1 Die „Zeitenwende“

In der deutschen Politik wird die Zeitenwende auf den 24. Februar 2022 datiert, als Russland auf breiter Front die Ukraine angriff. Dieser Tag markiert eine Zäsur in der deutschen Außenpolitik, so Bundeskanzler Scholz drei Tage später in seiner Rede vor dem Deutschen Bundestag. Denn die Welt danach sei nicht mehr dieselbe wie die Welt davor (Scholz 2022). Ähnlich äußerte sich die Außenministerin, die auch gleich das zentrale Stichwort liefert, wenn sie von einer „geopolitischen Zäsur“ (Baerbock 2022) spricht. Ist die Zeitenwende auch eine Zäsur für die Erweiterungspolitik? Und wenn ja, was heißt das?

2 Vernachlässigte geopolitische Implikationen

Politik und Europaforschung verstanden Erweiterungspolitik vor der Zeitenwende 2022 vor allem als Normentransfer in benachbarte Räume. Die geopolitischen Implikationen der Erweiterung – die außen- und sicherheitspolitischen Faktoren und Bedingungen, die die Erweiterungspolitik auf Seiten der EU motivieren oder bremsen, sowie die mit der Aufnahme eines neuen Mitglieds verbundenen Auswirkungen auf das regionale Umfeld – blieben ausgeblendet oder wurden nicht als Problem aufgefasst.

Von einer Unterbewertung geopolitischer Implikationen zu sprechen mag insofern paradox erscheinen, als seit der Osterweiterung sowohl die europäische Politik als auch die Integrationsforschung die Erweiterungs- und in ihrer Folge sogar die Europäische Nachbarschaftspolitik (ENP) regelmäßig als „Außenpolitik“ (Ginsberg 1999, S. 446; Sjursen 1998) oder das „erfolgreichste Instrument der Außenpolitik“ (Solana 2001; Picula 2022) bezeichnen. Dem steht jedoch die Praxis der EU gegenüber, Erweiterung nicht als Unterfall der GASP zu behandeln. Denn als eine „composite policy“, also zusammengesetzte Politik (Sedelmeier und Wallace 2000, S. 429), ist sie mehr ein Politikrahmen als ein Politikfeld. Mit den Erweiterungsfragen befasst sich wegen der Spannbreite der Materien der Allgemeine Rat (nicht der Rat Auswärtige Angelegenheiten) bzw. der Europäische Rat mit der Kommission als aktivem Manager. Diese Lokalisierung spiegelt (zum Leidwesen und zur dauernden Klage der Kandidaten) den ausgeprägten Binnenbezug der Erweiterungspolitik wider. Denn es handelt sich bei der Aufnahme neuer Mitglieder für die EU um eine ihre polity, politics und policies betreffende Systemerweiterung und konstitutionelle Veränderung. So wird in einem konstruktivistischen Zugriff Erweiterung als „process of gradual and formal horizontal institutionalization of organizational rules and norms“ verstanden (Schimmelfenning und Sedelmeier 2002, S. 503) oder sogar als Instrument externer Differenzierung (Winzen und Schimmelfennig 2014). Erweiterungspolitik kann in diesem Sinne als Ordnungspolitik auf dem Kontinent mit friedenspolitischer Absicht gelten. Im Verhandlungsprozess waren bislang jedoch außen- und sicherheitspolitische Fragen weder vorrangig noch zentral. Selbst bei strittigen Fällen, wie der Kandidatur der Türkei, wurde nur selten problematisiert, welche geopolitischen Implikationen die Aufnahme des Landes für die EU hätte (Hill und Smith 2000; Jopp et al. 2003; Lippert 2005).

Wegen dieser konzeptionellen Selbsttäuschung war die EU auch derart überrascht, als Russland sich 2013/2014 direkt in die Beziehungen zwischen Brüssel und Kiew einmischte, um die Unterzeichnung des bilateralen Assoziierungsabkommens zu verhindern (Lippert 2017). Putin verschärfte die „Integrationskonkurrenz zwischen Moskau und Brüssel“ (Sahm 2001, S. 1391) im Sinne eines Entweder-Oder. Die EU stellte sich nur zögerlich auf Russlands „Anti-Assoziierungspolitik“ (Beichelt 2014, S. 362) ein, die in eine offene Annexions- und Revisionspolitik gegenüber den postsowjetischen Nachbarstaaten überging. Außerdem schärfte die EU allmählich den Blick für die Einflussnahme und Konkurrenz mit Russland und anderen Staaten wie der Türkei, China oder den Golfstaaten in den assoziierten Ländern des westlichen Balkans.

3 Befriedete Räume: Ostmitteleuropa

Die EU übersah zudem lange Zeit, wie sehr der Erfolg ihrer Erweiterungspolitik nach der Zeitenwende von 1989 auf besonders günstigen internationalen Bedingungsfaktoren in den 1990er-Jahren beruhte: Der bipolare Ost-West-Konflikt ging in eine unipolare Struktur über, die von den USA bestimmt wurde und mit dem Ende der UdSSR und dem Statusverlust des geschwächten Russlands einherging. Der Sieg der liberalen politischen und wirtschaftlichen Ordnung im globalen Maßstab wurde als „Ende der Geschichte“ und tendenziell der geopolitischen Konflikte fehlgedeutet (Fukuyama 1992; Fasting 2021). Dass die Sowjetunion die Charta von Paris für ein neues Europa 1990 mittrug, galt als Anerkennung des neuen Status quo in Gesamteuropa, von der alle Staaten und Gesellschaften profitieren würden. Die EU erlebte einen relativen Machtzuwachs, weil sie mit ihren Großprojekten zur Vollendung des Binnenmarkts und der Einführung der Wirtschafts- und Währungsunion perfekt in die Globalisierungs- und Deregulierungsprozesse der Zeit hineinpasste. „Nie zuvor ist Europa so wohlhabend, so sicher und so frei gewesen“, lautete noch der Eröffnungssatz der Europäischen Sicherheitsstrategie (Europäischer Rat 2003), in der Staatenzerfall, internationaler Terrorismus und die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen als hauptsächliche Quellen der Unsicherheit und Bedrohung figurieren. In der Präambel des EU-Vertrags von Lissabon (2007) wird die „Überwindung der Teilung des europäischen Kontinents“ als eine Tatsache präsentiert.

Im Europa jenseits ihrer Grenzen verfolgte die EU-12 bzw. EU-15 mit der linearen und gradualistisch angelegten Assoziierungs- und Erweiterungspolitik eine Konvergenzagenda innerhalb eines Szenarios befriedeter Räume. Schon 1989 begann die EU mit dem PHARE-Programm und den Handels- und Kooperationsabkommen die mittel- und osteuropäischen Länder, die von der dritten Welle der Demokratisierung erfasst worden waren (Huntington 1991), in ihr Wirkungsfeld zu integrieren. Durch wirtschaftliche Hilfe und Maßnahmen zur Demokratieförderung sowie durch Assoziierung (Europaabkommen) sollte Stabilität auf dem Wege der Systemtransformation exportiert und so als Nebenprodukt eine neue kooperative Ordnung in Gesamteuropa gestützt werden. Diese Strategie bestand wesentlich aus einer Expansion der EU-Strukturen und mündete in die vierte Erweiterungsrunde 2004/2007/2013. Der Beitrittsantrag der Türkei von 1987 war der letzte vor der Zeitenwende von 1989 und liegt bis heute auf dem Tisch. Mit Ausnahme von Zypern und Malta traten alle Länder der sogenannten Osterweiterung als (neue) Nato-Mitglieder der EU bei. Die bündnisfreien Länder Schweden und Finnland ziehen nach dem Angriff Russlands auf die neutrale Ukraine nach und wollen der Allianz beitreten. Alte und neue EU-Mitgliedstaaten lösten damit ihr Macht- und Sicherheitsdilemma (Herz 1974) auf gleiche Weise.

4 Konflikträume: Westbalkan und Osteuropa

Die EU zögerte jedoch, Ländern in Konflikträumen eine Beitrittsperspektive zu geben. Angesichts der Zerfallskriege auf dem Balkan in den 1990er-Jahren (Sundhausen 2008) bezog die EU diese erst in die Erweiterungspolitik ein, nachdem eine gewisse Befriedung eingesetzt hatte. Die USA (und die Nato) waren dort die zentralen Akteure, um die militärischen und gewaltsamen Auseinandersetzungen zu stoppen und für dauernde sicherheitspolitische Rückversicherung zu sorgen. Dafür standen die Stabilisierungsmissionen IFOR/SFOR ab 1995/96 und die Nato-Mission „Essential Harvest“ 2001 zur Einsammlung von Waffen der UCK (Nationale Befreiungsarmee) zur Unterstützung von Mazedonien und seit 1999 bis heute die Mission KFOR für das Kosovo.Footnote 1 Die Initiativen der EU, vor allem der Stabilitätspakt für Europa von 1998 und die Stabilisierungs- und Assoziierungsprozesse mit den Ländern des Westbalkans sowie die EU-Mission EUFOR mit der Operation Althea für Bosnien-Herzegowina seit 2004, bauten darauf auf. Die Balkan-Kriege und die relative Ohnmacht der Europäer gaben den Anstoß für die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) mit dem Fokus auf das Krisenmanagement. Die Frage ist, ob Russlands Aggression gegen die Ukraine einen vergleichbaren Impetus für die Fortentwicklung der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) haben wird. Mit dem Versprechen von Thessaloniki im Jahr 2003 an die sechs Westbalkan-Länder kündigte die EU selbst an, den Erweiterungsprozess fortzusetzen, der allerdings kaum von der Stelle kam. Zugleich zog sie mit der Lancierung der ENP eine Grenze zwischen Erweiterungs- und Nachbarschaftsraum.

In den 1990er-Jahren durchlebte Russland eine Zeit innenpolitischer Krisen und wurde – nicht zuletzt vor dem Hintergrund der unter Jelzin und dann Putin geführten Tschetschenien-Kriege der Jahre 1994/1996 und 1999/2009 – im Innern immer zentralistischer, repressiver und autoritärer regiert (Sasse 2022, S. 59–64). Gegenüber den westlichen Nachbarstaaten im postsowjetischen Raum betrieb Putin eine Politik „kontrollierter Instabilität“ (Fischer 2016, S. 92) in den Konfliktgebieten in Abchasien und Südossetien, Transnistrien oder Bergkarabach. Erst als eine Reaktion auf den georgisch-russischen Krieg 2008 schuf die EU die Östliche Partnerschaft (ÖP) innerhalb der ENP. Bis zu Russlands Annexion der Krim 2014 wurden die auch militärisch ausgetragenen Konflikte oft fälschlich als eingefrorene Konflikte betrachtet. Mit der ÖP rückte die EU allmählich von der „Russia first“-Politik ab und stützte ihre Russlandpolitik auf die fünf sogenannten Mogherini-Prinzipien (Mogherini 2016). Das bedeutete, dass die EU ihre Nachbarschaftspolitik, die oft als Erweiterung light (ohne Mitgliedschaftsperspektive) eingeordnet wurde, in Osteuropa fortan in einem antagonistischen Umfeld mit Russland als revisionistischer Macht um- und durchsetzen musste (Beichelt 2014; Lippert 2017).

5 Neue Rahmenbedingungen für die Erweiterung

Das internationale System wird in den 2020er-Jahren mehr und mehr von der sino-amerikanischen Rivalität als dem neuen strukturellen Weltkonflikt bestimmt (Rudolf 2019). Der gegenwärtige Antagonismus zwischen dem Westen und Russland hat zwar keine globale Prägekraft für das internationale System. Als ein regional begrenzter Systemkonflikt zwischen Demokratie und imperialem Autoritarismus bestimmt er aber die europäische Sicherheitsordnung, solange Russland an dieser Herrschaftsform festhält. Da die USA für die Sicherheit der Europäer unverzichtbar sind, wird nicht nur der Ausgang der Präsidentschaftswahlen 2024 bedeutsam sein, sondern auch welchen Stellenwert die USA Europa und der Nato in ihrer Außen- und Sicherheitspolitik zuweisen wollen und welche Lastenteilung sie verlangen. Die Zeitenwende 2022 setzt neue Rahmenbedingungen für die Erweiterungspolitik, die sich seit der Entscheidung des Europäischen Rats vom Juni 2022 auch auf die Ukraine, Moldau und Georgien erstrecken soll.

Für die EU heißt das: Sie muss ihre Erweiterungspolitik sicherheitspolitisch flankieren und transatlantisch abstimmen. Denn sie ist ins Glaubwürdigkeitsrisiko gegangen, als sie im Juni 2022 der Ukraine eine Beitrittsperspektive gegeben hat. Also einem Land, das sich mitten in einem Selbstverteidigungskrieg gegen die Nuklearmacht Russland befindet und von vielen Nato- und EU-Mitgliedern massiv mit Waffenlieferungen unterstützt wird (Antezza et al. 2022; Ukraine Support Tracker o.J.). Angesichts dieser Konstellation dürfte eine doppelte Erweiterung von Nato und EU wie bei der Osterweiterung 2004/2007/2013 aber möglicherweise nur im westlichen Balkan zu realisieren sein. Unter den Mitgliedern der Allianz und der EU ist umstritten, ob die Ukraine und Georgien überhaupt mittelfristig in die Nato aufgenommen werden sollen. Wenn nach Kriegsende Sicherheitsgarantien für die Ukraine gesucht werden, wird und will die EU dann eine Rolle spielen? Welche Mitgliedstaaten könnten Garantien militärisch einlösen, wenn sie fällig werden? Diplomatische Prozesse zur Beendigung des Kriegs und die Aushandlung der Bedingungen werden jedenfalls außerhalb möglicher EU-Beitrittsverhandlungen liegen. Die Verhandlungsergebnisse werden aber wichtige Rahmendaten für den Erweiterungsprozess setzen. Auch die innere Entwicklung Russlands nach dem Krieg und nach Putin sind Kontextfaktoren für die bilateralen Beziehungen der EU zur Ukraine und zu anderen Ländern der ÖP. Dazu gehören neben dem assoziierten Trio auch Aserbaidschan, Armenien und potenziell Belarus. Trotz einer „Ukraine first“-Politik (Meister 2022) wäre es klug, jetzt auch einen neuen strategischen Ansatz im Umgang mit Russland zu entwickeln, das auf mittlere Sicht an der Gegnerschaft zu einer demokratischen Ukraine und EU festhalten wird. Die Politik der EU ist einstweilen auf internationale Isolation, Konfrontation und Eindämmung Russlands gerichtet. Die Mehrzahl der EU-Mitglieder, zumal die, die auch der Nato angehören, betreiben vor dem Hintergrund einer geschärften Bedrohungswahrnehmung eine Expansion der Verteidigungshaushalte, rüsten zur Gegenmachtbildung und Abschreckung gegenüber Russland auf (Kirk-Wade und Balakrishnan 2022; Ukraine Support Tracker o.J.).

Die EU betreibt unterdessen generell eine Versicherheitlichung ihrer Kooperations- und Assoziierungsbeziehungen mit den Erweiterungsländern. Das schlägt sich etwa in der Ausrichtung der Energiegemeinschaft auf Versorgungssicherheit nieder. Auch bei anderen transnationalen Infrastrukturprojekten geht es um die Absicherung von Lieferketten. Zudem ist die Stärkung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Resilienz gegenüber russischer Desinformation und Diversion sowie entsprechenden Aktivitäten anderer autoritärer Akteure fester Bestandteil der EU-Heranführungspolitik geworden. Die USA und die EU setzen auf eine strategische Niederlage Russlands, das heißt, dass die Ukraine den Krieg als souveräner, wehrhafter und demokratisch verfasster Staat überlebt. Dem gilt die militärische Unterstützung. Wenn dann über eine Beendigung des Kriegs verhandelt wird, wird in der EU über die Einlösung des Beitrittsversprechens kontroverser debattiert werden und die Fragen nach der Aufnahmefähigkeit der EU einen höheren Stellenwert haben als heute.

Unter all diesen geopolitischen Vorzeichen heißt das jedoch nicht, dass die Aufnahme der Ukraine, Moldaus und Georgiens zwingend und die einzig folgerichtige Strategie wäre. Trotz des Kandidatenstatus sind andere Szenarien denkbar und werden politisch ventiliert. Symptomatisch ist hier die Ambivalenz der erstmals im Oktober 2022 zusammengetretenen Europäischen Politischen Gemeinschaft (EPG), die ein geopolitisches Signal der Geschlossenheit an Moskau sendete. Allerdings ist unter den 27 EU-Staaten umstritten, in welche Richtung sich die EPG entwickeln soll. Bleibt sie eine Plattform für den informellen Austausch zwischen den 44 teilnehmenden Staaten über gemeinsame Herausforderungen und eine europäische Sicherheitsordnung? Oder soll sie die Tür aufstoßen, um funktionale Integration mit der EU unterhalb der EU-Mitgliedschaft zu organisieren? (Jopp 2022, S. 58; Lippert 2022a). Aus Sicht von Präsident Macron, dem Initiator der EPG, kann sie helfen, das Axiom einer unbegrenzten Ausdehnung der EU zu beenden (Macron 2022). Kurz- und mittelfristig bietet die pro-aktive Umsetzung der Assoziierungsabkommen den aussichtsreichsten Weg für die Heranführung der Trio-Länder an die EU.

6 Kontinuität trotz Zäsur

Die künftige Erweiterungspolitik wird also unter neuen Rahmenbedingungen in Europa zu gestalten sein. Es ist ein Bruch mit der bisherigen Praxis, dass erstmals ein Land mitten im Krieg die Beitrittsperspektive und den Kandidatenstatus erhält. In dieser Geste der Solidarität liegt eine hohe politisch-moralische Verpflichtung, die im Sinne von rhetoric action und entrapment (Schimmelfennig 2001) von interessierten Mitgliedstaaten und den Kandidaten strategisch instrumentalisiert wird (Lippert 2022b). Aber auch mit den Westbalkan-Ländern können die Abwägungen zwischen Resilienz- und Demokratieförderung trotz des Bekenntnisses zu strikter Konditionalität noch schwieriger werden als bislang. Einstweilen profitiert vor allem der Westbalkan von der Kriegssituation und dem politischen Momentum für die Erweiterung. So vergab der Europäische Rat im Dezember 2022 den Kandidatenstatus an Bosnien-Herzegowina, nicht weil es Fortschritte machte, sondern weil es nicht schlechter behandelt werden sollte als die Ukraine oder Moldau. Das Kosovo nutzt die Situation, um offiziell den Beitritt zu beantragen, und erhält zudem die lange erwartete Visumfreiheit. Die Wiederankurbelung des Berlin-Prozesses durch die Bundesregierung zielt darauf, die wirtschaftliche Lage zu verbessern. All das wird nun wieder „geopolitisch“ begründet und soll zeigen, dass die EU entschlossen ist, ein Machtvakuum zu füllen oder zu verhindern (Lynch 2022).

Die 2019 überarbeitete Erweiterungsmethodologie (Europäische Kommission 2020) ist von der Zeitenwende noch unberührt. Es geht vor allem um die Verbesserungen der Instrumente und ihre Verzahnung (Europäisches Parlament 2022). Die Ziele sind bessere Glaubwürdigkeit durch höheres Verhandlungstempo. Tendenziell ist eine weitere Bürokratisierung zu erkennen. Unmittelbar muss sich die EU überlegen, wie sie die Finanzinstrumente IPA/NDICI verschränkt und Mittel umwidmet. Die finanzielle Ausstattung der anvisierten Wiederaufbauprogramme für die Ukraine sprengt bisherige Dimensionen wie etwa die des PHARE-Programms nach 1989. Sofern hauptsächlich die EU die Koordination übernimmt, wird sie diesen Einfluss auch politisch ummünzen können. Bei den Beitrittskriterien sollen offenbar noch keine Abstriche gemacht werden, einschließlich des Kriteriums, dass die Dynamik der Integration durch die Erweiterung nicht verloren gehen darf. Im Lichte dieses Absorptionskriteriums beurteilen die Mitgliedstaaten die Lage in der EU jedoch höchst unterschiedlich. Es zeigt sich, dass diejenigen, die für die rasche Aufnahme neuer Mitglieder plädieren, oft diejenigen sind, die davon abgesehen am Status quo festhalten wollen. Insbesondere Vertragsänderungen, Kompetenzübertragungen und Supranationalisierung werden abgelehnt. Andere lehnen jedoch die Aufnahme neuer Mitglieder ab, wenn nicht zuvor oder parallel die Entscheidungsverfahren effizienter und die Größe und Zusammensetzung der Kommission und des Europäischen Parlaments neu geregelt werden (Lippert 2021; Mintel und von Ondarza 2022). Diese Diskussion steckt in der Sackgasse und hat auch durch die Ergebnisse der Konferenz zur Zukunft Europas keinen neuen konstruktiven Ansatzpunkt gefunden. Im Gegenteil haben 13 Länder gleich Brandmauern gegen Vertragsreformen errichtet (Non-paper of Bulgaria et al. 2022).

7 Fazit

Während die Erweiterung als Außenpolitik nach dem Angriff auf die Ukraine plausibler geworden sein mag und in das von der Kommission von der Leyen formulierte Narrativ von der EU als geopolitischer Akteur passt (Europäisches Parlament 2019), ist sie es nicht aus einer integrationspolitischen Sichtweise. Denn die Überdehnung des politischen Systems und transnationalen Gemeinwesens in einer EU mit mehr als 30 Mitgliedstaaten riskiert die Funktionsfähigkeit und Legitimität der Union. Selbst wenn die jetzt wieder diskutierten institutionellen Reformen – Größe des Europäischen Parlaments, Länderkontingente im Europäischen Parlament, Größe der Kommission, Ausdehnung von qualifizierten Mehrheitsentscheidungen – tatsächlich vor der Erweiterung umgesetzt würden, bliebe fraglich, wie allein die Qualität der Gesetzgebung und die Bereitschaft, alle Lasten gemeinsam zu tragen, in einer EU von Lissabon bis Kiew angesichts der heterogenen Interessen und Kapazitäten der Mitglieder funktionieren sollen. Die inkrementell-technokratische Bearbeitung der integrationspolitischen Gegensätze unter den 27 plus x und die Druckminderung durch variable Geometrie wird immer schwieriger und teurer.

Die Erweiterung sollte auch deshalb trotz aller anderslautenden Rhetorik (weiterhin) nicht primär als Funktion der Außenpolitik behandelt und damit überfrachtet werden. Die EU hat sich zu lange selbst getäuscht und geglaubt, ihre Erweiterungspolitik mache eine Außen- und Sicherheitspolitik überflüssig oder ersetze sie. Wenn die EU auch nach der nächsten Erweiterung die öffentlichen Güter – Sicherheit, Wohlstand, demokratische Ordnung – produzieren oder sichern soll, wie es neue und alte Mitglieder von ihr erwarten, dann sollte sie erstens – aus geopolitischen Gründen – in ihrer Nachbarschaft eine robustere Außen- und Sicherheitspolitik betreiben können (dafür muss sie sich reformieren) und zweitens mit den östlichen Nachbarn effektive Formen der Integration und Gemeinschaftsbildung ohne EU-Mitgliedschaft entwickeln. Eine Option wäre es, einen Europäischen Politik- und Wirtschaftsraum (EPWR) zu schaffen, dem die EU und ost- und südosteuropäische Staaten angehören (Busch und Sultan 2023; Lippert 2019). Will die EU ihre Wirksamkeit nach außen und zugleich die Demokratie in den Mitgliedstaaten sichern, dann ist die Prozesskontrolle über Reformen und Erweiterung und ihre komplexen Zusammenhänge elementar. Die Erweiterung auf der Überholspur in eine unreformierte EU wäre ein Debakel nicht nur für die deutsche Europapolitik.