1 Einleitung

Zwei Monate vor der Bundestagswahl 2021 kam es im Westen, Osten und Südosten Deutschlands zu ungewöhnlich starken Regenfällen. Im Westen führte dies mit 184 Toten und einer geschätzten Schadenshöhe von über 17 Mrd. € zur schlimmsten Flutkatastrophe seit 70 Jahren (AON 2021). Wie hat diese verheerende Naturkatastrophe die Bundestagswahl beeinflusst? Diese Frage ruft unweigerlich die Bundestagswahl 2002 in Erinnerung, als die Elbe sieben Wochen vor der Wahl ganze Städte und Landstriche überflutete. Zu dieser Zeit stand der amtierende Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) schlechten Prognosen für eine zweite Amtsperiode gegenüber. Sein schnelles Agieren als „man in charge“ und die zügige Bereitstellung finanzieller Unterstützung dankten ihm die Menschen in den betroffenen Gebieten, im Vergleich zur Bundestagswahl 1998, mit einem um 7 Prozentpunkte höheren Zweitstimmenanteil für die SPD, was ihm schlussendlich knapp die Wiederwahl ermöglichte (Bechtel und Hainmueller 2011). Über den theoretischen Mechanismus der Dankbarkeit der Wählenden („voter gratitude“) werden in der Forschung die Effekte von Naturkatastrophen auf Wahlen erklärt. Durch die Beobachtung und Beurteilung des Umgangs politischer Entscheidungstragender mit einer Naturkatastrophe bilden Wählende Erwartungen über deren zukünftigen Umgang mit Ereignissen dieser Art. Je nachdem, ob diese Beurteilung positiv oder negativ ausfällt, können Sie über Ihre Wahlstimme ihrem Wunsch Ausdruck verleihen, die Entscheidungstragenden auch zukünftig in der Verantwortung zu sehen oder eben nicht. Vorangegangene Forschung konzentrierte sich daher bisher auf die Effekte von Naturkatastrophen auf die Wiederwahl amtierender politischer Entscheidungstragender (Böhmelt 2020; Abney und Hill 1966; Bodet et al. 2016). Die Situation der Bundestagswahl 2021 unterschied sich davon jedoch signifikant, da die amtierende Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) nicht mehr zur Wiederwahl stand.

Die entscheidende Frage ist daher: Wem drücken betroffene Menschen mit ihrer Stimme Dankbarkeit für Unterstützung und Krisenmanagement aus, wenn amtierende politische Entscheidungstragende nicht zur Wiederwahl stehen? Unsere Hypothese ist, dass Betroffene in dieser Situation auf die Ministerpräsident:innen als Personen in der nächstniedrigeren politischen Verantwortungsebene rekurrieren. Der Grund ist, dass Ministerpräsident:innen in den betroffenen Bundesländern als „Landesmütter“ und „Landesväter“ Anteilnahme und Präsenz zeigen, die Bereitstellung finanzieller Hilfen organisieren und verantworten sowie den Wiederaufbau begleiten und unterstützen, wodurch sie potenziell die Erwartung generieren können, auch zukünftige Katastrophen erfolgreich zu managen. Wir prüfen, ob Betroffene eher die Partei ihrer Ministerpräsident:innen wählen, indem wir die Stimmanteile für die CDU/CSU und die SPD zwischen vom Starkregenereignis betroffenen und nicht betroffenen Gemeinden mittels „Difference-in-Differences“-Panel-Regressionsmodellen vergleichen. Ferner testen wir diese Hypothese gegen die beiden Alternativhypothesen, dass Wählende a) entweder die CDU/CSU für das Krisenmanagement der Bundeskanzlerin oder b) die SPD für das Krisenmanagement des Vizekanzlers (und Finanzministers) belohnen.

Darüber hinaus untersuchen wir die Frage, ob das Starkregenereignis, das in der medialen Berichterstattung als spürbare Konsequenz des Klimawandels dargestellt wurde, die Wahl von Bündnis 90/Die Grünen begünstigt hat. Diese Hypothese ist plausibel, da die Themen Natur, Umwelt und Klimaschutz nach Naturkatastrophen generell in der Wahrnehmung von Wählenden wichtiger werden (Böhmelt 2020; Baccini und Leemann 2021). Ob sich diese stärkere wahrgenommene Bedeutsamkeit jedoch in eine Wahlentscheidung für „grüne“ Parteien übersetzt, ist noch weitestgehend eine offene Frage (Rudman et al. 2013; Gärtner und Schoen 2021). Sie zu beantworten ist jedoch von großer Bedeutung für zukünftige Wahlen, da Extremwetterereignisse durch einen fortschreitenden Klimawandel vermehrt erwartet werden und damit potenziell wiederkehrend die Ergebnisse von Wahlen beeinflussen könnten (Junghänel et al. 2021; Kreienkamp et al. 2021).

Unsere Untersuchung gliedert sich wie folgt: Im nächsten Abschnitt werden Hintergründe zum Umfang des Starkregens und der Flutkatastrophe, zur Unterstützung für Betroffene sowie zum Zusammenhang des Starkregenereignisses mit der Erderwärmung dargelegt. Der dritte Abschnitt diskutiert Erkenntnisse bisheriger Forschung zum Verhältnis von Naturkatastrophen und Wahlergebnissen und leitet daraus insgesamt vier Hypothesen ab. Anschließend werden die Daten und die Analysestrategie vorgestellt. Darauf folgen die Ergebnisse der statistischen Modelle, die die vier Hypothesen empirisch testen. Abschließend werden die Ergebnisse diskutiert und in Beziehung zu vorheriger Forschung gesetzt.

2 Der Starkregen und die Flutkatastrophe im Juli 2021

Das Tiefdruckgebiet „Bernd“ sorgte vom 12. bis zum 19. Juli 2021 insbesondere im Westen Deutschlands für Regenfälle in ungewöhnlich starkem Ausmaß. Der Grund war, dass sich das von Westen kommende Tiefdruckgebiet nur langsam bewegte und somit regional begrenzt abregnete. Die größten Regenmengen ergossen sich vom 12. bis 14. Juli über Teilen von Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz. Der Niederschlag dieser zwei Tage (bis zu 200 l pro Quadratmeter) überstieg dabei die Menge, die es gewöhnlich in den betroffenen Regionen in zwei Monaten regnet. Ab dem 15. Juli drängte das Hochdruckgebiet „Dana“ das Tiefdruckgebiet in Richtung Osten und Südosten ab, wodurch es auch in Sachsen und Bayern zu starken Niederschlägen kam (Junghänel et al. 2021).

Mit Abstand am stärksten betroffen war das in Rheinland-Pfalz gelegene Ahrtal, insbesondere die Verbandsgemeinden Adenau und Altenahr und die verbandsfreie Gemeinde Bad Neuenahr-Ahrweiler. In dieser Region sammelten sich die Regenfälle in der Ahr und ließen ihren Pegel von rund einem Meter auf über sieben Meter ansteigen. Durch die Flut kamen allein im Landkreis Ahrweiler 134 Menschen ums Leben, 766 wurden verletzt und über 4000 Gebäude wurden zerstört (SWR 2021a). Weitere stark betroffene Orte liegen in den Landkreisen Bernkastel-Wittlich und Eifelkreis Bitburg-Prüm. Im direkten Vergleich war das Hochwasser in Nordrhein-Westfalen weniger verheerend. Doch auch hier führten die Pegelanstiege von Flüssen wie der Erft, Volme oder Olef von 0,5 auf über drei, von 0,6 auf über 4,5 und von einem auf über 4,7 m zu erheblichen Schäden in den Landkreisen Rhein-Erft-Kreis, Rhein-Sieg-Kreis, Euskirchen, sowie in den Städten Aachen, Heinsberg und Hagen. In Nordrhein-Westfalen kamen 47 Menschen ums Leben.

Im Vergleich zum Westen Deutschlands waren die Auswirkungen des Starkregens im Osten und Südosten Deutschlands deutlich schwächer ausgeprägt. Dennoch kam es auch hier zu erheblichen Schäden an Gebäuden, Infrastruktur und Fahrzeugen, da auch die Pegel kleinerer Flüsse wie der Berchtesgadener Ache im Landkreis Berchtesgadener Land in Bayern oder der Polenz im Landkreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge in Sachsen mit Zunahmen von 0,8 auf 3,8 und von 0,3 auf zwei Meter deutlich anstiegen. In beiden Bundesländern musste jeweils ein Todesopfer beklagt werden.

2.1 Unterstützung für vom Starkregenereignis Betroffene

Die Menschen in den betroffenen Gebieten benötigten zur Beseitigung der durch das Starkregenereignis entstandenen Schäden schnellstmöglich organisatorische und finanzielle Unterstützung. Organisatorische Unterstützung wurde in stärker betroffenen Regionen durch das Technische Hilfswerk, das Deutsche Rote Kreuz und die Bundeswehr, in weniger betroffenen Regionen durch Feuerwehren geleistet. Eine Umfrage unter den Hilfeleistenden zeigt dabei eine insgesamt hohe Zufriedenheit mit der Organisation ihres Einsatzes in den Hochwassergebieten (Fekete 2021). Im besonders stark betroffenen Ahrtal wurde darüber das Gros der initialen Aufräumarbeiten durch freiwillige Helfende geleistet, insbesondere Landwirt:innen und Lohnunternehmer:innen mit Zugang zu schwerem Fuhrpark (WDR 2021). Finanzielle Unterstützung wurde innerhalb von einer Woche nach der Katastrophe durch eine (unbürokratische) Soforthilfe von 1500 bis zu 3500 € pro Haushalt bereitgestellt. Diese wird initial durch die Bundesländer getragen. Im Nachgang wird die Hälfte vom Bund erstattet werden (Landesregierung NRW 2021). Die Beantragung der Soforthilfe konnte bis Anfang September 2021 über die Bundesländer erfolgen, spezifisch über die zuständigen Kreis- oder Stadtverwaltungen (ADD 2021). In Rheinland-Pfalz wurden so rund 12.300 Anträge mit einer Summe von insgesamt rund 25 Mio. € bewilligt (Statistisches Landesamt RLP 2021), im bevölkerungsreicheren Nordrhein-Westfalen fast 47.000 Anträge über 102 Mio. (Westdeutsche Zeitung 2021). Der Wiederaufbau (über alle Bundesländer) wird insgesamt auf 26 Mrd. € geschätzt und soll über den Fonds „Aufbauhilfe 2021“ (bis zu 30 Mrd. €) abgedeckt werden. In diesem entfallen auf Rheinland-Pfalz 54,53 %, auf Nordrhein-Westfalen 43,99 %, auf Bayern ein Prozent und auf Sachsen 0,48 % der Mittel (BMI 2021). Die Finanzierung erfolgt hälftig durch Bund und Länder, sodass jeder Euro, den das Land zahlt, durch einen Euro vom Bund ergänzt wird. Der Fonds ist seit dem 16. September 2021 durch eine Gesetzesinitiative der Koalitionsfraktionen im Bundestag gesetzlich verankert. Seit dem 17. September, rund eine Woche vor der Bundestagswahl, konnten betroffene Haushalte, Firmen und Einrichtungen damit beginnen, finanzielle Unterstützung zu beantragen (Bundesfinanzministerium 2021b).

3 Theoretische Grundlagen und Hypothesen

Zentral zur Erklärung von Effekten von Naturkatastrophen auf Wahlergebnisse ist der Mechanismus der Dankbarkeit der Wählenden („voter gratitude“; Bechtel und Hainmueller 2011). Dieser rückt die Bewertung des Umgangs politischer Entscheidungstragender durch die Betroffenen, insbesondere deren finanzielle Unterstützung, in den Fokus. Wie schon einleitend erläutert, wurde anhand dieses Mechanismus erklärt, wie die Unterstützung der vom Elbehochwasser betroffenen Menschen Bundeskanzler Gerhard Schröder 2002 zur Wiederwahl verhalf (Bechtel und Hainmueller 2011). Neben der Wiederwahl eines Bundeskanzlers wurde dieser Mechanismus lokaler auch für Wahlen von Gouverneur:innen und Bürgermeister:innen identifiziert. Beispielsweise zeigen Gasper und Reeves (2011), dass amtierende Gouverneur:innen von Bundestaaten (USA) einen Wahlbonus von etwa 4 Prozentpunkten für deren Wiederwahl erhalten, wenn ihr Hilfegesuch beim Präsidenten erfolgreich war, nach Starkregenereignissen in ihrem Bundesstaat staatliche finanzielle Unterstützung zu erhalten. Masiero und Santarossa (2021) zeigen für Italien, dass amtierende Bürgermeister:innen im Nachgang von Erdbeben einen Wahlbonus von rund 5 Prozentpunkten für deren Wiederwahl erhalten. Etwas detailliertere Beispiele für diese Effekte auf Bürgermeisterwahlen sind Victor Shiro, Bürgermeister von New Orleans (USA), der für seine umfassende Aufarbeitung von Hurrikan „Betsey“ im Jahr 1965 mit einer Wiederwahl belohnt wurde sowie Naheed Nenshi, Bürgermeister der Stadt Calgary in Kanada, der von der Einwohnerschaft seiner Stadt für sein gelungenes Krisenmanagement nach der Überflutung seiner Stadt wiedergewählt wurde (Abney und Hill 1966; Bodet et al. 2016; siehe auch Arceneaux und Stein 2006).

Der Mechanismus der Dankbarkeit der Wählenden hat dabei zwei zentrale Komponenten. Erstens grenzt er die Gruppe an politischen Entscheidungstragenden, die Wählendendankbarkeit empfangen können, auf amtierende politische Entscheidungstragende ein. Der Grund ist, dass Amtstragende im Vergleich zu Mitgliedern der Opposition Zugang zu staatlichen Mitteln haben, insbesondere auch zu finanziellen Mitteln, aus denen sie Unterstützung für Betroffene bereitstellen können (Blankenship et al. 2021). Dieser Umstand trug bei der Bundestagswahl 2002 entscheidend zur Erklärung bei, dass Edmund Stoiber (CSU) als Herausforderer von Gerhard Schröder (SPD) nicht als „man in charge“ wahrgenommen wurde (Bechtel und Hainmueller 2011). Zweitens können Wählende den Umgang amtierender politischer Entscheidungstragender mit einer Katastrophe beobachten und daraus Erwartungen bilden, wie diese zukünftig mit Katastrophen umgehen werden. Wenn sie den Umgang positiv einschätzen, ist es in ihrem Interesse, diese politischen Entscheidungstragenden auch weiterhin in der Verantwortung zu belassen. Diesem Wunsch können sie über ihre Wahlstimme an die (Partei der) jeweiligen Entscheidungstragenden Ausdruck verleihen. Das spiegeln die vorhergehenden Beispiele wider. Wenn sie den Umgang jedoch als unzureichend einschätzen, ist es in ihrem Interesse, diese politischen Entscheidungstragenden im Zuge einer möglichen Wiederwahl nicht mehr zu unterstützen.

Das prominenteste Beispiel für diesen Mechanismus stammt von Achen und Bartels (2004). Die Autoren argumentieren, dass Woodrow Wilson, ehemaliger Präsident der USA, im Jahr 1916 nach Haiattacken an der Küste New Jerseys von den Wählenden in den betroffenen Gebieten bei seiner Wiederwahl mit 3 Prozentpunkten weniger Stimmen als 1912 abgestraft wurde (da er die negativen ökonomischen Konsequenzen der Haiattacken auf den Tourismus nicht abwenden konnte). In den letzten Jahren ist die Belastbarkeit dieses Effekts jedoch in Zweifel gezogen worden, da dieser unter Verwendung verbesserter – mittlerweile in diesem Literaturstrang üblicher – statistischer Methodik (genauer sog. regionaler Fixed-Effects zur Eliminierung unbeobachteter Heterogenität in Zeittrends des Wahlverhaltens von Bezirken, Gemeinden, Kreisen oder Staaten) nicht repliziert werden konnte (Fowler und Hall 2018). Die Debatte dauert jedoch an. Zwar bestätigen Achen und Bartels (2018) die verbesserte statistische Methodik, kritisieren jedoch, dass sich die Analysestrategie der Replikation nicht aus einer profunden Kenntnis theoretischer Argumente und des historischen Kontexts ableitet.

Neben diesem weist die Literatur jedoch auch aktuellere Beispiele und Tests dieses Mechanismus mittels verbesserter statistische Methodik aus. Eines betrifft Alan Garcia, Präsident von Peru, dem die Bevölkerung im Jahr 2007 für seinen unproduktiven Umgang im Nachgang des Ica Erdbebens nicht nur das Vertrauen entzog, sondern auch öffentlich gegen ihn protestierte (Katz und Levin 2016). Ein weiteres stammt aus Schweden, wo die als unzureichend wahrgenommene Reaktion der Regierung auf den verheerenden Sturm Gudrun im Jahre 2005, indem sie keine finanzielle Hilfe zur Verfügung stellte, diese fast 4 Prozentpunkte bei der Wahl ein Jahr später kostete. Dieser negative Trend setzte sich sogar für zwei weitere nationale Wahlen fort (Eriksson 2016).

Zusammenfassend erlaubt der Mechanismus der Wählendendankbarkeit die Prognose, dass von einer Naturkatastrophe primär diejenigen (Parteien der) amtierenden politischen Entscheidungstragenden profitieren können, die auch zur Wiederwahl stehen werden. Über die Stärke dieses Effekts entscheidet jedoch die Einschätzung der betroffenen Wählenden über den Umgang der Amtstragenden mit der Naturkatastrophe. Zudem wird diese Stärke noch über zwei weitere Faktoren beeinflusst. Erstens, wenn Wählende diesen Umgang kurz vor einer Wahl beobachten, wird der Einfluss dieser Beobachtung stärker sein, da Wählende tendenziell myopisch entscheiden und daher die jüngere Vergangenheit bei ihrer Wahlentscheidung höher gewichten (Klomp 2020; Bodet et al. 2016). Zweitens, der Einfluss dieser Beobachtung sollte stärker für diejenigen Wählenden sein, die stärker von der Naturkatastrophe betroffen und somit mehr auf Unterstützung und Hilfe angewiesen sind. Dementsprechend zeigt sich, dass bei der Bundestagswahl 2002 die SPD insbesondere in stärker betroffenen Gebieten vermehrt gewählt wurde (Bechtel und Hainmueller 2011). Analog dazu zeigen sich auch in Schweden und den USA bedeutendere Effekte in stärker von Sturm- und Starkregenereignissen betroffenen Gebieten (Eriksson 2016; Gasper und Reeves 2011).

Für die Bundestagswahl 2021 stellt die Erklärung eines Effekts des Starkregenereignisses auf Basis des Mechanismus der Wählendendankbarkeit jedoch eine Herausforderung dar. Bei dieser Bundestagswahl gibt es zwar eine amtierende Kanzlerin, deren Umgang mit der Naturkatastrophe beobachtet werden konnte – Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) steht jedoch nicht zur Wiederwahl. Wem also drücken betroffene Wählende in dieser Situation über ihre Zweitstimme ihre Dankbarkeit aus?

3.1 Hypothesen

Drei Hypothesen sind in dieser Situation theoretisch denkbar. Die erste lautet:

Betroffene Wählende wählen vermehrt die Partei, die die Bundeskanzlerin stellt (H1).

Diese These fußt darauf, dass betroffene Bürger:innen das Krisenmanagement der Kanzlerin positiv bewerten und deshalb der Partei der Amtsinhaberin, der CDU/CSU, ihre Stimme geben, obwohl letztere nicht mehr zur Wiederwahl steht. Würde diese Hypothese zutreffen, dann würde dies die Entkoppelung des in die Zukunft gerichteten Eigeninteresses der Wählenden im Mechanismus der Wählendendankbarkeit bedeuten. Um diese Hypothese näher zu beleuchten, soll eine Rekonstruktion des Umgangs der Bundeskanzlerin mit dem Starkregenereignis erfolgen. Zur Zeit des Auftretens des Starkregenereignisses war die Bundeskanzlerin in den USA und bekundete postwendend aus dem Weißen Haus ihre Anteilnahme an die Betroffenen. Während dieses Aufenthalts hielt sie engen Kontakt mit den Ministerpräsident:innen der beiden besonders stark betroffenen Bundesländer Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen, Malu Dreyer (SPD) und Armin Laschet (CDU), die sie fortlaufend informierten (Welt 2021a). Wenige Tage später besuchte sie betroffene Orte in beiden Bundesländern, jeweils gemeinsam mit Dreyer und Laschet. In diesem Zuge informierte sie über die (unbürokratische) Soforthilfe für Opfer des Starkregenereignisses, die über die Bundesländer beantragt und verteilt werde (DW 2021). Sieben Wochen nach der Katastrophe besuchte sie nochmals betroffene Orte in beiden Bundesländern (wieder gemeinsam mit beiden Ministerpräsident:innen). In diesem Zuge kündigte sie einen 30 Mrd. € umfassenden Fonds für den Wiederaufbau an, über den Bundestag und Bundesrat noch entscheiden müssten. Dabei betonte sie, dass auch von einer zukünftigen Bundesregierung Ortsbesuche in den betroffenen Gebieten erwartet werden sollten (RND 2021).

Neben der Bundeskanzlerin trat auch der Vizekanzler Olaf Scholz (SPD) prominent bei der Bewältigung des Starkregenereignisses auf. Dies lag vor allem in seiner Funktion als Finanzminister begründet, in der er durch sein Amt die finanzielle Unterstützung des Bundes verantwortete. Die zweite Hypothese lautet somit:

Betroffene Wählende wählen vermehrt die Partei, die den Vizekanzler (und Finanzminister) stellt (H2).

Dies fußt darauf, dass betroffene Personen das Krisenmanagement des Vizekanzlers positiv bewerten und deshalb der Partei des Amtsinhabers, der SPD, ihre Stimme geben. Würde diese Hypothese zutreffen, wäre dies, im Gegensatz zur vorangegangenen Hypothese, im Einklang mit dem in die Zukunft gerichteten Eigeninteresse der Wählenden. Dies liegt in der Kanzlerkandidatur von Olaf Scholz begründet. Wenn er gewählt werden würde, könnte er auf zukünftige Naturkatastrophen auf die Art und Weise reagieren, die im Zuge des Starkregenereignisses schon positiv bewertet wurde, jedoch mit noch weitreichenderen Befugnissen. Es folgt zur besseren Einschätzung dieser Hypothese wiederum eine Rekonstruktion: Einen Tag nach dem Starkregenereignis in Bayern besuchte Olaf Scholz gemeinsam mit Ministerpräsident Markus Söder (CSU) betroffene Orte. Dabei stellte er 400 Mio. € Soforthilfe aus Landes- und Bundesmitteln in Aussicht (Merkur 2021). Zwei Wochen später besuchte er betroffene Orte in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen, jeweils gemeinsam mit Dreyer und Laschet. In diesem Zuge sagte er den Betroffenen finanzielle Unterstützung in Milliardenhöhe zu (Süddeutsche Zeitung 2021). In seiner Funktion als Finanzminister hat er Taten folgen lassen und wenige Wochen später dem Bundeskabinett die Verordnung über die Verteilung der Mittel des Fonds „Aufbauhilfe 2021“ vorgelegt. Eine Woche vor der Bundestagswahl stand die Mittelverteilung des Fonds auf die Bundesländer fest (Bundesfinanzministerium 60,59,a, b).

Neben Bundeskanzlerin und Vizekanzler rückten in der Bewältigung des Starkregenereignisses auch die höchsten politischen Entscheidungstragenden der Bundesländer in den Fokus, die vier Ministerpräsident:innen. Dies liegt vor allem daran, dass sie als „Landesmutter“ bzw. „Landesväter“ in einer besonderen Verantwortung gegenüber den Bürger:innen ihrer Bundesländer stehen. Die dritte Hypothese lautet daher:

Betroffene Wählende wählen vermehrt die Parteien, die ihre Ministerpräsident:innen stellen (H3).

Dies fußt darauf, dass betroffene Personen das Krisenmanagement ihrer Ministerpräsident:innen positiv bewerten und deshalb den Parteien, denen sie angehören, CDU/CSU und SPD, jeweils ihre Stimme geben. Würde diese Hypothese zutreffen, würde dies den Mechanismus der Wählendendankbarkeit um eine situationsspezifische Komponente erweitern: In einer Situation, in der der:die politische Entscheidungsträger:in nicht zur Wiederwahl steht, drücken betroffene Wählende ihre Dankbarkeit über die Parteienwahl den regional verantwortlichen politischen Entscheidungstragenden aus, die ihnen gegenüber Verantwortung gezeigt haben und dies auch zukünftig aller Voraussicht in dieser Art tun werden. In dieser Form ist das in die Zukunft gerichtete Eigeninteresse der Wählenden zwar schwächer an das Format der Wahl geknüpft, es drückt sich dennoch über die Unterstützung der Parteien aus, die die Ministerpräsident:innen stellen, auch wenn sie darüber nur mittelbar die Chance ihrer Wiederwahl erhöhen.

Es folgt erneut eine Rekonstruktion zur Einschätzung der Hypothese: Die Ministerpräsident:innen der Bundesländer Rheinland-Pfalz, Nordrhein-Westfalen und Bayern waren in den betroffenen Gebieten ihrer Bundesländer präsent, insgesamt häufiger als Bundeskanzlerin und Vizekanzler (und Finanzminister). Malu Dreyer (SPD) zeigte Anteilnahme in sieben betroffenen Orten in Rheinland-Pfalz, Armin Laschet (CDU/CSU) in acht in Nordrhein-Westfalen und Markus Söder (CDU/CSU) in einem in Bayern. Zum Gedenken der Opfer der Flutkatastrophe in Rheinland-Pfalz organisierte Dreyer einen Staatsakt auf dem Nürburgring (SWR 2021b). Neben der Sichtbarkeit der Ministerpräsident:innen könnte dies auch dazu führen, dass auch die Parteien, die sie stellen, bei den Wählenden präsenter werden (Masiero und Santarossa 2021). Ganz generell kommt den Ministerpräsident:innen als „Landesmütter“ und „Landesväter“ regional eine besondere Bedeutung zu, da sie innerhalb ihres Bundeslands in der generellen Verantwortung gegenüber ihrer Bürger:innen stehen. Dies zeigt sich nicht nur in der Selbstverständlichkeit des „Vor-Ort-Seins“, sondern auch in der Verantwortung finanzielle Mittel des Bundeslands für Betroffene zur Verfügung zu stellen, Aufstockungen der finanziellen Mittel aus Bundesmitteln mit der Bundeskanzlerin und dem Finanzminister zu verhandeln und diese Mittel schlussendlich effizient über Einrichtungen des Landes an die Betroffenen zu verteilen (ZDF 2021; Tagesschau 2021; Süddeutsche Zeitung 2021). In diesem Sinne kündigten die Ministerpräsident:innen jeweils wenige Tage nach dem Starkregenereignis Soforthilfe aus Landesmitteln im Umfang von 200 Mio. € für Nordrhein-Westfalen, 50 Mio. € für Rheinland-Pfalz und 50 Mio. € für Bayern an (Landesregierung NRW 2021; SWR 2021c; BR24 2021). Eine Aufstockung aus Bundesmitteln wurde erst eingesetzt, als das Ausmaß des Schadens absehbar war. Diese ergänzt einen Euro aus Bundesmitteln für jeden Euro aus Landesmitteln. Während Sachsen nicht so stark betroffen war, besuchte Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) einen betroffenen Ort in Nordrhein-Westfalen und organisierte Hilfe für Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz durch die Entsendung von Polizei und Technischem Hilfswerk sowie durch finanzielle Spenden (1,5 Mio. €; #SachsenHilft). Diese Geste wurde im Kontext der Erinnerung an das verheerende Elbehochwasser 2002 als Zeichen der Solidarität für die damalige Hilfestellung gewertet (Kölner Stadtanzeiger 2021).

Die Effekte des Umgangs der Ministerpräsident:innen mit dem Starkregenereignis werden in Hypothese 3 generell als positiv angenommen. Aus der medialen Berichterstattung und Laschets Kanzlerkandidatur könnten sich jedoch auch Unterschiede in der Stärke der Effekte für die CDU/CSU und die SPD ergeben haben. Während Laschet und Dreyer medial wirksam kurz nach dem Starkregenereignis die Soforthilfe aus Landesmitteln verkündeten, blieb nur die Berichterstattung über Dreyer durchweg positiv. Neben der Organisation des Staatsakts zum Gedenken der Flutopfer wurde ihr insbesondere angerechnet, dass sie trotz ihrer krankheitsbedingten Mobilitätseinschränkung mehrfach im Katastrophengebiet vor Ort war. Ein besonders eindrückliches Bild zeigte, wie sie sich Hand in Hand mit Angela Merkel durch die Verwüstungen im Ahrtal bewegte (Augsburger Allgemeine 2021). Armin Laschet hingegen trafen mehrere negative Schlagzeilen. Einerseits zeigten ihn Aufnahmen in Erftstadt während einer emotionalen Rede des Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier an die Opfer des Hochwassers fröhlich lachend im Hintergrund. Andererseits wurde er zwei Wochen später im benachbarten Swisttal von Anwohnern mit den Worten „Sie werden es bei der Wahl spüren“ angegangen (Welt 2021b).

Diese Unterschiede in der Berichterstattung sollten generell vorteilhaft für die SPD sein. Allerdings könnte sich Dreyers starke mediale Präsenz im rheinland-pfälzischen Schwerpunkt der Flutkatastrophe (dem Landkreis Ahrweiler) in anderen betroffenen Gebieten ihres Bundeslands, insbesondere in denen ihrer Heimatregion, auch negativ auf die Wahl der SPD auswirken. Diese Vermutung geht zurück auf ein zentrales psychologisches Motiv in der Aufarbeitung der Flutkatastrophe: Die Angst („von der Politik“) vergessen zu werden (Bundespräsident 2021; RLP 2021; Focus 2022). Wenn sich Betroffene in Dreyers Heimatregion Trier (beispielsweise in Trier-Ehrang oder Kordel) durch die starke mediale Präsenz Dreyers im Ahrtal vergessen fühlen – von der Landesmutter und Landtagsabgeordneten aus dem (Heimat‑)Wahlkreis Trier – könnte sich dies in diesen Gemeinden negativ auf das Wahlergebnis der SPD auswirken.

Die CDU/CSU hingegen könnte in Nordrhein-Westfalen durch Laschets Kanzlerkandidatur potenziell einen Vorteil haben. Wenn Betroffene Laschets Umgang mit dem Starkregenereignis positiv bewerten, stellt seine Kanzlerkandidatur für die Betroffenen möglicherweise einen zusätzlichen Anreiz zu dessen Wahl dar, da er sein Katastrophenmanagement zukünftig als Bundeskanzler mit erweiterten Kompetenzen fortsetzen können wird (Bechtel und Hainmueller 2011). Dieser Anreiz sollte insbesondere für die Wahlentscheidung derjenigen von Bedeutung sein, die der Person Laschets besondere Aufmerksamkeit schenken. Während dies aufgrund seines Ministeramts für Betroffene aus Nordrhein-Westfalen zwar generell gelten sollte, ist plausibel, dass dies in besonderem Maße für Betroffene aus seiner Heimatregion Aachen (beispielsweise in Stolberg oder Eschweiler) zutrifft, da ihm dort aufgrund seiner Herkunft und seines Heimatwahlkreises besondere Prominenz und Aufmerksamkeit zukommen sollte. Zusammengenommen ist somit festzuhalten, dass, wenn Hypothese 3 gilt, die SPD eher einen stärkeren Effekt aufweisen sollte, wenn Unterschiede in der medialen Berichterstattung das Wahlverhalten der Betroffenen stark beeinflusst und dass die CDU/CSU eher einen stärkeren Effekt aufweisen sollte, wenn die Aussicht Laschets auf das Amt des Bundeskanzlers in der Wahlentscheidung Betroffener berücksichtigt wurde.

Über die Untersuchung des Mechanismus der Wählendendankbarkeit hinaus gehen wir zusätzlich noch einer vierten Hypothese nach:

Betroffene Wählende wählen vermehrt Bündnis 90/Die Grünen (H4).

Diese Hypothese basiert auf der Annahme, dass das Starkregenereignis, als eine Folge des Klimawandels, den Klimawandel für die Betroffenen teilweise am eigenen Leib spürbar gemacht hat (Junghänel et al. 2021; New York Times 2021). Vorangegangene Forschung weist darauf hin, dass die Themen Natur, Umwelt und Klimaschutz nach sich ereignenden Naturkatastrophen generell in der Wahrnehmung von Wählenden wichtiger werden (Böhmelt 2020; Baccini und Leemann 2021). Insbesondere diejenigen, die Extremwetterereignisse erleben, machen sich demnach in erhöhtem Maße Sorgen über die Auswirkungen des Klimawandels und unterstützen Klimaschutzpolitik deshalb eher (Borick und Rabe 2014; Myers et al. 2013; Rudman et al. 2013). Dies wird darauf zurückgeführt, dass persönliche Erfahrungen das abstrakte Risiko des Klimawandels greifbarer machen und diese veränderte, persönliche Risikoeinschätzung wiederum Verhaltensvorhaben sowie Verhalten selbst beeinflussen kann (Kuchler und Zafar 2019; Gärtner und Schoen 2021; van der Linden 2014; Bergquist et al. 2019). Betroffene Wählende könnten somit über ihre Zweitstimme ihrem Wunsch Ausdruck verleihen, die Wahrscheinlichkeit für das zukünftige Auftreten von Extremwetterereignissen für sich und für andere zu reduzieren. Das Parteiprogramm von Bündnis 90/Die Grünen ist am deutlichsten geeignet, die vereinbarten Klimaziele zu realisieren und damit zur Verlangsamung des Klimawandels beizutragen (DIW Econ 2021). Während es zum Teil deutliche empirische Evidenz für einen Zusammenhang zwischen Extremwetterereignissen und der Wahrnehmung der Bedeutsamkeit des Klimawandels und Klimaschutzpolitik gibt, ist bislang noch eine offene Frage, ob sich diese Veränderung auch in eine Wahlentscheidung für „grüne“ Parteien übersetzt (Rudman et al. 2013; Böhmelt 2020).

4 Daten, Operationalisierung und methodische Vorgehensweise

Der empirische Test der vier Hypothesen beruht auf dem Vergleich der (Veränderung der) Wahlergebnisse zwischen Gebieten, die vom Starkregenereignis betroffen waren, und solchen, die nicht betroffen waren. Er erfolgt dabei in der kleinsten räumlichen Einheit, in der die Wahlergebnisse verfügbar sind. Während dies gemeinhin die Gemeinde darstellt, werden die Wahlergebnisse im Falle von sehr kleinen Gemeinden, insbesondere in Rheinland-Pfalz, auf Verbandsgemeindeebene bereitgestellt. Dies liegt in der Auszählung von Briefwählenden begründet (etwa die Hälfte der Wählenden bei der Bundestagswahl 2021), die zentral in den Verbandsgemeinden erfolgt. Sprachlich vereinfachend werden nachfolgend beide als „Gemeinde“ bezeichnet.

Die Effekte des Starkregenereignisses auf die Bundestagswahl 2021 können dabei über die Veränderung im Wahlergebnis auf Gemeindeebene im Vergleich zur Bundestagswahl 2017 identifiziert werden. Nimmt der Wahlanteil einer Partei in betroffenen Gemeinden stärker zu oder ab als in nicht betroffenen Gemeinden, zeigt dies einen Effekt des Starkregenereignisses an. Die Daten der Wahlergebnisse auf Gemeindeebene stammen vom Bundeswahlleiter (Bundeswahlleiter 2017, 2021). Gebietsveränderungen auf Gemeindeebene zwischen 2017 und 2021 wurden über den Umrechnungsschlüssel des Bundesinstituts für Bau‑, Stadt- und Raumforschung bis zum Jahr 2020 berücksichtigt. Gemeinden ohne eindeutige Gebietsumrechnung werden in der folgenden Analyse nicht berücksichtigt. Insgesamt gehen somit bis zu 4973 (von 5227 im Jahr 2021 bestehenden) Gemeinden in die Analyse ein.

Einen Überblick über die Veränderung der Wahlergebnisse auf Gemeindeebene für die drei betreffenden Parteien CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen zeigt Abb. 1.Footnote 1 Im Vergleich der Bundestagswahlen zeigen sich deutliche Veränderungen: Die CDU/CSU verliert flächendeckend an Wahlstimmen; Die SPD gewinnt flächendeckend, insbesondere in Bundesländern im Osten Deutschlands; Bündnis 90/Die Grünen gewinnt im Nordwesten und in städtischen Gebieten.

Abb. 1
figure 1

Veränderung der Zweitstimmenanteile zwischen den Bundestagswahlen 2017 und 2021 auf Gemeindeebene. a CDU/CSU, b SPD, c Bündnis 90/Die Grünen. Hinweis: Grau eingefärbte Gemeinden weisen nicht berücksichtigte Gebietsveränderungen zwischen 2020 und 2021 auf. Im Saarland stand die Partei Bündnis 90/Die Grünen in der Bundestagswahl 2021 nicht zur Wahl. In der digitalen Version der Abbildung sind negative Veränderungen in Prozentpunkten mit roter Farbe und positive Veränderungen mit grüner Farbe gekennzeichnet

4.1 Fallauswahl und Datengrundlage

Über eine eigenständige Recherche einer großen Zahl regionaler und überregionaler Medien haben wir Gemeinden als vom Starkregenereignis betroffen klassifiziert, wenn über starkregenbedingte Schäden – durch Flut, Hochwasser, Erdrutsche oder Evakuierungen – in mindestens einem Ort einer Gemeinde berichtet wurde.Footnote 2 In empirischen Analysen zu Effekten von Naturkatastrophen auf Wahlen ist diese binäre Unterscheidung zwischen betroffenen und nicht betroffenen Regionen der Standard (Bechtel und Hainmueller 2011; Bodet et al. 2016). Neben den medial umfassend begleiteten, sehr stark betroffenen Gemeinden und Städten in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz, sind zwei Beispiele für weniger stark betroffene Gemeinden Freiberg in Sachsen, wo durch die Überflutungen zahlreiche PKW beschädigt wurden, oder Schönau am Königsee in Bayern, wo durch Erdrutsche die Weltcup-Rodelbahn zerstört wurde (Sächsische Zeitung 2021; Süddeutsche Zeitung 2021). Insgesamt wurden 93 Gemeinden als vom Starkregenereignis klassifiziert. Davon liegen 27 in Rheinland-Pfalz, 37 in Nordrhein-Westfalen, 15 in Sachsen und 14 in Bayern. Abb. 2a zeigt die regionale Verortung dieser Gemeinden.

Abb. 2
figure 2

Regionale Verortung vom Starkregenereignis betroffener Gemeinden. a Vom Starkregenereignis betroffene Gemeinden. b Satellitengestützte Einschätzung von Gebäudeschäden. Hinweis: Gemeinden mit mindestens einem vom Starkregenereignis betroffenen Ort sind in Karte (a) dunkel eingefärbt. Der Schadensumfang in Karte (b) basiert auf einer satellitengestützten Einschätzung von Gebäudeschäden durch das Erdbeobachtungssystem Copernicus der Europäischen Union.

Ob die Auswirkung des Starkregenereignisses auf die Wahlveränderung mit dem Grad der Betroffenheit von Gemeinden zunehmen, testen wir anhand des Ausmaßes physischer Schäden, die die Gemeinden erlebt haben. Mit Bezug auf die Wahlentscheidung kommt insbesondere der Beschädigung und/oder Zerstörung von (Wohn‑)Gebäuden eine große Bedeutung zu (Visconti 2021). Wir greifen dazu auf eine Einschätzung des satellitengestützten Erdbeobachtungssystems Copernicus der Europäischen Union zurück (Copernicus 2021).Footnote 3 Die Abschätzung des Schadensumfangs ergibt sich dabei aus systematischen Vergleichen von Satellitenbildaufnahmen der betroffenen Gebiete vor und nach dem Starkregenereignis. Insgesamt wurden so 12.025 Gebäudeschäden regional verortet. Auf Basis dieser Klassifikation haben wir die Anzahl beschädigter und/oder zerstörter Gebäude auf Gemeindeebene ausgezählt. Sie reicht dabei von zwei Schäden in der Verbandsgemeinde Arzfeld in Rheinland-Pfalz bis hin zu 3205 in der Stadt Bad Neuenahr-Ahrweiler und 2247 in der Verbandsgemeinde Altenahr in Rheinland-Pfalz sowie 1706 und 1273 in den Städten Erftstadt und Schleiden in Nordrhein-Westfalen. Insgesamt weisen 20 Gemeinden in Nordrhein-Westfalen, acht Gemeinden in Rheinland-Pfalz und drei Gemeinden in Bayern Schadenswerte auf, die über das Erdbeobachtungssystem Copernicus erfasst wurden. Abb. 2b zeigt die regionale Verortung der Schäden.

4.2 Analysestrategie

Die Effekte des Starkregenereignisses auf die Bundestagswahl 2021 schätzen wir durch einen Difference-in-Differences Zugang auf Basis eines gepoolten linearen Panel-Regressionsmodells mit Fixed-Effects für alle Gemeinden (Bechtel und Hainmueller 2011; Masiero und Santarossa 2021). Um unsere Hypothesen zu testen, verwenden wir drei Modellspezifikationen, die der gleichen Logik folgen. Im umfassendsten Modell

$$Y_{it}=\varphi S_{it}+\gamma M_{i}+\beta (S_{it}\times M_{i})+\delta _{t}+\eta _{i}+\varepsilon _{it}$$
(1)

bezeichnet Yit den Anteil der Zweitstimmen einer Partei in Gemeinde i im Jahr t (t = 2017 oder 2021). Zwischen Gemeinden wird dahingehend unterschieden, ob eine Gemeinde vom Starkregenereignis im Juli 2021 betroffen war (\(S_{it}=1\)) oder nicht (\(S_{it}=0\)) und ob sie in einem Bundesland liegt, in dem die jeweilige Partei, für die das Modell geschätzt wird, den:die Ministerpräsident:in stellt (\(M_{i}=1\)) oder nicht (\(M_{i}=0\)).

Beide Unterscheidungen werden für den empirischen Test der dritten Hypothese benötigt. Sie konstatiert, dass Wählende aus betroffenen Gemeinden eher die Partei wählen, die ihre:n Ministerpräsident:in stellt und testet somit, ob eine Partei einen stärkeren Bonus (Malus) in betroffenen Gemeinden erhält, in denen sie den:die Ministerpräsident:in stellt, als in betroffenen Gemeinden, in denen sie ihn/sie nicht stellt. Die Logik des statistischen Tests soll anhand des Beispiels der CDU/CSU verdeutlicht werden. In einem ersten Berechnungsschritt werden nur Gemeinden aus Bundesländern berücksichtigt, in denen die CDU/CSU den Ministerpräsidenten stellt (\(M_{i}=1)\). Für sie wird ermittelt, ob die CDU/CSU in Gemeinden, die vom Starkregenereignis betroffen sind (\(S_{it}=1;S_{it}\times M_{i}=1\)) eher (nicht) gewählt wird (im Vergleich zur Bundestagswahl 2017) als in denen, die nicht betroffen sind. In einem zweiten Schritt werden nur die Gemeinden berücksichtigt, die in Bundesländern liegen, in denen die CDU/CSU nicht den:die Ministerpräsident:in stellt (\(M_{i}=0)\). Auch für sie wird wieder berechnet, ob die CDU/CSU in vom Starkregenereignis betroffenen Gemeinden eher (nicht) gewählt wird (\(S_{it}=1;S_{it}\times M_{i}=0\)) als in denen, die nicht betroffen sind. Der statistische Test von Hypothese 3 ergibt sich aus der Differenz dieser beiden Berechnungen. Sie kann in (1) somit direkt aus dem Interaktionseffekt β abgelesen werden (Difference-in-Differences-in-Differences).

Der Test der beiden Hypothesen, dass betroffene Wählende eher die Partei der Bundeskanzlerin (H1) und dass sie eher die Partei des Vizekanzlers (und Finanzministers) wählen (H2), wird durch φ identifiziert, je nachdem für welche Partei das Modell geschätzt wird. Der Grund ist, dass beide Hypothesen einen von der Parteizugehörigkeit des:der Ministerpräsident:in unabhängigen universellen Effekt postulieren. Somit zeigt der konstitutive Term φ an, ob eine Partei einen Bonus (Malus) in betroffenen Gemeinden erhält, in denen sie nicht den:die Ministerpräsident:in stellt (\({M_{i}}=0;S_{it}\times M_{i}=0\)). Da die CDU/CSU die Ministerpräsidenten in Bayern, Nordrhein-Westfalen und Sachsen und die SPD die Ministerpräsidentin in Rheinland-Pfalz stellt, basiert φ für H1 (Partei der Bundeskanzlerin ist die CDU/CSU) auf betroffenen Gemeinden in Rheinland-Pfalz und H2 (Partei des Vizekanzlers ist die SPD) auf betroffenen Gemeinden in Bayern, Nordrhein-Westfalen und Sachsen – jedoch stets im Vergleich zu nicht betroffenen Gemeinden in ganz Deutschland.

Darüber hinaus werden über δt generelle Zeittrends der Veränderung der Wahlgewinne und -verluste zwischen den Bundestagswahlen 2017 und 2021 kontrolliert. Unbeobachtete Heterogenität in den Gemeinden wird über die Gemeinde Fixed-Effects ηi berücksichtigt. γ zeigt Niveauunterschiede an und kontrolliert damit auf die Tendenz der Wählenden bei Bundestagswahlen die aktuelle Landesregierung als Korrektiv zu berücksichtigen (Kern und Hainmueller 2006). Der Fehlerterm ist εit. Das Modell wird mit robusten Standardfehlern auf Gemeindeebene geschätzt (Bechtel und Hainmueller 2011). Eine Gewichtung jeder Gemeinde durch die Anzahl ihrer Zweitstimmen trägt Unterschieden in den Anteilen des Einflusses der Gemeinden auf das Wahlergebnis Rechnung.Footnote 4

Zur Untersuchung der Hypothese, dass in betroffenen Gemeinden vermehrt Bündnis 90/Die Grünen gewählt wurde (H4), wird ein Modell ohne den Interaktionseffekt (\(\beta (S_{it}\times M_{i})\)) geschätzt. Der Grund ist, dass diese Partei in keinem vom Hochwasser betroffenen Bundesland den:die Ministerpräsident:in stellt. In diesem reduzierten Modell zeigt φ den Effekt des Starkregenereignisses auf die Veränderung des Zweitstimmenanteils für Bündnis 90/Die Grünen an.

Abschließend wird nochmals geprüft, ob die vier Hypothesen insbesondere für stark betroffene Gemeinden zutreffen. Dies bedingt jedoch, dass der nun interessierende Vergleich sich nicht mehr nur auf den Unterschied zwischen betroffenen und nicht betroffenen, sondern auf den Unterschied zwischen stärker und schwächer betroffenen Gemeinden bezieht. Für diese Analyse werden also nur die 93 Gemeinden berücksichtigt, die vom Starkregenereignis betroffen waren. In den Modellspezifikationen selbst bezeichnet dann Sit die Anzahl an Gebäudeschäden, die durch das satellitengestützte Erdbeobachtungssystem Copernicus erfasst wurde (\(S_{it}=0{,}1{,}\ldots {,}3205\)). Die interessierenden Parameterschätzer verbleiben identisch zu den oben für jede Hypothese genannten.Footnote 5

5 Empirische Ergebnisse

Die zentralen Ergebnisse der Difference-in-Differences Panel Regressionen sind in Abb. 3 grafisch dargestellt. Die statistischen Tests der Hypothesen können direkt daraus abgelesen werden. Die zu Grunde liegenden Modelle finden sich in Tab. 1, im Anhang. Die Ergebnisse sind ferner robust gegenüber der Berücksichtigung von Veränderungen des Wanderungssaldos, der Altersstruktur, der Arbeitslosigkeit und der Flächennutzung in den Gemeinden (siehe Tab. 4, im Anhang). Für die Hypothese, dass betroffene Wählende eher die Partei gewählt haben, die ihre:n Ministerpräsident:in stellt (H3), zeigt Abb. 3 eine deutliche Bestätigung. Der Bonus für die Partei, die den:die Ministerpräsident:in stellt, beträgt für die CDU/CSU 6,6 Prozentpunkte und für die SPD 3 Prozentpunkte. Genauer erhielt die CDU/CSU in Gebieten, in denen sie den Ministerpräsidenten stellte, 2,6 Prozentpunkte mehr Zweitstimmen in Gemeinden, die vom Starkregenereignis betroffen waren, als in denen, die nicht betroffen waren. Jedoch erhielt sie in Gebieten, in denen sie nicht den:die Ministerpräsident:in stellte, mit −4 Prozentpunkten weniger Zweitstimmen in Gemeinden, die vom Starkregenereignis betroffen waren, als in denen, die nicht betroffen waren. Die Differenz aus diesen beiden Unterschieden ergibt wiederum 6,6 Prozentpunkte. Das gleiche gilt analog für die SPD, mit einem Unterschied von 3 Prozentpunkten jedoch auf geringerem Niveau. Die Ergebnisse der Modellspezifikation auf Basis des Schadensumfangs (siehe Tab. 2, im Anhang) bestätigen und erweitern dies teilweise. Sie zeigen, dass der Bonus der CDU/CSU umso größer ausfällt, je stärker Gemeinden vom Starkregenereignis betroffen sind. Dies zeigt der positive Interaktionseffekt zwischen dem Schadensumfang und der Kennzeichnung, dass die CDU/CSU den Ministerpräsident im Bundesland stellt (\(\beta\)= 0,0038; p < 0,001). Für die SPD findet sich kein statistisch belastbarer Effekt (\(\beta\)= 0,0019; p = 0,088).

Abb. 3
figure 3

Empirischer Test der Hypothesen. Hinweis: Die Abbildung zeigt Unterschiede in der Veränderung des Zweitstimmenanteils der Parteien zwischen den Bundestagswahlen 2017 und 2021 zwischen vom Starkregenereignis betroffenen und nicht betroffenen Gemeinden (Difference-in-Differences). Die Ergebnisse für CDU/CSU und SPD basieren spezifischer auf den Unterschieden zwischen Gemeinden, in denen die jeweilige Partei den:die Ministerpräsident:in stellt und denen, in denen dies nicht der Fall ist (Difference-in-Differences-in-Differences)

Als zusätzlichen Test der Bedeutsamkeit der Ministerpräsident:innen für den Effekt des Starkregenereignisses auf das Wahlergebnis der CDU/CSU und der SPD (siehe Abb. 3) trennen wir nachfolgend den Effekt des Starkregenereignisses nach den Heimatregionen der Ministerpräsident:innen. Diese Teststrategie basiert auf der zuvor ausgeführten Annahme, dass die Wahrscheinlichkeit, dass betroffene Wählende ihr Augenmerk auf ihre Ministerpräsident:innen richten, insbesondere in deren Heimatregionen besonders ausgeprägt sein sollte. Die statistisch zu testende Erwartung ist somit, dass sich der Effekt des Starkregenereignisses auf die Wahl der Parteien der Ministerpräsident:innen in deren Heimatregionen nochmals vom Effekt in anderen Regionen des Bundeslands unterscheidet. Als „Heimatregion“ definieren wir den oder die Bundestagswahlkreise, in denen der Heimatwahlkreis des:der Ministerpräsident:in liegt.Footnote 6 Während diese Zusatzanalyse die Heimatregionen aller von der CDU/CSU und der SPD gestellten Ministerpräsident:innen kontrollieren kann, weisen lediglich die Heimatregionen der Ministerpräsident:innen von Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz betroffene Gemeinden auf. Die Ergebnisse dieses erweiterten statistischen Modells sind in Tab. 3 im Anhang abgetragen. In erster Instanz bestätigt der Haupteffekt der Heimatregion die Annahme, dass die Parteien, die die Ministerpräsident:innen stellen, einen Bonus in deren Heimatregionen erhalten. Das zentrale Ergebnis ist jedoch, dass sich zusätzliche Unterschiede im Effekt des Starkregenereignisses zeigen, die diesen an die Personen der Ministerpräsident:innen knüpfen und damit als zusätzliche empirische Evidenz für Hypothese 3 gewertet werden können. Genauer verzeichnet die CDU/CSU in betroffenen Gemeinden in Laschets Heimatregion einen zusätzlichen Bonus von 5,4 Prozentpunkten (p < 0,001) und die SPD in betroffenen Gemeinden in Dreyers Heimatregion einen Malus von −1,3 Prozentpunkten (p < 0,01). Diese regionalen Unterschiede unterstreichen, dass der Umgang der Ministerpräsident:innen mit dem Starkregenereignis und dessen Evaluation seitens betroffener Wählender das Ergebnis der Bundestagswahl 2021 beeinflusst hat.

Demgegenüber erfahren die beiden Hypothesen, dass betroffene Wählende eher die Partei der Bundeskanzlerin (H1) respektive die Partei des Vizekanzlers (und Finanzministers) (H2) gewählt haben, keine empirische Bestätigung. Die Hypothesen hätten zugetroffen, hätte sich ein universeller Bonus für die CDU/CSU respektive die SPD gezeigt. Abb. 3 zeigt jedoch, dass sowohl CDU/CSU als auch SPD in betroffenen Gemeinden, in denen sie nicht den:die Ministerpräsident:in stellen, einen Malus von −4 Prozentpunkten respektive −2,6 Prozentpunkten erfahren. Die Ergebnisse der Modelle auf Basis des Schadensumfangs zeigen dabei, dass der Malus der CDU/CSU umso höher ausfällt, je stärker die Gemeinden vom Starkregenereignis betroffen sind (\(\varphi\)= −0,0015; p < 0,01). Der Malus der SPD ist unabhängig von der Stärke der Betroffenheit von Gemeinden (\(\varphi\)= −0,0024; p = 0,202).

Die Hypothese, dass betroffene Wählende eher Bündnis 90/Die Grünen wählen (H4), erfährt empirische Bestätigung. In den betroffenen Gemeinden wies Bündnis 90/Die Grünen im Mittel einen Bonus von 3,2 Prozentpunkten auf (p < 0,05). Die Ergebnisse der Modelle auf Basis des Schadensumfangs zeigen, dass dieser Bonus unabhängig ist von der Stärke der Betroffenheit der Gemeinden (\(\varphi\)= −0,0019; p = 0,094).

6 Diskussion

Zwei Monate vor der Bundestagswahl 2021 verursachte ein viertägiges Starkregenereignis im Westen, Osten und Südosten Deutschlands eine der größten Flutkatastrophen in der Geschichte der Bundesrepublik. Die empirische Untersuchung der Wahlergebnisse auf Gemeindeebene zeigt, dass die Parteien, die die Ministerpräsident:innen stellten, im Vergleich jeweils einen Bonus aus den vom Starkregenereignis betroffenen Gemeinden erhielten. Dieser Bonus war dabei für die CDU/CSU (nicht jedoch für die SPD) umso höher, je stärker die Gemeinden vom Starkregenereignis betroffen waren. Darüber hinaus zeigen sich Hinweise auf eine vermehrte Wahl von Bündnis 90/Die Grünen in den betroffenen Gemeinden.

Diese Ergebnisse tragen nicht nur zu einem besseren Verständnis der Wahlergebnisse der Bundestagswahl 2021 bei, sie erweitern das Forschungsgebiet zur Wirkung von Naturkatastrophen auf Wahlen auch theoretisch. Der Wissensstand in diesem Strang der Wahlforschung fußt auf Analysen zur Wiederwahl amtierender politischer Entscheidungstragender auf Basis des Mechanismus der Wählendendankbarkeit. Fällt die Bewertung des Umgangs letzterer durch betroffene Wählende positiv aus, belohnen sie diese mit ihrer Wahlstimme. Eindrucksvoll zeigte sich dies bei der Bundestagswahl 2002 als der als positiv eingeschätzte Umgang des amtierenden Bundeskanzlers Gerhard Schröder mit dem verheerenden Elbehochwasser ihm knapp die Wiederwahl bescherte (Bechtel und Hainmueller 2011). Die Situation der Bundestagswahl 2021 wich davon jedoch deutlich ab, da keine amtierende Bundeskanzlerin zur Wiederwahl stand. Der Mechanismus der Wählendendankbarkeit kann jedoch auch in dieser Situation die beobachteten Wahlmuster erklären, wenn auch auf einer anderen (niedrigeren) politischen Verantwortungsebene. In dieser Situation, in der keine Bundeskanzlerin zur Wiederwahl stand, zeigt sich deutliche empirische Evidenz dafür, dass betroffene Wählende mit ihrer Zweitstimme ihren Ministerpräsident:innen für deren Umgang mit dem Starkregenereignis danken, insbesondere dem Kanzlerkandidaten Armin Laschet. Im direkten Vergleich beider Situationen sind die Effekte bei einem zur Wiederwahl stehenden Bundeskanzler jedoch größer. Während die SPD 2002 nach dem Elbe-Hochwasser einen Bonus von 7 Prozentpunkten aufweisen konnte, sind nach dem Starkregenereignis 2021 die Vorsprünge der CDU/CSU mit 6,6 Prozentpunkten und die der SPD mit 3 Prozentpunkten zum Teil deutlich geringer.

Die Boni für CDU/CSU und SPD zeigen jedoch auch in aller Deutlichkeit, dass Wählende das Katastrophenmanagement politischer Entscheidungstragender evaluieren und diese Bewertung in ihrer Wahlentscheidung mit ausdrücken. Die regionale Verteilung der Boni weist darüber hinaus allgemeiner darauf hin, dass das Ausmaß, in dem Parteien von der Kompetenz ihrer Politiker:innen profitieren können, auch an regionale Spezifika der Betroffenheit von Naturkatastrophen gekoppelt ist. In diesem Sinne hat die CDU/CSU auch deshalb die meisten Wählerstimmen gewonnen, weil in den betroffenen Gemeinden in Nordrhein-Westfalen fünfmal so viele Wählende leben wie in denen in Rheinland-Pfalz. Kleinräumiger lassen unsere Analysen jedoch auch darauf schließen, dass politische Entscheidungstragende zuweilen auch den schwierigen Spagat leisten müssen, Betroffenen aus unterschiedlichen Regionen gleichermaßen gerecht zu werden. Der negative Effekt der Betroffenheit auf das Wahlergebnis für die SPD in Dreyers Heimatregion könnte somit dadurch begünstigt worden sein, dass die Ministerpräsidentin medial insbesondere im Ahrtal präsent war. Während diese mediale Präsenz zwar gemeinhin positiv bewertet wurde – und auch positive Effekte auf die Wahl der SPD vermuten lässt – weist der negative Effekt in ihrer Heimatregion jedoch auch genereller auf die Schwierigkeit hin, die Effekte medialer Berichterstattung auf Wahlentscheidungen zu bestimmen. Dies wird auch nochmals deutlich an dem nachweislich ausgebliebenen, nicht durchgeschlagenen negativen Effekt der zeitweise sehr negativen Berichterstattung über Laschet für die Wahl der CDU/CSU. Im Gegenteil lässt sich aus den stärkeren Wahlergebnissen der CDU/CSU in stärker betroffenen Gemeinden und in betroffenen Gemeinden in Laschets Heimatregion ableiten, dass der Gewinn der CDU/CSU vor allem auf eine Kombination aus einem positiv evaluierten Krisenmanagement Laschets und seinem Ausblick auf die Kanzlerschaft zurückzuführen sein wird. Für die Effekte zukünftiger Extremwetterereignisse auf Bundestagswahlen ist somit zu konstatieren, dass sie sich aus dem Zusammenspiel politischer und regionaler Konstellationen ergeben werden. Wenn ein:e Bundeskanzler:in zur Wiederwahl steht, ist davon auszugehen, dass Wählende in erster Linie ihn/sie evaluieren werden. Trifft dies nicht zu, rücken vermehrt die Ministerpräsident:innen in den Fokus. Gegeben der Umgang wird generell positiv bewertet, entscheidet dann insbesondere die regionale Verortung der Extremwetterereignisse über den Einfluss auf die Wahlergebnisse.

Extremwetterereignisse werden durch eine zunehmende Erderwärmung zukünftig mit großer Wahrscheinlichkeit häufiger auftreten (IPCC 2021; Kreienkamp et al. 2021). Neben der kompetenten Bewältigung potenziell daraus resultierender Katastrophen durch politische Entscheidungstragende kommt auch der Reduzierung der Wahrscheinlichkeit des Auftretens von Extremwetterereignissen eine große Bedeutung zu. Als nachgewiesen kann in dieser Hinsicht gelten, dass das Erleben von Extremwetterereignissen Wählende sensitiver für Fragen des Klimaschutzes macht (Baccini und Leemann 2021; Masiero und Santarossa 2021; Visconti 2021). Offen ist jedoch, ob sich diese Einstellungsveränderungen auch in die vermehrte Wahl „grüner“ Parteien übersetzen (Rudman et al. 2013; Böhmelt 2020). Der in dieser Analyse identifizierte Bonus von 3,2 Prozentpunkten für Bündnis 90/Die Grünen stützt diese Vermutung erstmalig. Ausgehend von diesen Befunden kann vorsichtig die Erwartung formuliert werden, dass zukünftige Extremwetterereignisse den Wahlanteil von Bündnis 90/Die Grünen in betroffenen Gebieten erhöhen werden.

Diese Untersuchung ist nicht ohne Limitationen. Erstens, durch das gemeinsame Auszählen der Briefwahl auf Verbandsgemeindeebene war es nicht möglich, auf die noch kleinere Auflösung auf Gemeindeebene, insbesondere in Rheinland-Pfalz, zu wechseln. Eine noch kleinräumigere Auflösung hätte erlaubt, noch präzisere Schätzer des Effekts des Starkregenereignisses zu bilden. Zweitens, die satellitengestützte Messung des Schadensumfangs konnte nicht alle Bereiche abdecken für die Schäden durch das Starkregenereignis medial dokumentiert wurden. So hätten die existierenden Schäden in Sachsen die Präzision der Analyse erhöhen können, die den Schadensumfang berücksichtigte. Während eine nachträgliche Einschätzung von Schäden über das Erdbeobachtungssystem Copernicus nicht mehr möglich ist, könnten Schadensmeldungen von Versicherungsgesellschaften an dessen Stelle treten. Diese könnten möglicherweise durch Kooperationen für zukünftige Forschung nutzbar sein. Drittens legen die hochauflösenden Ergebnisse nahe, dass betroffene Wählende das Krisenmanagement der politischen Entscheidungstragenden generell eher positiv bewertet haben. Studiendesigns auf Basis aggregierter Wahldaten können jedoch nicht abschließend klären, inwiefern Betroffene das Krisenmanagement unterschiedlicher politischer Entscheidungstragender gegeneinander abwägen und wie sich dies in eine Wahlentscheidung für eine Partei übersetzt. Um diese Einschätzungs- und Abwägungsprozesse aufzuschlüsseln, bedarf es individueller Befragungsdaten von Wählenden, die möglichst zeitnah zur Wahl erhoben werden sollten. Forschende könnten so im Falle zukünftiger Extremwetterereignisse vor einer Wahl die Evaluationen der Wählenden zu allen zentralen politischen Entscheidungstragenden einholen. Diese intraindividuell miteinander zu vergleichen und mit der individuellen Wahlentscheidung in Beziehung zu setzen, ist ein Schlüssel zu einem besseren Verständnis der Frage, wie Kompetenzeinschätzungen Wahlen beeinflussen können.

Zusammengenommen hat diese Untersuchung auf kleinsträumiger Auflösung gezeigt, dass die Wirkung dieses Starkregenereignisses auf die Wahlergebnisse auf Bundesebene durch das Agieren der jeweiligen Politiker:innen auf Bundeslandebene beeinflusst wurde. In der Kombination der besonderen Situation der Bundestagswahl 2021 ohne amtierende Kanzlerkandidatin und der Zufälligkeit des konkreten, regionalen Verharrens des Tiefdruckgebiets liegt damit begründet, dass die hier präsentierten Ergebnisse auch anders hätten ausfallen können. Hätte das Tiefdruckgebiet etwas früher verharrt, wäre nicht das Ahrtal, sondern das Saarland besonders stark betroffen gewesen (Saarbrücker Zeitung 2021). Dies hätte bedeuten können, dass die CDU/CSU möglicherweise mehr Stimmen erhalten hätte, da sie dort den Ministerpräsidenten stellt. Allerdings hätte dies auch bedeuten können, dass kein Bonus für Bündnis 90/Die Grünen hätte beobachtet werden können, da die Partei nicht zur Landesliste zugelassen war. Dies macht die Bedeutung regionaler Spezifika für die Effekte von Naturkatastrophen auf Wahlen nochmals besonders deutlich. Nimmt man die hier präsentierten Ergebnisse als Ausgangspunkt und verknüpft sie mit der Beobachtung, dass sich Wählendendankbarkeit bei Wiederwahlen auch noch über Jahre in weiteren Wahlen fortsetzen kann (Eriksson 2016; Bechtel und Hainmueller 2011), ist es vielversprechend für zukünftige Forschung zu prüfen, ob diese zeitliche Fortsetzung auch für die Situation der Bundestagswahl 2021 gilt. Dies wird jedoch frühestens die Bundestagswahl 2025 zeigen.