1 Systematisierung des Forschungsgegenstands

Die mitgliedstaatliche Umsetzung bzw. Befolgung von EU-Recht als Gegenstand politikwissenschaftlicher Forschung lässt sich grundsätzlich an der Schnittstelle von Europäisierungs‑, EU-Implementations- und (EU-)Compliance-Forschung verorten (Toshkov et al. 2010, S. 4; Treib 2014, S. 5). Die jeweiligen (sub-)disziplinären Perspektiven auf den Gegenstand widmen sich dabei unterschiedlichen, aber teils überlappenden Fragestellungen (Abb. 1 und 2).

Abb. 1
figure 1

Zentrale Fragestellungen der Subdisziplinen

Abb. 2
figure 2

Konzeptionelle Abgrenzung von Europäisierung, Implementation und Compliance. Eigene Darstellung in Anlehnung an Treib (2014); Falkner et al. (2005). Die gestrichelten Pfeile zeigen an, dass nicht immer eine direkte Verbindung vorliegt, siehe Brendler (2022a). Der gestrichelte Rahmen um ‚Europäisierung‘ illustriert die Vielschichtigkeit und Offenheit von Europäisierungsprozessen, welche nicht ausschließlich auf Implementation und Compliance im eigentlichen Sinne beruhen müssen, siehe z. B. Knill und Lehmkuhl (2000)

So steht bei der Europäisierungsforschung insbesondere die Anpassung der EU-Mitgliedstaaten an die europäische Ebene im Zentrum, was mit einer eher übergreifenden, langfristigeren Perspektive auf Entwicklungen und den Wandel in den Mitgliedstaaten bzw. Wechselwirkungen zwischen europäischer und nationaler Ebene einhergeht. Die EU-Implementationsforschung fokussiert hingegen speziell auf den Prozess der EU-Rechtsumsetzung, d. h. die jeweiligen nationalen Reaktionen auf einen konkreten EU-Rechtsakt, in der Regel EU-Richtlinien. Dies kann in Verbindung mit Compliance, aber auch davon unabhängig betrachtet werden (Thomann 2015, 2019; Thomann und Zhelyazkova 2017). Bei der EU-Compliance-Forschung geht es schließlich primär um das Ergebnis der Implementation, vor allem die Frage nach Compliance vs. Non-Compliance, also der letztendlichen EU-Rechtskonformität der nationalen Ebene gegenüber europäischen Vorgaben. Dabei werden in Anlehnung an die IB-Compliance-Forschung häufig auch die Möglichkeiten und Strategien von Internationalen Organisationen bzw. supranationalen Akteuren – im EU-Kontext ist dies speziell die Europäische Kommission – beleuchtet, auf Fälle von Non-Compliance zu reagieren und mitgliedstaatliche Compliance wiederherzustellen.

Während diese verschiedenen Subdisziplinen der Europäischen Integrationsforschung im Grunde auf unterschiedlichen Ebenen platziert sind und genaugenommen auch unterschiedliche Forschungsinteressen verfolgen (Abb. 1), eint sie dennoch die Frage, wie Mitgliedstaaten auf EU-Policies reagieren. Für das Verständnis mitgliedstaatlicher EU-Rechtsumsetzung bzw. -befolgung ist es insofern sinnvoll, die unterschiedlichen Herangehensweisen, Konzepte und Erklärungsansätze zu berücksichtigen, die die einzelnen Subdisziplinen anbieten. Für Forschende ergibt sich jedoch zugleich die Herausforderung, konzeptionelle Trennschärfe herzustellen, insbesondere was die Definition und Messung der abhängigen Variable (y) betrifft.

Mit dieser Literature Review werden vor allem zwei Ziele verfolgt: Erstens soll ein Überblick über die genannten Forschungsfelder und ihres jeweiligen Beitrags zum Verständnis des Forschungsgegenstands dazu anregen, verschiedene Forschungsperspektiven in Zukunft stärker ‚mitzudenken‘, aber auch künftige Forschungsarbeiten deutlicher abzugrenzen bzw. im Gesamtfeld zu verorten. Zweitens sollen konzeptionelle und methodische Fallstricke aufgezeigt werden, die in der bisherigen Forschung zutage getreten sind. Dabei geht es insbesondere darum, bestehende ‚konzeptionelle Missverständnisse‘ und ‚empirische Fehlinterpretationen‘ konstruktiv aufzulösen.

2 Europäisierungsforschung

Beginnend mit der Europäisierungsforschung werden im Folgenden zwei grundlegende Konzepte zum Verhältnis von europäischer und nationaler Ebene diskutiert, die in der EU-Implementations- und EU-Compliance-Forschung aufgegriffen und empirisch weiterverfolgt wurden: uploading und misfit.

Grundsätzlich bezeichnet der Begriff der Europäisierung den Einfluss, der von europäischen Entscheidungen auf die mitgliedstaatliche Ebene ausgeht (Héritier 2001, S. 3).Footnote 1 Dieser kann sich auf das nationale Policymaking, damit verbundene Entscheidungsprozesse und den schlussendlichen Policy-Output beziehen, kann zugleich aber auch breitere Entwicklungen umfassen, etwa die Veränderung von nationalen Interessenkonstellationen und Machtverhältnissen oder einen Wandel institutioneller Arrangements, z. B. politischer und administrativer Strukturen (Héritier 2001; Knill und Lehmkuhl 2000). Für die Europäisierungsforschung ist von besonderem Interesse, wie EU-Mitgliedstaaten auf EU-Anpassungsdruck reagieren und welche Veränderungsprozesse dabei angestoßen werden (Featherstone und Radaelli 2003; Exadaktylos und Radaelli 2015; Green Cowles et al. 2001). Wichtig ist, dass nicht nur einseitige Veränderungsimpulse von der EU-Ebene an die Mitgliedstaaten ergehen – vielmehr ist das europäische Mehrebenensystem von zahlreichen Wechselwirkungen gekennzeichnet. Hier setzt auch das Konzept des uploading an.

2.1 Uploading nationaler Modelle auf die EU-Ebene

Während auf der EU-Ebene Policies ergehen, die sich an die Mitgliedstaaten richten (top-down), richten die EU-Mitgliedstaaten ihrerseits Policy-Erwartungen und eigene Modelle an die EU-Ebene (bottom-up) (Börzel 2002, S. 193). Anknüpfend an die intergouvernementalistische Perspektive, bei der die Verhandlung zwischen den Mitgliedstaaten im Zentrum der Europäischen Integration gesehen wird (Moravcsik 1991, 1993), wird beim Konzept des uploading angenommen, dass die Mitgliedstaaten aktiv darum bemüht sind, ihre eigenen Policies bzw. nationalen Modelle auf die EU-Ebene ‚hochzuladen‘ und gegenüber konkurrierenden Modellen anderer Länder durchzusetzen. Für die mitgliedstaatliche Anpassung an EU-Policies ergibt sich daraus die Erwartung, dass Mitgliedstaaten insbesondere diejenigen EU-Policies akzeptieren und angemessen umsetzen (downloading), die ihre vorherigen uploading-Bemühungen widerspiegeln, d. h. den eigenen mitgliedstaatlichen Präferenzen entsprechen (Börzel 2000, 2002; Héritier 1995). Müsse ein Mitgliedstaat hingegen einer EU-Policy Folge leisten, die stark von seiner Verhandlungsposition abweicht, sei bei der Umsetzung Widerstand zu erwarten – kurz als opposition through the back door bezeichnet (Falkner et al. 2004; Thomson 2010). Mitgliedstaaten würden folglich versuchen, unerwünschte Konsequenzen einer gescheiterten Verhandlungsphase durch Nachlässigkeit in der Umsetzungsphase zu negieren.

Empirisch konnte dieses Phänomen beispielsweise von Zhelyazkova (2013) bestätigt werden, die in ihrer Untersuchung von 15 EU-Mitgliedstaaten einen deutlichen Zusammenhang zwischen den mitgliedstaatlichen Positionen während des EU-Policymaking und der anschließenden Implementation nachweist. Zu einem anderen Ergebnis kommt jedoch Pircher (2017, 2015), die in ihrer Untersuchung des österreichischen Abstimmungsverhaltens auf EU-Ebene sowie der anschließenden Implementation nur wenige Fälle von opposition through the back door bestätigen kann und insgesamt feststellt, dass andere, insbesondere innerstaatliche Faktoren für die Implementation entscheidender waren (ähnlich bei Falkner et al. 2005). Das Konzept des uploading kann die mitgliedstaatliche Implementation somit in einigen, aber nicht in allen Fällen erklären. Es liegt folglich nahe, dass es neben der mitgliedstaatlichen Verhandlungsposition noch weitere, differenzierende Faktoren geben muss, die sich auf die Umsetzung von EU-Policies auswirken.

2.2 Downloading europäischer Regelungen auf die nationale Ebene

Als Gegenstück des uploading-Konzepts kann das Konzept des misfit betrachtet werden, welches insbesondere beim downloading europäischer Regelungen auf die nationale Ebene zum Tragen kommt. Hierbei geht es speziell um den Grad der Diskrepanz (misfit) zwischen dem nationalen Status quo und den Erfordernissen einer EU-Policy. Dabei kann uploading eine bewusste Strategie sein, den erwarteten misfit möglichst gering zu halten (Börzel und Risse 2003, S. 62). Allerdings kann sich ein für die Umsetzung relevanter misfit potenziell auf unterschiedlichen Ebenen manifestieren. Im Vergleich zur jeweils destillierten Verhandlungsposition eines Mitgliedstaates kann ein misfit somit zugleich subtiler als auch fundamentaler sein (siehe auch Abschn. 3.2).

Deutlich wird dies vor allem am Begriff bzw. Konzept des institutional misfit. Zentral ist hierbei die Frage, inwiefern sich die Erfordernisse einer EU-Policy im Konflikt mit bestehenden nationalen institutionellen Arrangements befinden (Duina 1997; Knill und Lenschow 1998; van Waarden 1995). Dies ist im Übrigen zunächst unabhängig von der Frage, inwieweit sich europäische und nationale Policy-Präferenzen decken (Knill und Lehmkuhl 2000). Trotz einer Übereinstimmung von Policy-Präferenzen könnte es demnach aufgrund institutioneller Hürden zu Umsetzungsproblemen kommen. Die Idee des institutional misfit bietet insofern eine Ergänzung der intergouvernementalistischen Perspektive (uploading), als dass neben den mitgliedstaatlichen politischen Präferenzen und daraus resultierenden Verhandlungspositionen auch die jeweiligen nationalen institutionellen Arrangements als Ursachen möglicher Anpassungsprobleme in Frage kommen (Exadaktylos und Radaelli 2015, S. 208).

Die Bedeutung, die Institutionen dabei beigemessen wird, ergibt sich aus der Tradition des (Neo‑)Institutionalismus und der Annahme, dass Institutionen politische Prozesse entscheidend (vor‑)strukturieren und damit wesentliche Rahmenbedingungen schaffen, innerhalb derer Politik gestaltet wird (March und Olsen 1989). Politische Institutionen sind demnach nicht nur Arenen, innerhalb derer sich politische Prozesse abspielen; sie stellen, je nachdem welche Strömung des Neo-Institutionalismus zugrunde gelegt wird, auch Manifestationen historisch gewachsener Machtverhältnisse (historischer Institutionalismus), kollektiver Wahrnehmungen, Werte und Normen (soziologischer Institutionalismus) bzw. bestehender Handlungsspielräume und Regeln sozialer Interaktion (Rational-Choice-Institutionalismus) dar (Hall und Taylor 1996). Wesentlich ist dabei ihre relative Stabilität:

„Institutions preserve themselves, partly by being resistant to many forms of change, partly by developing their own criteria of appropriateness and success, resource distributions, and constitutional rules“ (March und Olsen 1989, S. 55).

Bei einem misfit zwischen EU-Vorgaben und nationaler Ebene liegt somit ein mitunter beträchtliches Implementationshemmnis vor. Allerdings kommt hierbei, speziell aus Perspektive der Europäisierungsforschung, eine weitere konzeptionelle Differenzierung ins Spiel, nämlich der Grad des misfit. So wird angenommen, dass ein gewisser Grad an misfit sogar nötig sei, um Europäisierungsprozesse auf nationaler Ebene anzustoßen – andernfalls fehle schlichtweg der Impetus für eine Veränderung (Börzel und Risse 2000, 2003; Knill und Lehmkuhl 2000). Nationale Persistenz wird hier eher negativ gedeutet, doch aus Compliance-Perspektive, wo statt nationalem Wandel die (schlussendliche) Befolgung von EU-Recht im Zentrum steht, kann auch eine persistent compliance vorkommen, sofern sich nationale Policies (ohnehin) bereits im Einklang mit europäischen Vorgaben befinden und insofern ein Wandel gar nicht nötig ist (Brendler 2022a). Am misfit-Konzept wird insofern gut deutlich, wie es zu konzeptionellen Missverständnissen kommen kann – die Einordnung und Bewertung einer x‑Variable kann, je nachdem, welche y‑Variable primär betrachtet wird (z. B. nationaler Wandel vs. EU-Rechtskonformität), sehr unterschiedlich ausfallen und daher bei verkürzter Betrachtung u. U. den Eindruck erwecken, der Einfluss einer Variable sei generell widerlegt.

3 EU-Implementationsforschung

Während die Europäisierungsforschung prinzipiell eine Bandbreite von Fragestellungen im Zusammenhang mit dem Einfluss Europas auf die Mitgliedstaaten abdeckt, stellt die EU-Implementationsforschung ein enger begrenztes Forschungsfeld dar. Hier bezieht sich das Forschungsinteresse speziell darauf, Einflussfaktoren auf die mitgliedstaatliche Umsetzung von EU-Recht zu identifizieren und somit die beobachtete zwischenstaatliche und innerstaatliche Varianz zu erklären. Oftmals bildet die Verabschiedung einer EU-Policy dabei den Ausgangspunkt der Untersuchung, sodass häufig eine top-down-Perspektive eingenommen wird, mit der sich die EU-Implementationsforschung auch an die Tradition der nationalen Implementationsforschung anschließt (Van Meter und Van Horn 1975, S. 448; Knill und Tosun 2012, S. 152).

Innerhalb der EU-Implementationsforschung haben sich unterschiedliche Strömungen herausgebildet, bei denen jeweils ein bestimmter Erklärungsansatz im Zentrum steht. Insbesondere lassen sich (1) eine verwaltungs- oder effizienzzentrierte, (2) eine institutionenzentrierte und (3) eine akteurszentrierte Perspektive unterscheiden, die im Folgenden jeweils knapp diskutiert werden.

3.1 Verwaltungs- bzw. effizienzzentrierte Erklärungsansätze

Administrative und rechtliche Variablen können sowohl auf europäischer als auch auf nationaler Ebene unterschiedlich günstige Voraussetzungen für die Implementation schaffen (Ciavarini Azzi 2000). Einhergehend mit einer eher technokratischen Perspektive steht hierbei primär die Effizienz europäischer Regelsetzung einerseits und nationaler Systeme andererseits im Zentrum.

Mit Blick auf die EU-Ebene ergeben sich aus den jeweiligen Steuerungszielen und -ansätzen sowie der konkreten Policy-Ausgestaltung unterschiedliche Herausforderungen für die Implementation. Eine erste Weichenstellung ergibt sich durch das zugrundeliegende Steuerungsziel bzw. den Integrationsanspruch: Dabei kann es z. B. darum gehen, ob lediglich bestimmte Standards in nationales Recht überführt werden sollen oder aber zur Verwirklichung eines gemeinsamen europäischen Modells neue, potenziell kostspielige nationale Strukturen etabliert werden müssen (Ciavarini Azzi 2000). Bei der weiteren Ausgestaltung einer EU-Policy ist sodann zu entscheiden, wie viel Flexibilität den Mitgliedstaaten bei der Verfolgung europäischer Steuerungsziele gewährt wird. Aufbauend auf den Vorschlägen der Europäischen Kommission können hier seitens des Europäischen Parlaments sowie des Rates, d. h. durch die Mitgliedstaaten, spezifische Maßgaben ergänzt oder aber allgemeinere Formulierungen gewählt werden, um die erforderlichen nationalen Anpassungsleistungen gering zu halten. Grundsätzlich ist aus der nationalen Implementationsforschung bereits bekannt, dass die Policy-Implementation im Mehrebenensystem mitunter eine Verschiebung der ursprünglichen Vorgaben mit sich bringt: Zentral beschlossene Policies durchlaufen im Zuge der Implementation eine Vielzahl weiterer Entscheidungen und Verhandlungen auf untergelagerten Ebenen, was jedes Mal das Risiko einer Abweichung erhöht (Pressman und Wildavsky 1973). Bezogen auf EU-Policies liegt zunächst der Schluss nahe, dass diese möglichst konkret und detailliert formuliert sein sollten, um mitgliedstaatliches Abweichen zu verhindern. Es zeigte sich jedoch, dass Richtlinien mit einem hohen Grad an Detailliertheit und Komplexität die nationale Umsetzung eher erschwerten (van den Bossche 1996; Dimitrakopoulos 2001; Schwarze et al. 1993; Zhelyazkova 2012). Hierbei sind zwei Punkte bedenkenswert. Zum einen verlangen rechtlich komplizierte Vorgaben nationalen Systemen ein hohes Maß an administrativen Ressourcen ab – welche nicht in jedem Mitgliedstaat gleichermaßen bereitstehen; zum anderen trifft eine EU-Richtlinie darüber hinaus auf teils sehr unterschiedliche nationale Kontexte, sodass eine sorgfältige Einbettung europäischer Regelungen in nationale Regelwerke und Praktiken essentiell ist, um ihre (tatsächliche bzw. praktische) Umsetzung zu gewährleisten (Falkner et al. 2005; Falkner und Treib 2008). Flexibilität könnte somit letztlich doch Vorteile haben – dies betonen insbesondere auch Verfechter einer experimentalist governance (u. a. Sabel und Zeitlin 2008, 2012; Rangoni und Zeitlin 2020; Zeitlin 2016).

Empirisch wurde einerseits festgestellt, dass ein hoher Ermessensspielraum (discretion) die mitgliedstaatliche Implementation deutlich verzögerte (Steunenberg und Toshkov 2009; Thomson et al. 2007; Kaeding 2008). Andererseits beobachten Zhelyazkova und Torenvlied (2011), dass die Korrektheit der Transposition besser ausfiel, da die Mitgliedstaaten eher in der Lage waren, EU-Policies an den nationalen Kontext anzupassen und bestehende Diskrepanzen zu überwinden (siehe auch Kaya 2018). Zhelyazkova (2012) folgert in diesem Zusammenhang, dass sich ein erhöhter Ermessensspielraum bzw. Flexibilität auf verschiedene Aspekte der Implementation und entsprechende Compliance-Probleme unterschiedlich auswirke: negativ auf eine fristgerechte, aber positiv auf eine korrekte Transposition (Zhelyazkova 2012, S. 148). Einmal mehr zeigt sich also, dass die Definition und Messung der y‑Variable (z. B. Einhaltung der Umsetzungsfrist vs. finale EU-Rechtskonformität) unterschiedliche Rückschlüsse auf die Einflussrichtung und -stärke einer x‑Variable nach sich ziehen kann.

Auf nationaler Ebene kristallisierte sich die Effizienz nationaler Systeme, etwa gut funktionierende Bürokratien, als notwendige Bedingung für eine gelungene Implementation heraus (Berglund et al. 2006; Zubek und Staronova 2010; Siedentopf und Ziller 1988; Schwarze et al. 1993; Dimitrova und Steunenberg 2017; Mbaye 2001; Haverland und Romeijn 2007). Obwohl notwendig, ist administrative Effizienz allerdings noch nicht hinreichend für eine erfolgreiche Umsetzung (Toshkov et al. 2010). So stellen Dimitrova und Toshkov (2009) fest, dass administrative Effizienz dann irrelevant werde, wenn eine EU-Policy auf nationaler Ebene eine hohe Salienz erreiche und daraus politische Konflikte entsprängen. Überdies empfehlen Vasev und Vrangbæk (2014), nicht nur die aggregierten nationalen administrativen Kapazitäten heranzuziehen, sondern vorhandene Ressourcen auch politikfeldspezifisch zu betrachten. Hier komme allerdings mitunter eine (gegenläufige) politische Komponente zum Tragen, denn gerade diejenigen Sektoren, die im nationalen Vergleich gut aufgestellt seien, würden eher gegen einen europäischen Zugriff verteidigt (Vasev und Vrangbæk 2014). Insofern können auch politikfeldspezifische Besonderheiten dafür sorgen, dass der Einfluss bestimmter Variablen unterschiedlich ausfällt.

3.2 Institutionenzentrierte Erklärungsansätze

Eine weitere Strömung bei der Erforschung mitgliedstaatlicher Implementation richtet sich besonders auf das bereits angesprochene misfit-Konzept, d. h. die Kompatibilität von europäischen Vorgaben und nationalen Arrangements. Bereits innerhalb der nationalen Implementationsforschung wurde der erforderliche Grad an Veränderung gegenüber dem Status quo als möglicher Einflussfaktor auf die Implementation diskutiert, wobei eine grundsätzlich lineare Beziehung angenommen wurde, d. h. eine erfolgreiche Implementation sei dann am wahrscheinlichsten, wenn eine Policy nur einen geringen Grad an Wandel erfordere (Van Meter und Van Horn 1975; Sabatier 1986).

Innerhalb der europäischen Implementationsforschung wurde das Phänomen des misfit und speziell die Problematik der damit verbundenen Anpassungshürden unterschiedlich konzipiert und erklärt (Mastenbroek 2005; Börzel und Risse 2000, 2003): So stehen in der Tradition des Rational-Choice-Institutionalismus vor allem die tatsächlichen Adaptionskosten im Fokus (Kostenhypothese), während in der Tradition des soziologischen Institutionalismus eher die normativen Hürden betont werden.

In einer Meta-Analyse konnten insgesamt vier verschiedene Arten von misfit unterschieden werden, die in der Literatur beleuchtet wurden: So wird neben einem institutional misfit auch von policy misfit, legal misfit und normative misfit gesprochen (Toshkov et al. 2010). Obgleich diese Aspekte jeweils auch unter einem breiten Institutionenbegriff subsumiert werden könnten, steht in den jeweiligen empirischen Arbeiten dazu stets ein bestimmter Teilaspekt im Zentrum. Eine historisch fundierte Lesart des institutional misfit rekurriert insbesondere auf das Konzept unterschiedlicher nationaler Regulierungsstile, welche im Grunde bis zur Herausbildung der Nationalstaaten zurückreichen würden (Richardson 1982; van Waarden 1993, 1995). Dabei hätten sich unterschiedliche nationale Traditionen, darunter Konzepte staatlicher Intervention und gesellschaftlicher Ordnung, sowie Präferenzen mit Blick auf Problemdefinitionen und Lösungsansätze verfestigt. In Anlehnung an den historischen Neo-Institutionalismus kann auch von historisch gewachsenen Pfadabhängigkeiten gesprochen werden (Hall und Taylor 1996). Ein nationaler Regulierungsstil kann somit als Aggregat historisch gewachsener Traditionen und Präferenzen verstanden werden, bezogen insbesondere auf (a) das Verhältnis von Staat und Gesellschaft, (b) die Ausgestaltung regulativer Interventionen und (c) den Umgang mit Recht (van Waarden 1993, 1995; siehe auch Bailey 2002; Duina 1997, 1999). Zugleich kann es politikfeldspezifische Besonderheiten geben, die mitunter abweichende sektorale Regulierungsstile mit sich bringen (Brendler 2022a). Um die Kompatibilität von europäischen Vorgaben und nationalen institutionellen Arrangements adäquat zu beurteilen, sollten prinzipiell mehrere Aspekte in Betracht gezogen werden (Brendler 2022a, S. 61 ff.):

  • eine quantitative Dimension, bei der die Anzahl der institutionellen Hürden beurteilt wird, sprich der Abweichungen zwischen den auf nationaler Ebene beobachteten Ausprägungen eines Regulierungsstils und den Vorgaben der EU-Policy;

  • eine qualitative Dimension, speziell der Grad der Verankerung der institutionellen Hürden, insbesondere (Knill und Lenschow 1998; Krasner 1988):

    • vertical depth, d. h. inwieweit stellten die identifizierten Abweichungen kognitive und normative Bezugsrahmen für die nationalen Akteure dar,

    • und horizontal linkage, d. h. waren die identifizierten Abweichungen z. B. politikfeldübergreifend/sektoral/nur in einem Subfeld des Sektors zu beobachten;

  • eine dynamische Dimension, d. h. inwiefern gab es auf nationaler Ebene bereits eine Veränderung oder Verschiebung institutioneller Arrangements (Knill und Lenschow 1998).

Ein policy misfit kann sich ebenfalls auf Regulierungstraditionen beziehen, dabei aber auch auf spezifische Policy-Inhalte abzielen. So unterscheidet Börzel (2000) am Beispiel der Umweltpolitik drei Ebenen von policy misfit – den zugrundeliegenden Problemlösungsansatz, die gewählten Instrumente und die gesetzten Standards:

Problem-solving approach refers to the general understanding of an administration on how to tackle the problems of environmental pollution. Policy instruments are the ‚techniques‘ applied to reach a policy goal by inducing certain behaviour in actors. Policy standards are guiding values set by a policy“ (Börzel 2000, S. 161).

Im Prinzip könnten diese Ebenen auch als Komponenten eines bestimmten Regulierungsstils gefasst werden (van Waarden 1995). Je nach Forschungsinteresse und -gegenstand kann es aber einen zusätzlichen Erkenntnisgewinn bringen, nicht nur das Wie der Regulierung (institutionelle Arrangements), sondern speziell auch das Was (Policy-Inhalte) zu vergleichen, etwa das Regulierungsniveau (restrictiveness) und die Regulierungsdichte (density) (Zhelyazkova und Thomann 2021).

Beim legal misfit stehen vor allem rechtliche Aspekte im Vordergrund, z. B. Besonderheiten nationaler Rechtsysteme oder konkurrierende Rechtsnormen, die eine EU-Anpassung blockieren (Steunenberg und Toshkov 2009). So identifizieren beispielsweise Laffan und O’Mahony (2004) die durch das irische Verfassungsgericht garantierten großzügigen Landrechte von Grundbesitzern als zentrale Hürde für die Umsetzung der europäischen Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie (92/43/EWG). Allerdings war gleichzeitig auch eine starke nationale Interessenkoalition gegen die EU-Richtlinie entstanden, sodass hier ein weiterer, akteurbezogener Einflussfaktor vorlag.

In der Tradition des soziologischen Institutionalismus geht es beim normative misfit um die Werte und Normen, die von einer bestimmten EU-Policy tangiert werden. Umsetzungsprobleme könnten demnach aus Normkonflikten resultieren, die zwischen einer EU-Policy sowie nationalen Normverständnissen, Identitäten u. ä. bestehen. Dimitrova und Rhinard (2005) illustrieren dies mit Bezug auf Finnemore und Sikkinks (1998) Definition von Normen am Beispiel zweier EU-Richtlinien, der Antirassismusrichtlinie (2000/43/EG) und der Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie (2000/78/EG), die in der Slowakei erhebliche Implementationsprobleme auslösten. Streitpunkte innerhalb der nationalen Policy-Arena waren insbesondere der rechtliche Umgang mit Homosexualität sowie die positive Diskriminierung (ethnischer) Minderheiten. Allerdings könnte der dabei diagnostizierte normative misfit auch als Produkt (parteipolitischer) Policy-Präferenzen konzipiert werden, da der entsprechende Widerstand insbesondere aus christdemokratischer Richtung kam – insofern könnte beim normative misfit u. U. sowohl eine institutionen- als auch eine akteurszentrierte Lesart in Frage kommen.

Wie sich anhand der diskutierten empirischen Beispiele abzeichnet, können die jeweilige innerstaatliche Interessenkonstellation bzw. die Policy-Präferenzen nationaler Akteure als weitere Variablen hinzukommen, die beispielsweise als moderierende Variablen den Effekt eines misfit oder aber in direkter Weise die Implementation einer EU-Policy beeinflussen. So seien nationale politische und/oder gesellschaftliche Akteure (z. B. Regierungen, Parteien, Verbände und sonstige Interessengruppen) mit ‚vorteilhaften‘ Präferenzen gegenüber einer EU-Policy mitunter in der Lage, einen misfit ‚aufzubrechen‘ (Börzel 2000; Haverland 2000, 2003). Vor allem im Zusammenspiel mit supranationalem Druck seitens der Europäischen Kommission könnten Mitgliedstaaten somit (doch) zur Umsetzung von EU-Vorgaben bewegt werden (pull-and-push model, siehe Börzel 2000; ähnlich bei van der Vleuten 2005). Obgleich somit auch akteurbezogene Variablen in einen misfit-orientierten Erklärungsansatz prinzipiell integrierbar sind, verbleibt als zentrale Charakteristik eines institutionenzentrierten Ansatzes dennoch die Annahme institutioneller Trägheit und eines damit verbundenen (initialen) Widerstands gegen eine EU-Anpassung.

3.3 Akteurszentrierte Erklärungsansätze

Bei einer akteurszentrierten Perspektive stehen hingegen die Policy-Präferenzen nationaler Akteure im Vordergrund, wobei angenommen wird, dass die Implementation von EU-Policies in ähnlicher Weise politisiert sei wie das nationale Policymaking (Toshkov et al. 2010; siehe auch Kaya 2018). Bei einer akteurszentrierten Erklärung mitgliedstaatlicher EU-Rechtsumsetzung geht es folglich weniger um den Grad des erforderlichen Wandels, sondern vielmehr darum, ob dieser von nationalen Akteuren begrüßt und vorangetrieben werde. Eine besondere Bedeutung komme unter den politischen Akteuren dabei nationalen Regierungen zu:

„[…] Regierungen [agieren] bei der Umsetzung nicht lediglich als Verteidiger des nationalen Status quo […], sondern [beurteilen] europäische Vorgaben (auch) im Lichte ihrer parteipolitisch definierten Präferenzen […]. Auf diese Weise können selbst weit reichende Reformerfordernisse ohne größere Probleme erfüllt werden, wenn sie mit den parteipolitischen Zielen der jeweiligen Regierung im Einklang stehen. Umgekehrt sind auch relativ geringfügige Anpassungen zum Scheitern verurteilt, wenn sie von der Regierung aus parteipolitischen Gründen abgelehnt werden“ (Treib 2003, S. 509).

Beispielsweise illustriert die Arbeit Haverlands (2000), dass eine EU-Anpassung auch angesichts von hohem institutional misfit, dabei auch noch gesellschaftlichem Widerstand, geleistet werden kann, sofern eine Regierung willens sei, von bisherigen Traditionen abzuweichen und sich an europäischen Vorgaben zu orientieren. Treib (2003, 2008) betont indes vor allem die parteipolitische Komponente von (Regierungs‑)Präferenzen (siehe auch Spendzharova und Versluis 2013 zur Regierungsbeteiligung grüner Parteien). So führten z. B. bei der Umsetzung der Antirassismusrichtlinie (2000/43/EG) in Deutschland parteipolitische Konflikte innerhalb der Regierung wiederholt zu Verzögerungen; zugleich versuchten die Oppositionsparteien über den Weg des Bundesrates, ihre Policy-Präferenzen durchzusetzen und „eine unliebsame Überimplementation der EU-Vorgaben zu verhindern“ (Treib 2008, S. 206; siehe auch Dimitrova und Rhinard 2005). Dabei kann wiederum der institutionelle Kontext darüber entscheiden, inwiefern es Gegnern einer EU-Policy gelingt, sich tatsächlich durchzusetzen, indem sie etwa an einem Vetopunkt ansetzen (Haverland 2000; Kaeding 2006, 2008; Steunenberg 2007). Somit entfaltet sich der Einfluss (bestimmter) nationaler Policy-Akteure u. U. erst unter der Bedingung eines institutionellen Gelegenheitsfensters.

Neben staatlichen Akteuren haben auch gesellschaftliche Akteure mitunter einen wesentlichen Einfluss auf die EU-Implementation, indem sie etwa ihre Unterstützung signalisieren und die Implementation dadurch mitvorantreiben oder widerständige Regierungen unter Druck setzen, europäischen Vorgaben (endlich) nachzukommen (Börzel 2000; Thomson et al. 2019). Allerdings ist die Mobilisierung zivilgesellschaftlicher Akteure nicht als Panazee zu verstehen, denn diese kann sich auch gegen eine EU-Policy richten (Schrama und Zhelyazkova 2018). Daher wird gerade innerhalb der Europäisierungsforschung betont, dass EU-Policies in unterschiedlicher Weise in nationale Machtverhältnisse eingreifen, d. h. bestimmte Akteure stärken und andere benachteiligen können; daraus resultierende Verschiebungen politischer und gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse können sich dabei im Sinne einer EU-Anpassung auswirken, aber auch eine neue Dynamik in die Gegenrichtung auslösen (Börzel und Risse 2000; Héritier et al. 2001; Knill und Lehmkuhl 2000, 2002, 2004).

Ähnlich kann die Salienz einer Policy prinzipiell in beide Richtungen wirken: Im positiven Sinne kann eine hohe Salienz bedeuten, dass die jeweilige Thematik (z. B. Umweltschutz) und damit die Umsetzung der entsprechenden EU-Policy für nationale Policy-Akteure einen hohen Stellenwert hat (Spendzharova und Versluis 2013). Im negativen Sinne kann eine hohe Salienz allerdings auch auf ein hohes Konfliktniveau hindeuten, was die EU-Rechtsumsetzung u. U. verzögert (Dimitrova und Toshkov 2009; Vasev und Vrangbæk 2014). Darüber hinaus können sich auch andere politische Faktoren, die nicht direkt mit einer spezifischen EU-Policy verbunden sind, auf die EU-Implementation auswirken. So gilt eine pro-europäische Einstellung nationaler politischer Akteure grundsätzlich als hilfreich bei der EU-Rechtsumsetzung (Toshkov 2008; Bayram 2017). Dagegen ist ein hohes innerstaatliches Konfliktniveau – welches keinerlei EU-Bezug haben muss – generell als ungünstig zu beurteilen: Politische Konflikte erschweren tendenziell eine Kompromissfindung, die u. U. für die Implementation vonnöten wäre (Bähr 2006; Steunenberg 2007; Treib 2008). Zusätzlich können z. B. vorgezogene Wahlen die EU-Implementation verzögern bzw. den Stellenwert von EU-Compliance (zeitweise) minimieren (Brendler 2022a; Pircher 2015, 2017). Insofern enthält die nationale Policy-Arena eine Fülle potenzieller Einflussfaktoren; diese können sich auf die Präferenzen nationaler Akteure gegenüber einer bestimmten EU-Vorgabe beziehen oder aber als politische Kontextfaktoren in Erscheinung treten.

3.4 Integrative Ansätze

Neben dem bisher dargestellten Fokus auf bestimmte Variablencluster gibt es auch Versuche, verschiedene Erklärungsansätze für die Varianz mitgliedstaatlicher Umsetzung in einem Modell zu integrieren. Zum Beispiel ist hier das Modell der Europäisierungsmechanismen von Knill und Lehmkuhl (2000, 2002) zu nennen, das in einem zweistufigen Ansatz zunächst den institutional misfit und dann die nationale Interessenkonstellation zur Erklärung mitgliedstaatlicher Reaktionsmuster auf EU-Anpassungsdruck heranzieht. Damit vereinen die Autoren folglich einen institutionen- mit einem akteurszentrierten Ansatz. Zusätzlich nehmen sie eine konzeptionelle Differenzierung vor, bei der sie unterschiedliche Arten von EU-Vorgaben bzw. Europäisierungsmechanismen abgrenzen – so kämen, je nachdem, welche Vorgaben eine EU-Policy mache, auf nationaler Ebene unterschiedliche Einflussfaktoren mehr oder weniger zum Tragen.

Auch die Worlds of Compliance-Typologie von Falkner et al. (u. a. 2005; siehe auch Falkner und Treib 2008; Hartlapp und Leiber 2010) leistet eine theoretische Integration bei konzeptioneller Differenzierung. So werden EU-Mitgliedstaaten in Ländercluster unterteilt, in denen jeweils unterschiedliche Kulturen und Regeln der EU-Rechtsbefolgung gelten würden (siehe auch Sverdrup 2004) – entsprechend seien auch administrative Kapazitäten, misfit und die Präferenzen nationaler politischer Akteure, je nach Ländercluster bzw. World of Compliance, von unterschiedlicher Relevanz bei der Umsetzung von EU-Vorgaben. Zusätzlich betonen Falkner et al. den Unterschied zwischen rechtlicher Transposition und praktischer Umsetzung (siehe auch Abb. 2), da je nach Implementationsphase andere Variablen von Bedeutung seien.

Börzel (2021) vereint mit Blick auf die Ursachen mitgliedstaatlicher Non-Compliance power, capacity und politicization im sog. PCP-Modell, wobei sie nicht nur die mitgliedstaatliche Implementation an sich, sondern auch die vorgelagerte Phase des EU-Policymaking und die nachgelagerte Phase des EU-Enforcement (siehe Abschn. 4) betrachtet. Damit integriert sie verschiedene Ansätze aus der Europäisierungs-, der EU-Implementations- und der Compliance-Forschung. Zudem betont Börzel (2021) sektorale Unterschiede, etwa systematisch höhere Non-Compliance in bestimmten Politikbereichen, sowie verschiedene Charakteristika von EU-Policies (z. B. Regulierungslogik, Komplexität) als relevante x‑Variablen für EU-Compliance.

4 EU-Compliance-Forschung

Die mitgliedstaatliche Befolgung internationalen Rechts ist zudem Gegenstand der EU-Compliance-Forschung, die sich an die Internationalen Beziehungen bzw. die IB-Compliance-Forschung anlehnt. Forschungsziel ist es hierbei nicht nur, die unterschiedlichen Ursachen für Non-Compliance zu identifizieren, sondern insbesondere auch entsprechende Handlungslogiken für Internationale Organisationen abzuleiten – so auch für die EU bzw. die Europäische Kommission (Börzel 2003; Börzel et al. 2010, 2012; Haas 1998; Hartlapp 2007; Tallberg 2002). Was kann die EU bei Regelverstößen ihrer Mitgliedstaaten tun, wann sind welche Compliance-Strategien sinnvoll einzusetzen? Eine wesentliche Unterscheidung gilt dabei der willentlichen, also präferenzbasierten (voluntary) und der unwillkürlichen, in der Regel kapazitätsbasierten (involuntary) Non-Compliance. Entsprechend werden unterschiedliche EU-Compliance-Strategien abgegrenzt und empfohlen.

Beim Enforcement-Ansatz wird davon ausgegangen, dass Mitgliedstaaten auf Basis einer Kosten-Nutzen-Abwägung eine rationale Entscheidung gegen EU-Compliance treffen (voluntary non-compliance). Diese Sicht knüpft an die Theorie des Realismus an, wonach Staaten insbesondere nach Machterhalt streben würden – entsprechend seien sie grundsätzlich Compliance-avers bzw. nur ungern bereit, sich internationalen Regeln zu unterwerfen (Haas 1998, S. 22 f.). Die resultierende Handlungslogik für Internationale Organisationen wäre in diesem Fall die Sanktion bzw. ein klassisches EU-Enforcement (Börzel et al. 2010).

Der Management-Ansatz eignet sich hingegen als Reaktion auf kapazitätsbasierte Non-Compliance, d. h. finanzielle, administrative oder technische Hürden, die es den Mitgliedstaaten unmöglich machen, EU-Regelungen nachzukommen (involuntary non-compliance). In derartigen Fällen sollten Mitgliedstaaten eher unterstützt als sanktioniert werden, z. B. durch Bereitstellung finanzieller Ressourcen, Wissenstransfer oder der Verhandlung von Übergangslösungen (Hartlapp 2007; Tallberg 2002). Da je nach Einzelfall unterschiedliche kapazitätsbedingte Hürden vorliegen könnten, sollten entsprechende Maßnahmen auf einer genauen Analyse der „specific country needs for implementation“ aufbauen (Hartlapp 2007, S. 656).

Des Weiteren wird auch Persuasion als Compliance-Strategie diskutiert (Börzel 2003; Hartlapp 2007). Hierbei wird zwar ebenfalls eine willentliche Entscheidung der Mitgliedstaaten gegen EU-rechtskonformes Verhalten unterstellt, doch diese sei weniger Ergebnis einer rationalen Entscheidung im Sinne eines Kosten-Nutzen-Kalküls, sondern vielmehr Ergebnis eines normative misfit, also einer Diskrepanz von Werten und Normen zwischen europäischer und nationaler Ebene. Die EU könne hier Abhilfe schaffen, indem sie, z. B. über einen öffentlichen Diskurs oder die gezielte Beeinflussung gesellschaftlicher Akteure, Lernprozesse anregt und aktiv (neue) kollektive Identitäten gestaltet (Börzel 2003; zum Framing siehe auch Knill und Lehmkuhl 2000).

Dabei sind die unterschiedlichen Compliance-Strategien grundsätzlich auch in Kombination anwendbar bzw. können auf einer Eskalationsleiter angeordnet werden (Tallberg 2002): angefangen mit dem Monitoring mitgliedstaatlicher Implementation, welches die Grundlage für weitere Entscheidungen bildet, ggf. in Verbindung mit einer proaktiven Persuasion-Strategie, über ein etwaiges Management, bis hin zum Enforcement, also der Sanktionierung regelbrechender Mitgliedstaaten. Im EU-Kontext obliegt es dabei der Europäischen Kommission, ein Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 258 AEUV einzuleiten, welches seinerseits wiederum mehrere Stufen durchläuft, bis hin zu einem Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) sowie etwaigen finanziellen Sanktionen. Ein EuGH-Urteil kann dabei neben der eigentlichen Sanktion auch eine (erneute) Mobilisierung politischer und gesellschaftlicher Akteure anstoßen (Panke 2007), wodurch, im Sinne des pull-and-push-Modells (Börzel 2000), ein gleichzeitiger top-down- und bottom-up-Druck zugunsten von EU-Compliance entstehen könne.

Neben den diskutierten vertikalen Compliance-Strategien werden zunehmend auch horizontale Compliance-Arrangements im Sinne einer peer review in Erwägung gezogen, insbesondere in Verbindung mit dem Prinzip der experimentalist governance (u. a. Sabel und Zeitlin 2008, 2012; Rangoni und Zeitlin 2020; Zeitlin 2016). Hierbei soll ein regelmäßiger Austausch zwischen den Mitgliedstaaten, begleitet durch die Europäische Kommission, gegenseitiges Lernen, aber auch gegenseitigen Compliance-Druck befördern.

5 Reflexion

5.1 Bisherige Erklärungsansätze

Neben Policy- und länderübergreifenden Variablen, die sich auf die rechtliche Ausgestaltung von EU-Policies sowie auf nationale administrative Kapazitäten beziehen, wurde als mögliche Implementationshürde auch ein fallspezifischer misfit zwischen europäischen Vorgaben und nationalen (institutionellen) Arrangements identifiziert. Zugleich gibt es etliche Hinweise auf eine Politisierung der EU-Implementation und die Relevanz der nationalen Policy-Arena, insbesondere der Policy-Präferenzen nationaler (politischer, administrativer und gesellschaftlicher) Akteure. Darüber hinaus stellen die Compliance-Strategien der Europäischen Kommission eine Möglichkeit dar, die Implementation der Mitgliedstaaten zu optimieren und die Compliance mit EU-Recht sicherzustellen.

5.2 Vielversprechende Trends

Überdies lassen sich einige vielversprechende Trends bzw. Ansätze festhalten: (1) Theoretische Integration – angesichts der diskutierten theoretischen und empirischen Vielfalt erscheint es sinnvoll, den Fokus von einzelnen erklärenden Variablen zu lösen und anzustreben, etwaige widersprüchliche empirische Hinweise verstärkt in multitheoretischen Modellen zusammenführen. (2) Konzeptionelle Differenzierung – als Untersuchungsgegenstand sollte die mitgliedstaatliche Implementation von EU-Recht künftig noch weiter spezifiziert bzw. differenziert werden, vor allem mit Blick auf (a) unterschiedliche Implementationsphasen und (b) verschiedene Politikfelder. Eine wesentliche Unterscheidung gilt dabei der rechtlichen und der praktischen Implementation von EU-Recht (Zhelyazkova et al. 2017, 2018, 2016). Daneben kann es sinnvoll sein, eine vorgelagerte antizipatorische Phase (Brendler 2022a) bzw. eine sich anschließende Phase des EU-Compliance-Managements abzugrenzen bzw. explizit zu betrachten. Ein geeignetes Untersuchungsdesign sollte es jedenfalls zulassen, etwaige Unterschiede zwischen verschiedenen Implementationsphasen aufzudecken. Zudem sollten auch mögliche politikfeldspezifische Besonderheiten berücksichtigt werden, da diese u. U. bereits eine (Teil‑)Varianz mitgliedstaatlicher Implementation erklären können (Angelova et al. 2012; Börzel 2021; Haverland et al. 2011; Luetgert und Dannwolf 2009; Vasev und Vrangbæk 2014).

5.3 Weiterführende Fragen

Abschließend soll eine Auswahl weiterführender Fragen formuliert werden, mit denen vor allem eine konzeptionelle Ausdifferenzierung sowie methodische Spezifizierung angeregt werden soll.

5.3.1 Wann beginnt Implementation?

Anknüpfend an die von Knill und Lehmkuhl (2000, 2002) unterschiedenen Europäisierungsmechanismen stellt sich die Frage, ob die Untersuchung mitgliedstaatlicher Umsetzung von EU-Regeln erst mit der Verabschiedung einer EU-Policy beginnen sollte oder aber bereits innerhalb einer antizipatorischen Phase wesentliche mitgliedstaatliche Reaktionen auf europäische Impulse in Gang gesetzt werden. So zeigte sich am Beispiel der Erneuerbare-Energien-Politik, dass die Mitgliedstaaten schon auf eine übergreifende europäische Zielsetzung (Framing) reagierten, noch bevor die konkreten Inhalte der entsprechenden EU-Richtlinie(n) festgelegt waren (Brendler 2022a). Sowohl diese Reaktionen während der antizipatorischen Phase als auch spätere weitere nationale Umsetzungsakte waren schließlich Teil der (auch offiziell angezeigten) mitgliedstaatlichen Implementationsmaßnahmen.

5.3.2 Wer implementiert?

Die gezieltere Abgrenzung von Politikfeldern bzw. (Sub‑)Sektoren ist auch deswegen sinnvoll, weil hier u. U. unterschiedliche Akteurskonstellationen im Sinne von Zuständigkeiten für die Implementation europäischer Vorgaben vorliegen (siehe auch Heidbreder 2017). So befinden sich manche Bereiche in der (alleinigen) Verantwortung des Staates, andere sind von einer Kooperation zwischen Staat und Gesellschaft gekennzeichnet, in denen der Staat Leitlinien setzt, welche sodann von den Marktteilnehmern ausgefüllt werden, wieder andere liegen sogar mehrheitlich bei den Marktakteuren, während der Staat eher als Kontroll- denn als Umsetzungsinstanz auftritt. Je nach Politikfeld und Land hängt die Implementation folglich vom (Mit‑)Wirken unterschiedlicher Akteure bzw. Akteurskonstellationen ab (siehe auch Brendler 2022b). Das Abrücken von einer (rein) staatszentrierten Perspektive erfordert u. U. allerdings auch andere methodische Zugänge.

5.3.3 Was wird (nicht) implementiert?

Speziell in Hinblick auf die Bewertung mitgliedstaatlicher Compliance ist des Weiteren der Zusammenhang zwischen europäischem Policy-Output, nationalem Policy-Output und Policy-Outcome zu reflektieren – gerade in Verbindung mit der soeben angesprochenen Diversität implementierender Akteure. Konkret stellt sich die Frage, inwiefern ein bestimmtes EU-Steuerungsziel mit einem entsprechenden Policy-Output tatsächlich zielgenau verfolgt wird – bzw. im Umkehrschluss, inwiefern eine korrekte (rechtliche) Umsetzung durch die Mitgliedstaaten auch genau das gewünschte Policy-Outcome produziert. Insbesondere komplexe Steuerungsziele, z. B. die Realisierung einer europäischen Energiewende, verlangen einerseits nach einer umfassenden und integrierten Steuerung, sind andererseits aber auch von Unsicherheit, Interdependenzen sowie (nationaler) Heterogenität geprägt. Somit bildet eine EU-Policy mitunter nur einen Teil der eigentlichen Steuerungsherausforderung ab, verlangt wird von den Mitgliedstaaten u. U. jedoch ein darüber hinausgehendes Outcome – in diesem Fall wäre eine korrekte EU-Rechtsumsetzung noch nicht ausreichend, um praktische Compliance, etwa die Einhaltung bestimmter Zielwerte für den Ausbau erneuerbarer Energien, zu gewährleisten (Brendler 2022a, S. 334 ff.). Für Forschende gilt es daher, die mitgliedstaatliche Umsetzung von EU-Recht auch in einem größeren Steuerungszusammenhang zu betrachten.