, sind doch Netzwerke jedenfalls in Ansätzen erkennbar. Zwar beanspruchen viele Kollegen Liberalität für sich, etwa Gilbert Ziebura, aber die meisten Autoren verkehrten mit solchen aus „ihrem“ politischen Lager. Zu den Ausnahmen ist Claus Leggewie zu rechnen, etwa mit dem positiven Hinweis auf Wilhelm Hennis. Wohl kein Name eines Politikwissenschaftlers taucht in den Erinnerungswerken derart häufig auf wie dieser. Das überrascht und mag insofern eine Paradoxie sein, als Hennis mit seinen wechselnden Positionen und temperamentvollen Ausbrüchen eine – höchst geachtete – Außenseiterposition im Fach zufiel. Zugleich erhellt es dessen Umtriebigkeit. Gleichwohl ließ sich der Freiburger Politikwissenschaftler, stets seine Unabhängigkeit wahrend, nicht instrumentalisieren.

Ein Teil der Autobiographen, nicht nur liberal-konservative, beklagt Exzesse durch die 68er-Bewegung. Was fast alle Autoren verbindet, gleich welcher politischen Observanz: die Kritik an der „Gremienuniversität“ mit ihren zeitraubenden Tätigkeiten, die in Leerläufen mündeten. Christian Graf von Krockow hat bereits im Jahre 2000 vom „Krebsgeschwür“ der „sogenannten Gremienarbeit“ (S. 218) gesprochen. Ob das wirklich die Kehrseite der Massenuniversitäten sein muss? Die „alte Universität“ erfährt im Nachhinein eine Aufwertung, selbst bei Ekkehart Krippendorff, der mehr als einmal „die positive Seite des Ordinariats-Systems“ (S. 166) hervorhebt. „Mit der Konzentration nur auf die je eigenen Spezialgebiete jedoch ging der Universität die Universalität aus, der übergreifende Zusammenhang sowohl innerhalb der Disziplinen als auch interdisziplinär ging immer mehr verloren“ (S. 174 f.).

Vornehmlich jene Politikwissenschaftler, die sich als öffentliche Intellektuelle verstehen, haben über ihr Leben Auskunft gegeben. Das gilt für dezidiert Linke (etwa Krippendorff und Leggewie) wie für ausgesprochene Konservative (etwa Löw und Schwarz). Sie warteten häufig in Periodika außerhalb der Disziplin mit Interventionen dieser und jener Art auf. Dabei haben sich diese, etwa Baring und Leggewie, nicht auf den politischen Betrieb im engeren Sinne bezogen. Wohl kein Zufall: Die Biografien von Rudzio und Ziebura – zwei Autoren, die publizistisch wenig in Erscheinung getreten sind, – berühren kaum Themen über den eigenen Forschungsbereich hinaus.

Da die Autobiographien in der Regel von Autoren stammen, denen das Schreiben offenbar keine Qual bereitet, ist manche Lektüre ein wahres Labsal. Die Texte sind anschaulich geschrieben, bieten durch ihre subjektive Sicht eindrucksvolle Perspektiven. Das gilt zumal für die Memoiren von Baring, Greiffenhagen, Krippendorff, Krockow, Leggewie und Schwarz. Der erste Rang – vor Leggewie und Schwarz – gebührt für den Verfasser den Erinnerungen des Mitgliedes der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, Hans Maier – sie sind „ein literarisches Meisterwerk“ (Möller 2021, S. 104).

Aber gehören die Autoren zur ersten Garnitur der älteren deutschen Politikwissenschaft? Fünf von ihnen (Beyme, Eschenburg, Fetscher, Maier, Schwarz) sind in einem Sammelband über die wichtigsten 50 versammelt (Jesse und Liebold 2014). Guten Gewissens wären ferner wohl zu nennen gewesen: Baring, Greiffenhagen, Krippendorff, Krockow, Tibi, Ziebura, ferner Leggewie, der schon wegen seines relativ jungen Alters nicht aufgenommen werden konnte. Es sind also vornehmlich Autoren mit hoher fachlicher und vor allem öffentlicher Reputation das Wagnis einer Autobiographie eingegangen.

Wer nach der Überrepräsentanz von Teilgebieten fragt, kann keine Tendenz erkennen. „Innenpolitiker“ sind wie „Außenpolitiker“ vertreten, Theoretiker wie Repräsentanten der vergleichenden Regierungslehre. Allerdings fehlen „Quantifizierer“. Subjektive Erinnerungen scheinen nicht ihrem Verständnis von Politikwissenschaft zu entsprechen. Es dominieren „Generalisten“, die kein enges Revierverhalten an den Tag legen, und stärker historisch orientierte Wissenschaftler wie Baring, Eschenburg, Maier, Mehnert, Schwarz.

Auch Bassam Tibi gehört dazu. Bei ihm heißt es: „Wenn einem ehemaligen Mitarbeiter und Doktoranden von mir [gemeint ist Claus Leggewie] der Rang zugesprochen wird, die eigenen Memoiren so prominent bei Bertelsmann veröffentlichen zu dürfen […] – warum also nicht auch ich?“ (S. 72). Das Desinteresse durch den Kiepenheuer & Witsch-Verlag kommentierte er mit den Worten: „Was für eine deutsche Ohrfeige und Herabwürdigung, an einen damals 73-jährigen Syrer gerichtet, der bereits in seinem 26. Lebensjahr als ‚führender arabischer Denker‘ gefeiert wurde“ (S. 73).

Die Bezugnahme auf Memoirenwerke der Kollegen unterbleibt meistens, nicht bei Klaus von Beyme und Hans-Peter Schwarz. Krippendorffs Erinnerungen gelten für Beyme als „schriftstellerisch bemerkenswert“ (S. 9), Schwarz charakterisiert Krippendorff als „eine Antiestablishment-Ikone aus den fernen 68er-Jahren“ (S. 656). Bezeichnet Beyme die Erinnerungen Hans Maiers als „betulich“ (S. 10), gilt für Schwarz Maier als „der einzige Politologe von Rang, der den Wechsel zwischen langjähriger ministerieller Tätigkeit und dem Professorenamt ohne Schaden für seinen Stil, seine Intellektualität und seine geistige Unabhängigkeit überstanden hat“ (S. 656). Beyme wie Maier firmieren bei Schwarz als „Primustyp“ (S. 656). Iring Fetschers Memoiren würdigen beide wohlwollend.

Im Bewusstsein, dass jedes Urteil gefärbt ist, zumal bei Memoiren, denen gerade Subjektivität innewohnt, will der Verfasser nicht ausweichen. Für ihn rangiert der Lebensbericht von Hans-Peter Schwarz an erster Stelle, nicht deshalb, weil er auf engbedruckten 700 Seiten bei weiten am ausführlichsten ausfällt und auch nicht wegen dessen Grundpessimismus. Das zuweilen mit leichtem Spott geschriebene Werk informiert ohne persönliche Zurschaustellung gut proportioniert über das eigene Leben und Œuvre, beschreibt Zeitgenossen mit Einfühlungskraft, vernachlässigt nicht die Zeitläufte – und das alles in einem glänzenden Stil, der nie Langeweile bei der Lektüre provoziert. Darin ist Schwarz Klaus von Beyme überlegen, obwohl dessen Memoiren, die viel Neues bieten, keineswegs nur zur Person, etwa zur Arbeitsweise der International Political Science Association, gleichfalls reizvoll sind, weil nicht selbstbespiegelnd.

Schwarz begründet sein Unterfangen so: „Der folgende Bericht enthält Beobachtungen des akademischen Lebens und politischen Milieus, in dem ich mich bewegt habe, Werkstattberichte eines Politikwissenschaftlers und Historikers über die Arbeiten und Erfahrungen bei der Herstellung der eigenen Bücher, der Editionen, der vielen Vorlesungen, bei deren Ausarbeitung ich erst mir selbst und alsdann den Studierenden mehr Klarheit über die Vorgänge des 20. Jahrhunderts verschaffen wollte, Persönlichkeitsporträts, aber auch zeitkritische Feststellungen. Da ein Professor kein Roboter ist, durfte auch das Private nicht ganz ausgespart werden: Reiseimpressionen, Stimmungen bei Ortsveränderungen, politische Hoffnungen und Enttäuschungen, kurz: das ganze Programm“ (S. 15). Sein Programm blieb nicht Programm. So soll es sein! Was will man mehr?