1 Einleitung

Die russische Aggression in der Ukraine hat eine ganze Reihe von Grundkoordinaten der Bonner und Berliner Außenpolitik in Frage gestellt. Wie insbesondere die Kontroverse um Wesen und Wert der deutschen „Ostpolitik“ zeigt, führt die aktuelle Problematik zu einer teils heftigen Debatte um die normativen Grundlagen und den Gestaltungsanspruch deutscher Außenpolitik. Die Feststellung einer „Zeitenwende“ durch Bundeskanzler Olaf Scholz nur wenige Tage nach dem Überfall auf die Ukraine geht einher mit unterschiedlichen und teils gegenläufigen Richtungsvorgaben für die deutsche Außenpolitik – bis hin zu Forderungen nach einem grundsätzlichen Kurswechsel und einer Kehrtwende. Das konzeptionelle Navigationsgerät der deutschen Außenpolitik ist gestört: Manche Richtungs- und Zielvorgaben funktionieren nicht mehr, eingeübte Wege haben sich als Sackgasse erwiesen. Der folgende Beitrag will sich mit den Suchbewegungen in neuem Terrain beschäftigen. Dazu wird zunächst die Regierungserklärung von Scholz vom 27. Februar 2022 rekapituliert (2). Darauf folgt eine knappe Einordnung der mit der Diagnose der Zeitenwende einhergehende Diskussion um theoretische Perspektiven zur deutschen Außenpolitik, die sich insbesondere um den Begriff des „Realismus“ gruppieren (3). Daran anschließend folgt ein Blick auf etablierte Topoi der Außenpolitik der Bundesrepublik – hier vor allen Dingen auf die „Ostpolitik“ (4). Ein kurzer Ausblick skizziert thesenhaft mögliche Orientierungspunkte zur Navigation der Zeitenwende (5).Footnote 1

2 Herausforderungen und Handlungsaufträge

Die Rede, die Bundeskanzler Olaf Scholz am 27. Februar 2022 im Deutschen Bundestag hielt, beinhaltete nicht nur die Begriffsprägung der „Zeitenwende“,Footnote 2 die insbesondere die deutsche Außenpolitik vor neue Herausforderungen stelle. Die Rede beinhaltete auch eine Liste von fünf Handlungsaufträgen, die sich aus der russischen Aggression in der Ukraine ableiten ließen (vgl. zum Folgenden Scholz 2022a): Erstens gelte es nun, der Ukraine zu helfen, zweitens Putin von seinem Kriegskurs abzubringen und drittens zu verhindern, dass „Putins Krieg“ auf andere Länder übergreift. Für sich genommen sind diese ersten drei Aufträge nicht besonders überraschend. Tatsächlich bettet Scholz sie in bestehende multilaterale Verbindungen und Verpflichtungen ein: Die Verhinderung des Übergreifens des Krieges auf weitere osteuropäische Länder wird direkt mit den Verpflichtungen aus Deutschlands NATO-Mitgliedschaft begründet, der Versuch zur Änderung von Putins Kriegskurs mit der Abstimmung von Sanktionsmaßnahmen auf EU-Ebene. Auch wenn Scholz es hier nicht explizit macht, so kann man die erste Verpflichtung zur Unterstützung der Ukraine mit den übernommenen Rechten und Pflichten nach der Charta der Vereinten Nationen in Verbindung bringen (so auch dezidiert Scholz 2022b). Scholz betont an dieser Stelle auch die „Werte“, für die die Menschen in der Ukraine kämpfen. Wenn also die genannten Handlungsaufträge sich im Grundsatz aus vorhandenen Verpflichtungen ergeben, so deutet sich doch mit der Entscheidung zur Lieferung von Waffen an die Ukraine ein deutlicher Wandel in der Wahl der Mittel an. Scholz bricht mit einer bislang gültigen Grundkonstante deutscher Außenpolitik, die die Lieferung von Waffen in Kriegsgebiete untersagte: „Am Donnerstag hat Präsident Putin mit seinem Überfall auf die Ukraine eine neue Realität geschaffen. Diese neue Realität erfordert eine klare Antwort. Wir haben sie gegeben […] Auf Putins Aggression konnte es keine andere Antwort geben.“ Diese Aussage verbindet sich mit dem vierten Handlungsauftrag: Vor dem Hintergrund, dass Putin ein „russisches Imperium“ erreichten wolle, müsse sich die Bundesrepublik fragen, welche Fähigkeiten sie habe, um einer solchen Bedrohung zu begegnen. An diese rhetorische Frage schließt sich die Selbstverpflichtung zur bislang beispiellosen Investition in die Verteidigungsfähigkeit Deutschlands an: Ein Sondervermögen von 100 Mrd. €, die Erhöhung der Verteidigungsaufgaben auf zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts, die Anschaffung von bewaffneten Drohnen und neuen Trägerflugzeugen für die nukleare Teilhabe. Zu der im engeren Sinne militärischen Investition kommt das strategische Umsteuern in der Energiepolitik, bei der Reduktion der Importabhängigkeit und dem Ausbau erneuerbarer Energien. Im fünften und letzten Auftrag spricht Scholz von einer „Zäsur, auch für unsere Außenpolitik“. Hier gibt der Bundeskanzler die Maxime aus, „[s]o viel Diplomatie wie möglich, ohne naiv zu sein“. Es gelte, Gesprächskanäle offenzuhalten – allerdings auch „kein Reden um des Redens willen“ zu betreiben. Scholz markiert nochmals den normativen Anspruch, nachdem „[wir] uns nie abfinden mit Gewalt als Mittel der Politik“. Diesen Anspruch leitet er auch aus der eigenen Geschichte ab, um dann an die Geschlossenheit der Partner und die „Stärke freier Demokratien“ zu appellieren. Auch hier bezieht sich die benannte Zäsur vor allen Dingen auf die zur Verfügung stehenden Instrumente und weniger auf eine Abkehr von etablierten Grundlinien der deutschen Außenpolitik. Die Zeitenwende markiert in der Regierungserklärung von Scholz also in der Tat eher eine Zäsur „für“ die deutsche Außenpolitik und weniger einer Zäsur „der“ deutschen Außenpolitik.

3 Theorien und Dichotomien

Eine solche sprachliche Nuancierung kann aber nicht überdecken, dass wichtige Narrative der deutschen Außenpolitik durch den Kriegsfall in Europa in Frage gestellt sind. Da die beschriebene Zeitenwende nicht nur eine Herausforderung für die deutsche Außenpolitik, sondern für die Weltpolitik im Ganzen darstellt, ist eine Neubewertung und Irritation solcher Deutungsmuster und theoretischer Annahmen eine logische Folge. Die deutsche Debatte um die Zeitenwende hat (meist unausgesprochen) diese Doppelnatur: Es ist eine Debatte um die Ausrichtung der deutschen Außenpolitik, die aber eng verbunden ist mit einer Debatte darüber, welche Dynamiken, Wirkmechanismen, Ressourcen, Gesetzmäßigkeiten und Maximen des Handelns die internationale Politik bestimmen (sollen).

Die politische, die öffentliche und auch die akademische Debatte hat sich dabei vor allen Dingen um den Begriff des „Realismus“ entsponnen. Die Erfahrung der russischen Aggression lenkte den Blick schockartig auf die Notwendigkeit einer robusteren und stärker auf militärische Mittel fokussierten Außenpolitik, die über Jahre und verschiedene Regierungskoalitionen hinweg vernachlässigt worden war. Diese Einsicht mit dem Begriff eines neu zu entdeckenden „Realismus“ zu versehen, eröffnet verschiedene Bezugsebenen: In einem eher alltagssprachlichen Sinn kann der Appell zum „Realismus“ offenkundige Selbstverständlichkeiten wie die Beachtung obwaltender Kräfteverhältnisse und Ressourcen etc. beinhalten. Dabei deutet sich schon an, dass die Markierung einer Position als „realistisch“ (auch im Sinne von „praxistauglich“) zugleich schon die Desavouierung einer gegenläufigen Meinung als eben „unrealistisch“, „theoretisch“, „verträumt“ oder „naiv“ impliziert.Footnote 3 Das Gegenbild wird dann meist als „Idealismus“ etikettiert und findet sich auch in einigen Infragestellung des Anspruchs einer „wertegeleiteten Außenpolitik“. Hier zeigt sich bereits im Vokabular eine sich durch die Lehre der Internationalen Beziehungen ziehende Spannung: Auf der einen Seite die Überzeugung, dass es in der internationalen Politik zuvorderst (bzw. maximal) um die Anwendung einer politischen Klugheitslehre gehen könne und auf der anderen Seite eine Denktradition, die davon ausgeht, dass die Gestaltung und Kritik der internationalen Beziehungen auf eine explizit philosophische Auseinandersetzung im Sinne einer „International Political Theory“ aufbauen könne (vgl. zum Überblick u. a. Dietrich und Zanetti 2014, S. 12; Fröhlich 2017).

Neben der eher alltagssprachlichen Verwendung des Begriffs „Realismus“ findet sich die etwas spezifischere, akademische Verwendung, die auf die Großtheorie des Realismus bzw. des Neorealismus abzielt. Diese Theorie ist von einer ganzen Reihe von ontologischen Grundannahmen über die Bedingungen der Möglichkeit internationaler Politik bestimmt. Zum Realismus gehört danach unter anderem die Fokussierung auf materielle Machtressourcen, die Verpflichtung auf die Stabilität des internationalen Systems und die Diskussion spezifischer Gesetzmäßigkeiten der Sicherheitsvorsorge und Machtverteilung zwischen Staaten. Gemein hat sie mit dem alltagssprachlichen Begriff des Realismus den Anspruch, sie handle von der Welt wie sie „ist“, statt wie sie „sein soll“.

Roland Czada hat in diesem Kontext ein Plädoyer für eine stärkere Hinwendung zum „Realismus“ in der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik formuliert, das an dieser Stelle nur knapp skizziert werden kann (Czada 2022). Die Ereignisse um den Überfall auf die Ukraine, vor denen der Realismus deutlich gewarnt habe, bestätigten auf eindrückliche Weise die Grundannahmen dieser „realistische[n] Schule der Außenpolitik“ und widerlegten zugleich die Grundannahmen „der in Deutschland tonangebenden ‚idealistischen‘ Schule des normativen Institutionalismus“, die mit dem „Ideal einer wertebasierten Völkerrechtsordnung“ verbunden sei (Czada 2022, S. 216). Czada sieht eine „180-Grad-Wende der Sicherheitspolitik“ (ebd.) in Richtung des Realismus und findet diese Entwicklung folgerichtig. Als wesentliche Referenzfigur einer solch zu lange marginalisierten, nun aber mit aller Macht hervortretenden realistischen Deutung der internationalen Politik dient ihm John J. Mearsheimer – genauerhin ja ein Autor, der dem offensiven Neorealismus zugerechnet wird.Footnote 4 Czada jedenfalls sieht durch die russische Aggression in der Ukraine den von ihm so genannten „normativen Institutionalismus“ als ebenso widerlegt wie den „progressiven Liberalismus“, den er wesentlich mit den durch die USA angeführten Interventionen von Afghanistan über den Irak bis Libyen gescheitert sieht: „Eine idealistische, allein [sic!] an der Einhaltung universeller demokratischer, rechtsstaatlicher und menschenrechtlicher Grundnormen orientierte Außenpolitik erweist sich in dieser Gemengelage als unmöglich.“ (Czada 2022, S. 225–226) Dagegen gelte: „In einer Welt ausgeprägter materieller Ungleichheit, kultureller Spannungslinien, eklatanter Interessengegensätze und Machtasymmetrien behält die realistische Theorie der Außenpolitik ihre Berechtigung, nicht zuletzt aufgrund ihrer Stringenz und empirischen Erklärungskraft.“ (Czada 2022, S. 226) Der Realismus verfolge ein klares Ziel: „Erhalt des Friedens auch um den Preis der Aufgabe hehrer Menschheitsziele, ein Ziel, das Max Weber in seinem berühmten Vortrag ‚Politik als Beruf‘ jeder verantwortlichen Politik aufträgt“ (Czada 2022, S. 232).

Gegen diese zugespitzte Gegenüberstellung haben unter anderem Bernd Ladwig und Michael Zürn Einspruch eingelegt und ihrerseits sowohl die konzeptionelle Stringenz als auch die empirische Erklärungskraft des Realismus in Frage gestellt (Ladwig 2022; Zürn 2022).Footnote 5 Ladwig argumentiert, dass als „Leitgesichtspunkt“ (Ladwig 2022, S. 382) des Realismus nicht der Friede, sondern vielmehr staatliche Sicherheit in einem durch die internationale Struktur determinierten Handlungsumfeld zu verstehen sei. Zwar sieht er, dass Czada einige der offenen Flanken des Realismus erkennt, wirft ihm jedoch vor, „ein Zerrbild von rationalen Interessen und irrationalen Wertvorstellungen“ (Ladwig 2022, S. 383) zu reproduzieren. Es würden sowohl die innenpolitischen Bedingtheiten der Ukraine als auch jene Russlands vernachlässigt und damit eine „Tendenz zur Gleichsetzung von angreifendem und angegriffenem Staat“ (Ladwig 2022, S. 389) befördert. Die postulierte Fähigkeit zur Erklärung des russischen Angriffs auf die Ukraine erschließe sich nicht, da der Krieg doch bislang bei katastrophal hohen materiellen und immateriellen Kosten auch kein „Mehr“ an Sicherheit des Akteurs Putin mit sich gebracht habe – im Gegenteil (Ladwig 2022, S. 386). Ladwig bilanziert: „Putins Russland sagt uns nicht die invariante Wahrheit über das Wesen der internationalen Politik. Es belehrt uns nur über eine nicht zuletzt in Deutschland lange verdrängte Möglichkeit: Dass sich Gewaltmenschen dieser Politik bemächtigen können (…) [und] auch anderen ihre Logik des Handelns aufherrschen [können]“ (Ladwig 2022, S. 392).

Michael Zürn geht es darum zu zeigen, dass Czadas These „wonach sich bestimmte theoretische Orientierungen mit klaren außenpolitischen Strategien verbinden (…) nicht haltbar [ist]“ (Zürn 2022, S. 389). Gerade der Realismus/Neorealismus produziere keine absoluten Handlungsempfehlungen – was sich unter anderem ja auch an der Existenz von eher „defensiven“ oder „offensiven“ Lesarten der Theorie zeigen ließe. Die Varianz von theoretischer Grundannahme und Handlungsempfehlung zeige sich auch auf der anderen Seite: In der aktuellen Debatte sprechen sich gerade jene Stimmen, die Czada zu den verfehlterweise auf Deliberation setzenden Institutionalisten zählt, eher für Waffenlieferungen und damit die Nutzung von „hard power“ aus (Zürn 2022, S. 401). Jenseits weiterer Kritik an terminologischen Setzungen sieht Zürn die Perspektive des Realismus als reduktionistisch und eben nicht widerspruchsfrei an: „Das (neo-)realistische Forschungsprogramm kann den jetzigen Krieg kaum erklären, hat Schwierigkeiten, die Reaktionen auf diesen Krieg zu verstehen, und bleibt bei vielen anderen wichtigen Fragen der Weltpolitik seltsam leise“ (Zürn 2022, S. 409). Die These eines erwiesenermaßen nun obsiegenden Realismus, aus dem sich eindeutige Erklärungen für den Krieg und ebenso eindeutige Handlungsempfehlungen für die deutsche Außenpolitik ableiten ließen, ist auch aus dieser Perspektive mit Fragezeichen zu versehen und relativiert ihrerseits das Bild von der grundsätzlichen Kehrtwende. Bestehen bleibt aber auch eine Liste der Versäumnisse, Fehlwahrnehmungen und des Versagens bisher verfolgter Außenpolitik. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit zu Anpassung und Kurskorrektur.

4 Topoi und Kontexte

Neben unterschiedlichen Lesarten von Großtheorien der Internationalen Beziehungen finden sich eine Reihe von Topoi, die in ihrer Ausprägung und Kombination spezifische Orientierungspunkte der Außenpolitik der Bundesrepublik markieren: Hierzu gehören schlagwortartig unter anderem Westbindung, Ostpolitik, militärische Zurückhaltung, Grundgesetzverpflichtung, geschichtliche Verantwortung, Herrschaft des Rechts, kollektive Sicherheit, Exportorientierung oder Multilateralisierung. Tatsächlich hat Scholz einige dieser Topoi in seiner Rede genutzt: Die Westbindung kommt in eindeutigen Beistands- und Partnerschaftsbekundungen zur EU und der NATO zum Ausdruck. Die geradezu instinktiv multilaterale Ausrichtung der deutschen Außenpolitik wird in der mehrfachen Beschwörung von Abstimmungen mit den internationalen Partnern – auch im Rahmen der G7 oder der Vereinten Nationen – erkennbar. Die geschichtliche Verantwortung thematisiert Scholz in der sprachlichen Trennung zwischen dem russischen Volk und Putin sowie der Erinnerung an die „Aussöhnung zwischen Deutschen und Russen nach dem Zweiten Weltkrieg“ (Scholz 2022a). Auch gegen Ende seiner Rede unterstreicht er die Relevanz geschichtlicher Erfahrung für gegenwärtiges Handeln: „[W]ir wissen, wofür wir einstehen, auch angesichts unserer eigenen Geschichte. Wir stehen für den Frieden in Europa. Wir werden uns nicht abfinden mit Gewalt als Mittel der Politik. Wir werden uns immer starkmachen für eine friedliche Lösung von Konflikten.“ So enthält die Rede von Scholz durchaus bemerkenswerte Signale der Kontinuität. Am deutlichsten einer „Wende“ unterworfen erscheint die sich in den Waffenlieferungen an die Ukraine und der Aufrüstung der Bundeswehr manifestierende Bewegung weg von bisheriger militärischer Zurückhaltung. Auffällig ist jedoch, dass die Topoi der „Exportorientierung“ und der „Ostpolitik“ in Scholz’ Rede nur sehr wenig Aufmerksamkeit finden. Das deutet auf zwei Problemfelder der deutschen Außenpolitik im Kontext des Krieges in der Ukraine hin, die unter anderem in dem vollends und katastrophal gescheiterten Projekt der Gas-Pipeline „Nord Stream 2“ augenfällig miteinander verbunden sind: Zum einen die Priorisierung von außenwirtschaftlichen Interessen, die eine im engeren Sinne politische Wahrnehmung der mit solchen Projekten und Abhängigkeiten verbundenen Gefahren verdeckt oder verhindert hat. Zum anderen das Festhalten an der für die Ostpolitik durchaus programmatischen Formel eines „Wandels durch Annäherung“ – in verkürzter Form auch „Wandel durch Handel“. Hier ist neben der militärisch-sicherheitspolitischen Antwort auf den Krieg Russlands die intensivste Debatte um eine Kehrtwende der deutschen Außenpolitik entbrannt.

In der etablierten Lesart deutscher Außenpolitik steht die mit den Namen Willy Brandt und Egon Bahr verbundene Ostpolitik – näherhin „Neue Ostpolitik“ – der sechziger und siebziger Jahre für ein besonderes Markenzeichen der Bonner Republik (vgl. zum Überblick der unterschiedlichen Phasen, Kontinuitäten und Brüche u. a. Schmidt 2014). Inmitten der skizzierten Grundorientierungen der deutschen Außenpolitik ergänzte sie die Westbindung, hatte bei aller Öffnung gegenüber dem Osten auch die Grundgesetzverpflichtung und den Auftrag zur Einheit Deutschlands zu berücksichtigen, war wesentlich durch die geschichtliche Verantwortung und das Bemühen um Versöhnung motiviert und stand zugleich für eine europäische Einbettung und eine Multilateralisierung der deutschen Politik, die sich unter anderem im KSZE-Prozess niederschlug. Die positive Konnotation der Ostpolitik fand nicht zuletzt in der Verleihung des Friedensnobelpreises an Brandt im Jahr 1971 ihren Ausdruck. Entspannung, Vermittlung, humanitäres Engagement für die betroffenen Menschen, sektorale Kooperation bei anhaltendem normativem Dissens – all das wurde (nach durchaus heftigem innenpolitischen Dissens) zu einem richtungsgebenden Orientierungspunkt der deutschen Außenpolitik weit über die Kanzlerschaft Willy Brandts hinaus. Eine solche Kontinuität überdeckt allerdings den Umstand, dass die „Ostpolitik“ der Ära Brandt in ganz erheblichem Maße kontext- und zeitgebunden war (Brandt selbst hatte seine Schwierigkeiten mit dem Begriff). Eine bloße Übertragung der Ideen und Instrumente aus den sechziger und siebziger Jahren in die Gegenwart ist nicht möglich (Fröhlich 2022). Mehr noch: Das, was als „Ostpolitik“ bezeichnet wurde, hat sich schnell zu einem Etikett entwickelt, das einige Spannungsfelder und Ambivalenzen dieses Politikansatzes überdeckt bzw. retrospektiv verkürzt (vgl. zum Folgenden auch Schmidt 2014). Hier seien nur einige dieser Ambivalenzen genannt.

Erstens blendet das Bild des prioritär nach Osten versöhnenden Bundeskanzlers Brandt die Erfahrungen und Motivlagen des als „Festungskommandaten“ im Kalten Krieg apostrophierten Bürgermeisters von Berlin aus, die durchaus in den Kontext einer Politik der Stärke eingebettet waren (vgl. Möding 2019). Die Verteidigungsausgaben der Bundesrepublik lagen zu dieser Zeit weit über den nun apostrophierten zwei Prozent. Zweitens gab es schon in der Phase ihrer Formulierung durchaus erkennbare und über die Zeit variierende Positionsunterschiede zwischen dem Verständnis Brandts und etwa dem Egon Bahrs. Bahr repräsentierte die Ostpolitik auch in den Jahren nach Brandts Tod – deutete sie aber in neuem Umfeld in einer Art und Weise, die nicht notwendigerweise mit dem ursprünglichen Impuls oder der Intention Brandts überlappend war. Dies zeigte sich drittens auch in den unterschiedlichen Interpretationen des Wirkzusammenhangs von „Wandel“ und „Annäherung“. Die Formel, die Bahr in seiner Tutzinger Rede 1963 popularisierte, stand in ihrer Zeit im Kontext zu der kurz zuvor von Präsident Kennedy verkündeten „Strategy for Peace“ (vgl. Bahr 2013). Die Erwartung des Wandels unterlag über die Jahrzehnte unterschiedlichen Ausprägungen – bis hin zu einer Verkümmerung des ursprünglichen Konzepts, das im „Handel“ einen Selbstzweck sah, den man tunlichst nicht durch die Thematisierung ideologischer oder normativer Differenzen stören sollte. Viertens gehört zur Tradition der Ostpolitik auch eine Vernachlässigung von zivilgesellschaftlichen Bewegungen zugunsten der Konzentration auf die jeweils herrschende Staatsführung. Das zeigte sich exemplarisch im Umgang mit der polnischen Solidarność. Der Imperativ, nach dem man vermeiden sollte, die Stabilität des gouvernementalen Gegenübers zu irritieren und Ostpolitik immer zuerst den Blick auf Moskau richten sollte, hat mithin schon vor und auch nach der Wiedervereinigung zu einigen Fehlern der deutschen Politik gegenüber Osteuropa geführt. Das, was im Umgang mit einer auf Stabilität orientierten Sowjetunion ratsam erschien, erweist sich als untauglich im Umgang mit einem auf imperiale Aggression orientierten Russland. Fünftens ist die originäre Konzeption Brandts, wie er sie etwa in seiner Vision eines europäischen „Gebäudes des Friedens“ in der Nobelpreis-Rede 1971 skizzierte, auch erkennbar „wertegeleitet“: Zu den Bedingungen der Möglichkeit einer Friedensordnung zählte er: Gleichgewicht zwischen Staaten und ihren Interessen, Gewaltverzicht, Unverletzlichkeit der Grenzen, Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten, wirtschaftliche Zusammenarbeit, soziale Gerechtigkeit und gleichwertige Entwicklungschancen für alle Völker (Brandt 1971). Schon diese kurze Auflistung zeigt, wie fundamental die russische Aggression gegen zentrale Normen der internationalen Gemeinschaft und auch das geltende Friedensvölkerrecht der UN-Charta verstößt. Die „Neue Ostpolitik“ hatte einen benennbaren normativen Kern. Für Brandt selbst ist dieser durch die Formel der „Freiheit von Furcht und Not“ mit einer Grunderfahrung des 20. Jahrhunderts verbunden, die sein politisches Wirken vom Widerstand gegen das Nazi-Regime über den Berliner Bürgermeister, den deutschen Außenminister und Bundeskanzler, den Präsident der Sozialistischen Internationale und Vorsitzenden diverser Expertenkommissionen zur internationalen Politik motivierte (vgl. Fröhlich 2022).

Neben der notwendigen Kontextualisierung zeigt das Beispiel Brandts auch, dass sich „reale“ außenpolitische Orientierungen nur schwer ausschließlich als „realistisch“ oder „idealistisch“ etikettieren lassen. Auch die Dichotomie von Verantwortungs- und Gesinnungsethik, die verschiedentlich in der Debatte um die deutsche Außenpolitik in der Zeitenwende bemüht wurde, dient eher argumentatorischer Ausgrenzung als einer Erhellung der Komplexität der Herausforderung. Dazu hat im Übrigen auch schon der begriffsbildende Max Weber betont, dass „Gesinnungsethik und Verantwortungsethik nicht absolute Gegensätze [sind], sondern Ergänzungen, die zusammen erst den echten Menschen ausmachen, der den ‚Beruf zur Politik‘ haben kann“ (Weber 1992, S. 81).

5 Perspektiven und Orientierungen

Aus einem solch knappen Durchgang der Schwierigkeiten der Navigation in der Zeitenwende lassen sich nur sehr skizzenhaft, vorläufig und unvollständig einige mögliche Perspektiven thesenartig ableiten. Zum einen scheint das Denken in Dichotomien zwischen „realistisch“/„klug“ und „idealistisch“/„wertegeleitet“ nicht angemessen. Dass es um militärische und ethische Fragen geht, dass es um Ressourcen und Werte geht, lässt sich sowohl in Putins Nutzung imperialer Denkmuster und eines Kulturkampfes mit dem Westen für einen brutalen militärischen Aggressionskrieg als auch in Selenskyjs Mobilisierung eines Wertefundaments für einen Verteidigungskrieg zeigen. Werte sind in diesem Sinne auch Ressourcen. Und: Der Fehler der fortgeschriebenen und fehlgeleiteten „Ostpolitik“ war ja gerade nicht ihre zu starke, sondern ihre mangelnde normative Einbettung. Die „Realität“ der internationalen Beziehungen kennt mithin mehrere Sphären des Politischen und es ist gerade das Zusammendenken dieser Sphären, das die Herausforderung darstellt.

Der Überfall auf die Ukraine ist auch eine schockartige Erfahrung für die deutsche Außenpolitik. Viel spricht für die Deutung, dass die Bundesrepublik nach dem Ende des Kalten Krieges aus einer Reihe von Gründen nicht willens, fähig oder veranlasst war, einige wichtige außenpolitische Lernprozesse und Anpassungen zu vollführen (Bunde 2022; vgl. bereits auch Seibel 2015). Bestehende Grundannahmen der Außenpolitik wurden nicht hinterfragt, in verändertem Kontext beibehalten und – wie im Falle der Ostpolitik – ihrem Anspruch nach entkernt (vgl. hierzu auch Heinemann-Grüder 2022). Hier ist Richtungswechsel nötig. Das heißt aber nicht, dass alle Orientierungen in Frage gestellt sind. Einige der Orientierungspunkte bleiben nicht nur bestehen, sondern gehen – wie im Falle der Westbindung – einstweilen gestärkt aus der Schockerfahrung hervor (so auch Blumenau 2022).

Die Schockerfahrung besteht jedoch auch in der Erkenntnis, dass nun einige der postulierten Selbstverständlichkeiten der deutschen Außenpolitik „ernst“ werden. Das ist besonders ersichtlich mit Blick auf die Verpflichtungen aus dem System kollektiver Sicherheit und dem Friedensvölkerrecht nach der Charta der Vereinten Nationen. Die Frage über Art und Umfang der Unterstützung der Ukraine wird erstaunlich häufig noch in der Manier einer wahlweise frei vorzunehmenden Bündnisverpflichtung im 19. Jahrhundert diskutiert – und eben nicht als Rechtspflicht zur Aufrechterhaltung eines Deutschland im ureigensten Sinne betreffenden und schützenden Systems kollektiver Sicherheit. Deren Erfüllung kann man unterschiedlich beantworten. Das Bemühen um die Wiederherstellung eines Rechtszustandes (etwa durch Waffenlieferungen, Sanktionen oder diplomatische Verurteilung) jedoch in Begrifflichkeiten des Entweder-Oder eines „Kriegseintritts“, von „Sieg“ und „Niederlage“ oder eines wiederauflebenden „Ost-West-Konflikts“ zu diskutieren, verlagert die Auseinandersetzung auf ein semantisches Feld, das dem Aggressor entgegenkommt. Gleiches gilt auch für die pauschalisierende Rede vom Versagen und Scheitern „des“ Westens, die summarisch so unterschiedliche Einsätze wie die in Afghanistan, im Irak, im Kosovo oder in Libyen ohne Differenzierung der jeweils handelnden Akteure, der unterschiedlichen Rechtsgrundlagen, politischen Intentionen, militärischen Umsetzung oder humanitären Konsequenzen über einen Kamm schert. Hier gab und gibt es jeweils konkret Vieles aufzuarbeiten. Russland zeichnete jedoch schon seit Jahren in manipulativer Absicht das Bild eines „kollektiven Westens“ mit globalen Herrschaftsabsichten auch um eigenes Handeln in Georgien, Syrien, Libyen, Mali oder der Zentralafrikanischen Republik zu relativieren. Nach der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim und der Destabilisierung im Donbas hat der offen kriegerische Überfall auf die Ukraine die mehrfach kontrastierend hervorgehobene Darstellung, nach der es Russland sei, das sich für die staatliche Souveränität, die Nichteinmischung in innere Angelegenheiten und die Aufrechterhaltung des Völkerrechts gegen „imperiale“ Bestrebungen einsetze, vollends demaskiert. Der Einsatz für Mindeststandards einer regelbasierten Weltordnung muss notwendige Selbstkritik mit einem Sensorium für falsche Analogien, Relativierungen und Instrumentalisierungen verbinden.

Mit Blick auf einige der hier skizzierten Dichotomien und Herausforderungen könnte sich ein konzeptioneller Leitbegriff wie jener der menschlichen Sicherheit anbieten, um in komplexen Terrain und angesichts einer Vielzahl von Herausforderungen zu navigieren (vgl. zum Überblick u. a. Fröhlich und Lemanski 2011): Zur öffentlichen, nach innen und außen gerichteten Kommunikation dessen, wofür Deutschland steht und sich einsetzt. Der Begriff bezieht sich sowohl auf die Sensibilisierung für Bedrohungen von Leib und Leben jenseits militärischer Risiken, die den Lebensalltag vieler Menschen weltweit bestimmen (Nahrungsmittelsicherheit, Gesundheitsvorsorge, ökologische Sicherheit etc.), als auch auf das solidarische Eintreten für angegriffene Menschen wie in der Ukraine. „Menschliche Sicherheit“ schließt an jenes (auch von Brandt verfolgte) normative Ideal der „Freiheit von Furcht und Not“ an, das seinen Weg in die internationale Politik über Franklin Delano Roosevelts vier Freiheiten und die Atlantik-Charta sowie die Charta der Vereinten Nationen nicht aus ideologischer oder akademischer Setzung, sondern aus praktischer Erfahrung von Leid und Zerstörung im zwanzigsten Jahrhundert gefunden hat und auch heute noch Orientierungspotential bereit hält.

Einige Orientierungspunkte der deutschen Außenpolitik verblassen, einige Wegweisungen führten dazu, das Ziel aus den Augen zu verlieren, einige Richtungsvorgaben passen nicht mehr ins Terrain, wiederum andere erscheinen dringlicher denn je und auch neue tun sich auf. Eine simple, alle Bereiche umfassende Kehrtwende der deutschen Außenpolitik scheint ebenso wenig angezeigt wie gar eine anstandslose Rückkehr ins 19. Jahrhundert und die damit einhergehende, vorauseilende Aufgabe der basalsten Prinzipien einer regelbasierten Weltordnung. Die Aufforderung „Wenn möglich, bitte wenden“ erfolgt auch bei Navigationsgeräten nicht als Aufforderung, ein neues Ziel zu wählen, sondern das jeweils vorgegebene Ziel im Angesicht von blockierten oder falschen Wegen durch neue Wege zu erreichen. Nach Fahrfehlern mit dramatischen Konsequenzen braucht das Navigationsgerät der deutschen Außenpolitik ein Update des Kartenmaterials und eine Vergewisserung der Zielvorgaben.