Als Putins Russland am 24. Februar 2022 die Ukraine überfiel, hatte sich zur Erschütterung die Fassungslosigkeit gesellt. Mit der Rede von Bundeskanzler Scholz im Deutschen Bundestag schien die Sprachlosigkeit durch die Ankündigung einer Zeitenwende und die Bereitstellung eines hundert Milliarden umfassenden Sondervermögens zur Ertüchtigung der deutschen Bundeswehr aufs Erste überwunden zu sein. Damit war eine Kehrtwende in der deutschen Außen‑, Sicherheits‑, Verteidigungspolitik, sodann auch der Energiepolitik, eingeleitet.

Der abrupte Politikwechsel bedeutet aber weit mehr: Zum einen die Entwertung geltender Grundorientierungen politischen Handelns, wie sie sich seit 1990 im weitgehenden Konsens der demokratischen Kräfte herausgebildet hatten. Mit dem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg auf die Ukraine haben eingefahrene Wahrnehmungs- und Bewältigungsroutinen politischer Konfliktlagen ihre Wirksamkeit verloren. Zum anderen, und damit einhergehend, wird demokratische Führungsfähigkeit in dramatischer Weise herausgefordert: ein gleichermaßen entschiedenes wie legitimierbares Krisenhandeln unter den Bedingungen von Ungewissheit und propagandistisch fälschbarem Wissen. Das Dilemma, zwischen Handlungserwartungen und Entscheidungszwängen auf der einen Seite und Steuerungsmöglichkeiten und Akzeptanzproblemen auf der anderen Seite agieren zu müssen, setzt die Demokratie in Krisenzeiten ohnehin schon unter Druck, die Gleichzeitigkeit von Krieg und Krisenbewältigung bringt sie an die Grenzen ihrer Belastung. Ein für die demokratische Ordnung konstitutiver, ja existenzieller Zusammenhang wird auf die Probe gestellt: Wo die Überforderung politischen Krisenhandelns droht, wird der Problemlösungsfähigkeit Vertrauen entzogen. Solche Tendenzen bilden sich derzeit als Verlustanzeige an Demokratiezufriedenheit in Umfragen ab. Damit ist nicht zwangsläufig die Zustimmungsfähigkeit zur Demokratie als Staats- und gesellschaftlicher Lebensform infrage gestellt, doch schlägt die Unzufriedenheit mit der demokratischen Praxis irgendwann auch auf die Akzeptanz der Demokratie als politischer Ordnungsidee durch.

1 Niedergang der Demokratie?

Kassandrarufe gab es in den letzten Jahren viele, und sie betrafen auch, wenngleich nicht nur, jene Demokratien, die bislang als konsolidierte „westliche“ Demokratien des liberal-repräsentativen Typs galten.Footnote 1 Die Krisen der letzten Jahrzehnte, von der Euro- und Finanzkrise über die Migrations- bis zur Coronakrise haben das Bild von Stabilität und Widerstandsfähigkeit demokratischer Ordnung erschüttert und die Frage nach ihren Gefährdungspotenzialen stellen lassen. So ist diagnostiziert worden, dass die gegenwärtigen Demokratien einen Prozess des Niedergangs, des Verfalls und des Sterbens durchlaufen könnten (Mounk 2018; Levitsky und Ziblatt 2018). Und in defizitären Repräsentations- und Teilhabeverhältnissen, auch in institutionellen Verschiebungen, wurde eine Regression demokratischer Ordnungen bilanziert (Schäfer und Zürn 2021).

Diese Befürchtungen waren und sind nicht gegenstandslos, wenngleich gefragt werden muss, ob die beobachteten Entwicklungen durch die Krisen verursacht oder „nur“ deutlich sichtbarer geworden, womöglich auch verschärft und zugespitzt worden sind. Unbestreitbar ist, dass sich erhebliche politische Verwerfungen infolge der Krisen innerhalb der jeweiligen demokratischen Systeme zu erkennen gegeben haben, nicht zuletzt in den rechtspopulistischen Revolten auf den Straßen und sozialen Netzen sowie den rechtsextremen Geländegewinnen und Regierungsübernahmen bei Wahlen (Vorländer et al. 2018; Vorländer 2018). Aber zum einen haben sich Parteiensysteme schon bereits zuvor verändert, zum anderen haben auch die Spaltungen und Polarisierungen, die in den öffentlichen Diskursen zu beobachten sind, eine längere Vorlaufzeit. Die Vermutung liegt nahe, dass auch strukturelle Entwicklungen für die gegenwärtigen Gefährdungspotenziale der Demokratie, wie sie sich nach 1945 etabliert und herausgebildet hat, zu veranschlagen sind, sie aber in Krisen- und Kriegszeiten in zugespitzter Weise das Herausforderungspotenzial erhöhen.

Empirische Befunde zeigen, dass die Zahl der liberalen Demokratien in Europa und der Welt rückläufig ist, nachdem sie infolge des Zusammenbruchs sozialistischer Systeme nach 1990 stark zugenommen hatte. Gleichzeitig ist eine Entwicklung unverkennbar, die in die Richtung einer „Autokratisierung“ weist, also der Transformation liberaler Demokratien zu Formen autoritärer Allein- oder Parteienherrschaft. Das betrifft nicht nur die asiatisch-pazifischen und zentralasiatischen Regionen, nicht nur Lateinamerika, sondern auch Mittel- und Osteuropa. So befindet sich heute nach Einschätzung des Forschungsnetzwerkes „Varieties of Democracy“ die Demokratieentwicklung wieder auf dem Niveau von 1990 (V-DEM Institute 2022). Vor allem die Zahl der liberalen Demokratien verringerte sich danach in der letzten Dekade von 41 auf 32 Länder, wohingegen die Zahl der sog. rein „elektoralen“ Demokratien signifikant zugenommen hat – Demokratien also, in denen zwar Wahlen ermöglicht, aber grundlegende demokratische Prinzipien wie der Schutz von Grund- und Menschenrechten, der Unabhängigkeit von Medien und Justiz und der Bedingungen fairen politischen Wettbewerbs beeinträchtigt sind oder missachtet werden. In den Staaten Mittel- und Osteuropas sind diese Entwicklungen nicht primär auf die Krisen der letzten Jahre zurückzuführen, sondern sie sind – vor dem Hintergrund von schwierigen gesellschaftlichen Transitionsprozessen – von Ministerpräsidenten und Regierungsmehrheiten, so etwa von Fidesz in Ungarn oder PiS in Polen, schon zuvor herbeigeführt worden. Die Krisen haben diese Entwicklungen jedoch bestärkt, weil sie den Regierenden einen Vorwand und Möglichkeiten zu autoritärer Nutzung und autokratischem Umbau der Institutionensysteme gibt. Dass dabei teilweise und temporär weder das Vertrauen in die jeweiligen Regierungen noch das Maß an Zufriedenheit abgenommen hat, ja mitunter sogar gestiegen ist, lässt zugleich ein erhebliches Maß an Unterstützung für den autoritären Umbau der Demokratie vermuten, auch wenn es in diesen Ländern erhebliche oppositionelle Widerstände gibt und die Gesellschaften in sozioökonomischer wie sozialräumlicher Weise gespalten erscheinen.

In Nord‑, West- und Südeuropa, in denen der Typus der liberalen Demokratie eindeutig vorherrscht, haben die Krisen der letzten Jahre einen unterschiedlichen Effekt auf Regierungsvertrauen und Demokratiezufriedenheit gehabt. Vordergründig zeigen beispielsweise die empirischen Indikatoren des „Eurobarometer“, dass es in den vergangenen Krisen zunächst keine dramatischen Einbrüche bei der Zufriedenheit der Bevölkerung mit der Demokratie gab (Europäische Kommission 2022). Partiell hat sich mangelndes Vertrauen in nationales Entscheidungshandeln der Regierungen auch als abnehmende Demokratiezufriedenheit zu erkennen gegeben – wobei hier Unterschiede von Land zu Land zu erkennen und auf unterschiedliche Faktoren zurückzuführen sind. In den Staaten des europäischen Südens, vor allem in Griechenland, Spanien und Portugal, hatten sich gerade infolge von Euro- und Staatsschuldenkrise und den Stabilisierungsmechanismen von Internationalem Währungsfonds, Europäischer Zentralbank und Europäischer Kommission soziale und ökonomische Verwerfungen gezeigt, die auf Regierungsvertrauen und Demokratiezufriedenheit durchschlugen. In Italien liegen beide Werte traditionell sehr niedrig. In Frankreich wiederum haben sich Regierungsvertrauen und Demokratiezufriedenheit zu einem großen Teil als Ausdruck der Zustimmungsraten zum jeweiligen Präsidenten und dem Protestverhalten auf der Straße – wie bei den Gilets jaunes – denn als unmittelbare Reaktion auf die großen Krisen der letzten Jahrzehnte lesen lassen.

Die Krisen der letzten Jahre haben nicht generell und im gleichen Maße auf die Demokratien und ihre Stabilität durchgeschlagen. Insofern kann der Typus der liberalen und repräsentativen Demokratie dort, wo er bereits unterschiedliche Herausforderungen über eine lange Zeit bewältigt hat, als relativ robust und krisenresistent bezeichnet werden. Zudem zeigt die empirische und vergleichende Krisenforschung, dass es keine allgemein gültigen, überhistorischen Kausalitäten gibt, die das Scheitern oder den Verfall von Demokratien erklären oder die Grenzen ihrer Belastbarkeit erkennen lassen könnten (Przeworski 2020). Wann die uns bekannte, liberal-repräsentative Demokratie in eine Form autokratischer Demokratie abgleitet, in der zwar gewählt wird, aber grundlegende Rechte, die Wahlfreiheit und die Chancengleichheit beschnitten oder abgeschafft worden sind, lässt sich zwar an einigen Indikatoren messen, aber die entscheidenden Kipppunkte bleiben nur in den jeweiligen Kontexten erkenn- und manchmal erst post festum bestimmbar. Warum die Weimarer Republik zerfiel, die Demokratien in anderen Ländern, so etwa in den USA oder Großbritannien, trotz großer wirtschaftlicher Krise und Massenarbeitslosigkeit, Bestand hatten, lässt sich nur mit Blick auf die jeweiligen historischen, soziokulturellen und politischen Rahmenbedingungen erklären und auch bestimmen.Footnote 2 Und auch die Machtergreifung oder der offene Putsch ist nicht die Regel, nur ein Fall unter vielen denk- und beobachtbaren Konstellationen, die Demokratien beseitigen.

2 Autokratischer Umbau der Demokratie

Indes sind gerade in den letzten Jahren zunehmend Strategien von Akteuren zu beobachten, die sich demokratischer Institutionen und Methoden bemächtigen, um die Demokratie von innen her autokratisch zu überformen und auf Dauer umzubauen.Footnote 3 Das kann auf unterschiedliche Weise geschehen, doch sind Muster dieser Form der Machterhaltung zu erkennen: Probates Mittel ist die Veränderung von Wahlgesetzen, der Zuschnitt von Wahlkreisen, die Erschwerung der Wahlbeteiligung sowie die Bestreitung der Legitimität des Wahlvorgangs und des Wahlergebnisses. Was Orbán in Ungarn an elektoralen Umbaumaßnahmen mit dem Ziel, fortan Wahlen nicht mehr verlieren zu können, noch legalistisch zu camouflieren suchte, proklamierte Trump in den USA ganz offen, als er erst zur Manipulation der Zählvorgänge in einzelnen Staaten, dann zum Marsch auf das Kapitol aufrief. Seitdem wächst das Bangen um den Bestand der Demokratie von Wahl zu Wahl, vor allem dann, wenn befürchtet werden muss, dass das Ergebnis der Wahlen von den unterlegenen Kräften nicht anerkannt wird. Mit dem Umsturzszenario des Trumpismus, dem versuchten coup d’état vom 6. Januar 2021, ist der Glaube an die Routinen demokratischen Machtwechsels und damit auch an die Unverbrüchlichkeit demokratischer Ordnungen gerade dort, wo es sich um konsolidierte und krisenerfahrene Demokratien handelt, in den Grundfesten erschüttert worden. Der friedliche Machtwechsel wird seit 1801, seit dem Übergang der Präsidentschaft von Thomas Jefferson zu John Adams in den USA, zu den „conditiones sine quibus non“ jeder sich demokratisch nennenden Ordnung gezählt.

Ein weiteres Element autokratischer Umformung tritt hinzu. Orbáns Rede von der „illiberalen Demokratie“ hat ein Gegenprojekt entstehen lassen, mit dem bekämpft wird, was formative Prinzipien der liberal-repräsentativen, konstitutionellen Demokratie sind: die Gewaltenteilung, die Unabhängigkeit von Justiz und Medien, die Freiheit der Meinungsäußerung, der diskriminierungsfreie Umgang mit Minderheiten und die Anerkennung soziokultureller Vielfalt. Gerade die institutionell unabhängigen Gewalten, die unbeschränkte Macht einhegen und kontrollieren, werden dabei geschliffen. Im Modus der Unmittelbarkeit soll so die Einheit von plebiszitärer Bewegungsdemokratie und Führer etabliert werden. So ist auch das Gefährdungs- und Zerstörungspotential des Trumpismus nur in seiner anti-institutionellen Stoßrichtung richtig zu verstehen. Es führt in Umkehrung von John Adams fundamentaler Bestimmung rechtsstaatlicher Machtbindung, eines goverment of laws, not of men, in letzter Konsequenz zu uneingeschränkter (Willkür‑)Herrschaft des Autokraten.

Auch wenn bislang die Widerstandsfähigkeit der US-amerikanischen Demokratie das Schlimmste zunächst einmal verhindern konnte, führen solche Angriffe auf die institutionelle Infrastruktur der Demokratie zu einem Legitimationsverlust gerade von Institutionen, deren raison d’etre in der Abwehr autokratischer Übergriffe und absoluter Machtansprüche besteht. Liberale Demokratien haben hier über Jahrzehnte durch Mechanismen der Gewaltenteilung hemmende Gegengewichte, nicht zuletzt auch durch Verfassungsgerichte, entwickelt, die nunmehr als „Verfälschung“ eines zur unmittelbaren Verwirklichung drängenden Volkswillens verachtet oder politisch willfährig zu machen versucht werden.

3 Verflüchtigung der politisch-kulturellen Infrastruktur

Ebenfalls muss die politisch-kulturelle Infrastruktur der Demokratie Anlass zur Sorge geben. Damit sind nicht allein die sozialen, ökonomischen und kulturellen Bruchlinien gemeint, die sich in den Krisen besonders deutlich zu erkennen gegeben haben und die vielfach, vor allem in den politischen Diskursen, ein Bild politischer Polarisierung erzeugt haben. Dazu sind sowohl die unterschiedlichen Entwicklungen in urbanen und ländlichen Räumen, die sozioökonomischen Diskrepanzen wie auch die konträren Weltdeutungen von kosmopolitisch-libertären und lokal verwurzelten und traditionsorientierten Milieus zu rechnen. Vor allem aber sind es Transformationen der sozialen Infrastruktur, die die Vermittlungsprozesse der demokratischen Willens- und Entscheidungsprozesse grundlegend verändert haben.

Parteien, Gewerkschaften, Stammtische und Vereine verlieren immer stärker ihren politisch bindenden, organisierenden, aber auch integrierenden Charakter. Damit verliert die Demokratie wichtige soziale, intermediäre, zwischen der politischen und lebensweltlichen Ebene vermittelnde Institutionen. Längst organisieren sich bürgerschaftliche Initiativ- wie politische Protestgruppen vornehmlich außerhalb von Parteien. Mehr noch: Fast scheint es so, als wenn es nur noch Bewegungen vermögen, die politische Agenda zu bestimmen und öffentliche Aufmerksamkeitsräume zu besetzen. Wo das traditionelle Parteiensystem, das sich seit 1945 relativ fest und milieuverankert in christlich-konservative und sozialistisch-sozialdemokratische Lager organisierte, in den letzten Dekaden implodierte, wie es besonders auffällig in Italien in den 1990er-Jahren und zuletzt in Frankreich beobachtbar war, entstanden an ihrer Stelle Bewegungen, die stake Führungsfiguren, so etwa Berlusconi mit Forza Italia oder Macron mit La République en Marche, an die Regierung brachten. Längst hat hier eine schleichende Transformation der liberalen Parteiendemokratie stattgefunden, die auf einer gegen die vermeintlich erschöpften „Altparteien“ gerichteten Bewegungsstruktur mit radikalem Erneuerungsanspruch beruht und dabei eine Hyperpersonalisierung erzeugt hat, die vordem durch institutionelle Parteienbindung eingehegt worden war.

Bewegungsdemokratien aber sind äußerst labil, sie delegitimieren die Verfahren repräsentativer Demokratie, und nur selten lassen sie sich in neue feste Strukturen einer Partei überführen. Und wo sich zwei Bewegungslager gegenüberstehen, wie es beispielsweise im Italien von Beppe Grillos Cinque Stelle einerseits und Matteo Salvinis Lega andererseits der Fall war, scheint es dann nur noch zwei Wege zur Regierungsbildung zu geben: den gouvernementalen Panpopulismus, praktiziert von Giuseppe Conte und Salvini 2018/19, oder die Autorität des unabhängigen Fachmanns, so Romano Prodi, sodann Mario Monti und schließlich Mario Draghi – es sei denn, der kometenhafte Aufstieg einer in faschistischen Traditionen verwurzelten Partei macht neue Koalitionen von rechtspopulistischen und rechtsextremen Kräften möglich, also eine Regierungskonstellation, die die Nachkriegsdemokratien durch institutionelle Vorkehrungen und politisch-kulturelle Rahmungen gerade zu verhindern suchten. In Deutschland scheint sich vorerst noch der repräsentative Demokratiemodus durch eine sich ausdifferenzierende politische Parteienlandschaft gehalten zu haben. Doch sind auch hier die Tendenzen zu einer weiteren (Hyper‑)Personalisierung des politischen Prozesses nicht zu verkennen.

4 Strukturwandel demokratischer Öffentlichkeit

Auch haben die neuen sozialen Medien längst eine grundlegende Transformation der demokratischen Öffentlichkeit bewirkt. War traditionell der öffentliche Meinungs- und Willensbildungsprozess stark von den audiovisuellen und den Printmedien geprägt, so sind seit geraumer Zeit die Formen der Internetkommunikation in den Vordergrund getreten. Diese operiert schneller und vermag anlassbezogen politische Artikulation und Protest zu organisieren und eruptive Aufwallungen politischer Stimmungslagen zu erzeugen. Wo Wut, Zorn und Aggression, Skandalisierung und Verschwörungsdenken, Fake News und durch Algorithmen gesteuerte Trolls das Meinungsbild bestimmen, bringt das digitale Zeitalter einen neuen politischen Typus, den der Empörungs‑, Erregungs- und Stimmungsdemokratie, hervor. So wird – diskursive – Macht erzeugt, die aber keine institutionelle Anbindung an das politische Entscheidungssystem besitzt. Diese situativ-temporären Teilöffentlichkeiten setzen aber die repräsentativen Prozesse unter Zeit‑, Reaktions‑, Entscheidungs- und Legitimationsdruck. Zugleich fehlt es an Foren der Verständigung, des Abgleichs von Präferenzen und Interessen, der Aushandlung des Verallgemeinerbaren. So stoßen Milieus in ihren unterschiedlichen Lebenslagen und Lebensstilen unvermittelter aufeinander, die sich in aufgeheizten gesellschaftlichen Diskursen wechselseitig als Gegner identifizieren. Kämpfe um kulturelle Identitäten machen jedoch die Suche nach politischen Kompromisslösungen, das Alltagsgeschäft repräsentativer Demokratien, zunehmend schwieriger.

Der Krieg in der Ukraine stößt also auf eine ohnehin sich im Umbruch befindliche Demokratie. Die liberal-repräsentative Demokratie, wie sie sich nach 1945 herausgebildet und konsolidiert hatte, ist zu ihrem Ende gekommen. Ihre stabilisierenden Pfeiler, ein in sozialen Milieus verwurzeltes Parteiensystem, ein intermediärer Bereich vermittelnder Assoziationen, eine politische Willens- und Entscheidungsbildung befördernde politische Kommunikationskultur, sind brüchig geworden. Die Einbruchstellen (rechts‑)populistischer Mobilisierungsstrategien werden größer, weil der Prozess repräsentativer Willensbildung auf eine höchst volatile politische Öffentlichkeit stößt. Strukturell verselbständigt sich gleichzeitig das Entscheidungssystem und verliert legitimierende Rückbindung an die demokratische Lebenswelt. Entkoppeltes Regierungshandeln gewinnt dadurch zwar neue Freiräume, vermag womöglich in Krisen- und Kriegszeiten auch schnell und entschieden zu handeln, gerät gleichzeitig aber unter den Bedingungen einer diffusen, unstrukturierten, aber dauerbeobachtenden und gereizt kommentierenden Öffentlichkeit unter permanenten und erhöhten Rechtfertigungs- und Legitimationsdruck. Da in Zeiten von Krisen und Kriegen gleichzeitig das materielle, ideelle und emotionale Sekuritätsbedürfnis von Bürgern und Bürgerinnen wächst, steht demokratische Politik unter dem Damoklesschwert permanenter Überforderung und Erwartungsenttäuschung. Auf den „Wumms“ folgt der „Doppel-Wumms“, in stürmischen Zeiten kann ein „Schutzschirm“ nie groß genug sein.

5 Veränderte Diskurslagen und offene Fragen

Die „Zeitenwende“ verändert auch die Diskurslagen, stellt für gefestigt gehaltene Hintergrundannahmen und Grundorientierungen infrage. Krieg war lange nicht vorstellbar. Das Projekt europäischer Integration, im Westen nach dem Zweiten Weltkrieg initiiert, nach 1990 auf Mitteleuropa erweitert, war nicht nur ein ökonomisches Prosperitätsvorhaben, sondern immer auch der Versuch, Demokratien zu stabilisieren und den Krieg unmöglich werden zu lassen. Das schien auch zu gelingen, die Clausewitzsche Formel, nach der Krieg die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln ist, war für die Staaten der EU gegenstandlos geworden. Dabei geriet außer Blick, dass es an den östlichen Rändern des EU-Raumes und darüber hinaus Bedrohungslagen gab, die sich jetzt, aber auch schon zuvor, dramatisch zuspitzten. Nicht nur der Krieg auf dem Territorium des ehemaligen Jugoslawiens hätte Anlass geben müssen, über die Gefährdungslagen Bescheid wissen zu wollen. Die Kriege in Tschetschenien, die Invasion in Georgien, die Annexion der Krim, die Ausrufung von Volksrepubliken in der Ostukraine, der Einsatz von Vernichtungswaffen in Syrien hätten die Augen öffnen müssen für einen sich an den Rändern der EU entfaltenden neuen, territoriale Souveränität und Völker- und Menschenrecht mit Füßen tretenden Imperialismus. Die gleichzeitig sich vollziehende Systemtransformation innerhalb Russlands, die systematische Verweigerung von Grund- und Menschenrechten, die Ausschaltung der Opposition und die Etablierung von autokratischen, diktatorischen Machtstrukturen, wurde nicht in der gebotenen Klarheit wahrgenommen oder verdrängt.Footnote 4 Die Hoffnung, mit Mitteln multilateraler Verhandlungsdiplomatie und dem Geflecht wechselseitiger ökonomischer Abhängigkeiten befriedend und verändernd wirken zu können, hat in tragischer Weise getrogen.

Was kann die Wissenschaft von der Politik, was kann Demokratieforschung in solch einer Situation leisten? Eine der zentralen Funktionen von Wissenschaft ist die Selbstbeobachtung von Gesellschaften. Wissenschaft wird entscheidend zur Beantwortung der Fragen beitragen müssen, warum die (west‑)europäischen Öffentlichkeiten und Akteure so grundlegenden Fehlannahmen über die jüngsten Entwicklungen erlegen sind. Hat die Annahme eines „Endes der Geschichte“, mit der die Demokratie nach dem Fall des realen Sozialismus unangefochten sei, zu einer diskursiven „Friedensdividende“ verleitet, nicht mehr mit Gewalt und Krieg rechnen zu müssen (obwohl in anderen Regionen der Welt, auch in den südlichen Anrainerstaaten des Mittelmeeres, diese Annahme schon längst dementiert worden war)? Auch die Demokratiewissenschaft wird sich kritisch selbst befragen müssen, ob sie immer die richtigen Fragen gestellt und die Gefährdungen und Bedrohungen freiheitlicher Ordnungen zureichend thematisiert hat.