1 Einleitung

It is clear and obvious that the war in Afghanistan did not end on the terms we wanted with the Taliban now in power in Kabul (General Mark Miley 2021).

Am 15. August 2021 besetzten die Kämpfer des „Islamischen Emirates Afghanistan“ – die Taliban – den Präsidentenpalast in Kabul und übernahmen damit die Herrschaft über ein Land, das in den zwei vorhergegangenen Dekaden im Zentrum westlicher Bemühungen des Staatsaufbaus, der Modernisierung und der Demokratisierung stand wie kaum ein anderes zuvor. Am 7. September 2021 stellten die Taliban bereits ihre neue Übergangregierung vor – ein dezidiert nicht inklusives und teilweise mit Anführern terroristischer Netzwerke besetztes Kabinett, das sich nicht nur von den westlichen „Marionettenregierungen“ um den geflohenen Präsident Ashraf Ghani und seinem Vorgänger Hamid Karzai offensiv abgrenzte, sondern auch von jedweden demokratischen politischen Systemen an sich.Footnote 1 Diese Machtübernahme – die „Retalibanisierung“ Afghanistans – verlief weitestgehend ungehindert: Die Kämpfer schafften es innerhalb von wenigen Wochen, Städte, Provinzen und letztlich die Hauptstadt einzunehmen, ohne auf nennenswerten Widerstand von Seiten der afghanischen Regierung, der nationalen Streitkräfte oder der Bevölkerung zu stoßen.

Wie konnte es nach zwei Dekaden Krieg zu diesem „strategischen Scheitern“ des Westens kommen – trotz des Einsatzes von enormen ökonomischen und militärischen Mitteln, trotz immenser menschlicher Verluste auf allen Seiten und trotz nicht unbedeutender demokratischer Erfolge vor Ort?Footnote 2

In vielerlei Hinsicht sind die Ereignisse des Sommers 2021auf die Entscheidungen und Umstände der unmittelbaren Vergangenheit zurückzuführen – auf das Abkommen zwischen den USA und der Taliban im Februar 2020 durch den ehemaligen US Präsident Donald Trump, in dessen Rahmen der Abzug der westlichen Streitkräfte beschlossen wurde; auf die Entscheidung seines Nachfolgers Joe Biden, diesen Abzug entsprechend umzusetzen; auf den unglücklichen Zeitplan des Abzugs sowie nicht zuletzt auf irreführende Informationen durch die westlichen Nachrichtendienste, die substantielle Kampfbereitschaft und -fähigkeiten auf Seiten der afghanischen Streitkräfte suggerierten, obwohl diese nicht vorhanden waren. Und doch legte die kampflose, fast apathische Übergabe der Regierungsverantwortung durch die damals amtierende Regierung an die Taliban, ebenso wie die im Prinzip bedingungslose Bereitschaft der Gesellschaft zur sofortigen Entdemokratisierung – vollzogen zeitgleich mit dem Abzug westlicher Streitkräfte – auch nahe, dass das Scheitern des westlichen Modells in Afghanistan auch tiefere strukturelle Ursachen hat.

Die vorliegende Analyse hat als Ziel, diese letzteren und auch ihre Folgen zu beleuchten: Wieso wurde das traditionell patrimonial organisierte Land überhaupt zu einem Projekt westlicher Staatsaufbau- und Demokratisierungsambitionen? Woran scheiterten diese? Und, welche Folgen hat dieses Scheitern – nicht zuletzt auch für die Struktur des internationalen Systems?

2 Die liberale Weltordnung und Demokratie

Vor etwa 30 Jahren errang der Westen einen „triumphalen Sieg“ über die totalitäre und von Armut und Rückständigkeit geprägte Sowjetunion, die im Zuge dieser Niederlage zerfiel – in materieller und auch in ideeller Hinsicht (Fukuyama 1989, S. 3). Das Ende des Kalten Kriegs und das Wegbrechen der im Westen als „Reich des Bösen“ benannten kommunistischen Supermacht veränderte die Ordnung des internationalen Systems auf bedeutende Weise: aus der bipolaren Struktur wurde eine unipolare, und vom systemischen Wettbewerb zwischen Ost und West blieb eine schlichte, und doch wegweisende Klarheit: „The triumph of the West, of the Western idea, is evident first of all in the total exhaustion of viable systemic alternatives to Western liberalism“ (Ibid.).Footnote 3 Dieser nun „alternativlose“ westliche Liberalismus fand Ausdruck in einer fast über Nacht entstandenen neuen internationalen Ordnung – einer Ordnung, die Wohlstand, Gleichberechtigung, Offenheit, Freiheit und Frieden versprach und erstmalig allen interessierten Nationen zugängig erschien (Whitehead 2015).

In dieser Hinsicht spielte die Norm der demokratischen Regierungsführung eine besondere Rolle: sie war das Herzstück dieser Ordnung und galt seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion nicht nur als die universelle, einzig „richtige“, da sich im systemischen Wettbewerb erfolgreich durchgesetzte, Art zu regieren – „the final form of human government“ –, sondern auch als der einzig gangbare Pfad hin zu Modernität und nationaler Entwicklung (Fukuyama 1989, S. 3; Zakaria 1997). Die lokale Aneignung und Umsetzung dieser neuen globalen Norm wurde damit zum sine qua non der internationalen Teilhabe.

Tatsächlich wurde im Lauf der ersten postsowjetischen Jahre der Zugang zu den meisten Aspekten des internationalen Lebens an die Bereitschaft zur Demokratisierung geknüpft: von Entwicklungshilfe und Investitionszusagen bis hin zu Sicherheits‑, Wirtschafts- und politischer Kooperation – die Partizipation an globalen, westlich dominierten Kollektivgütern war der Bedingung der politischen Transformation unterworfen.Footnote 4 Damit wurde dieser Prozess aus Sicht der normnehmenden nichtwestlichen Staaten einerseits zu einem utilitaristisch motivierten Unterfangen – etwas, das man tun musste, um an materielle Ressourcen und Mitgliedschaften in prestigereichen westlichen „Clubs“ zu gelangen (Schmitter und Brouwer 1999). Gleichzeitig wurde politische Transformation aber auch zu einem Unterfangen mit einer bedeutenden sozialen Dimension: die Anerkennung als Demokratie (oder zumindest als ein sich demokratisierender Staat) war der Schlüssel zu internationalem Status, Legitimität und Zugehörigkeit.

Ob zweckrational oder sozial orientiert, der lokale Demokratisierungseifer der 1990er und frühen 2000er Jahre stand stellvertretend für die Dominanz des Westens, die sich nicht nur auf der globalen Ebene manifestierte – unter anderem in der Kontrolle multilateraler Institutionen und internationaler Diskurse –, sondern auch auf der lokalen – in der Neujustierung der politischen Ansichten im Nichtwesten und der daraus resultierenden Anpassung innen- und außenpolitischer Präferenzen. Verwurzelt im erhabenen materiellen Fundament des militärisch-ökonomischen Potentials der westlichen Welt und eingerahmt in den ideellen Überbau der liberalen Weltordnung wurde die Demokratienorm zu einem Machtprojektionsinstrument von hegemonialer Bedeutung – zu einer internationalen Selbstverständlichkeit, einer Erwartungshaltung, deren Umsetzung unumgänglich schien. Diese Erwartungshaltung war die Versinnbildlichung des „Triumphs der westlichen Idee“ – der damals empfundenen normativen Alternativlosigkeit im internationalen System. Sie war es, die im Jahr 2001 den normativen Rahmen für die politische Transformation Afghanistans stellte.

3 Demokratie und Afghanistan: Eine unmögliche Verbindung?

Während der ersten Dekade des postsowjetischen und damit post-totalitär anmutenden Zeitalters hatten die wenigen nichtdemokratischen und dabei demokratisierungsunwilligen Regime der Welt die Rolle von rückständigen, weitestgehend (für den Westen) harmlosen Außenseitern inne, die von der Teilhabe am westlich kontrollierten internationalen Leben und globalen Kollektivgütern im Prinzip ausgeschlossen waren – solange sie nicht Teil westlicher Förderprogramme zwecks systemischer Transformation werden wollten. Damals waren Nichtdemokratien nicht von Belang; aus westlicher Sicht schien ihr Beitrag zum internationalen Leben peripher. Dies änderte sich schlagartig mit den Terroranschlägen des 11. September 2001, bei denen über 3000 Menschen ums Leben kamen. Ausgeführt von der Terrororganisation Al-Kaida, die unter der Ägide der Taliban ihre Kämpfer in Afghanistan ausbildete, richteten sich die unter anderem in New York City und Washington, D.C. verübten Anschläge explizit gegen die Symbole und Orte der Macht des liberalen, demokratischen Westens.

Die Anschläge veränderten die Bedrohungswahrnehmungen und die gesamtstrategische Ausrichtung der USA (und des Westens) gegenüber nichtdemokratischen politischen Regimen auf fundamentale Weise: sie wurden zu einer neuen, potenziell existentiellen, Bedrohung. Diese Erfahrung begründete die neue Strategie der vorbeugenden Demokratisierung der nichtdemokratischen Welt, mit besonderem, aber nicht ausschließlichem, Augenmerk auf den Nahen Osten, wie die amerikanische Sicherheitsstrategie im Jahr 2002 bekundete:

The United States will use this moment of opportunity to extend the benefits of freedom across the globe. We will actively work to bring the hope of democracy, development, free markets, and free trade to every corner of the world. The events of September 11, 2001, taught us that weak states, like Afghanistan, can pose as great a danger to our national interests as strong states (White House 2002).Footnote 5

Dennoch war die Demokratisierung Afghanistans nicht die erste Antwort auf die Ereignisse des 11. September: zunächst folgte ein im Rahmen der Vereinten Nationen legitimierter und von der NATO als Bündnisfall getragener Militärschlag gegen Afghanistan, mit dem Ziel, Al-Kaida zu zerstören und die Herrschaft der Taliban in Afghanistan zu stürzen (Bush 2001; VN 2001a; NATO 2001).

In militärischer Hinsicht war die „Operation Enduring Freedom“ (OEF) ein (zunächst) herausragender Erfolg. Zusammen mit den Warlords der Nordallianz, einer weitestgehend tadschikisch-usbekisch geprägten innerafghanischen Widerstandsfront gegen die paschtunisch dominierte Taliban, nahmen die westlichen Bündnispartner unter der Führung der USA das Land im Laufe des Novembers ein. Sie zerstörten das bestehende theokratische Regime und vertrieben die Taliban aus allen Städten des Landes – die Führungsriege der Bewegung musste im pakistanisch-afghanischen Grenzgebiet um den Tora Bora-Komplex Zuflucht nehmen und schien neutralisiert. Auf diesen militärischen Kraftakt folgte, fast parallel, der politische: bereits Ende Dezember 2001 wurde die im Rahmen des Bonner Petersberger Abkommens geschaffene Interimsverwaltung Afghanistans vereidigt, mit dem von den USA bevorzugten, im Land selbst aber kaum bekannten neuen Präsidenten Hamid Karzai an der Spitze (Nicoll 2011).

Der Anspruch an die neue Regierung war hoch: sie sollte die Weichen für einen neuen, modernen Staat legen – für ein Afghanistan, in dem die Bürger des Landes befähigt waren „to determine their own political future in accordance with the principles of Islam, democracy, pluralism and social justice“ (VN 2001b). Allerdings sollte sie dies in bedeutenden Teilen eigenverantwortlich tun. Besonders die republikanisch geführte US-Regierung legte Wert auf einen „light footprint“ beim Wiederaufbau der afghanischen Nation und ihrer staatlichen Kapazitäten, zumindest was die militärische Unterstützung dieses Unterfangens anging (Nicoll 2011). Mit der Präferenz für einen „leichten Fußabdruck“ standen die USA auch nicht allein: Zum einen kam diese Haltung den Kapazitäten und innenpolitischen Zwängen der nichtamerikanischen NATO-Verbündeten entgegen. Zum anderen wurde die Notwendigkeit ausländischer Zurückhaltung auch von Seiten der Vereinten Nationen durch den damaligen Sonderbeauftragten Lakhdar Brahimi unterstrichen und sogar als fundamentale Bedingung für das Gelingen eines demokratischen Staatsaufbaus gewertet (Maaß 2002).

Demokratischer Staatsaufbau, das bedeutete im Falle Afghanistans den Aufbau eines vollkommen neuartigen politischen Regimes – geprägt von zentral gesteuerten Prozessen politischer Kooperation und Wettbewerbs; von normativen Institutionen wie der Gewaltenteilung und der Rechtsstaatlichkeit; sowie von einer eng verflochtenen Beziehung zwischen Staat und Gesellschaft, die einerseits auf der Rechenschaftspflicht und dem Verantwortungsbewusstsein der Regierenden gegenüber den Regierten beruht, und andererseits auf der Verpflichtung letzterer, die Legitimität, Autorität und das dazugehörige Gewaltmonopol der ersteren anzuerkennen und zu respektieren (Dahl 1971; O’Donnell und Schmitter 2013).

Die Eignung eines solchen politischen Systems für das Land am Hindukusch war nicht auf den ersten Blick ersichtlich: von ethnischer Heterogenität und einer Vielzahl von geographisch peripheren Gebieten geprägt, war politische Macht in Afghanistan traditionell ein weitestgehend lokales Konstrukt – und auf dieser Ebene, insbesondere bei den Paschtunen, von indigenen, tribalen Strukturen (und konstanten Fehden) gekennzeichnet (Rubin 2002). Entsprechend war die Beziehung zwischen Staat und Gesellschaft, zwischen den Regierenden und den Regierten, mehr von einer relativ hohen Autonomie, denn von einer engen Verflechtung, geprägt: „rulers (in Kabul) would accept the limits of their power to transform rural Afghanistan and, in return, those areas would offer their loyalty to a state in Kabul with limited powers“ (Dodge 2011). Dieses dezentrale Konstrukt überdauerte Afghanistans einzige „zentralistische“ Herrschaft unter Abdul Rahman Khan im 19ten Jahrhundert, es überdauerte auch die britische und ein Jahrhundert später die sowjetische Besatzung und den darauffolgenden Bürgerkrieg, ebenso wie das Regime der Taliban. Nach dem Einmarsch des Westens im Spätjahr 2001 gaben die etablierten dezentralen Strukturen entsprechend auch den Rahmen vor, in dem die Regierung um den Paschtunen Hamid Karzai – zur damaligen Zeit weder von den Nichtpaschtunen des Landes noch von seiner eigenen ethnischen Gruppe aufgrund tribaler Heterogenität als Führungspersönlichkeit wirklich akzeptiert – einen zentral organisierten demokratischen Staat aufbauen sollte (Nicoll 2011).

Tatsächlich vollzog sich der Aufbau Afghanistans wider besseres Wissen anhand einer zentralistischen Blaupause: Das Petersberger Abkommen legte die politische Macht und die Verantwortung für die Weichen der Zukunft in die Hände der aus Sicht vieler Afghanen nicht repräsentativer Exekutive in Kabul, während lokalen Gruppen weder adäquate Repräsentation noch politische Macht zugestanden wurden (Acemoglu 2021). Sich ihrer Schwäche bewusst, beschäftigte sich Afghanistans neue Exekutive folgerichtig weniger mit der Verankerung demokratischer Strukturen im Land, und mehr mit der Konsolidierung ihrer eigenen machtpolitischen Position – und zwar nicht im Rahmen de-personalisierter, von Rechtstaatlichkeit geprägter demokratischer Prozesse und Prozeduren, sondern mithilfe der Verteilung der ökonomischen Ressourcen und politischer Posten an persönlich vertraute und politisch loyale Akteure. Dies geschah ungehindert (und oft unbemerkt) von den Geldgebern und Normsetzern aus dem Westen (Dodge 2011; McKinley 2021).Footnote 6 Entsprechend entstand ein von tiefgreifender und weitreichender Korruption geprägtes System, welches – trotz nicht unbedeutender demokratischer Errungenschaften in den Bereichen des Bildungswesens, der Pressefreiheit und der Frauenrechte – das wichtigste Kriterium jedweder, auch demokratischer, Herrschaft nicht erfüllte: das der Legitimität.

Die informellen, patrimonialen Institutionen des Landes blockierten die Funktionstüchtigkeit der offiziellen bürokratischen Institutionen – der Zentral- und insbesondere der Provinzregierungen, der Judikative, sowie, besonders fundamental, der Sicherheitsbehörden, von der Polizei bis hin zur Armee. Der „wiedererbaute“ Staat war weder imstande, öffentliche Güter wie „Sicherheit und auch Gesundheitsversorgung, Bildung, Justizwesen, Infrastruktur“ bereitzustellen noch „fast jede andere grundlegende Regierungsfunktion“ zu erfüllen – trotz Entwicklungshilfe in Milliardenhöhe (Dodge 2011: S. 70).Footnote 7 Im Gegenteil, die neue vom Westen ins Amt gebrachte Regierung erschien sogar noch dysfunktionaler, noch weniger institutionalisiert, als die der Taliban zuvor. So betont beispielsweise Giustozzi (2007) mit Bezug auf das Justizwesen unter Präsident Karzai: „the (Taliban) system offered a greater degree of predictability and reliability than the arbitrary behaviour of government security forces“ (S. 111). Ein ehemaliger Botschafter der USA hebt hingegen mit Bezug auf den aktuelleren Zustand der afghanischen Nationalarmee hervor:

Year after year, Afghan soldiers went months without pay and without the necessary supplies to defend themselves. … As the Taliban advance intensiefied in the past weeks, Afghan soldiers were also let down by their commanders and political leaders, who over 20 years have failed abysmally to earn national allegiance (McKinley 2021).

Es war diese korruptionsbedingte Dysfunktionalität der vom Westen erschaffenen Regierung und ihrer nachgeordneten Behörden, die es der Taliban bereits in den ersten Jahren nach ihrer Verdrängung möglich machte, zurückzukehren und sich im Verlauf zweier Dekaden wieder politisch und auch gesellschaftlich zu etablieren. Der schwache, korrupte Staat, der aufgrund seines zentralisierten Systems ohnehin einen schweren Stand im Land hatte, förderte den lokalen Bedarf nach funktionierenden Alternativen – insbesondere in den von Kabul entfernten, abgelegenen Provinzen und unter den Gruppen, die in Hamid Karzai (und später Ashraf Ghani) wenig mehr als eine westliche „Marionette“ sahen (McKinley 2021).

Gleichzeitig erlaubten die mangelhaften Sicherheitsstrukturen Afghanistans – die fehlende Abschreckung – der Taliban, den Terror wieder aufzunehmen und die Gesellschaft so weiter zu demoralisieren: Selbstmordattentate und Sprengfallenangriffe häuften sich bereits in den ersten Jahren nach der ursprünglichen Verdrängung der Taliban durch westliche Streitkräfte, ebenso wie die „Einschüchterungsoperationen“ gegenüber den mit der Zentralregierung und den westlichen Streitkräften zusammenarbeitenden Akteuren – unter ihnen Regierungsbeamte, Richter, Polizisten und Soldaten, Lehrer, Ärzte, NGO-Mitarbeiter. Diese kamen in Form von „Nachtbriefen“, bisweilen auch in Form von Entführung und Ermordung, und hinterließen tiefe Spuren – nicht nur bei den „Kollaborateuren“, sondern auch bei unbeteiligten Zivilisten (Nicoll 2011; Crawford 2019).

Die afghanischen Sicherheitsbehörden konnten dieser Bedrohung aus oben genannten Gründen wenig entgegensetzen – und der Westen, mit seiner Politik des „leichten Fußabdrucks“ wollte es (zunächst) nicht. So entstand bereits zu Beginn des Einsatzes eine strukturelle Schieflage mit schlussendlich schwerwiegenden Konsequenzen: die hohen Erwartungen an den Modernisierungs- und Aufbauprozess Afghanistans wurden nicht von entsprechendem und lokal angepasstem politischem und militärischem Engagement gestützt; stattdessen wurde die Umsetzung des „westlichen Modells“ und die Verantwortung dafür an eine nicht repräsentative, den lokalen Gegebenheiten und Zwängen nicht angepasste Regierung ausgelagert, die zwar auf dem Papier liberalen Vorstellungen nahekam, in der Realität mit diesen aber wenig gemein hatte. Auch eine bedeutende Anhebung westlicher ziviler und militärischer Ressourcen in den Jahren 2009–2011 im Rahmen einer neuen Aufstandsbekämpfungsstrategie konnte die gesellschaftliche Mischung aus politisch und sozioökonomisch bedingter Frustration und durch Terror herbeigeführter Demoralisierung nicht mehr rückgängig machen, ebenso wenig den weiterlaufenden physischen wie ideellen Vormarsch der Taliban, der schlussendlich zu der Wiederübernahme der Macht führte.

So scheiterte das Unterfangen der afghanischen Demokratie nicht erst im Sommer des Jahres 2021, sondern bereits in den ersten Jahren des Staatsaufbaus – und, es scheiterte nicht an einer generellen Unvereinbarkeit zwischen den demokratischen Prinzipien des Westens und den politischen Traditionen und Strukturen vor Ort. Vielmehr war es eine Folge von Unvermögen der westlichen Normsetzer, ein lokal adäquates, mit ethnischen, religiösen, wie auch geographischen Zwängen verträgliches Modell von Demokratie anzubieten und die Umsetzung dieses Modells engmaschig zu begleiten.

4 Die Demokratie im multipolaren Zeitalter

Was bedeutet das Scheitern des demokratischen Systems auf lokaler Ebene für die normative Ordnung des Westens auf globaler Ebene – für die liberale Weltordnung – und damit, für die internationale Position des (ehemaligen) Unipols und seiner Verbündeten, sowie nicht zuletzt, für die Struktur des internationalen Systems?

Das Schicksal Afghanistans legt die unipolaritätsbedingte Fehleinschätzung der Alternativlosigkeit demokratischer Regierungsführung sowie der Überlegenheit liberaler Ordnungsvorstellungen und westlicher Dominanz auf eindrückliche Weise offen. Eine demokratische politische Ordnung mag „the final form of human government“ sein, aber nur, wenn der liberal-demokratische Normsetzer bereit ist, diese Ordnung mit einem lokal adäquaten und gleichzeitig von substantiellem Engagement geprägten Fußabdruck durchzusetzen. Genau wie alle anderen normativen Aufbauprozesse ist auch die Demokratisierung eines Landes ein Sozialisationsprozess. Sozialisation aber folgt keinem naturgegebenen Automatismus, sondern entwickelt sich im Einklang mit lokalen utilitaristischen, sozialen und identitätspolitischen Bedürfnissen und Zwängen – und auch im Einklang mit den Rückmeldungen von außen. Das bedeutet, dass Demokratieaufbau – das „Erlernen“ der Demokratie – entsprechend qualifizierter „Lehrer“ bedarf, die bereit sind, ihre Normen zu vermitteln, die Umsetzung dieser vor Ort wenn nötig mit Zwang zu unterstützen, und dafür letztlich auch die Verantwortung zu tragen.

Mit anderen Worten, die Verankerung einer fundamental neuen, fremden Ordnung vor Ort ist mit einem „leichten Fußabdruck“ von außen kaum zu bewältigen – Demokratie kann nicht „eigenverantwortlich“ von nichtwestlichen Nichtdemokraten umgesetzt werden, unabhängig von der Höhe der zur Verfügung gestellten Entwicklungsgelder. Stattdessen bedarf sie bedeutender, von Anfang an und langfristig gebundener militärischer, politischer und ökonomischer Mittel und meist auch Opfer – und ebenso der Einsicht, dass auch eine hegemoniale Norm, wie die Demokratie es im postsowjetischen unipolaren Zeitalter zu sein schien, nur wirken kann, wenn sie von entsprechenden materiellem Engagement unterstützt und geschützt wird.

Dem „strategischen Scheitern“ des Westens in Afghanistan liegt demnach keine lokale kulturelle oder politische Prädisposition für „traditionelle“ Herrschaftsformen zugrunde, davon zeugen die substantiellen Erfolge im afghanischen Bildungswesen, bei der Pressefreiheit, bei der Durchsetzung von Frauen- und Kinderrechten, und auch bei der Durchführung von politischen Wahlen (im regionalen Vergleich). Ebenso wenig liegt die Verantwortung in den Händen der neuen Protagonisten des sich nun entwickelnden multipolaren Zeitalters, den dezidiert illiberalen „autoritären Großmächten“ Russland und China, die zwar in anderen lokalen, regionalen, globalen Schauplätzen alle Dimensionen westlicher Macht erfolgreich untergraben – in Afghanistan aber kaum kontraproduktiv aktiv waren. Tatsächlich steht das Scheitern dort wie kein anderer Vorgang für die selbstverursachte Entkräftung der herausragenden westlichen Machtposition im internationalen System – für eine Entkräftung, die sich zwar vornehmlich in lokalen politischen Strukturen (und nationalen Präferenzsetzungen und Ordnungen) manifestiert, aber gleichzeitig global wirkt. In dieser Hinsicht ist das „strategische Scheitern“ in Afghanistan die wahrscheinlich letzte große Nachwirkung der postsowjetischen Hybris des Westens – der Selbstverständlichkeit, mit der der ehemalige Unipol und seine Verbündeten ihre normative Dominanz im internationalen System hinnahmen. Nach Chinas materiellem und ideellem Aufstieg und Russlands Selbstbehauptung als Ordnungsmacht im Nahen Osten führt nun auch der Zusammenbruch des bestehenden politischen Systems in Afghanistan den Trugschluss der naturgegebenen (normativen) Überlegenheit und Alternativlosigkeit westlicher Macht vor, und schließt damit endgültig das Kapitel, in dem dieser entstanden ist: das unipolare Zeitalter.