1 Sprachgewinn als Machtgewinn

„Wir werden es verteidigen.“ So endete die Regierungserklärung zur „Zeitenwende“ von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) am Sonntag, den 27. Februar 2022, vor dem Deutschen Bundestag. Gemeint war die Verteidigung des „freien und offenen, gerechten und friedlichen Europas“. Doch anders als sonst war der Imperativ des Kanzlers keine rhetorische Routineformulierung. Allen Zuhörern war vielmehr klar, dass der Verteidigungsfall der Bundesrepublik Deutschland eintreten kann. Die Eskalation des Angriffskrieges durch Putin erschüttert die europäische Ordnung und verändert die Koordinaten der deutschen Innen- und Außenpolitik vollkommen. Es ist ein externer Schock für unser politisches System – mit weitreichenden Folgen.

Die Regierungserklärung, 81 Tage nach dem Start der Ampel-Koalition, könnte gleichsam bereits ihr Höhepunkt gewesen sein. Selten sieht man in solcher Reinform, wie sich Sprachgewinn in Machtgewinn durch eine Rede verwandelt (Korte 2002). Die Ampel dümpelte bis dahin relativ führungslos durch die Impfdiskussionen. Mit minimalistischer Kommunikation hatte sich Scholz über Wochen unauffällig gezeigt mit geradezu aggressivem Schweigen. Dann überfiel Russland die Ukraine und überrascht wie fassungslos sahen wir ängstlich zu. Das Paradigma des 21. Jahrhunderts, Kommunikation und Diplomatie, traf auf das imperiale Paradigma des 20. Jahrhunderts – Reden auf der einen Seite, Panzer auf der anderen. Unsere jahrelange Gleichgültigkeit gegenüber den Forderungen der Ukraine, die sich an der Krim und im Osten des Landes bereits der russischen Übermacht gegenübersah, brach auf. Aber was tun? In dieser diffusen Stimmungslage ergriff der Kanzler die Initiative und ging in die Offensive. Sprache als Medium legitimiert die Macht. Sie gibt der Handlungsfähigkeit einen Ausdruck und schafft eine neue politische Lage.

Die Parlamentsrede in der Sondersitzung des Bundestags ist ein Musterbeispiel für politische Führung, die Ängste der Bürger in Krisenzeiten durch transparente Kommunikation minimiert. Die Angst ist bei Sicherheitsdeutschen und Pazifismusmeistern immer präsent. Doch der Krieg schuf erstmals nach Jahrzehnten vermeintlicher Sicherheit einen neuen Angstzustand. Die Bedrohung war nicht mehr abstrakt, sie war unmittelbar. Wer schützt mich wie im Kriegsfall? Allein so eine Frage zu formulieren, war nicht nur retro, sondern galt als unzeitgemäßes Kalter-Krieg-Vokabular. Wer so öffentlich formulierte, isolierte sich schnell. Postmoderne war angesagt. Zwar spielte Sicherheit auf dem Wählermarkt immer eine dominante Rolle. Sie prägte entscheidend Wahlmotive der letzten Jahre. Doch gemeint waren stets andere Dimensionen von Sicherheit: innere, ökonomische, kulturelle, zuletzt gesundheitliche. Die äußere und sicherheitspolitische Dimension unserer Staatsräson galt als wichtig, aber ebenso als gegeben. Anstatt uns über unsere eigene Landesverteidigung auszutauschen, orientierten und beteiligten wir uns lieber an internationalen Einsätzen.

Die Pandemie hatte bereits fundamentale Selbstgewissheiten ins Wanken gebracht. Es ging bei der Bekämpfung des Virus existenziell um das Überleben der Bürgerinnen und Bürger, was – wie beschrieben – den Zielkonflikt zwischen Freiheit und Gesundheit strapazierte. Erst traf uns die Pandemie, jetzt der Krieg. Erst nahm uns die Politik viele Freiheitsrechte, um das Überleben zu sichern. Jetzt nahm uns der Krieg elementare Sicherheit. Wie verteidigt man unter diesen Bedingungen von Vielfachkrisen die Ordnung der Freiheit? Was folgt nach diesem seriellen Gewissheitsschwund?

Einiges glich im Februar 2022 – bei aller Problematik des historischen Vergleichs – dem Herbst von 1989, als bereits die Mauer gefallen war, aber unklar war, in welche Richtung sich das Weltgeschehen wendet. Damals setzte Kanzler Helmut Kohl mit seinem 10-Punkte-Programm vom 28. November 1989 eine Richtungsentscheidung überraschend durch (Korte 1998). Der Plan enthielt konkrete Schritte einer deutsch-deutschen Annäherung. Auch damals herrschte eine diffuse Öffentlichkeit, die es politisch zu strukturieren galt. Heute, im Februar 2022, hatte Scholz seine Richtlinienkompetenz als Kanzler dezionistisch genutzt, bei der er die fundamentale Richtungsänderung wichtiger Koordinaten der Innen- und Außenpolitik vortrug. Seine Koalitionspartner waren von der beabsichtigten Militarisierung nur kurzfristig ins Benehmen gesetzt worden. Zu den Eingeweihten gehörten maximal zehn Verbündete (Dausend et al. 2022).

Wieso entfaltete diese Rede eine so fundamentale Wirkung? War es der Geist der neuen Wehrhaftigkeit, der beschworen wurde? Oder waren es die aufgeworfenen existenziellen und moralischen Fragen: Was ist historische Verantwortung wert? Was sind uns Frieden und Freiheit wert? Tun wir genug, oder nur, was uns zumutbar erscheint?

Die Regierungserklärung avancierte zu einem ungewöhnlichen, gemeinschaftlichen Demokratie-Erlebnis: Die Parlamentarierinnen und Parlamentarier erhoben sich klatschend zur Begrüßung des ukrainischen Botschafters; die CDU/CSU Oppositionsfraktion erhob sich applaudierend bei den Passagen der Regierungserklärung zur konkreten langfristigen Aufrüstung und alle Bundestagsabgeordneten – außer Abgeordnete der Linken und der AfD – leisteten stehende Ovationen, nachdem der Kanzler seine Rede beendet hatte. Solche Momente sind ganz selten im deutschen Parlamentarismus. „Rally’-round-the-flag-Effekte“ kennen wir als Stunde der Exekutive. In Deutschland nehmen historisch der Grad an Staatszentriertheit und Staatsvertrauen zu, wenn Krisenszenarien die öffentliche Meinung dominieren. Davon profitieren auch die Spitzenpolitiker. Krisen adeln über Nacht die Demokratie. Bürger erwarten dann die entschlossene Umsetzung des Primats der Politik, möglichst als heroische Chefsache des Krisenmanagers. Die Bürger sehnen sich in solchen Konstellationen nach einem starken Staat. Sicherheitskonservatismus ist eine politisch-kulturelle Konstante in Deutschland. Der Bundeskanzler knüpfte insofern mit seiner Regierungserklärung an Resonanzerwartungen der Bevölkerung an. Scholz buchstabierte in zugespitzter Dynamik das Neue: Aufrüstung, Zwei-Prozent-Zielmarke des Bruttoinlandsprodukts der NATO, bewaffnete Drohnen, Kampfjets mit Nuklearbewaffnung. Mit geradezu demokratischem Trotz priorisierte er die veränderten Koordinaten der deutschen Sicherheitspolitik und präsentierte den Paradigmenwechsel in krasser Kehrtwende zu den parteipolitischen Prämissen der SPD und der Grünen. Selten sah man das Parlament so zustimmend-überrascht und überrumpelt.

Die Rede strahlte mit einer clever orchestrierten, rhetorisch raffinierten 5‑Punkte-Auflistung zur Verteidigung. Insofern leistete sie in Zeiten des Gewissheitsschwundes kohärente Antworten auf wichtige Aspekte der Verteidigung. Ihr Erfolg hing mit dem Publikumsbezug zusammen. Das Geheimnis guter Reden liegt nicht nur im Timing, sondern in der Fähigkeit, an die Erwartungen und Überzeugungen der Zuhörerschaft anzuschließen (Grunden 2021, S. 95; Kopperschmidt 2003, S. 18). Die erfolgreiche Rede überzeugt nicht zwingend ihr Publikum mit neuen Ideen, sondern fokussiert in Worten, was wir bereits denken. Das bereits Gedachte klarer, eindeutiger und konkreter zu machen, gehört zur Redekunst und zum Erfolg des Auftritts. Wir ahnten nach Kriegsbeginn, dass eine neue formative Phase für die Bundesbürger beginnt. Die Rede verwandelte unsere Ahnungen in sagbare Argumente. Scholz überzeugte uns nicht von der notwendigen Aufrüstung zur Landesverteidigung. Er bestätigte eher, was wir bereits dachten, nachdem die Panzer rollten. Es war ein Kipp-Punkt der deutschen Politik, ein Momentum, bei dem innerhalb weniger Minuten jahrzehntealte Gewissheiten niedergerissen wurden. Ein Befreiungsschlag. Ein Ende der Zurückhaltungskultur der Sicherheitsdeutschen. Ein eloquentes Beispiel demokratischer Führung. Und ein Beleg für die Mechanismen des diskursiven Institutionalismus, bei dem sich durch Sprache, Ideen und Diskurse Wirklichkeiten verändern. Der erneuerte Diskurs transformierte die Politik. Die Institution der Regierungserklärung wirkte.

2 Regieren in der Ampel-Formation

Wie umarmt man Widersprüche – zumal zu Dritt? Die Berliner Ampel-Koalition macht es vor. Sie löst damit ein, was im Sondierungspapier von SPD, Grünen und FDP, angelegt war: „… politische Frontstellungen aufzuweichen und neue politische Kreativität zu entfachen“. Das gilt nicht nur für das Alltagshandeln der Spitzenakteure, sondern offensichtlich auch für die Maßstäbe der Beurteilung der Ampel-Regierung. Denn eine Klarheit gegenüber einer lagerübergreifenden Koalitionsregierung existiert nicht. Mit dem Ende des Merkelismus endet auch die Klarheit von Koalitionsbildungen der linken oder rechten Mitte.

Ampeliges Regieren kommt schon deshalb modern hybrider daher. Transformatives Politikmanagement folgt kollektiven Lernprozessen. Die Transformationsvorhaben könnten nicht größer sein, eine Wachstumsgesellschaft in eine digitale sozial-ökologische Nachhaltigkeitsgesellschaft zu katapultieren. Sowas regelt kein Regierungsalltag. Es fordert schöpferisch-experimentell heraus.

Wir erinnern uns an das ungewöhnliche Kanzler-Casting einer Zitrus-Formation, bei der die grün-gelbe neue Bürgerlichkeit Gemeinsamkeiten auslotete, bevor man sich schwarze (Union/Laschet) oder rote (SPD/Scholz) Mehrheiten suchte. Auch die bildmächtige Selbstpersonalisierung via Selfie (Baerbock/Habeck/Wissing/Lindner) wies den ungewöhnlichen Weg der Ampel-Koalition: Wir vermitteln uns selbst in direkter Kommunikation mit den Wählern. Die uns dabei anschauende versöhnte Verschiedenheit (Selfie) der drei zentralen Akteure hatte visuell das Potenzial zum Aufbruch. Das Wagnis des Beginnens wies den Weg einer Überformung unserer traditionellen Kanzlerdemokratie. Aus ihr wird in der Dreier-Koalition eine kollaborative Demokratie. Zwei Parteien einigen sich anders als drei. Die Fraktionen können stärker werden, wenn sich die Macht aus dem Kanzleramt tendenziell verschiebt. Denn gleich zwei kleinere Parteien haben ein Interesse daran, einen übermächtigen Kanzler einzuhegen. Das eröffnet mehr Spielräume für Ressortdarstellungen und neue Bühnen für Ausschussvorsitzende des Deutschen Bundestages. Die Regierung ist systematisch vielstimmiger als in Zeiten der klassischen Kanzlerdemokratie. Unterstützt wird diese Neubelebung demokratischer Prozesse auch durch die Dynamik einer neuen, diskursiven demokratischen Opposition im Deutschen Bundestag, die in Zeiten der Groko-Formationen, die Diskursallergie ablöst.

In einer mehr kollaborativen Demokratie entsteht die politische Macht dabei im wechselseitigen Miteinander. Der kreative Austausch der Möglichkeitsmacher führt die Prozesse. Die Entscheidungsfähigkeit ist wichtiger als die Entscheidungskompetenz. Das Handeln, bei dem man sich mit anderen zusammenschließt, um ein gemeinsames Anliegen zu verfolgen, um Verantwortung zu übernehmen, generiert Macht – keine Macht der Mehrheit und der Mandate. Das politische Ermöglichen realisiert Macht im Konzept einer immerwährenden Kollaboration. Die Macht kann dabei im Kanzleramt sein, muss sie aber nicht.

Auch die Opposition, die jetzt wieder mehrheitlich demokratisch aufgestellt ist, kann machtvoller triumphieren. Wann hat zuletzt eine Oppositionsfraktion eine Abstimmung zur Geschäftsordnung gewonnen, wie bei dem kuriosen Tag der Entpflichtung von der Impfpflicht? Agiles transformatives Regieren in Dreier-Koalitionen hybridisiert die klassischen Machtkonstellationen. Kollaboratives Regieren überführt die Kanzlerdemokratie in agiles und komplexes Lernen. Das gilt auch für die Betrachtung von möglichen Ergebnissen. Denn die Rituale des Siegens und des Verlierens heben sich auf. Je näher die Zumutungen kommen, mit denen die Ampel die Bürger angesichts der „Kriegswirtschaft“ konfrontieren muss, zeigen sich auch die Risse der Lern-Koalition. Alimentierungs- und Klientelpolitik fallen auf. Politische Rettungspakete werden geschnürt, die keine Konsistenz, sondern Sammlungen entlang der Parteilinien bedeuten. Doch noch ist es früh, um zu bewerten, ob das Gemeinsame oder das Trennende obsiegt.

3 Politikmanagement der Transformation

Der Modus des Veränderns im Kontext von Transformationen in Zeiten der Krisen-Permanenz ist vielschichtig. Wie reagiert das Politikmanagement auf diese Transformationen – im Spannungsbogen von disruptiv-unterbrechender Erschütterung bis zur inkrementalen, nuanciert langsamen Politikveränderung? Transformatives Regieren bzw. transformatives Politikmanagement folgt hybriden Spuren, weil in unterschiedlichen Politikfeldern (von Gesundheitsvorsorge bis zur militärischen Verteidigung) je spezifische Arrangements erforderlich sind. Es führt zu mehreren Spielarten des transformativen Regierens. Der Modus verbindet verschiedene Komponenten. Vieles deutet darauf hin, dass das jeweilige Politikfeld auch den vorrangigen Typus des Politikmanagements bestimmt (Korte 2022a). Vier Spielarten sind zu unterscheiden:

3.1 Anpassen

Die Wucht des Kriegsereignisses antiquierte den Koalitionsvertrag, der in einer nie dagewesenen Geschwindigkeit die ausformulierten Zumutungen der Transformation völlig neu gewichtete. Das inhaltliche Potenzial des Koalitionsvertrages und der veränderungspatriotische Duktus bleiben relevant, aber in einer neuen Ausrichtung. Sicherheit geht zukünftig keineswegs vor Klimaschutz. Vielmehr ist sichtbar geworden, dass Infrastruktur – am Beispiel der Energiesicherheit – auf vielfältige Weise unsere Freiheit absichert. Aber beim Thema Umwelt- und Klimaschutz fehlt das Gegenüber. Mit Erdbeben oder Erderhitzung kann man prinzipiell nicht verhandeln (Welzer 2022, S. 10). Das neue Paradigma des darauf ausgerichteten adäquaten Regierungshandelns wäre Anpassen, statt Aushandeln (Bude 2022). Die Anpassungsleistung würde darin bestehen, Klimaschutztransformationen politisch zu implementieren. Das kann über Anreize ebenso geschehen wie über Regulierungen oder Verbote. Das sogenannte „Osterpaket“ aus dem Bundeswirtschaftsministerium zur Energiewende, das im Sommer 2022 im Bundestag verabschiedet wurde, ist dafür ein gutes Beispiel.

3.2 Kuratieren

Beim Thema Gesundheit und Corona zeigt sich eine andere Spielart von transformativem Regieren. Das Virus ist zwar prinzipiell als Verhandlungspartner auch nicht sichtbar, doch nur in der sozialen Interaktion kommt es potenziell zur Infektion. Wie verhandelt man in der Konsequenz lebensrettende Isolationsmaßnahmen? Da bietet sich konzeptionell nicht das Anpassen, wie beim Klimaschutz, sondern eher das kuratierte Regieren (der Bundesregierung) als mögliche Antwort an (Florack et al. 2021; Korte 2022b). Es verwandelt unter dem Primat der Politik rasant transparente Informationsverarbeitung in sortierte und erklärte politische Entscheidungen der Krisen-Lotsen. Kuratiertes Regieren kommt nicht als lenkende Anregung, wie etwa beim „Nudging“ (Derrig 2020) daher. Die Varianten des Lockdowns waren staatlich verordnet, kein Vorschlag. Kuratiertes Regieren hat eher mit krisenbedingter appellativer Anordnung zu tun. Es nutzt einen Möglichkeitsraum (Korte 2019). Das setzt Gestaltungswissen voraus (situativ in der Lage zu sein zu lernen) und kombiniert dies mit einem Möglichkeitssinn (mit Zuversicht zu führen und zügig zu entscheiden). Die Spitzenpolitik avanciert so zum Hermeneuten der Resilienz. Transformatives Entscheiden im Modus des kuratierten Regierens hat im Bereich des Impfens immer Momente von Verantwortungsflucht. Anders ist das monatelange Lavieren um eine Impfpflicht nicht einzuordnen. Da keiner offenbar eine Verantwortung für eine Impfpflicht übernehmen möchte – aus sehr unterschiedlichen politischen Motiven – bleibt es bei „dringenden Empfehlungen“ und wenig transparenten Pseudo-Regelungen.

Verantwortungsflucht gleicht beim Politikmanagement dem Modus des „Verzichtskonsens“ (Nassehi). Bei dieser spezifischen Kompromissvariante entsteht mehr Einheit durch mehr Differenz. Es ist ein Konsens darüber, worauf die drei Regierungsparteien verzichten müssen, um andere gemeinsame Ziele zu erreichen. Der Kanzler wollte die Impflicht. Der Gesundheitsminister wollte sie auch. Aber vor allem die FDP wollte sie nie. Ein Umgang mit Perspektivdifferenz und Kollaboration belässt das Ergebnis der Bundestagsabstimmung zur Impfpflicht aus Sicht der Ampel als bestätigtes Lern-Ergebnis. Wir lernen funktionale Differenz auszuhalten. Im Prozess des lernenden Miteinanders spielt die Kategorie des Gewinnens oder Verlierens keine Rolle. Es zählt in einer Diskurskoalition mehr die Macht des Miteinanders als die Logik der Mehrheit. Als Stilmittel dieses diffus wirkenden Nebeneinanders arbeitet die Regierung als auswählender Kurator.

3.3 Priorisieren

Beim Thema Krieg und Frieden zeigt sich eine radikal gewendete Dialektik in der Kombination von Moral- und Realpolitik: Reden und Rüstung, Friedfertigkeit und Abschreckung, Kooperation und Wehrhaftigkeit. Das Gegenüber ist beim Regierungshandeln nicht nur sichtbar, sondern existenziell bedrohlich. Transformatives Regieren agiert hierbei im Modus des extremen Priorisierens: Hierarchie für Sprung-Innovationen. Der Kanzler nutzte dazu, wie weiter unten gezeigt wird, die Regierungserklärung in der Sondersitzung des Bundestages zum Krieg in der Ukraine. Er entschied bei existenziellem Ernst, den Paradigmenwechsel in der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik. Und dazu trägt auch der stoische Minimalismus und die verlässliche Autorität des Kanzlers bei, der für diesen Paradigmenwechsel nur einen einzigen Auftritt benötigt. Seine Regierungserklärung in der Sondersitzung des Deutschen Bundestags zum Ukraine-Krieg priorisierte im Stil der klassischen Kanzlerdemokratie. Scholz verdeutlichte Hierarchie mittels Richtlinienkompetenz. Das priorisierende Kanzlerprinzip existiert in funktionaler Differenzierung offenbar neben den innovativen Formaten der kollaborativen Lern-Koalition. Dass solche Momente der Richtlinienkompetenz zwar Macht generieren, aber nicht konservieren, lernte der Kanzler schnell. Explizit bezog sich der Kanzler bei der Entscheidung über die befristete Laufzeitverlängerung von drei Atomkraftwerken auf seine Richtlinienkompetenz. Ebenso priorisierend setzte er sich gegen Bedenken von mehreren Ressorts als Kanzler für die Beteiligung eines chinesischen Staatskonzerns am Hamburger Hafen ein.

3.4 Tauschen

Anders als traditionellen Koalitionen mit zwei Partnern und klarem Hierarchiegefüge suchen die Ampel-Parteien bei der Spielart des Tauschens nicht nach Schnittmengen oder kleinsten gemeinsamen Nennern – als dilatorische Formel-Kompromisse oder quantitative Verteilungskompromisse (Günther 2006). Der Kompromiss taucht durchaus sichtbar in umfangreichen Gesetzgebungspaketen auf, in denen man, wie beim sogenannten „Osterpaket“ zur Energiesicherheit, für alle drei Partner und deren Wähler-Klientel Angebote gemacht hat. Häufiger sieht man allerdings im Tauschalltagshandeln der Regierung bislang, dass Differenzmodelle greifen, die nicht auf den kleinsten gemeinsamen Nenner setzen. Sie beschreiben Kompensationen, die über Tausch funktionieren, weil sie Differenz aushalten. Sie ist stärker als der Kompromiss. Wer die Differenz aushält, überbrückt Widersprüche. Wenn das Gemeinsame weiterhin das Hauptziel ist, kann eine Entdifferenzierung über vertrauensvolle ressortbezogenen Tauschpolitiken mehr Einheit in der Differenz sichern. So kann jeder der drei Ampel-Partner auch mal öffentlichkeitswirksam punkten mit purem grün, gelb oder rot. Da könnte das Tempolimit auf Autobahnen auch mal mit der befristeten Verlängerung von Atomkraftwerken koalitionspolitisch getauscht werden.

4 Entscheiden in Zeiten des Gewissheitsschwundes

Der Modus des Veränderns im Kontext von Transformationen in Zeiten der Krisen-Permanenz ist vielschichtig, wie die vier Spielarten des transformativen Regierens zeigen. Vieles deutet darauf hin, dass im klassischen Verständnis der Policy-Forschung der Policytyp, das jeweilige Politikfeld, auch den vorrangigen Typus des Politikmanagements bestimmt (Lowi 1972, S. 299).

Inklusive Transformation, die auf Teilhabe und Teilnahme setzt, muss politisch partizipativ, sozial solidarisch und extrem kommunikativ angelegt sein, zumal wenn sich durch Knappheit die Verteilungsfragen zuspitzen. Mit so einem Arbeitsauftrag ausgestattet, sucht die Koalition nicht nur nach Schnittmengen von Gemeinsamkeit, sondern nach einer Neubelebung der Debattenkultur.

Die Ampel ist Begleiter des Wandels. Ihr Regierungsstil kommt im Dissens-Management lernend und kollaborativ daher. Als Unterstützter-Allianz wollen die Akteure keine Reparaturarbeiten am Wohlfahrtsstaat, keine Renovierung des Vergangenen. Ihr Ziel ist inhaltlich die Transformation und stilistisch die Kollaboration. Die Ampel agiert keineswegs statisch-mehrheitsgeprägt robust. Sie federt resilient-nachgebend eher ab, wenn Widerstand auftauchen könnte. Die Transformationserzählung des Koalitionsvertrages lässt kein tentatives Arbeiten zu, sondern öffentliches, fehlertolerantes Lernen. Fehler sollen dabei nicht nur zugelassen werden, sondern sie sind eingebaut, um daraus zu lernen. Das Entscheiden wirkt multizentristisch. Ob dies problemlösend gelingt, kann zum jetzigen Zeitpunkt nicht beurteilt werden. Aber die ampeligen Formate unterscheiden sich deutlich vom Merkelismus der Groko-Zeiten. Dreier-Formate sind systematisch vielstimmiger.

Vielleicht ist das der Preis der Risikomoderne, in der für die Politik immer eine Erwartungssicherheit des Nicht-Erwartbaren besteht. Jede Umgangsroutine, jedes Festhalten an den Erfolgsstrategien der vergangenen Jahre, führt nicht mehr zur Problemlösung. Das Unwahrscheinliche zu managen, setzt mehr als nur neue Lagedefinitionen voraus. Moderne Verunsicherungsfähigkeit erfordert Probehandeln im Geiste. Daraus kann eine Zuversicht erwachsen, mit Überraschungen des politischen Lebens souveräner umzugehen. Weiterdenker müssten nicht sehen, was eine Gesellschaft will oder was auf sie zukommt, sondern eher, was sie glaubt, erwarten zu können. Wir brauchen dafür politische Führung, die ein Sensorium für den Umgang mit dem Unerwarteten entwickelt.

Die Schlussfolgerungen für uns als Wähler und Beobachter sind paradox. Denn das erlebte Regieren wirkt aufdringlich unfertig, fast schon wie eine stabile Ambivalenz. Eine gespielte Kohärenz ist im Moment schwer erkennbar. Die Spielarten des transformativen Regierens zeigen politisches Interdependenzmanagement. Die Meister des Diffusen und des Nicht-Zuständigen stehen dabei neben den Ministern, die ihre Tages-Güter-Abwägung minütlich offenlegen. Auch Widersprüche zu umarmen ist anstrengend. Aber offenbar ein moderner Antwortversuch auf den bestehenden Gewissheitsschwund. Scholz wurde von vielen Bürgern gewählt, weil er ein „merkeliges Sicherheitsgefühl“ transportierte. Das enthielt immer auch die Versicherung des Weiter-So. Das kontrastiert nun mit der Zeitwende, die eben alternativlos nicht auf Kontinuität setzen kann. Der Wahlkampf und die Koalitionsvereinbarung waren weitgehend zumutungsfrei (Korte et al. 2022i). In der aufziehenden „Kriegswirtschaft“ und den weitgehend energiepolitisch bedingten Wohlstandsverlusten wird sich zwangsläufig der Krisenmodus des Regierens verändern. Denn keineswegs können mit Alimentierungs- und Klientelpolitik sowie vielen Entlastungspaketen die Bürger vollständig von den Kosten der Transformation verschont werden. Das würde den Staatshaushalt überfordern. Ziel der Ampel kann deshalb nur sein, eine Transformationspolitik zu betreiben, die den Prinzipien der Gerechtigkeit verpflichtet ist und entsprechend dieser Prämisse, den Mangel bzw. das Ärmerwerden kommuniziert und problemlösend managt. Die sichtbare Not stabilisiert dabei die Lern-Koalition, die sich täglich pragmatisch neu auf das Unwahrscheinliche einlässt.