Im Zeitalter der Digitalisierung sind viele alte politische Emanzipationshoffnungen neu geweckt worden: die zahlreichen Innovationen in der gesellschaftlichen Kommunikation, die Umstellung einer one-to-many auf many-to-many Kommunikation, der ungehinderte Zugriff auf Informationen – all diese Aspekte haben die Teilhabeschwellen gesenkt und den Zugang zum öffentlichen Raum erleichtert. Damit erscheint „Vernetzung als die neue Form der Vergemeinschaftung“ (Thiel 2014, S. 468) und bringt die uneingelösten Teilhabeversprechen der Demokratie scheinbar in Reichweite.

Diese transformativen Potenziale der digitalen Technologien wurden vor allem in der Frühzeit des Internets positiv hervorgehoben (Turkle 1984; Weiser 1991; Rheingold 1993; Negroponte 1995, Barlow 1996; Kurzweil 2005). Gleichwohl kann der utopische Aspekt dieser Entwürfe auch aus einer anderen Perspektive beschrieben werden. So lassen sich in der Digitalisierungsdiskussion neben den partizipatorischen Elementen zugleich auch eine ganze Reihe von Vorgriffsversuchen auf die Zukunft aufdecken, die durch die exponentielle Fortschreibung der technischen Steuerungsmöglichkeiten der Gegenwart realisiert werden sollen. Diese auch institutionell durch die TED-Konferenz oder durch das MIT, die Stanford University und andere Formate gerahmten Arbeiten am digitalen Mythos ähneln in dieser Hinsicht auf frappierende Weise dem klassischen Utopiegedanken der europäischen Ideengeschichte – und dieses Verhältnis steht im Mittelpunkt des vorliegenden Beitrages. Die leitende These geht davon aus, dass hinter der Selbstbeschreibung des Digitalisierungsparadigmas als revolutionärer Bruch vielmehr eine Kontinuitätslinie sichtbar gemacht werden kann: Der Anspruch, die Komplexität moderner Gesellschaften durch revolutionäre Technologien steuern zu können, verbindet die Versprechen der digitalen Gegenwart mit den klassischen Utopien der Frühen Neuzeit und der Hochmoderne. Gemeinsam ist diesen Ansätzen zudem, diese Steuerung in einem technischen Sinne analog zu Naturbeherrschung zu denken. Dabei wiederholt sich unter dem Stichwort von Big Data das historische Muster, dass mit dem Entstehen neuer Wissensformen – Astronomie, Geometrie, Sozialmathematik, Sozialphysik, Sozialpsychologie, Kognitionswissenschaft – auch die Hoffnung auf eine umfassende gesellschaftliche Gestaltungs- und Steuerungsmöglichkeit genährt wird. Die Digitalisierung erscheint in dieser Perspektive als eine Fortsetzung derjenigen Wissensformen, mit denen gesellschaftliche Ordnungszusammenhänge technisch verfügbar gestellt werden sollen. Die heutigen Digitalisierungsdiskurse sind mit der utopischen Tradition daher über den Technikbegriff verbunden, und zwar in zweifacher Weise: über ihre radikale Fortschritts- und Prognosegläubigkeit auf der einen Seite, und über ihre damit verbundenen technischen Steuerungsansprüche auf der anderen Seite.

Eine der ersten Studien, die diese utopische Dimension des Digitalisierungsdiskurses kritisch analysiert hat, beschreibt die „californian ideology“ als einen „anti-statist gospel of cybernetic libertarianism: a bizarre mish-mash of hippie anarchism and economic liberalism beefed up with lots of technological determinism“ (Barbrook und Cameron 1995, S. 6).Footnote 1 Diese frühe herrschaftskritische Analyse setzt sich jedoch nicht mit der Vorgeschichte der Digitalisierung auseinander. Eingelöst wird diese Analyse erst in exemplarischen Fallstudien jüngeren Datums: Jill Lepore hat am konkreten Beispiel der computerbasierten Wahlprognostik und der politischen Kommunikation in den USA gezeigt, wie in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts eine Abwendung vom klassisch-humanistisch geprägten Vernunftideal hin zu einem technischen geprägten Rationalitätskalkül stattfindet – verbunden ist diese Entwicklung unter anderem mit der Kybernetik Norbert Wieners (Lepore 2020; August 2021). Diese „cold war rationality“ (Erickson et al. 2013) war mit dem Versprechen verbunden, zukünftige Entwicklungen berechenbar und damit einer planenden Steuerbarkeit zugänglich zu machen. Staatstheoretisch ist diese Entwicklung von James C. Scott als technokratische Hochmoderne untersucht worden: Die Verkürzung des aufgeklärten Vernunftbegriffs auf eine instrumentelle Planungs- und Steuerungslogik manifestierte sich neben den von Lepore beschriebenen Bereichen so auch in der Stadtpolitik und der Architektur dieser Zeit (Scott 1999). Während Lepore verdeutlicht, wie die neuen Methoden technischer Verhaltensprognostik und -steuerung zunächst im Bereich der Wahlforschung Anwendung finden, um dann von der amerikanischen Regierung im Vietnam-Krieg im Kampf um Meinungs- und Deutungshoheit eingesetzt zu werden (Lepore 2020, S. 205 ff.), so hat Fred Turner bereits 2006 demonstriert, wie sehr auch die amerikanische Gegenkultur von den Entwicklungen der frühen Computertechnologien und ihrem Rationalisierungsideal geprägt worden ist. Das in diesem Kontext verbreitete Idealbild einer dezentralisierten, egalitären, harmonischen und freien Gesellschaft (Turner 2006, S. 1) wurde in zahlreichen alternativen Gemeinschaftsprojekten bereits seit dem Ende der sechziger Jahre an die ermöglichende Potenziale der technischen Entwicklung gebunden. Als Gegenbild zur staatlichen Herrschaftstechnik hat die Alternativkultur somit eine spezifische utopische Vision von Staats- und Politikferne hervorgebracht (ebd., S. 256), die in den neunziger Jahren die oben genannten „techno-utopians“ des digitalen Zeitalters (ebd., S. 261) nachhaltig beeinflusste.

Wenn also die digitale Revolution der Informations- und Kommunikationstechnologien als Austritt aus der Geschichte und der staatlichen Politik in die „Hypergeschichte“ der „Multiakteurssysteme“ bestimmt wird (Floridi 2015, S. 17 ff. u. S. 221 ff.), dann liegen die historischen Spuren zu diesem ahistorischen Selbstbild der digitalen Ordnung in der Utopiegeschichte. Als eine der Ersten ist Shoshana Zuboff diesem Zusammenhang der digitalen Konstellation mit der utopischen Tradition des politischen Denkens nachgegangen. Ihre Analyse des digitalen „Überwachungskapitalismus“ (Zuboff 2018) sieht diese neue Ordnung durch die digitale Produktion von Verhaltensdaten geprägt. Sie bilden die Grundlage des Profitmodels von Facebook, Google und Microsoft, die Zuboff als „angewandte Utopistik“ beschreibt (ebd., S. 470). Die Hauptrolle spielt dabei nicht nur – wie bei Lepore und Turner hervorgehoben – die Kybernetik, sondern auch der Ansatz sozialpsychologischer Konditionierung, den der Behaviorist Burrhus Frederic Skinner in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts entwickelt hatte und der eine neue Form der weichen Verhaltensmodifikation propagiert (ebd., S. 338).

Der folgende Beitrag will dieser Spur weiter nachgehen und dabei vor allem die politiktheoretische Relevanz dieser Zusammenhänge deutlich machen, die in Zuboffs primär politikökonomisch ausgerichteter Analyse nur angedeutet werden und in den Analysen der hochmodernen Technokratie bislang kaum beachtet wurden. Dazu wird in einem ersten Schritt die Tradition des utopischen Denkens betrachtet. Hier geht es darum, das spannungsreiche Verhältnis zwischen politischem Gestaltungsanspruch und technischer Steuerung herauszustellen, welches die utopische Literaturgattung seit der frühen Neuzeit geprägt hat. Vor diesem Hintergrund wird dann in einem zweiten Schritt deutlich, wie die behavioristische Steuerungsutopie B. F. Skinners an diese utopische Tradition anschließt. Wie dann im letzten Teil deutlich werden soll, setzt das digitale Ordnungsdenken der Gegenwart im Zeichen von Big Data diese umfassenden Kontrollhoffnungen der Hochmoderne fort und stellt erneut die Frage nach dem Verhältnis von technischer Steuerung und politischem Handeln. Dieses Spannungsverhältnis, so die abschließende Überlegung, kann politiktheoretisch als ein Deutungskonflikt verstanden werden, der die gegenwärtigen Gesellschaften im Zeichen der digitalen Transformation prägt.

1 Zur Utopie der Verhaltenssteuerung

Digitalisierung lässt sich politiktheoretisch als radikale Verfügbarkeitstechnik interpretieren. Während Digitalisierung im engeren Sinne zunächst nur die Übertragung von Informationen in binär codierte Formate bezeichnet, sind die Konsequenzen dieser Übertragung weitreichend. Nicht nur sinken damit technisch bedingt die Kosten für die Aufzeichnung und Speicherung von Informationen, auch wachsen die Möglichkeiten ihres Abrufs und der Vernetzung – sie werden demnach verfügbar für zahlreiche ökonomische, kulturelle und auch politische Praktiken und Diskurse der Verwertung, der kreativen Neuverknüpfung und der autoritativen Steuerung (Stalder 2016, S. 105). In dieser Hinsicht verändern digitale Techniken die gesellschaftliche Balance von Verfügbarkeit und Unverfügbarkeit, die auch normativ eine beträchtliche Rolle für die Stabilisierung gesellschaftlicher Ordnung spielt.Footnote 2

Technik beschränkt sich seit dem Beginn der Moderne nicht allein auf Naturbeherrschung, sondern dringt auch in den Praxisbereich des Gemeinwesens ein, der in der normativen, aristotelisch von der Vorstellung bürgerschaftlichem Handeln geprägten politischen Philosophie stets gegen eine rein funktionalistische Perspektive abgegrenzt wurde. Damit wird der Begriff der Technik tendenziell unscharf, verliert er doch seine Beschränkung auf den herstellenden Gebrauch von Werkzeugen bzw. die Beherrschung spezifischer Fähigkeiten zur Erzielung eines bestimmten Zweckes und wird zunehmend identisch mit Beherrschung schlechthin. Damit meint Technik nicht mehr nur die technische Herrschaft von Menschen über die Natur, sondern auch die Herrschaft des Menschen über den Menschen. Die Erweiterung technischer Verfügungsgewalt zur „Humantechnik“ (Ellul 1964, S. 319) wird durch die Digitalisierung radikalisiert. Digitale Verhaltensbeobachtung, Verhaltensvorhersage und Verhaltenskontrolle erweitern und entgrenzen den Möglichkeitsraum von Herrschaft – und lassen demokratische Formen des kollektiven Handelns zunehmend als überkommene, ineffiziente Mittel der Entscheidungsfindung erscheinen. Mit diesem „Aberkennen der Bedeutung kollektiver politischer Handlungsformen“ aber knüpft die „digitale Konstellation“ (Berg et al. 2020, S. 179 f.) unmittelbar an die utopische Tradition des politischen Denkens an: Seit seiner Erfindung in der Frühen Neuzeit spielt dieses Genre die Möglichkeit einer perfektionierten Ordnung durch. Die Idee einer umfassenden Verhaltenssteuerung hat hier von Beginn an eine zentrale Rolle eingenommen. Gemeinsames Merkmal der frühneuzeitlichen Utopien ist dabei ein naturwissenschaftliches Verständnis sozialer Ordnung, in der politische Fragen zu technisch lösbaren Problemen transformiert werden.Footnote 3

Politik und Technik stehen jedoch in keinem prinzipiellen Gegensatz. Aus der aristotelischen Perspektive wurde Politik zunächst als spezifisch selbstzweckhafte und autonome Form der Praxis gegen die herstellenden Formen des menschlichen Handelns gestellt (Aristoteles 1969, S. 5 ff.; Arendt 1981). Gegenüber dieser Abgrenzung haben insbesondere moderne Politikbegriffe auch ein instrumentelles, macht- bzw. ressourcendominiertes Verständnis von Politik entwickelt (Machiavelli 1990, Laswell 1936; zu den verschiedenen Facetten des Politikbegriffs Rohe 1994). Dieses spezifisch moderne Politikverständnis betont damit analog zum Begriff der Technik das Moment der Herrschaftssteigerung durch den Einsatz effizienter Mittel und kann somit als eine Angleichung politischen Handelns an technisches Handeln verstanden werden. Auf den ersten Blick erscheint diese technisch gesteigerte Verfügungsmacht als Steigerung gesellschaftlicher Autonomie. Technisierung wirkt aber zugleich in die entgegengesetzte Richtung, wie Hans Blumenberg bereits 1951 gezeigt hat: „Als Grundzug der technischen Sphäre enthüllt sich mehr und mehr ihre Autonomie, die zunehmende Unverfügbarkeit für den Menschen, das Überspielen seiner Entschlüsse, Wünsche, Bedürfnisse durch eine Dynamik der Sache, die dem gesamten Leben der Epoche einen unverkennbaren homogenen Stil aufprägt“ (Blumenberg 2015, S. 18). Helmuth Schelsky hat diesen Wandel der Technik von Effizienzsteigerung politischer Entscheidung hin zu deren faktischen Einschränkung als Logik des „Sachgesetzlichkeit“ im „technischen Staat“ analysiert.Footnote 4 Damit aber ist die moderne Technisierung des Politischen Ausdruck eines gesellschaftlichen Autonomiewillens und zugleich Begrenzung seiner Möglichkeit.

Diese Spannung zwischen technischer Ermächtigung und Freiheitsbegrenzung ist bereits in der neuzeitlichen Utopietradition angelegt. Utopien sind seit Thomas Morus nicht nur politische Entwürfe, sondern verdanken einen großen Teil ihrer Ordnungsvorstellungen dem naturwissenschaftlichen Weltbild der Neuzeit. Dessen Begriffe von Gesetzmäßigkeit und Naturbeherrschung sind im utopischen Genre auf die menschliche Ordnung übertragen worden, welche nun auf eine neue, wissenschaftliche und rationale Weise als perfektes Ensemble entworfen werden kann. Nach der Verzeitlichung des Utopiegedankens liegt die perfekte Ordnung nicht mehr auf einer Insel oder an einem unzugänglichen, verborgenen Ort, sondern in der auf der Zeitachse zu erreichenden, zukünftigen Gegenwart (Koselleck 1985). Ebenso wie in den Digitalisierungsdiskursen ragt die Zukunft immer schon in das Heute hinein und kann von einer (Cyber‑)Avantgarde vorweggenommen werden.

Die Ursprünge dieser Tradition gehen jedoch zurück auf die antike politische Philosophie: Platons Politeia ist die erste Staatsform, in der „das menschliche Miteinander technisch geregelt werden kann“ (Arendt 1981, S. 289). Das utopische Genre hat sich daher auch nicht zufällig im Rahmen der frühneuzeitlichen Platonrezeption fortentwickelt. Thomas Morus Utopia (1516) mag wohlmöglich nur als „Humanistenscherz“ gemeint gewesen sein (Ottmann 2006, S. 138) – mit seinen innerweltlichen Wissensbezügen stellte der literarische Entwurf aber eine Alternative zu den apokalyptischen Endzeiterwartungen dar, wie sie im Zeitalter der Reformation allgegenwärtig waren.Footnote 5 Die enge Verbindung von politisch-sozialer Neugestaltung und wissenschaftlichem Ordnungswissen bewegt sich in der frühen Neuzeit zunehmend vom philosophischen Humanismus zu den im Entstehen begriffenen Naturwissenschaften.Footnote 6 Mit der Verschiebung zum neuzeitlichen Wissenschaftsverständnis wird die Welt nicht mehr vermittels philosophischer oder theologischer Abhandlungen lesbar, sondern durch die experimentelle Lektüre im „Buch der Natur“ (Blumenberg 1983, S. 61): An die Stelle der Bibliothek als Wissenslieferant tritt das Labor, und das Experiment löst die philosophische Reflexion als primäre Quelle von Erkenntnis ab.

Die Utopien der Frühen Neuzeit sind somit erste Zeugnisse eines neuzeitlichen, sozialtechnologischen Planbarkeits- und der Optimierungsglaubens. Politisches Handeln im Sinne einer an Freiheit und Autonomie orientierten aristotelischen Praxis wird damit nicht vollkommen verdrängt, tritt aber in ein Spannungsverhältnis zu einem an wissenschaftsbasierter Naturbeherrschung angelehnten Verständnis von Politik. Zumeist steht nicht die politische Staatsverfassung selbst im Mittelpunkt der utopischen Entwürfe, sondern die vielmehr die detaillierte Gestaltung aller – auch und gerade der privaten – Aspekte des gemeinschaftlichen Zusammenlebens: Organisation und Planung des Arbeitslebens, der Familienstruktur, der gemeinsamen Mahlzeiten, der arbeitsfreien Zeit etc., sowie der dazu notwendigen städtebaulichen Strukturen (zu letzterem Kruft 1989).

Politiktheoretisch wird dieser Umbruch in mehrfacher Hinsicht reflektiert bei Niccolò Machiavelli. Trotz seiner engen Verbindung zur humanistisch-republikanischen Tradition hat gerade die Reformulierung von Politik als instrumentell kalkulierende Herrschaftstechnik das neuzeitliche Verständnis nachhaltig geprägt (Skinner 1998, S. 180 ff.). In der Folge wird politisches Handeln immer auch zu einer Frage der strategischen Machttechnik – dabei geht es nicht nur um die Frage der direkten Herrschaftsmittel und ihrer Monopolisierung, wie sie im Mittelpunkt der Rekonstruktion von Max Weber stand (Weber 2009). Auch die indirekte Steuerung über Stimuli wird im Sinne der politischen Verhaltenssteuerung erwogen – beispielsweise in Gabriel Naudés Considérations politiques sur les coups d’État (1667), die die Schaffung von positiven und die Vermeidung von negativen Handlungsanreizen zum Gegenstand politischer Klugheit machen.Footnote 7 Der Politikbegriff weist in der Frühen Neuzeit somit eine Bedeutungsverschiebung auf: Sein normativer, bürgerschaftlicher Ordnungshorizont wurde zunehmend von der Vorstellung souveräner staatlicher Herrschaft überlagert. Im Zuge dieser Entwicklung wird Politik dann auch zu einem Instrument der Verhaltensbeeinflussung Dritter.

Damit bewegt sich das neuzeitliche Denken in eine Richtung, in der die Natur und ihre Beherrschung zum zentralen Objekt des wissenschaftlichen Diskurses wird. Insoweit sich aber die Natur diesen Bemühungen einer vollkommenen Beherrschung entzieht und daher dem menschlichen Zugriff niemals in Gänze verfügbar wird, erscheint für Descartes und darüber hinaus „das Reich der Konstruktion, die technische Welt“ zunehmend als der wahre „Bereich unserer Souveränität und Freiheit“ (Blumenberg 2015, S. 78). Erst in der konstruktiven Überwindung der Natur erfährt sich der Mensch demnach als wahrhafter Schöpfer. Das zu diesem mechanistischen Weltmodell passende politische Ordnungsmodell hat der ehemalige Sekretär von Francis Bacon, Thomas Hobbes, 1651 entworfen: Der more geometrico konstruierte Maschinenstaat schließt insofern nicht nur wissenschaftstheoretisch an die frühneuzeitlichen Steuerungsutopien an. Auch inhaltlich geht es darum, das komplexe Geflecht der Affekte auf Grundlage eines wissenschaftlichen Kalküls zu rationalisieren. Der zu diesem Zweck entworfene Staatsautomat dient dabei nicht allein der Produktion von sicherheitsstiftenden Gesetzen, sondern vornehmlich dazu, politische Stabilisierung durch die symbolisch-visuelle Induktion von Angst vor Bestrafung zu erreichen.Footnote 8 Hobbes’ Leviathan ist damit insofern Teil der technischen Naturbeherrschung, als es sich hier nicht nur um die Beherrschung der Natur durch den Menschen, sondern vor allem auch um die technische Beherrschung der menschlichen Natur handelt. Mit Thomas Hobbes wird damit der moderne Staat selbst als eine „Humantechnik“ (Ellul 1964, S. 319) begründet. Der Leviathan ist eine affektbasierte, die Leidenschaften kontrollierende und zähmende politische Maschine, die dem Zweck öffentlicher Sicherheitsproduktion dient (Bredekamp 2003; Frankenberg 2010; Bates 2012; Skinner 2017; Schulz 2017). Dieses Verständnis setzte sich schließlich in der Idee der absolutistischen Staatsmaschine durch (Stollberg-Rilinger 1986).

Während also die mechanische Steuerung der Leidenschaften zum großen Projekt absolutistischer Souveränität entwickelt wird, so finden Planung und Optimierung von Politik und Gesellschaft auch Eingang in die politischen Theorien und konkreteren Verfassungsprojekte der Aufklärung.Footnote 9 Technische Mechanisierung der politischen Ordnung und aufklärerisches Perfektionsideal verbinden sich seit dem achtzehnten Jahrhundert zu einer Vorstellung, die in der perfekten Gestaltung des politischen Gemeinwesens eine notwendige Voraussetzung der menschlichen Selbstperfektionierung sah. Im Lichte einer allgemeinen Faszination dieser Zeit mit Automaten Footnote 10 konnte diese Verbindung auch zu einer direkten Anwendung technisch-mathematischer Modellvorstellung auf die Gestaltung von Staat und Gesellschaft führen (Condorcet 1993, ders. 2010, S. 173 ff. u. S. 171).

Damit aber entwickelt sich die Ambivalenz zwischen Freiheit und Sozialtechnologie mitten im Denken der Aufklärung selbst. Das neunzehnte Jahrhundert hat mit der zunehmenden lebensweltlichen Bedeutung von Wissenschaft und Industrie auch eine ganze Reihe von entsprechenden Utopien hervorgebracht, in denen sich die Anwendung technischer Problemlösungen zu einer reißbrettartigen Gesamtskizze neuer Gesellschaftsmodelle verdichtet. Während in der Folge von Auguste Comtes Positivismus und der im Entstehen begriffenen Wissenschaft von der Gesellschaft bei Adolphe Quetelet die Möglichkeit einer „physique sociale“ ausgelotet wird (Quetelet 1835), schreiben zahlreiche Utopisten die mit Morus begonnene Tradition im Kontext der industriellen Moderne fort: Beginnend mit Louis-Sébastien Merciers L’an deux mille quatre cent quarante (1771) setzte die Verzeitlichung der Utopie ein, mit der die geplante Ordnung in die Zukunft verlegt wird. Damit steigt zugleich die Erwartung an die tatsächliche und konkrete Umsetzbarkeit des utopischen Modells. Die Entwürfe von Saint-Simon, Charles Fourier und Robert Owen verlieren daher zunehmend die literarische Form einer Erzählung von einem fiktiven Ort und nehmen die Form eines noch in der eigenen Lebenszeit realisierbaren Projektes an.Footnote 11 Damit handelt es sich hier bereits um explizite Steuerungsutopien einer politischen Avantgarde, die über die technologischen Einblicke in die gesellschaftlichen Kausalzusammenhänge verfügt und daraus einen konkreten Handlungs- und Gestaltungsanspruch ableitet.Footnote 12

Die Vorstellung einer wissenschaftlichen Rationalisierung der Politik bildet vor diesem Hintergrund eine der Grundströmungen des neunzehnten Jahrhunderts. Während einerseits im nachrevolutionären Liberalismus die Idee einer Souveränität der Vernunft als vermeintlicher Ausweg aus den politischen Konflikten zwischen monarchischen und demokratischen Legitimitätsansprüchen gesehen wird (Guizot 1985, S. 249), so führt auf Seiten des Marxismus die Verwissenschaftlichung der frühsozialistischen Planungsutopien zum Absterben des Staates: „An die Stelle der Regierung über Personen tritt die Verwaltung von Sachen und die Leitung von Produktionsprozessen“ (Engels 1973, S. 224).Footnote 13 So zeigt sich, dass die Entwicklung des modernen, demokratischen Verfassungsstaates nicht nur durch einen normativen, an praktischer Autonomie orientiertem Politikbegriff geprägt ist, sondern zugleich von der – teils parallel verlaufenden, teils konkurrierenden – technisch geprägten Vorstellung gesellschaftlicher Steuerung begleitet wurde. Dieses technische Erbe des Politikbegriffs hat im zwanzigsten Jahrhundert dazu geführt, dass die technische Dimension rationaler Steuerung gänzlich gegen die vermeintliche Irrationalität des Politischen in Stellung gebracht werden konnte.

2 Jenseits des Politischen: Die Gesellschaft als Skinner-Box

Das utopische und postutopische Denken des neunzehnten Jahrhunderts spiegelt damit die Entwicklung jener rationalen Herrschaft, die Max Weber zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts als Kernelement des modernen Anstaltsstaates ausmachte (Weber 2009). Zu diesem Zeitpunkt der Jahrhundertwende ist auch der Begriff der Technokratie erstmals geprägt worden. In den USA geht diese technokratische Perspektive zurück bis auf Woodrow Wilson und Frank Goodnow (vgl. Rosanvallon 2015, S. 90 ff.). Politik wird hier zur angewandten Verwaltungswissenschaft und dreht sich im wesentlich um die Frage der Zweck-Mittel-Rationalität. Im Mittelpunkt steht die Idee einer radikalen Effizienzsteigerung staatlicher Steuerungsleistungen: Angesichts der zunehmenden Komplexität moderner Gesellschaften erscheint politische Willensbildung und Entscheidung zunehmend irrtumsanfällig und soll durch eine rationalisierte Form der Expertenherrschaft abgelöst werden (Meynaud 1964, S. 9). Staat und Gesellschaft sollten aus dieser Sichtweise so geführt werden, wie (männliche) Manager und Ingenieure die Abläufe der industriellen Produktion optimierten.Footnote 14 Diese Vorstellungen sind im zwanzigsten Jahrhundert von ganz unterschiedlichen politischen Strömungen – vom Sozialismus über den Liberalismus bis hin zum Konservatismus – aufgegriffen und weiterentwickelt worden (Etzemüller 2009). Im europäischen Kontext wurde diese Idee exemplarisch von der sozial-demokratisch geprägten Steuerungsutopie Gunnar Myrdals verkörpert, in der die Frage der sozialen Verteilungsgerechtigkeit durch technisch-expertokratische Entscheidungsfindung rationalisiert werden sollte (Etzemüller 2010).

Das mit der Industrialisierung anbrechende Zeitalter der technologischen Hochmoderne (Scott 1999; Frauenholz et al. 2012) hat dieses fortschrittsgläubige Optimierungsdenken gegen Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts fortgeführt. Der Verhaltenspsychologe B. F. Skinner knüpfte mit seinem einflussreichen Entwurf des behavioral engineering an die utopische Tradition an und definierte sie als applied psychology neu (Skinner 1953). Skinner greift dabei die Überlegungen auf, die bereits 1913 von John B. Watson entwickelt wurden. Dort war das Ziel des neuen verhaltenspsychologischen Forschungsansatzes sehr deutlich definiert worden: „Its theoretical goal is the predicition and control of behavior“ (Watson 1913, S. 158).

Bemerkenswert an Skinners Position ist die Tatsache, dass er den Mechanismus der Verhaltensteuerung durch hierarchisch implementierte Anreizstrukturen in Form einer literarischen Utopie popularisiert hat und somit die Verbindung von wissenschaftlichem Erkenntnisgewinn und sozialem Ordnungsanspruch wieder deutlich sichtbar macht.Footnote 15 Damit wiederholt sich hier ein klassisches Muster aus der politischen Ideengeschichte der Utopie: Naturwissenschaftliche Erkenntnisse und Paradigmen werden aus ihrem ursprünglichen Kontext herausgelöst und durch die Übertragung auf gesellschaftliche und politische Ordnungsfragen zum technischen Problemlösungswissen erklärt. In der Frühen Neuzeit waren es Astronomie und Geometrie, später kamen die Sozialmathematik (Condorcet) und die Sozialphysik (Quetelet) hinzu. Bei Skinner ist es nun die Sozialpsychologie, die das grundlegende Ordnungsproblem des menschlichen Zusammenlebens wissenschaftlich exakt lösen soll. Hinzu kommt, dass Skinners Utopie keineswegs nur eine akademische Fingerübung darstellte. Im Gegenteil: Wie Hilke Kuhlmann (2005) eindrücklich gezeigt hat, traf Skinners Walden Two in den USA auf eine zwar verspätete, aber dann seit etwa 1960 umso größere Resonanz und wurde in zahlreichen experimentellen Gemeinschaftsprojekten in die Tat umgesetzt.

Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg entwarf Walden Two 1948 in Romanform ein fiktives Szenario, in dem auf der wissenschaftlichen Grundlage des Behaviorismus eine perfektionierte Ordnung konstruiert wird. Unter der Führung des charismatischen Gründers Frazier obliegt einer kleinen Elite von sechs Planerinnen und PlanernFootnote 16 sowie einer Gruppe von ausführenden Managerinnen und Managern das verhaltenstechnische positive reinforcement, um die umfassende Bedürfnisbefriedigung und den sozialen Frieden zu sichern. Falsches Verhalten wird nicht durch Sanktionen verhindert, sondern das erwünschte Verhalten wird durch konditioniertes „Lernen“ gefördert. Die technokratische Pointe des Entwurfs liegt in der expliziten Distanz zu demokratisch verfasster, staatlicher Politik, die als traditionelle, aber ineffiziente Form harter Steuerung zugunsten der wissenschaftsbasierten weichen Steuerung verworfen wird. Allerdings ist damit auch die Abkehr vom Freiheitsbegriff verbunden: „If man is free, then a technology of behavior is impossible“ (Skinner 1976, S. 241; vgl. auch Skinner 1971b).

Damit präsentierte Skinner eine Ordnungsvorstellung, in der Staat und Regierung als Steuerungsinstanzen durch eine wissenschaftliche Verhaltensmodifikation abgelöst werden. Sowohl staatliche Regierung als auch demokratisches Entscheiden und die daraus resultierende rechtliche Ordnung sind aus dieser technokratischen Perspektive lediglich falsche Anreizsysteme zur Steigerung des Gemeinwohls, die ihr Ziel nur durch hierarchischen Zwang erreichbar machten.

Die wissenschaftsbasierte Konditionierung des Verhaltens setzt dagegen auf Steuerung, Kontrolle und Optimierung ohne direkte Herrschaftsausübung. Vielmehr geht es um das Design von Entscheidungskontexten und Rückkopplungsschleifen, die als weiche Macht eine sanftere, aber dafür auch nachhaltigere Wirkung entfalten sollen: Nicht die negative Sanktion durch den Gebrauch des Gewaltmonopols steht im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Vielmehr sollen positive Anreizstrukturen geschaffen werden, mit denen das erwünschte Verhalten prämiert wird. Die Mitglieder dieser Ordnung werden demnach so konditioniert, dass ihnen die handlungsleitenden Ziele nicht wie eine Fremd-, sondern wie eine Selbststeuerung erscheinen. Damit wird das politische Gemeinwesen zur kollektiven Skinner-Box umgebaut – jene konditionierende Versuchsanordnung, an der ihr Namensgeber mit Hilfe von Labormäusen die Techniken der positiven Verhaltensverstärkung zuerst erprobt hatte.Footnote 17

Die Abkehr vom demokratischen Verfassungsstaat ist dabei nur vordergründig als ein Bruch mit der utopischen Tradition zu verstehen. Seit Morus hatte das Genre immer schon Platons Wissensherrschaft zur Grundlage einer rationalisierten Entscheidungsstruktur gemacht, die sich politisches Handeln nicht mehr als ein Ausdruck von selbstbestimmter und ergebnisoffener Freiheit vorstellen mochte, sondern vielmehr als eine instrumentelle Form zur Durchsetzung der objektiv besten Ergebnisse. Zum gleichen Zeitpunkt also, an dem die Orwellsche Dystopie den utopischen Diskurs abgelöst und die totalitäre Dimension der humantechnologischen Zentralsteuerung offengelegt hatte, kehrt Skinner zurück zu einer Vorstellung der grundlegenden Planbarkeit sozialer Ordnung. Skinners Utopie wirkt dabei in Richtung einer radikalen Enthistorisierung: Die Zukunft rückt noch näher an die Gegenwart, die moderne Gesellschaft besitzt in Gestalt der avancierten Verhaltenswissenschaften die Mittel zur Verwirklichung ihrer eigenen Zukunft im Hier und Jetzt.

Gleichwohl bleibt auch in dieser antistaatlichen Perspektive das zentrale Ziel die Erzeugung kollektiver Sicherheit. Die Konditionierung des „behavioral engineering“ (Skinner 1976, S. 93) dient der wissenschaftlichen Minimierung aggressiven Verhaltens.Footnote 18 Der Staat erscheint jedoch für diesen Zweck als ein überholtes Instrument: „A state defined by repressive, formal, legal, social controls based on physical force is not necessary in the development of civilization, and although such a state has certainly figured in our own development, we may be ready to move on to another stage“ (Skinner 1976, S. xv).

Skinner wählt dagegen das Vorbild von Henry David Thoreaus Walden für seine eigene Utopie: Mitte des neunzehnten Jahrhunderts hatte sich Thoreau aus der Gesellschaft in eine selbstgebaute Blockhütte in den Wäldern Massachusetts zurückgezogen, um im Einklang mit der Natur Widerstand gegen die Eingriffe in seine individuelle Selbstbestimmung zu leisten. Sein literarischer Erfahrungsbericht wurde zu einem überaus einflussreichen Bestseller, dessen folgende Rezeption durch die Entwicklung zur technisch-industriellen Zivilisation noch verstärkt wurde. Thoreaus radikalisierte Autonomie hatte jedoch den Nachteil, dass Autarkie und Herrschaftsfreiheit lediglich in Form eines sozialen Solipsismus zu verwirklichen waren. Die Herausforderung für Walden II lag demnach darin, dieses Ideal auch für eine soziale Gemeinschaft auf der Höhe des wissenschaftlich Machbaren zu ermöglichen.

Die Fortschritte in der psychologischen Steuerungstechnik versprechen für Skinner nun genau diese Schwäche von Walden I zu überwinden und eine soziale Ordnung zu errichten, in der ein Leben im Einklang mit den natürlichen Bedürfnissen auch in Gemeinschaft realisierbar ist.Footnote 19 Dazu ist jedoch nicht nur eine Abkehr von den Irrwegen staatlicher Lösungen notwendig. Auch die Beschäftigung mit der Geschichte hat für die Suche nach der Lösung gesellschaftlicher Probleme ausgedient. Historisches Erfahrungswissen wird angesichts der neuen, experimentell gewonnenen wissenschaftlichen Möglichkeiten radikal entwertet. Bereits in Aldous Huxleys Brave New World zitiert das Weltregierungsmitglied Mustapha Mond den als säkularen Heiligen verehrten Henry Ford mit seinem Satz „history is bunk“ (Huxley 1977, S. 38). Auch in Walden II hat Geschichte nur noch zum Zweck der Unterhaltung einen Platz.Footnote 20

Welche Folgen hat nun diese Abkehr von der Tradition des demokratischen Verfassungsstaats für die Gestaltung der neuen Ordnung? Zunächst ist auffällig, dass mit dem literarischen Manifest der behavioristischen Verfassung einerseits offen für dieses Modell geworben wird.Footnote 21 Andererseits jedoch ist eines der Kernmerkmale, dass für die Bewohnerinnen und Bewohner der neuen Gemeinschaften deren Struktur selbst weitgehend verborgen bleibt. Eine Öffentlichkeit ist nicht notwendig und würde die Rationalität der planerischen Entscheidungen nur beeinträchtigen: „We deliberately conceal the planning and managerial machinery to further the same end. I doubt whether there are half a dozen members, aside from the Managers, who can correctly name all six Planners“ (Skinner 1976, S. 220).

Deutlich wird diese Abkehr von zentralen Grundprinzipien liberaler Demokratien auch in der Frage nach dem Gründungsakt. Auch dieser muss in Walden II arkan bleiben, weil ein öffentliches Bewusstsein der eigenen Gründung die Historizität des Gemeinwesens sichtbar machen würde: „For the same reason […] we discourage any sense of history. The founding of Walden two is never recalled publicly by anyone who took part in it“ (Skinner 1976, S. 221). Die historische Genealogie bedroht damit den rationale Geltungsanspruch und wird radikal aus dem Bewusstsein der Mitglieder verdrängt. Trotz ihres technischen Kerns darf der gemachte Charakter der Ordnung nicht sichtbar werden. Der republikanische Aspekt der Erfahrungsgebundenheit politischer Ordnung, der in eine erhöhte Bedeutung historischer Narrative übertragen wird, ist in der technokratischen Ordnung in sein Gegenteil verkehrt: Technische Rationalität kann ihre eigene Historizität nicht abbilden, ohne den eigenen Geltungsanspruch des Innovativen damit zu unterlaufen. Technische Innovation lebt daher von der neuzeitlichen Überzeugung, dass das Neue dem Alten aufgrund des zwangsläufig damit verbundenen Wissensvorsprunges überlegen sein muss.Footnote 22 Technik von gestern ist damit nicht Gegenstand normativ sinnvoller Erfahrung, sondern lediglich veraltet. Dass die Erinnerung an Ursprünge, Prototypen und erste Serienmodelle sowie die Ausstattung von Produkten mit einer Geschichte unter den Gesichtspunkten des Produktmarketing erfolgreich sein kann, ist bereits eine postmoderne Brechung der Dominanz zukunftsorientierter Innovation, wie sie die technische Hochmoderne geprägt hat.Footnote 23

Skinners Theorie des „positive reinforcement“ versteht die Gründung eines Gemeinwesens daher vielmehr als eine experimentelle Versuchsanordnung, die je nach Resultat immer wieder neu optimiert werden kann und auf diese Weise mit der Zeit immer effizienter wird, ohne dass die Zeitlichkeit dieser Ordnung zum Teil der öffentlichen Selbstbeschreibung wird. Maßgeblich ist die Herstellung adaptierter Entscheidungsanreize, mit der die Planer und Manager der Ordnung regelmäßig ein Update verpassen und damit den Kontrollmechanismus justieren.Footnote 24

Damit, und dies ist im Grunde das Hauptargument Skinners gegen die traditionelle Begründung von Staat und Recht, wird der strafende Sanktionsmechanismus zur Vermeidung negativer Handlungen durch einen positiven Verstärkermechanismus von erwünschten Handlungen ersetzt. Wichtig für Skinner ist es dabei, zu betonen, dass der behavioristische Kontrollanspruch nicht direkt auf das Verhalten selbst gerichtet ist, sondern indirekt auf der motivationalen Ebene der Wünsche und Wertvorstellungen wirksam wird: „we control not the final behaviour, but the inclination to behave – the motives, the desires, the wishes“ (Skinner 1976, S. 246 f.). Auch hier ist eine bemerkenswerte Parallele zur gut zehn Jahre zuvor erschienen Dystopie von Huxley zu beobachten: Dessen Hauptfigur Helmholtz Watson arbeitet am „College of Emotional Engineering“ und die Konditionierung der Leidenschaften ist eine der zentralen Herrschaftstechniken in Brave New World. Skinner und Huxley stellen sich – unter umgekehrten normativen Vorzeichen – die moderne Utopie als eine governance der Affekte vor, wie sie in der utopischen Tradition schon bei Charles Fourier in der Theorie der vier Bewegungen im Zentrum steht und die bereits im achtzehnten Jahrhundert in der Aufklärungstheorie thematisiert wurde (Fourier 1966; Hirschman 1977).

Genau in dieser Affektökonomie liegt damit auch der Übersprung von der wissenschaftlichen Beobachtung äußeren Verhaltens zu Kontrollansprüchen innerer Zustände und Einstellungen des beobachteten Subjektes, mit dem letztlich eine wesentliche Selbstbegrenzung des Liberalismus aufgegeben wird (Fischer 2014).Footnote 25 Der Liberalismus hatte immer auch den Anspruch, liberale Subjekte über Bildung und über die Sozialisierungsleistung liberaler Institutionen zu formen. Darin lag das republikanische Erbe, politische Ordnung nicht nur auf äußerliche Verhaltensdispositionen, sondern auch auf die motivationalen und ethischen Überzeugungen der Bürgerinnen und Bürger zu legen (Schulz 2015). Dieser latente Subjektivierungsanspruch liberalen Denkens wird nun in der Hochmoderne an neuere, vermeintlich effizientere Steuerungstechniken gekoppelt und kehrt sich mit seinen technokratischen Konsequenzen gegen den Liberalismus und seine normativen Grundannahmen von Freiheit und Autonomie.

Freiheit und Autonomie sind für Skinner jedoch nur verdeckte Chiffren einer planlosen Gesellschaft, die Kontingenz und Willkür anstelle von Rationalität und verbindlichen Zielen den Vorzug gibt. Angesichts der irrationalen Kollateralschäden des liberalen Freiheitsverständnisses ist für Skinner klar: „there’s no alternative to a planned society.“ (Skinner 1976, S. 248). Die hier an den Liberalismus gerichtete Kritik trifft im Übrigen auch die Demokratie. Hier nimmt Skinner Argumente des klassischen Liberalismus auf, die den normativen Begriff von politischer Teilhabe empirisch kritisieren. Das funktionalistische Argument, demokratische Partizipationsversprechen seien angesichts der geringen individuellen Aussichten auf Beeinflussung des Wahlausgangs hinfällig (Skinner 1976, S. 249), hatte bereits Benjamin Constant in seiner Überlegung zur Freiheit der Alten und der Modernen gebraucht (Constant 1972). Der Despotie-Vorwurf (prominent Chomsky 1959, 1971; Koestler 1967) wurde von Skinner vorhergesehen und mit Verweis auf die Despotie der Mehrheit abgewehrt, die ebenso wie die Despotie der Ignoranz und die Despotie des Zufalls der wahre Feind einer guten Ordnung sei (Skinner 1976, S. 252). Mitbestimmung ist in Walden II allein als technische feedback-Schleife eingeplant: „The government of Walden two […] has the virtues of democracy but none of the defects. […] Every Member has a direct channel through which he may protest to the Managers or even the Planners. And these protests are taken seriously as the pilot of an airplane takes a sputtering engine. We don’t need laws and a police force to compel a pilot pay attention to a defective engine. […] Similarly, our Behavioral Cultural Managers need not be compelled to consider grievances. A grievance is a wheel to be oiled, or a broken pipeline to be repaired“ (Skinner 1976, S. 253). Entscheidend ist damit primär eine empirische Frage der technischen Effizienz, nicht jedoch eine normative Frage der Autonomie. Die Verfassung und die Regierung von Walden II ist folgerichtig Sache von Spezialistinnen und Spezialisten. Verfassungsänderungen bedürfen des einstimmigen Votums der Planerinnen und Planer und zwei Drittel der Managerinnen und Manager (Skinner 1976, S. 254). Für die rationale Effizienz wird damit der normative Kern des Liberalismus geopfert.

Skinners Behaviorismus markiert eine Verschiebung in der Beschreibungssemantik moderner Gesellschaften. Die durch die philosophische Tradition des Liberalismus geprägte Sprache von Freiheit und Individualität ist für den Behaviorismus keine korrekte Abbildung der sozialen Wirklichkeit und damit falsch. Die eigene, naturwissenschaftlich codierte Semantik hingegen wird als objektive Beschreibung der Gesellschaft präsentiert. Der entscheidende Unterschied zwischen Naturbeobachtung und gesellschaftlicher Selbstbeschreibung liegt jedoch darin, dass erstere ihren Gegenstand nur beschreibt, um ihn besser zu beherrschen – letztere aber mit ihrer Semantik immer auch die Geltung gesellschaftlicher Normen und Handlungsoptionen konstruiert. Wie im dritten Abschnitt gezeigt werden soll, spielt genau dieser semantische Konflikt aber auch in der Digitalisierungsdebatte eine wichtige Rolle, die damit das uneingestandene Erbe der technischen Steuerungsutopien antritt.

3 Social engineering in der digitalen Konstellation

Skinners szientifisches Verständnis von Politik und Gesellschaft in der technokratischen Hochmoderne ist nicht ohne Widerspruch geblieben. Die fünfziger und sechziger Jahre haben eine ganze Reihe von technikkritischen Positionen hervorgebracht, die sich sowohl gegen den Behaviorismus im Besonderen als auch gegen die zunehmende Technisierung des Politischen im Allgemeinen richteten (Ellul 1964; Anders 1956; Mumford 1977).Footnote 26 Diese kulturkritisch ausgreifenden Diagnosen werden 1961 von Helmuth Schelsky in seinem Essay Der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation zur politischen Herausforderung des „technischen Staates“ verdichtet, in der auf die umfassende Technisierung der Gesellschaft nur mit einer technokratischen Transformation des Staates geantwortet werden kann, wenn ein Anspruch auf politische Steuerung überhaupt noch aufrechterhalten werden soll (Schelsky 1979, S. 468 ff.). Der technokratische Ordnungsentwurf des Behaviorismus blieb auch in der politischen Theorie nicht unwidersprochen. Während die amerikanische Politikwissenschaft schon früh den naturwissenschaftlichen Erklärungsmodellen nacheiferte und sich der modifizierte Ansatz des Behavioralismus mit einem erweiterten Verhaltensbegriff und abgeschwächtem Steuerungsanspruch durchsetzte,Footnote 27 ging die normativ orientierte Theoriediskussion zu dieser technokratischen Erblast der social sciences auf Distanz und versuchte, an den von Aristoteles und dem deutschen Idealismus geprägten politischen Handlungsbegriff anzuknüpfen (Arendt 1981; Taylor 1964; Habermas 1969).

Ungeachtet dieser massiven Kritik an der Technisierung von Politik und Gesellschaft setzte sich die utopische Steuerungshoffnung sowohl im Kontext der amerikanischen Alternativkultur (Turner 2006) als auch im staatlichen und ökonomischen Bereich fort (Lepore 2020). Der letzte Abschnitt des Beitrages wird daher exemplarisch die Kontinuität der technischen Steuerungserwartungen und ihre politische Relevanz aufzeigen. Dabei ist die mit dem Computer und der Digitalisierung verbundene Umbruch sehr viel weniger ein revolutionärer Einschnitt, als eine Fortsetzung von strukturellen Mustern der Technisierung und der Maschinisierung – insofern haben Computer vielmehr dazu beigetragen, diese Entwicklung zu stabilisieren als sie zu transformieren (Weizenbaum 1977, S. 54 f.; mit einer vergleichbaren These auch Nassehi 2019). Zuletzt hat Zuboff gezeigt, wie sehr die Steuerungserwartungen von Skinner die digitalen Gegenwartsprojekte geprägt haben (Zuboff 2018, S. 377). Diese Debatten bilden damit einen wichtigen Vorgriff auf die digitale Konstellation. Wissenschaftsgeschichtlich ist dieser Einflussprozess jedoch durch den Umbruch von der behavioristischen Sozialpsychologie zur Verhaltensökonomie markiert. Die vom Behaviorismus prognostizierten Möglichkeiten der Verhaltenssteuerung werden jetzt durch eine Verbindung von Verhaltensökonomie und Big Data erwartet. Damit wiederholt sich mit der „californian ideology“ (Barbrook und Cameron 1995) ein Muster in der Entwicklung der klassischen Utopien, die sich stets von der Entwicklung neuer Wissensformen radikal neue Steuerungsmöglichkeiten auf dem Weg zur perfekten Ordnung erhofften.

Ein besonders prominentes Beispiel ist die Diskussion um das „Nudging“, das als weiche Form der Steuerung die paradoxe Verbindung von libertärer Entscheidungsfreiheit und normativ geleiteter Beeinflussung der outcomes ermöglichen soll: Cass Sunstein und Richard Thaler haben mit ihrer Theorie den Versuch unternommen, die alte Frage der Gemeinwohlorientierung politischen Handelns in die verhaltenstheoretische Konstruktion von Entscheidungsarchitekturen zu überführen (Thaler und Sunstein 2009). In der Sozialwissenschaft hat sich damit zunächst unabhängig von der Digitalisierungsdebatte eine Fortsetzung der Steuerungshoffnung entwickelt, die im Wesentlichen seit den siebziger Jahren aus der Kombination der sozialpsychologischen Ansätze mit Verhaltensökonomie und der Frage nach der Rationalität von Konsumentscheidungen erwachsen ist (Bröckling 2017, S. 182 ff.).Footnote 28 Der von Sunstein und Thaler propagierte „libertäre Paternalismus“ (Thaler und Sunstein 2003) zielt auf eine weiche Steuerung, bei der die Präsentation von Entscheidungsalternativen für die Konsequenzen des tatsächlichen Entscheidens eine große Rolle spielt. Die individuelle Entscheidungsfreiheit soll demnach normativ erhalten bleiben, die faktische Entscheidungswahrscheinlichkeit aber durch die Gestaltung der äußeren Entscheidungskontexte maßgeblich beeinflusst werden.

Das Besondere der Verhaltensökonomie im digitalen Zeitalter besteht nun in der Möglichkeit, die Beeinflussungsmechanismen zunehmend zu personalisieren und damit ihre effektive Wirksamkeit weiter zu erhöhen (Sunstein 2015, S. 155 ff.; Pohle et al. 2018, S. 13 ff.; Stalder 2016, S. 228 f.). Dieser Ansatz hat naheliegend nicht nur privatwirtschaftliche Anwendung, sondern wird auch von staatlichen Regierungen genutzt, um gemeinwohldienliche outcomes ohne direkten Einsatz von gesetzlichem oder finanziellem Zwang zu erreichen.Footnote 29 Kritik findet die Steuerung des Nudging prominent durch den Gouvernementalitäts-Ansatz, der diese weiche Form der Steuerung immer schon in das Dispositiv technisch-instrumenteller Machtstrukturen eingeordnet hatte. Während in Skinners Utopie der Verhaltenssteuerung die Expertinnen und Experten noch einen personalen Einfluss auf die Steuerung ausüben mussten, so kehrt im algorithmengestützten Optionsdesign „der gute Hirte als Maschinenutopie“ zurück (Bröckling 2017, S. 193). Dabei wird auch auf einen blinden Fleck verwiesen, der in den Ansätzen der Verhaltensökonomik zumeist unterschlagen wird: Verhaltenssteuerung findet in der sozialen Wirklichkeit nicht unter Laborbedingungen statt, sondern steht in einem permanenten Konkurrenzverhältnis unterschiedlicher Steuerungsanreize einer Vielzahl von Akteuren – seien es staatliche Institutionen oder privatwirtschaftliche Unternehmen (ebd.). Hinzu kommt, dass bei der Umsetzung verhaltenswissenschaftlicher Policy-Empfehlungen im politischen Entscheidungsprozess eine weitere Reduktion von Komplexität stattfindet: Das politisch verwendete Wissen entspricht selten der verhaltenswissenschaftlichen Erkenntnis, sondern instrumentalisiert diese im Sinne politischer Interessendurchsetzungen.Footnote 30 Auf diese Weise verkehrt sich die rationale Steuerung auch unter digitalen Bedingungen in den Kampf um die stärkste Steuerungsmacht.Footnote 31

Nochmals radikalisiert – und sehr viel weniger auf die politischen als auf die privatwirtschaftlichen Steuerungsansprüche ausgerichtet – wird das Modell der Verhaltenssteuerung unter dem sprechenden Begriff der Sozialphysik. Dabei handelt es sich um den Versuch des MIT-Informatikers Alex Pentland, mithilfe von Big Data die Lösung sozialer Distributions- und Steuerungsprobleme ohne staatliche Institutionen in Angriff zu nehmen und damit das Konditionierungsmodell von Skinner in das digitale Zeitalter zu übertragen (vgl. Zuboff 2018, S. 481 ff.). Der Anspruch dieses Modells ist es, die verhaltensökonomisch effiziente Steuerung von Kleingruppen in Unternehmen auf die Gestaltung von sozialen und politischen Einheiten zu übertragen und damit wie Skinner eine Alternative zu den als zu rigide empfundenen Steuerungsformen durch Politik und Gesetze anzubieten: „Social physics is a quantitative social science that describes reliable, mathematical connections between information and idea flow on the one hand and people’s behaviour on the other. […] It enables us to predict the productivity of small groups, of departments within companies, and even of entire cities. It also helps us tune communication networks so that we can reliably make better decisions and become more productive“ (Pentland 2015, S. 4).

Big Data dient in diesem Ansatz dazu, das social engineering von der Theorie- und Modellbildung weitestgehend unabhängig zu machen – mit Hilfe der Informationsverarbeitung und der Datafizierung größerer sozialer Einheiten ist es nun möglich, den Gegensatz von Laborexperimenten und sozialer Wirklichkeit zu überwinden und die soziale Wirklichkeit selbst zur kybernetischen Datenquelle zu machen. Big Data als „reality mining“ operiert daher im Kontext von „living laboratories“ – Gesellschaften werden auf diese Weise zum Gegenstand einer umfassenden Vermessung über lange Zeiträume hinweg und können nicht mehr nur unter den eingeschränkten experimentellen Laborbedingungen, sondern in Echtzeit direkt beobachtet werden: Nach der Erfindung des Teleskops und des Mikroskops kann jetzt das digitale „socioscope“ zum Einsatz kommen und Einblick in die Gesetzmäßigkeiten der bislang opaken sozialen Praxis liefern (Pentland 2015, S. 10). Damit bringt Pentland deutlich zum Ausdruck, wie sehr die digitalen Möglichkeiten der Informationsverarbeitung und -verknüpfung dem Traum einer durchweg rationalen und effizient steuerbaren gesellschaftlichen Ordnungsstruktur entgegenzukommen scheinen.Footnote 32

Pentlands Ansatz ist – ebenso wie bei Skinner – auf soziale Lernprozesse gerichtet: Die Nachahmung von Gewohnheiten und Normen bildet die Grundlage für „crowd wisdom“ (Pentland 2015, S. 29). Indem ideale Interaktions- und Kommunikationsbedingungen geschaffen werden, sollen diese Nachahmungsprozesse für die Steigerung der sozialen Produktivität nutzbar gemacht werden. Auf diese Weise soll es dann gelingen, nützliches Wissen und Ideen möglichst schnell und effizient in einer Gruppe zu verbreiten (Pentland 2015, S. 34). Dabei setzt Pentland vor allem auf den Mechanismus des sozialen Anpassungsdrucks: „Seeing members of our peer groups adopting a new idea provides a very strong motivation to join in and cooperate with others“ (Pentland 2015, S. 65).

Während damit vor allem Anwendungen in der Produktivitätssteigerung von Unternehmen beabsichtigt sind, so zeigt sich der politische Geltungsanspruch vor allem an der Übertragung des verhaltenssteuernden Imitationsmodells auf ganze Städte. Pentlands Ziel sind die Smart Cities: Seine Theorie dient dazu, Städte in „data-rich, dynamic, responsive organisms“ zu verwandeln (Pentland 2015, S. 153). Das analoge Walden II wird damit zur vergangenen Zukunft – die verdateten Städte von morgen sind hingegen digitale Ideenmaschinen, deren Parameter eine ungeahnte Steigerung von Effizienz, Produktivität und Innovationen ermöglichen. Die digitalisierte Sozialphysik erlaubt es durch die Entdeckung von Mustern und Regelmäßigkeiten, als regulatives Vorhersageinstrument zu dienen (Pentland 2015, S. 191). Dazu aber, und damit steht Pentland ganz in der Tradition des naturwissenschaftlichen Objektivierungsparadigmas, bedarf es einer grundsätzlich anderen Beschreibungssprache als es uns die traditionellen Begriffe von Gesellschaft nahelegen: „I believe that its ultimate impact also depends upon whether it provides people […] a language that is better than the older vocabulary of markets and classes, capital and production. […] In this book I will put forward a new set of concepts with which I believe we can more accurately discuss our world and plan the future“ (Pentland 2015, S. 8).

Diese beiden exemplarischen Ansätze des Nudging und der Sozialphysik lassen deutlich erkennen, wie sehr der Solutionismus des digitalen Tech-Zeitalters das Erbe früherer technokratisch geprägter Vorstellungen fortsetzt (Mozorov (2013; Strohschneider 2014). Die vermeintliche, digital erzeugte Verfügbarkeit und Beherrschbarkeit, die mit einer oberflächlichen Übersetzung sozialer und politischer Herausforderungen in technisch lösbare Probleme angestrebt wird, erfolgt jedoch um den hohen Preis einer semantischen Verarmung gesellschaftlicher Selbstbeschreibung. In seiner eindimensionalen Radikalität hat die Sozialphysik von Pentland das Problem unwillkürlich auf den Punkt gebracht: Die digitale Konstellation hat in den liberalen Demokratien einen Kampf um Deutungsmacht wieder zum Vorschein gebracht, der bereits in der klassischen Hochmoderne nach dem Zweiten Weltkrieg geführt worden ist und der nicht zuletzt eine Auseinandersetzung über die angemessene Beschreibungssprache gesellschaftlicher und politischer Ordnung darstellte. Seit Thomas Hobbes dem aristotelischen Paradigma des Politischen den Kampf angesagt hatte (Skinner 1996), ist dieser Konflikt bis in das zwanzigste Jahrhundert hinein ausgefochten worden. Auch in der Frage nach der Bedeutung des Digitalen für Politik und Gesellschaft taucht dieser Konflikt in verschärfter Form wieder auf. Zu rechnen ist daher im gegenwärtigen Lichte technischer Optimierungsversprechen mit einem verschärften Druck technokratischer Beschreibungssemantiken auf die Prozesse der gesellschaftlichen Willens- und Entscheidungsfindung.

Welche Konsequenzen ergeben sich also aus diesem Kampf um Deutungsmacht für die Zukunft des demokratischen Verfassungsstaates? Die Erkenntnis der ideengeschichtlichen Wurzeln der digitalen Konstellation schützt keineswegs gegen ihre zukünftigen Folgen. Wenn es dem Konditionierungskalkül, welches „das Valley Denken nennt“ (Daub 2020), gelingt, tiefer in die normativen Selbstbeschreibungsdiskurse der liberalen Demokratie einzudringen und das technokratische Verständnis kollektiver Entscheidungsfindung weiter zu festigen, dann wird im Gebrauch der technisch bereitgestellten Möglichkeiten auch immer weniger verständlich sein, warum in liberalen Demokratien nicht in gleichem Ausmaße die sicherheits- und effizienzstiftenden Kontrollpotentiale des Digitalen ausgereizt werden sollten, wie dies in autokratischen Ordnungen gerade erprobt wird.

Eine weitere gewichtige Folge der technischen Entwicklung dürfte das sich verändernde Verhältnis zur Zukunft sein. Digital gestützte Verhaltensvorhersagen – predictive analytics – drohen paradoxerweise jene Zukunft abzuschaffen, aus deren Verheißungen sie im Kontext des liberalen Fortschrittsdenkens überhaupt erst entstanden sind (Loewenstein 2015). Die Zukunft scheint damit zusehends den offenen Charakter eines Reichs der Möglichkeiten zu verlieren und zu einem geschlossenen Raum, eine bruchlose Extrapolation der Gegenwart zu werden, in der jedes Subjekt im ewigen Jetzt der eigenen Vorlieben und Verhaltensdispositionen eingefroren wäre (Bridle 2019).Footnote 33 Über die technologisch verfügbar gemachte Selbsttransparenz wird zwar eine erhöhte Gewissheit eigener Erwartungen und Präferenzen hergestellt. Mithilfe dieser steuerungsaffinen Instrumente aber berauben sich liberale Gesellschaften möglicherweise auch des offenen Horizontes einer nicht verfügbar gestellten Zukunft. Trotz aller Disruptionsrhetoriken der schumpeterianischen techno-entrepreneurs gilt auch für die Silicon Utopias, was Ralf Dahrendorf zum Kennzeichen von Utopien schlechthin machte: „Alle Utopien von Platons Staat bis zu George Orwells schöner neuer Welt von 1984 haben ein Konstruktionselement gemeinsam: sie sind sämtlich Gesellschaften, in denen der Wandel fehlt“ (Dahrendorf 1965, S. 85).

4 Schlussbetrachtungen und Ausblick

Der Beitrag hat gezeigt, wie sehr die mit der Digitalisierung verknüpften politischen Ordnungsvorstellungen auf eine lange Tradition technischer Steuerungsutopien der Moderne zurückgehen. Damit wird eine historische Genealogie sichtbar, die den eigenen, mit der Digitalisierung erhobenen Geltungsanspruch des radikal Neuen in mehrfacher Hinsicht relativiert. Ein solchermaßen weitgespannter Bezugshorizont kann an dieser Stelle kaum alle relevanten Texte und Bezüge abdecken und muss in seiner exemplarischen Auswahl zwangsläufig Lücken lassen. Daher sind hier nur die einschlägigsten und bekanntesten Beispiele der politischen Utopiegeschichte herangezogen worden. Gleichwohl sollte damit ein neuer und kontextualisierender Blick für die politiktheoretische Einordnung der Digitalisierung eröffnet worden sein. Auch hier bestehen über die genannten Verbindungen hinaus zahlreiche weitere Möglichkeiten, die Diskussion über die angemessene Gegenwartsdiagnostik weiter zu bereichern. Insbesondere die technisierungskritische Diskussion der fünfziger bis siebziger Jahre verdient es, im Detail aufgearbeitet zu werden. Inwieweit die politiktheoretische Kritik von Arendt, Taylor und Habermas an Behaviorismus und Technokratie eine tragfähige Perspektive für die politiktheoretische Digitalisierungskritik darstellt, muss hier zunächst offenbleiben.

Gleichwohl sollte deutlich geworden sein, dass die digitale Gegenwart keineswegs dem geschichtslosen Selbstbild entspricht, welches sie von sich selbst gerne zeichnet. Die Entwicklung der Moderne ist auch eine Variationsreihe technikbasierter, vergangener Zukünfte. Um den behaupteten Innovations- und Problemlösungsanspruch nicht durch historischen Quellenreichtum zu verwässern, überschreiben diese Entwürfe ihre historische Genealogie durch personalisierte Gründungserzählungen – jedoch beginnt die Geschichte der Digitalisierung nicht erst in Wohnheimzimmern von Ivy-League-Universitäten oder kalifornischen Garagen. Ihre Wurzeln gehen zurück auf die modernen Utopien, die sich von technischer Verhaltenssteuerung eine perfektionierte Ordnung versprochen haben.

Damit kann auch die These ergänzt werden, nach der die digitale Gesellschaft konsequent aus den sozialen Strukturmustern der ausdifferenzierten und binär codierten Moderne hervorgegangen ist (Nassehi 2019): Auch in ihren technokratischen Steuerungsutopien ist die Gegenwart keineswegs durch einen revolutionären Bruch von der bisherigen Moderne getrennt. Diskutiert werden müsste dann, ob beide Genealogien sich ergänzen oder in einem Spannungsverhältnis stehen – genau hier bietet sich die zukünftige Möglichkeit, die Digitalisierungsdebatte zwischen politischer und soziologischer Theorie zu eröffnen. Insofern die behavioristische Revolution der Hochmoderne auch das szientifische Selbstverständnis der Politikwissenschaft massiv geformt hat, müsste sich dann allerdings auch das Fach an dieser Stelle stärker mit seinem technokratischen Erbe und den aus dieser Tradition hervorgegangenen Steuerungsansprüchen beschäftigen – dies kann es aber nur dann leisten, wenn es die in der politischen Theorie verankerte ideengeschichtliche Selbstreflexion nicht abreißen lässt und sich damit die Fähigkeit zur eigenen Kontextualisierung bewahrt.