Auseinandersetzungen um Identitätspolitik prägen die politischen Debatten der Gegenwart.Footnote 1 Der Begriff „Identitätspolitik“ wurde bereits Ende der 1970er-Jahre von Schwarzen Feministinnen in den USA geprägt und bezeichnet dort die politische Praxis einer sozialen Gruppe, die ihre spezifische Unterdrückungserfahrung zum Ausgangspunkt von widerständiger Politik macht (Combahee River Collective 1979, S. 365). Seitdem wird das Konzept in Emanzipationskämpfen unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen genutzt und insbesondere in der feministischen und postkolonialen Theorie kontrovers diskutiert (MacKinnon 1991; Hark 1999; Spivak 1987; Hall 2016; vgl. Susemichel und Kastner 2018). In Folge des Erstarkens rechtspopulistischer Bewegungen und Parteien in der 2010er Jahren wird Identitätspolitik in einer breiteren Öffentlichkeit sowie den gesamten Sozialwissenschaften thematisiert und kritisiert (vgl. van Dyk 2019; Manow 2019; Schubert 2020b, siehe auch Dietze und Roth 2020). In Deutschland hat die Beschäftigung mit Identitätspolitik im Jahr 2020 im Kontext der Problematisierung von Einschränkungen der Kunstfreiheit durch „Cancel Culture“ erneut zugenommen (Schubert 2020d) und wird mittlerweile auch in politischen Parteien kontrovers diskutiert.Footnote 2 Es verwundert nicht, dass sich die politische Theorie an diesen Diskussionen beteiligt, geht es dabei doch um fundamentale konzeptuelle Fragen der zeitgenössischen liberalen Demokratie: Braucht die Demokratie eine Pluralität partikularer Perspektiven oder zerstört solche Partikularität die Einheit des Gemeinwesens? Und sollte das Wort von Betroffenen besonderes Gewicht in der politischen Deliberation haben oder unterminiert das den demokratischen Diskurs? In zahlreichen Publikationen wird Identitätspolitik als eine Gefährdung der Demokratie beschrieben, weil sie jeweils unterschiedliche Arten von Einheit spalte, die von verschiedenen Traditionen der politischen Theorie als zentral für die Demokratie gesehen werden: Liberale und Kommunitarist_innen kritisieren die Spaltung der Öffentlichkeit und des politischen Gemeinwesens (Lilla 2017a; Fukuyama 2018) und kritische Theoretiker_innen die Spaltung der Kämpfe um Gerechtigkeit und Emanzipation (Žižek 1998; Streeck 2017; Fraser 2017). Quer durch diese Debatten zieht sich ein Vorwurf gegen die Identitätspolitik: Sie sei essentialisierend, das heißt, sie schreibe Menschen auf eine bestehende partikulare Identität fest und führe so zur jeweiligen Spaltung.

Wir schlagen dagegen mit dem Konzept der „konstruktivistischen Identitätspolitik“ eine neue Deutung vor. Wir zeigen, dass politische Identitäten nicht essentialistisch gegeben sind, sondern verbunden mit einem emanzipatorischen Streben aktiv durch politische (Sub‑)Kulturen und Bewegungen hergestellt, erlernt und praktiziert werden, also das Resultat sozialer und politischer Konstruktionsprozesse sind: Identitätspolitik ist transformativ.Footnote 3 Des Weiteren argumentieren wir im Anschluss an die radikale Demokratietheorie (Laclau und Mouffe 2006; [1985]; Balibar 2012; Celikates et al. 2015; Comtesse et al. 2019; Schwiertz 2019, 2021a), dass die durch diese Konstruktionsprozesse ermöglichten partikularen politischen Perspektiven die Demokratie weniger gefährden, als dass sie zu ihrer weiteren Demokratisierung beitragen. Identitätspolitik und Demokratie stehen deshalb nicht in einem Gegensatz, sondern in einem Bedingungsverhältnis: Prinzipien von Gleichheit und Freiheit, die universell gelten sollen, können nur durch ihre wiederholte Artikulation in partikularen Auseinandersetzungen wirksam werden (Rancière 2012, S. 73; Schwiertz 2019, S. 80ff.; Schubert 92,94,b, d). So lässt sich folgendermaßen auf die Kritik antworten, Identitätspolitik würde durch ihren Partikularismus Demokratie zersetzen: Identitätspolitik ist eine kulturell-politische Konstruktion von Partikularität, die eine Aktualisierung des Demokratischen in konkreten Situationen ermöglicht; sie steht somit nicht im Gegensatz zur Demokratie, sondern ist zentral für transformative, emanzipatorische Politiken und eine Demokratisierung der Demokratie.

Ziel unseres Beitrags ist es, mit dem Begriff konstruktivistischer Identitätspolitik einen differenzierten Beitrag zur politiktheoretischen Debatte zu leisten, die gegenwärtig von einer Kritik an Identitätspolitik als essentialistisch und partikularistisch geprägt ist, wie wir im folgenden Abschnitt zeigen (1).Footnote 4 Um dieses konstruktivistische Verständnis der Identitätspolitik zu erarbeiten, rekonstruieren wir dann zunächst die seit den 1980er-Jahren mit zunehmender Komplexität geführten Debatten über Identität und Identitätspolitik, mit denen die feministische und postkoloniale Theorie die Selbstverständigungsdiskussionen der neuen sozialen Bewegungen begleitet hat (2). Schon in diesen poststrukturalistisch geprägten Debatten wurde das Problem des Essentialismus diskutiert, allerdings durch den Rückgriff auf Derridas Dekonstruktion und Foucaults genealogische Subjektkritik differenzierter als in der aktuellen Debatte. Hier finden sich wichtige Ressourcen für eine politiktheoretische Reflexion des konstruktivistischen Charakters von Identität, die aber heute oft in Vergessenheit geraten sind. Um im Anschluss an diese Debatten herauszuarbeiten, dass die Konstruktion von politischer Identität zentral für Demokratie ist, entwickeln wir den Begriff der konstruktivistischen Identitätspolitik systematisch (3). Dabei steht die kollektive Ausgestaltung von nicht- bzw. gegenhegemonialen Identitäten im Mittelpunkt, die durch drei Aspekte bestimmt ist: Subjektivierung, Artikulation und Repräsentation. Diese Aspekte entwickeln wir im Anschluss an Foucault, Rancière, Laclau/Mouffe und Hall. Die Produktion nicht-essentialistischer Identitäten erscheint dabei nicht nur als eine Strategie der Anti-Diskriminierung oder als lediglich „aus Notwehr entstandenes Hilfskonstrukt“ (Susemichel und Kastner 2018, S. 9), sondern als Ziel und Mittel emanzipativer Politik. Die einzelnen Aspekte illustrieren wir anhand migrantischer Selbstorganisierungen sowie schwuler Kultur und queerer Kritik. Im Schluss erläutern wir die Ergebnisse im Hinblick auf die Frage nach dem Verhältnis von Identitätspolitik und Demokratie (4). Dabei zeigt sich: Identitätspolitik ist dann demokratisch, wenn sie die kritische Reflektion ihrer Identitätskonstruktionen ermöglicht und wenn sie implizit oder explizit auf universell gedachte Werte von Gleichheit und Freiheit rekurriert. Solche Identitätspolitik ist entscheidend für die Fortführung des demokratischen Projekts. Denn das Versprechen der Demokratie, Gleichheit und Freiheit für alle zu verwirklichen, ist wegen der vielfachen Ausschlüsse der real existierenden Demokratien uneingelöst. Diese Ausschlüsse können von marginalisierten Positionen aus besser gesehen und kritisiert werden. Weil Identitätspolitik die Artikulationsfähigkeit dieser marginalisierten Positionen stärkt und sie dazu befähigt, demokratische Werte in konkreten Situationen zu aktualisieren, trägt sie zu einer vollständigeren Realisierung der Demokratie bei.

1 Debatte um Identitätspolitik in der politischen Theorie

Unter „Identitätspolitik“ wird im Sinne der Entstehungsgeschichte des Begriffs wie auch der aktuellen Debatte die politische Praxis marginalisierter Gruppen verstanden, die sich in Bezug auf eine kollektive Identität gegen ihre Benachteiligung durch Strukturen, Kulturen und Normen der Mehrheitsgesellschaft wehren (vgl. Combahee River Collective 1979; Susemichel und Kastner 2018).Footnote 5 Identitätspolitiken bauen auf geteilten Praktiken, Erfahrungen und Interessen auf, indem sie diese zu etwas Gemeinsamen verknüpfen und kollektive Subjektivität herstellen. Dadurch entstehen Identitäten, die einerseits in einer spezifischen sozialen Position und Diskriminierungserfahrung gründen, die diese andererseits aber auch kritisch reflektieren und hiervon ausgehend Handlungsmacht entwickeln, um so über ihre politische Positionierung die bestehende soziale Ordnung infrage zu stellen.Footnote 6 Identitätspolitik ist nicht gleichzusetzen mit Interessenpolitik, denn eine Benachteiligung durch soziale Strukturen ist keine Voraussetzung für Interessenpolitik. Gleichzeitig werden durch Identitätspolitik Interessen formuliert und vertreten. Dabei ist nicht jede Politik, die sich gegen Marginalisierung und Diskriminierung wendet, emanzipatorisch. Wie wir zeigen werden, ist dafür kritische Selbstreflexion und ein normativer Bezug auf Gleichheit und Freiheit notwendig, der aber nur von verschiedenen Positionen der Marginalisierung ausgehend mit der nötigen Konkretion und Komplexität formuliert werden kann. Eine solche Politik kann dann insofern als emanzipativ beschrieben werden, als dass sie bestehende Herrschaftsverhältnisse und subtile hegemoniale ethische, politische und kulturelle Normen infrage stellt und demokratischere Normen und Praxen entwickelt.

In der Kritik an Identitätspolitik lassen sich drei Topoi ausmachen, die Silke van Dyk pointiert herausgearbeitet hat (2019; van Dyk und Graefe 2019): der Vorwurf der Spaltung und der Durchsetzung partikularer Interessen, der Vorwurf der Ablenkung von „wirklich“ wichtigen bzw. materiellen Problemen und der Vorwurf der Komplizenschaft mit dem Neoliberalismus. In Erweiterung dieser Analyse konzentrieren wir uns darauf, das gemeinsame Merkmal des Essentialismusvorwurfs herauszuarbeiten. Die verschiedenen Positionen teilen ein Bild von Identitätspolitik als einer schädlichen Verhärtung politischer Positionen durch den Bezug auf wesenhafte Gruppenidentitäten, wodurch die Demokratie gefährdet werde. Im Gegensatz zu solchem essentialistischen Partikularismus fordern diese Stimmen, die Identitätspolitik zugunsten eines gemeinschaftlichen Universalismus aufzuheben.

Wichtige Identitätspolitik-Kritiker_innen in der aktuellen Debatte verbinden liberale Argumente zum Schutz der öffentlichen Debatte mit kommunitaristischen Argumenten zur Bedeutung der Einheitlichkeit der politischen Gemeinschaft. Identitätspolitik führe demnach zu einer Spaltung der nationalen Bürgerschaft und zersetze Demokratie, öffentliche Kommunikation und Deliberation, und habe dabei letztlich den Boden für den Erfolg rechtspopulistischer Parteien bereitet (vgl. dazu Tuschhoff 2019; van Dyk 2019). So spricht Mark Lilla (62,63,a, b) von einem „Scheitern der Identitätspolitik“ und plädiert für eine liberale Politik, die „die Identitätsfrage hinter sich lässt“ und fordert zugleich eine Rückbesinnung auf die Nation – die ihm folglich nicht als fragwürdige Identität erscheint. Es gehe um eine Verbreiterung der Basis und nationalen Zusammenhalt (Lilla 2017b, S. 51): „Amerikaner als Amerikaner ansprechen“ und eine „Nation im Geiste gemeinsamen Bürgersinns“ sind die Ziele seines Politikansatzes im Hinblick auf die USA. Ähnlich gelagert, aber mit anderen Begriffen, argumentiert der deutsche Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel (2017), der einen Konflikt zwischen Kommunitaristen und Kosmopoliten beschreibt. Letztere sieht er als Vertreter einer moralisierenden und abgehobenen Identitätspolitik, die sich für Minderheiten einsetze, hierbei aber die Interessen der Mehrheit aus dem Blick verloren und dadurch den Aufstieg des Rechtspopulismus begünstigt habe. Auch hier findet sich also der Vorwurf des Partikularismus wieder; einer Spaltung, die durch die Rückbesinnung auf eine nationale Gemeinschaft überwunden werden müsse.

Beispielhaft für diese national geprägte liberale Position ist zudem das Buch Against Identity Politics des US-amerikanischen Politikwissenschaftlers Francis Fukuyama (2018), in dem deutlich wird, wie der Partikularismus- auf einen Essentialismusvorwurf zurückgeführt wird. Ohne den Begriff „Essentialismus“ zu verwenden, beruht seine Analyse darauf, die Unterstellung einer Essenz von Gruppenidentität zu kritisieren. Anstatt universelle Gleichbehandlung und Integration in die nationale Bürgerschaft zu fordern, hätten Schwarze und feministische Bewegungen einen Weg des Separatismus gewählt: „[They] assert a separate identity for [their] members and demand respect for them as different from the mainstream society. […] The authentic inner selves of black Americans were not the same as those of white people, they argued“ (97). Als grundlegendes Problem diagnostiziert Fukuyama hier also eine Essentialisierung von Identität, die zum Partikularismus dieser Bewegungen sowie zu einem epistemologischen Bruch führe, wenn etwa die Schwarze Bewegung einen „unbridgeable gulf of understanding between blacks and whites“ konstatiere (98) – wobei Fukuyama diese Analyse des essentialistischen und epistemischen Separatismus auf Identitätspolitik insgesamt bezieht. Immer in Verbindung mit partikularistischen Regeln der „political correctness“ auftretend, die einen gemeinsamen und rationalen Diskurs zerstörten (101), führe diese separatistische Identitätspolitik nicht nur zur Ablenkung von ökonomischer Ungleichheit (100) sondern zu einer Spaltung der Gesellschaft insgesamt. Denn das Insistieren der linken Identitätspolitik auf „political correctness“ hätte erst die rechte Identitätspolitik als eine Gegenreaktion hervorgebracht, die sich nun auch solcher Opfernarrative bedient, welche sie von der linken Identitätspolitik gelernt hätte (104, siehe kritisch dazu Schubert 2020b). Fukuyama schlägt dagegen eine neue nationale „Leitkultur“ (107, im Original deutsch) vor, in deren Rahmen auch die Integration von Migrant_innen konzipiert werden sollte, zum Beispiel durch Militärdienst (110).

Fukuyama bedient sich hier einer typischen Figur der Umkehr von Täter und Opfer (vgl. auch van Dyk und Graefe 2019): Die Minderheiten, die sich identitätspolitisch gegen ihre Diskriminierung wehren, sind seiner Analyse nach selbst schuld an ihrer Diskriminierung, weil sie den Rechtsnationalismus erst hervorbringen würden. Diese Täter-Opfer-Umkehr beruht philosophisch darauf, einen Universalismus des (rationalen) Diskurses und der Leitkultur gegen die essentialistische Identitätspolitik zu setzen. Dass durch solche Universalitätsbehauptungen eine bestimmte, partikulare Position, die selbst mit Identitätskonstruktionen verbunden ist, erst universalisiert wird, sieht Fukuyama nicht. Die epistemologische Dimension der Identitätspolitik – dass es verschiedene Perspektiven gibt, die mit unterschiedlichen sozialen Positionen einhergehen, ohne auf diese reduziert werden zu können – beschreibt er deshalb als einen Fehler.Footnote 7 Den mit dem politischen Projekt einer nationalen Leitkultur einhergehenden Essentialismus identifiziert er hingegen nicht als ein Problem. Da sich der Partikularismus dieser Position aufgrund der hegemonialen Gesellschaftsverhältnisse weitgehend erfolgreich als universalistisch darstellt, erlaubt sie es, den Partikularismus der „Anderen“ als solchen zu kritisieren (Laclau 2002, S. 50f.; Mignolo 2011), sodass dieses liberale Argumentationsmuster politische Überzeugungskraft entwickelt und vielfach anschlussfähig ist.

Aus Sicht kritischer Theorien wird in erster Linie problematisiert, dass Identitätspolitik zu einer Verirrung und Spaltung der Kämpfe für Gerechtigkeit und Emanzipation führe (Žižek 1998; Streeck 2017). Kritisiert wird insbesondere eine vermeintliche Ablenkung von Fragen der Ökonomie und eine damit einhergehende Komplizenschaft von Identitätspolitik. Nancy Frasers Konzept des „progressiven Neoliberalismus“ (Fraser 2017, 2016) ist hier hervorzuheben, das auf ihrer langjährigen Forschung zu den Entwicklungen kritischer Politik in spätkapitalistischen Gesellschaften beruht, die sie mit Hilfe der kanonisch gewordenen Unterscheidung von Umverteilung und Anerkennung (Fraser 1993) und der neueren Unterscheidung zwischen Vermarktung, sozialem Schutz und Emanzipation (Fraser 2013) analysiert.Footnote 8 Fraser konstatiert, dass identitätspolitische Kämpfe der Anerkennung bzw. Emanzipation die sozialen Kämpfe der Umverteilung bzw. des sozialen Schutzes im neoliberalen Finanzkapitalismus überlagerten. Dies erklärt sie auch daraus, dass der Wohlfahrtsstaat, der errichtet wurde, um soziale Sicherheit gegenüber den kapitalistischen Marktkräften zu erreichen, mit repressiven Normierungen und Herrschaftsstrukturen einhergeht, gegen die sich die identitätspolitischen Kämpfe der Emanzipation richten. Umverteilung und Anerkennung stünden deshalb in einem Spannungsverhältnis, was die Allianz der Identitätspolitik mit dem Neoliberalismus begünstigt habe. Dabei verleihe die identitätspolitische „emanzipatorische Fassade“ (Fraser 2018) der zunehmenden Brutalität der Ausbeutung Legitimität und Stabilität. Diese Allianz sei aber nicht alternativlos (Fraser 2013, S. 132). Vielmehr sei es wichtig, die Kämpfe der Emanzipation neu mit den solidarischen Kämpfen für sozialen Schutz zu verbinden. Weil sich Fraser aber auf die Kritik der neoliberalen Art der Identitätspolitik konzentriert, bleibt der Weg zur solidarischen Identitätspolitik bei Fraser im Dunkeln und zeitgenössische Identitätspolitik erscheint als vollständig neoliberalisiert.

Aus der Entgegensetzung von „affirmativer“ und „transformativer“ Politik, die zentral im Aufsatz zu Umverteilung und Anerkennung war (Fraser 1993), resultiert bei Fraser eine grundsätzliche Problematisierung von Identitätspolitik, die in dieser Terminologie nur als affirmativ erscheinen kann. Die Konzeption von transformativer Politik, bei der Anerkennung und Umverteilung in einer sozialistischen Auflösung von diskriminierenden Gruppenidentitäten zusammengeführt werden, ist sowohl normativ als auch epistemisch universalistisch, weil sie eine sozialistische Richtung vorgibt, in der kein Platz für die Partikularitäten identitätspolitischer Projekte ist. Ungleich komplexer als in klassischen Versionen desselben führt Fraser so implizit eine Ordnung in Haupt- und Nebenwiderspruch wieder ein. Das Problem daran ist erstens, dass hier die partikulare Identität und damit verbundene Politik und Kultur keine normative Eigenwertigkeit haben, sondern ausschließlich als negative Kämpfe gegen Diskriminierung vorkommen, dass zweitens ambivalente Emanzipationsgewinne, die „nur“ im Raster der Affirmation bzw. als Teil des progressiven Neoliberalismus geschehen, vollständig abgewertet werden, weil sie nicht zur sozialistischen Transformation beitragen, und dass drittens der reale und kreative Beitrag von Identitätspolitik zu transformativer, also kapitalismuskritischer Politik dadurch systematisch zu gering eingeschätzt wird. Das Konzept der konstruktivistischen Identitätspolitik bietet eine alternative Antwort auf die Frage, wie die gesuchte solidarische Identitätspolitik erreicht werden kann: Es durchbricht den epistemischen Universalismus der Kämpfe der Gerechtigkeit, der der Unterscheidung affirmativ vs. transformativ zugrunde liegt, durch einen radikaldemokratischen Partikularismus, der zeigt, wie solidarische Einstellungen erst in den unterschiedlichen identitätspolitischen Projekten entstehen.

Zuletzt wird die durch den vermeintlichen Essentialismus der Identitätspolitik hervorgerufene partikularistische Spaltung auch von Autor_innen problematisiert, die sich grundsätzlich affirmativ bezüglich Identitätspolitik positionieren. Beispielhaft ist hier das Buch Identitätspolitiken von Lea Susemichel und Jens Kastner (2018). Sie beschreiben Identitätspolitik als Spannungsverhältnis zwischen der Ablehnung von Diskriminierung aufgrund einer (zugeschriebenen) Identität und der Affirmation der diskriminierten Identität – nämlich um die Diskriminierung überhaupt erst benennen und ihr kollektiv entgegentreten zu können. Dabei sei „die Versuchung groß, solche kontingenten Fremdzuschreibungen in den identitären Eigenentwurf aufzunehmen und sie zu essenzialisieren, also zu notwendigen Wesensmerkmalen zu erklären. […] Die angenommene kollektive Identität ist dann auch kein letztlich aus Notwehr entstandenes Hilfskonstrukt mehr. Sondern sie postuliert und manifestiert erneut Wesensunterschiede, wo eigentlich keine sind“ (8 f.). Die hier angesprochene Gefahr ist selbstredend real und sie korrespondiert mit kritikablen epistemischen Verhärtungen (vgl. Villa und Speck 2020; Villa Braslavsky 2020). Wie sich eine solche Essentialisierung auswirken kann, schildern Susemichel und Kastner unter anderem bezüglich der Praxis einer Selbstpositionierung als Opfer. Dies betrifft die schon bei Fukuyama angesprochene Ebene des rationalen Diskurses, der durch den Essentialismus gefährdet sei: Aus der Einsicht, dass unterschiedliche soziale Positionen zu unterschiedlicher Betroffenheit und unterschiedlicher Erfahrung führen, die in politischen Diskussionen relevant ist, hätte sich in vielen linken Diskussionen ein „Opfercontest“ entwickelt (131). Dabei werde die eigene Positionierung als Opfer als ein Kampfmittel in der Debatte verwendet – Stichwort „Kampfmimosen“ (131)Footnote 9 –, weil man als Opfer mehr Diskursmacht erlangen könne. Dies sei eine Struktur, die weiteren Anreiz zur Essentialisierung von Identität gibt, die wiederum zu einer Verhärtung der individuellen Identifikationen und Fronten führe. Diese „Individualisierung von Identität bringt unter anderem mit sich, dass persönliche Betroffenheit zum alleinigen Kriterium für legitimes Sprechen gemacht wird“ (132). Durch diese „Verabsolutierung“ der individuellen Perspektive könne es dann keine gemeinschaftliche politische Aushandlung mehr geben, was Solidarität zersetze. An dieser Kritik ist bemerkenswert, wie drastisch die Gefahren der Essentialisierung dargestellt werden. Denn die Forderungen, soziale Positionen bei politischen und epistemischen Reflexionen mit einzubeziehen, sind meist nur Beiträge zum kritischen Diskurs, bei dem es nicht um individuelle Befindlichkeiten, sondern um die Sichtbarmachung von kollektiv geteilter Erfahrung geht. Zudem sind diese Forderungen aufgrund der gegenwärtigen Machtverhältnisse weit entfernt davon, zu stalinistischer Absolutierung zu führen, wie in der essentialismuskritischen Debatte suggeriert wird (131 f.). Während die Autor_innen dem Projekt der Identitätspolitik grundsätzlich wohlwollend gegenüberstehen, ist auch ihre Auseinandersetzung vom oben herausgearbeiteten Schema eines gegen den Partikularismus behaupteten Universalismus geprägt, weil sie die konstruktivistische Seite der Identitätspolitik, die wir im Folgenden herausarbeiten, nicht klar genug benennen. So führt dann auch die linke Essentialismuskritik in eine Diskurslage, in der gegen den angeblichen Essentialismus der Identitätspolitik, der zur Zersplitterung der Vernunft führe (weil sich die Vernunft in inkommensurable Teilvernünfte auflöse, die von sozialen Positionen abhängig seien), ein Universalismus des rationalen Diskurses ins Feld geführt wird. Dieser wird als nicht von partikularer Erfahrung bestimmt aufgefasst und soll der intersubjektiven Vernunft verpflichtet sein.

Bevor wir das Konzept der konstruktivistischen Identitätspolitik systematisch entwickeln, um diese Essentialismusvorwürfe zu entkräften, rekonstruieren wir die Tradition der feministischen und postkolonialen Reflexion der Identitätspolitik. Schon in dieser Literatur wird über das Problem des Essentialismus diskutiert – und zwar dank einer grundsätzlich konstruktivistischen Auffassung von Identität in einer Komplexität, die die heutige Diskussion bereichert.

2 Spuren konstruktivistischer Identitätspolitik: Von der Dekonstruktion der Konstruktion zu ihrer Affirmation

Auch wenn es angesichts der gegenwärtig dominierenden Debatten den Anschein haben mag, ist eine Auseinandersetzung mit dem konstruktivistischen Charakter von Identitätspolitiken keineswegs neu, sondern ein zentraler Topos feministischer und postkolonialer Theorietraditionen. In deren Verlauf – und im Zuge des Einbezugs von poststrukturalistischer Theorie – hat sich der Fokus immer mehr auf die Dekonstruktion und Genealogie der kontingenten Ein- und Ausschlüsse durch Identität verschoben. Die folgende Rekonstruktion dieser Debatten zeigt erstens, dass die Ambivalenzen des politischen Bezugs auf Identität innerhalb der identitätspolitischen Theoriebildung kontrovers diskutiert wurden. Zweitens zeigt sie, dass auch bei dem dabei entwickelten dekonstruktivistischen Verständnis eine grundsätzliche Affirmation des konstruktiven Aspekts von Identität zentral bleibt.

Der westliche Feminismus hat sich in den 1960er und 70er-Jahren erneuert und enorm an Einfluss gewonnen. Ein zentrales Element des neuen Feminismus war dabei die Praxis des „Consciousness Raising“ (MacKinnon 1991, S. 83 ff.) – also der gemeinsamen Bewusstwerdung über die spezifische Position der Frau in der patriarchalen Gesellschaft, mithin, die Bewusstwerdung einer geteilten Identität als Frau. Die Methode beruht auf dem Erfahrungsaustausch unter Frauen und ist eine aktive gemeinsame Konstruktionsleistung. MacKinnon beschreibt die epistemologischen Konsequenzen in expliziter Anlehnung an Marx’ Problem des falschen Bewusstseins innerhalb der kapitalistischen Ideologie. Wie im Kapitalismus sei im Patriachat das Bewusstsein vom Sein geprägt und deshalb verstellt. Allerdings sind wie bei Marx die Arbeiter (sic! insofern bei Marx die Frauen kaum eine Rolle spielen) bei MacKinnon die Frauen aufgrund ihrer sozialen Rolle und den dadurch möglichen Erfahrungen in einer epistemisch privilegierten Position, die herrschende patriarchale Ideologie durchschauen bzw. aufbrechen zu können (Haslanger 2013). Doch obwohl das Leben als Frau ein feministisches Bewusstsein grundsätzlich ermöglicht, ist – wiederum analog zum Marxismus und dem fehlenden Bewusstsein der Arbeiterklasse – das Problem, dass viele Frauen angepasst an die patriarchale Ideologie leben. Genau hier setzt Consciousness Raising ein und realisiert das im Leben als Frau vorhandene Potenzial der gemeinsamen Konstruktion einer politischen Identität als Frau.

MacKinnon gilt heute als eine Vertreterin des radikalen Differenzfeminismus, in der die Identität als Frau tendenziell als essentialistisch verstanden wurde. Es gebe demnach einen Kern geteilter weiblicher Erfahrung, die Frauen aufgrund ihres biologischen Geschlechts machten.Footnote 10 Dieser identitätspolitische Essentialismus wurde in den Weiterentwicklungen zum Queerfeminismus und durch die queere Theorie kritisiert (vgl. Villa 2007). Die poststrukturalistische Theorie, insbesondere Foucaults Genealogie der Erfahrung der „Sexualität“, hat für die Entwicklung eines solchen queeren Denkens, das auf die Kritik von Heteronormativität und Zweigeschlechtlichkeit abzielt, sowohl auf feministischer und lesbischer Seite (Maihofer 1995; Meißner 2010) als auch innerhalb der schwulen Theorie (Halperin 1995; Schubert 2019, 2021), eine zentrale Rolle gespielt. Am früheren Differenzfeminismus wurde entsprechend kritisiert, dass die Kategorie „Frau“ zu heterogen ist, um sie ohne Weiteres zur Basis eines politischen Projekts zu machen, insbesonders weil biologische Geschlechtsmerkmale für die Analyse konkreter Diskriminierungsverhältnisse nicht ausreichend seien und erst durch ihre Intersektion mit heteronormativen, kapitalistischen, rassistischen (Federici 2012; Scheele und Wöhl 2018; Robinson 2000) und einer Vielzahl anderer Verhältnissen ihre volle Macht entfalteten.

Auf die tendenzielle Ausblendung von Intersektionalität durch den weißen, westlichen und bürgerlichen Feminismus – analysiert insbesondere von Schwarze Feministinnen (Combahee River Collective 1979; Hill Collins 1986; hooks 1984) – wurde auch durch eine grundsätzliche Reflexion auf Identitätspolitik und ihre Ausschlusseffekte reagiert. Unter Rückgriff auf die Methode der Dekonstruktion (Derrida 2001) hat Butler (1999, 1995c) herausgearbeitet, dass Identitätskonstruktionen notwendigerweise mit Ausschlüssen einhergehen, weil sie sich in der Abgrenzung von einem konstitutiven Außen bilden, das die Identität zugleich ermöglicht und bedroht. Butler zeigt, dass unsere Vorstellungen von Geschlecht und Sexualität nicht auf biologische Tatsachen zurückgeführt werden können, sondern das Resultat gesellschaftlicher Praxis sind. Geschlecht wird performativ und iterativ nach der heteronormativen Matrix aufgeführt. Die performative Auffassung von Geschlecht eröffnet die Möglichkeit einer neuen Art antiessentialistischer Kritik, die radikaler ist als der klassische, essentialistische Feminismus. Sie macht eine Politik vorstellbar, die Identitätskategorien nicht verpflichtet ist, sondern kritisch untersucht, welche Folgen es hat, sich auf diese Kategorien zu berufen und sie durch abweichende Performances zu transformieren und auch neue Lebensformen außerhalb dieser Kategorien zu ermöglichen. Obwohl bei Butler die Dekonstruktion der Unterscheidung von sex und gender im Mittelpunkt steht, wodurch sie den Bezug auf die Identitätskategorie „Frau“ hinterfragt, teilt sie das konstruktivistische Element der Identitätspolitik mit MacKinnon. Es geht ihr um eine gemeinsame politische Praxis und Reflexion, die Subjektivierungen ändert und dadurch individuelle und kollektive Transformation ermöglicht (Butler 1995b, S. 50).

Sabine Hark hat dieses neue Level an Reflexivität der Identitätspolitik für die deutsche Debatte erschlossen und bezüglich der Frage konkretisiert, wie lesbische Identitätspolitik emanzipativ sein kann, obwohl die Identität „Lesbe“ „Instrument und Effekt normalisierender und disziplinierender Machttechniken“ ist (Hark 1999, S. 17). Das Problem ist, dass jene Machtmechanismen, gegen die Identitätspolitiken antreten, auch in ihnen wirken. Dies führt zu einem neuen Ausschluss, der nie ganz verhindert werden kann, aber durch essentialistische Identitätsvorstellungen deutlich verstärkt wird, wie Hark anhand der westdeutschen Lesbenbewegung seit den 1970er-Jahren zeigt (91–145). Hark skizziert mit Arendt und Foucault eine kritische Identitätspolitik, die solche essentialistischen Ausschlüsse reflektiert und Identität ständig neu verhandelt (168). Die Konstruktion einer solchen Identitätspolitik kann den Raum des Politischen als Instituierung offenhalten, wie Hark im Anschluss an Lefort und Laclau/Mouffe erläutert und ermöglicht damit ein Ethos der aktiven Herstellung und Transformation von Identität (181).

In der postkolonialen Theorie fand eine ähnliche Erweiterung einer Politik der Identitätskonstruktion hin zu ihrer reflexiven Dekonstruktion statt. Franz Fanon wies mit seinem Begriff der Négritude darauf hin, dass es für die Befreiung aus der Assimilation durch koloniale Regime zentral ist, eine native Identität zu konstruieren (Fanon 2002, S. 177ff.). Gegenwärtige Ansätze, wie Edward Saids Konzept multipler Identitäten oder Homi Bhabhas Konzept hybrider Identität basieren hingegen auf genealogischer und dekonstruktivistischer Kritik (vgl. do Castro Varela Mar und Dhawan 2015, S. 129, 257). Debattenprägend ist vor allem Spivaks Konzept des strategischen Essentialismus. Ausgehend von der Marx’schen Unterscheidung einer Klasse an sich und für sich diskutiert Spivak ein „strategic use of positivist essentialism“ (1987, S. 205), um auf Basis einer imaginierten gemeinsamen Herkunft (an sich) eine selbstbewusste kollektive Identität (für sich) zu konstruieren und für diese Anerkennung und Rechte zu erstreiten. Da sich die hiermit verbundenen Gefahren der Homogenisierung und Exklusion nicht völlig abwenden ließen, sei es unerlässlich, sie laufend zu reflektieren, zu problematisieren und ihnen entgegenzuwirken (Spivak 1987, S. 205ff.). Dennoch müsse Identitätspolitik zunächst konstruieren, also davon ausgehen, dass die kollektive Identität nicht bereits besteht, sondern erst im politischen Prozess mitsamt ihren exkludierenden Effekten erzeugt wird (Kerner 2010, S. 247f.; Biskamp 2016, S. 188).

Grundlegend für das Denken einer konstruktivistischen Identitätspolitik sind zudem die kulturwissenschaftlichen Arbeiten von Stuart Hall (2016; vgl. Supik 2005), der sich unter anderem auf Foucault und Butler bezieht und Identitätspolitiken im Zusammenhang mit Migration, Nation und Rassismus analysiert. Auch Hall geht von einer dekonstruktivistischen Sicht auf Identität aus, entwickelt aber darauf aufbauend neue konstruktive Aspekte. Im Gegensatz zur vorherrschenden Begriffsverwendung könne eine „kritische Begrifflichkeit von Identität nicht an einem stabilen Kern des Selbst festhalten“ (170). Im Anschluss an Foucaults Subjektivierungsbegriff entwickelt Hall einen Begriff von „Identifikation als Konstruktion“, wobei er Identifikation als kontextabhängigen und kontingenten Prozess versteht (168).

Der hier erfolgte Überblick über die (queer-)feministische und postkoloniale Debatte hat aufgezeigt, dass insbesondere durch den Bezug auf poststrukturalistische Ansätze in beiden Debatten eine genealogische sowie dekonstruktivistische Kritik an Identitätspolitiken und ihren Essentialisierungen und Ausschlüssen entwickelt wurde. Innerhalb eines konstruktivistischen Grundverständnisses von Identität konzentrieren sie sich auf die Möglichkeiten der Dekonstruktion und auf (individuelle)Footnote 11 Praxen der Ent-Identifizierung und des Widerstands, nicht aber auf die möglichen Konstruktionsprozesse alternativer Identitätsentwürfe. Deshalb steht in diesen Arbeiten auch die Bedeutung identitätspolitischer Konstruktionen für die Demokratie nicht im Mittelpunkt. Dies ist kein Fehler dieser Theorien, sondern eine Frage der Ausrichtung: Sie antworten nicht auf die aktuelle Kritik, dass Identitätspolitik die Demokratie gefährde, eben weil diese Kritik erst seit Kurzem so diskursbestimmend ist. Der nächste Abschnitt erläutert diesen Aspekt der Konstruktion systematisch und lotet ihr demokratisches Potenzial neu aus.

3 Konstruktivistische Identitätspolitik

Identitätspolitik ist kein pathologischer Essentialismus, der zu einer Spaltung der Politik führt. Vielmehr sind Identitäten das Ergebnis komplexer Konstruktionsprozesse, welche mit Ein- und Ausschlüssen einhergehen, die in der queerfeministischen und postkolonialen Theoriediskussion dekonstruiert wurden. Hiervon ausgehend rückt das Konzept der konstruktivistischen Identitätspolitik die Herstellung von Identität als einen für emanzipatorische Politiken konstitutiven Prozess in den Mittelpunkt.Footnote 12 Zwar entzieht sich dieser Prozess einer zielgenauen Steuerung, er kann aber dennoch aktiv gestaltet werden. Mit Marx und Engels (1988, S. 115) gesprochen verdeutlicht konstruktivistische Identitätspolitik, wie Menschen in kollektiven Zusammenhängen unter den „vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen“ dennoch „ihre eigene Geschichte [machen]“. Identitäten und die mit ihnen verbundenen individuellen und kollektiven Subjektformen ergeben sich also aus sozialen Strukturen; sie sind aber keineswegs einseitig durch Herrschaftsverhältnisse determiniert (vgl. Lawler 2014). Vielmehr können Prozesse der Identitätskonstruktion (bzw. der Identifikation) in emanzipatorischer Absicht gestaltet werden, indem relativ autonome, „eigene“ Strukturen geschaffen werden.

Zentral für dieses emanzipatorische Potenzial der konstruktivistischen Identitätspolitik ist erstens die kritische Subjektivierung, die sie ermöglicht (Schubert 2018). Dieser Begriff zeigt auf, dass Identitätspolitik Subjekte konstituieren kann, die gesellschaftliche Normen und Machtverhältnisse sowie ihre Rolle darin kritisch hinterfragen. Auf Grundlage dieser Fähigkeit zur Kritik können sich die Subjekte selbst, ihre identitätspolitischen Kulturen und darüber auch die Mehrheitsgesellschaft transformieren. Zweitens werden die gemeinsamen Identitäten durch Praxen der Artikulation ermöglicht, die heterogene Elemente verknüpfen und hierbei transformieren. Durch Bezugnahme auf demokratische Werte können Identitätspolitiken zudem über sich hinausreichen und einen universell gedachten Anspruch auf Gleichheit und Freiheit aktualisieren. Drittens werden diese Artikulationen erst durch Repräsentation als Zusammenhang einer Identität wahrnehmbar. Die dezidierte Praxis der Identitätskonstruktion wird so als zentrale Strategie von emanzipatorischer (Identitäts‑)Politik begreifbar.

Zugleich verdeutlichen die drei Elemente auch die Ambivalenzen von Identitätspolitik: Identitätspolitik ohne reflexive Selbstkritik droht, essentialistisch zu verhärten und schädliche Ausschlüsse zu produzieren, wie der Queerfeminismus dem Differenzfeminismus attestierte. Artikulationsprozesse können hauptsächlich in Bezug auf „eigene“ Traditionen und losgelöst von weiter gefassten Bezügen und universeller Normativität stattfinden. Identitätspolitik kann hierdurch in bloße Interessenpolitik umschlagen, homogenisierend wirken und zur gesellschaftlichen Isolation führen. Und Praxen der Repräsentation laufen stets Gefahr, ein zu einseitiges Bild von Identitäten zu zeichnen, in dem sich viele nicht wiederfinden können, die sich eigentlich dieser Identität zugehörig fühlen. Hier ist der Umgang mit gruppeninternen Machtbeziehungen sowie den Opportunitäten politischer Institutionen und Diskurse ausschlaggebend. Weil diese Ambivalenzen konstitutiv für Identitätspolitik sind, ist ihre kontinuierliche Aushandlung notwendig. Entsprechend lassen sich solche Aushandlungsprozesse empirisch in identitätspolitischen Projekten beobachten, was wir im Folgenden durch zwei Beispiele illustrieren.

3.1 Subjektivierung

Der Begriff der Subjektivierung geht auf Foucault zurück, der damit die soziale Konstitution von Identität durch gesellschaftliche Macht beschreibt (Foucault 1994, 1989). Macht ist damit grundsätzlich produktiv, insofern sie Individuen überhaupt erst zu spezifischen Subjekten macht. In der Diskussion zu Foucault wurde aber insbesondere die normierende und ausschließende Wirkung der Subjektivierung fokussiert (Butler 2005; Allen 2008). Der im Anschluss an die feministische und postkoloniale Theorie herausgearbeitete Aspekt der aktiven Identitätsherstellung durch Identitätspolitik, wie im Consciousness Raising oder der Herstellung einer antirassistischen Schwarzen Identität, kann mit Foucault auch als Subjektivierung durch produktive Macht verstanden werden. Eine produktive Macht allerdings, die in gegenhegemonialen Subjektivierungen von emanzipatorischen Identitätspolitiken marginalisierter Gruppen wirkt, was eine kritische Haltung zu den Vermachtungsprozessen der Mehrheitsgesellschaft und eventuell auch einen Ausbruch aus diesen ermöglicht.

Butler (1995a) beschreibt ein solches Freiheitspotential durch identitätspolitische Subjektivierung im Kontext aktueller Debatten um Foucault. Um allerdings den Aspekt der Befähigung zur Kritik durch Identitätspolitik herauszuarbeiten, ist es nötig, den Freiheitsbegriff genauer zu differenzieren. Es geht bei Freiheit, zu der identitätspolitische Subjektivierung führen kann, nicht nur um ein situatives Anders-Handeln und subversiv-performative Iteration, sondern um die langfristige und bewusst gestaltete Herausbildung alternativer Identitäten. Es ist zwar richtig, dass Subjekte aus Machtverhältnissen heraus eine relative Autonomie entwickeln, die sich nicht vollständig mit Macht verrechnen lässt und durch deren Bruchhaftigkeit und Iterabilität ermöglicht wird (Butler 2005; Meißner 2010; Saar 2007). Für die identitätspolitische Subjektivierung in Gegenkulturen ist aber nicht diese ontologisch fundamentale relative Freiheit in Machtverhältnissen entscheidend (Schubert 2018, S. 39ff.), sondern Freiheit als Befähigung zu Kritik, die weit über einfache Handlungsfreiheit hinausgeht. Diese Freiheit, sich kritisch und reflexiv gegenüber den Subjektivierungen der Marginalisierung zu verhalten, kann nicht vorausgesetzt werden. Vielmehr ist sie bedingt, sie ist also erst das Produkt von bestimmten Subjektivierungen (Schubert 2018, 2020a). Mit Foucault lässt sich so das von MacKinnon analysierte Consciousness Raising als eine spezifische Art von produktiver Macht verstehen, die durch kritische Subjektivierungsregime charakterisiert ist.

Während also Subjekte durch Identitätspolitik geformt werden und dies zu problematischen Schließungen und Festlegungen führen kann, lässt sich daraus keine Position gegen Identitätspolitik ableiten. Denn ohne identitätspolitische Subjektivierungen wäre die Entstehung von kritischer Subjektivität erschwert, was zu einer Erlahmung der demokratischen Auseinandersetzung führen würde.Footnote 13 Mit Jacques Rancière kann eine solche partikulare Subjektwerdung in Bezug auf demokratische Grundsätze als „politische Subjektivierung“ beschrieben werden (Rancière 2002, S. 47; Flügel-Martinsen et al. 2020; Schwiertz 2021b). Rancière betont mit dem Begriff allerdings insbesondere politische Momente der „Ent-Identifizierung“ (48), in denen eine durch die herrschende Ordnung zugewiesene soziale Position durch die Entstehung einer neuen Subjektivität zurückgewiesen wird und befasst sich kaum mit daran anschließenden Konstruktionsprozessen von identitätspolitischen Projekten, die im Konzept der konstruktivistischen Identitätspolitik durch die Aspekte der Artikulation und Repräsentation in den Fokus genommen werden.

Subjektivierungen in identitätspolitischen Projekten sind also entscheidend, um Freiheit als Kritik zu verwirklichen. Sie ermöglichen es Marginalisierten, ein kollektiv geteiltes, machtkritisches Verständnis ihrer gesellschaftlichen Position sowie eine hierauf bezogene Identität zu entwickeln. Bei einer solchen Ausbildung kritischer Identität kommt es allerdings weniger auf ein Wesen vor der Subjektivierung an, als vielmehr auf den Prozess kritischer Subjektivierung. Subjektivierungstheorien gehen also nicht von fertigen Subjekten aus, die lernen kritisch zu sein, sondern davon, dass in diesem Lernen neue kritische Subjektivitäten entstehen, die bestehende Subjektformen ablehnen und neue entwickeln. Hier weichen die Prämissen der poststrukturalistischen Sozialontologie von essentialistischeren Ansätzen wie demjenigen MacKinnons ab, die Identitätspolitik tendenziell auf das Erkennen objektiv bestimmbarer sozialer Positionen reduzieren. Bezüglich der aktuellen Debatte zeigt der subjektivierungstheoretische Begriff von Identitätspolitik, dass die im ersten Abschnitt rekonstruierten Essentialismusvorwürfe auf einem unterkomplexen Verständnis von Identität basieren.

Zentral an der durch Identitätspolitik möglichen Freiheit als Kritik ist, dass sie ihren skeptischen Blick gegen jegliche Subjektivierungen richtet, nicht nur gegen diejenigen, die marginalisierte Personen auf ihre gesellschaftlichen Positionen festlegen. Sie richtet sich also auch kritisch gegen identitätspolitische Subjektivierungen – es geht um die Kritik von Identität allgemein, auch der durch identitätspolitische Projekte perpetuierten. Damit lässt sich – begrifflich und empirisch -differenzieren zwischen Identitätspolitiken, die kritische Selbstreflexivität mehr oder weniger stark praktizieren und damit mehr oder weniger gut mit der Gefahr des Essentialismus umgehen können.

Wir verdeutlichen diese Aspekte nun durch zwei Beispiele: Die Subjektivierung in migrantischen Selbstorganisierungen (Schwiertz 2019, 2021b) und in schwulen Subkulturen (Schubert 2019, 2020c, 2021).Footnote 14 Das Beispiel der migrantischen Selbstorganisierungen zeigt, dass aktive Identitätskonstruktionen eine Bedingung emanzipativer Politik sind, gerade um überhaupt eine öffentlich wirksame Sprechposition erlangen zu können. Das Beispiel der schwulen Kultur und Politik macht darüber hinaus deutlich, wie umkämpft solche Identitätskonstruktionen sind: Sie können nicht nur zu transformativer Politik, sondern auch zu Assimilation an die Mehrheitsgesellschaft und damit zu einem Teil des von Fraser kritisierten „progressiven Neoliberalismus“ führen, was letztlich die Auflösung der Identitätspolitik bedeutet.

Innerhalb der Selbstorganisierungen von Jugendlichen mit unsicherem Aufenthaltsstatus in Deutschland und den USA entsteht ein Subjektivierungsregime, das über Empowerment und die Herstellung lokaler Zugehörigkeit operiert (Schwiertz 2019).Footnote 15 Durch diese Subjektivierungen wird den involvierten Jugendlichen bewusst gemacht, dass ihre Entrechtung nicht bloß ein individuelles, sondern ein gesellschaftliches Problem ist, das ihnen zusammen mit anderen Betroffenen widerfährt. Im Verlauf der Selbstorganisierung werden die Jugendlichen so in einer Weise subjektiviert, dass sie die negativen Folgen ihres unsicheren Aufenthaltsstatus nicht allein ertragen müssen, sondern eine gemeinsame Position der Betroffenheit erfahren und sich davon ausgehend zusammen für ihre Rechte einsetzen können. Aus relativ ohnmächtigen Subjekten werden so tendenziell ermächtigte Subjekte, die ihre Situation im Verhältnis zu gesellschaftlichen Machtstrukturen kritisch reflektieren und dadurch eine kollektive Identität herausbilden, die zugleich Produkt und Produktionsmittel ihres politischen Kampfes ist (Odugbesan und Schwiertz 2020). Aber auch über fest strukturierte Organisationen und deren strategische Subjektivierungen hinaus kann der Bezug auf (post-)migrantische Identitäten eine kritische Haltung und Empowerment gegenüber anti-migrantischen Politiken ermöglichen, wobei sich Subjektivierungen hierbei diffuser vollziehen, etwa durch Popkultur oder Nachbarschaft.

Studien zur westlichen schwulen Kultur zeigen, dass deren heutige Formen ab den 1970er-Jahren durch kritische Subjektivierung in identitätspolitischen Projekten entstanden sind (Pretzel und Weiß 2012, 2013; Beljan 2014). Eine Identität als Schwuler war dabei lange mit der Kritik an Heteronormativität verbunden. Während Butler schon das Nichtpassen zur Heteronormativität als hinreichende Bedingung für eine widerständige Haltung konzipiert, zeichnen die Begriffe der kritischen Subjektivierung und der dadurch möglichen Freiheit als Kritik ein anderes Bild: Das Nichtpassen allein führt oft zum Zurückziehen ins „Closet“, Depression und sogar Selbstmord. Erst die Partizipation an und das Lernen in schwuler bzw. queerer Kultur führt zu einer positiven schwulen Identität. Die explizite politische Kritik an der Heteronormativität ist ein zentraler Bestandteil dieser Kultur, wie beispielsweise die Tradition der Pride-Märsche zeigt. Doch kritische Subjektivierung erfolgt nicht nur durch explizite politische Kritik, sondern auch durch subversive Kulturpraktiken, wie beispielsweise der Kritik an Genderrollen durch Drag (Butler 1995a).

In beiden Feldern werden der diskriminierenden Subjektivierung durch die nationalistische bzw. heteronormative Gesellschaft emanzipatorische Subjektivierungen entgegengesetzt. Durch diese Subjektivierungen konstruieren sich die Subjekte erst als einer spezifischen politischen Identität zugehörig und dadurch mit einem anderen Selbstverhältnis, das sie im Gegensatz zu den Diskriminierungen der Dominanzgesellschaft ermächtigt. Die Auseinandersetzungen um die Artikulation und Repräsentation von Identität, die wir im Folgenden beschreiben, zeigen zudem, dass identitätspolitische Subjektivierung nicht nur die Fähigkeit zur Kritik an der Dominanzgesellschaft ermöglicht, sondern auch zur reflexiven Kritik der jeweiligen Identitätspolitik.

3.2 Artikulation

Doch wie können die kritischen Subjektivierungsregime einer emanzipatorischen Identitätspolitik entstehen und aktiv gestaltet werden? Hier kommen Praxen der Artikulation ins Spiel. Stuart Hall betont dabei, dass Identitäten niemals einheitlich und eindeutig sind, sondern vielmehr durch die Artikulation von heterogenen und teils widersprüchlichen Elementen entstehen und sich in ihrer laufend erforderlichen Re-Artikulation transformieren (Hall 2016, S. 170; vgl. Supik 2005). Identitäten ergeben sich also nicht durch eine Subsumtion verschiedener Elemente unter ein übergeordnetes und einheitliches Prinzip, sondern in einem kontinuierlichen „Prozess der Artikulation“ (169). Laclau und Mouffe haben den Begriff der Artikulation hinsichtlich der Subjektivierungsregime sozialer Bewegungen konturiert. Artikulation ist demnach „jede Praxis, die eine Beziehung zwischen Elementen so etabliert, dass ihre Identität als Resultat einer artikulatorischen Praxis modifiziert wird“ (Laclau und Mouffe 2006; [1985], S. 141). Durch artikulatorische Praxen entstehen Identitäten also nicht bloß als ein Mosaik aus bestehenden Elementen. Vielmehr wird die Bedeutung dieser Elemente durch ihre Verknüpfung verändert.

Durch konstruktivistische Identitätspolitik werden Traditionen, Objekte, Protestrepertoires, Habitus und Stile eigensinnig angeeignet und in einen Zusammenhang gestellt, aus dem neue Identitätsformen entstehen. Deutlich wird aus einer solchen Perspektive auch, dass politische Subjektivierungen nicht nur bei dem Diskurs einer gemeinsam formulierten Kritik an Unterdrückungsverhältnissen ansetzen. Vielmehr entstehen solche Subjektivierungen durch das Zusammenspiel von öffentlich sichtbaren Politiken der Kritik und Intervention mit relativ unsichtbaren Politiken der wechselseitigen Fürsorge und Zuneigung, der Selbsthilfe, und des Empowerments (Schwiertz 2021b): Sie gehen aus einem heterogenen Ensemble diverser Elemente hervor, das mit Foucault als Subjektivierungsdispositiv beschrieben werden könnte und das Alltagspraktiken, Affekte, kulturelle Artefakte uvm. verknüpft. Rückbezüge auf Elemente aus Geschichte, Sprache und Kultur sind hierbei nicht bloß einer Tradition verpflichtet, sondern ergeben durch ihre Artikulation etwas Neues, sodass Identitäten vielmehr „in einem Prozess des ‚Werdens‘ denn des ‚Seins‘“ hergestellt werden (Hall 2016, S. 171). Dieser konstruktivistische Prozess wird umso deutlicher im von Hall beschriebenen Übergang von einer Identitätspolitik 1, in der die Differenzkategorien der Ausgrenzung zum Ausgangspunkt einer defensiven Identitätskonstruktion werden – welche marginalisierte Gruppen handlungsfähig macht und Solidarität untereinander ermöglicht, dabei allerdings auch die problematischen Ausschlüsse dieser Kategorien reproduziert – zu einem neueren Modus der Identitätspolitik 2. In dieser werden nicht bestehende Differenzkategorien affirmativ gewendet, sondern weitere heterogene Elemente einbezogen, sodass es zur Vervielfältigung von multiplen Identitäten kommt (Hall 1994a, S. 19, 1994b, S. 78).

Mit dem Konzept der Artikulation lässt sich zudem beschreiben, wie identitätspolitische Praxen emanzipatorische Grundsätze einbeziehen, die über ihre Position hinausreichen. Im Kampf gegen ihre Marginalisierung beziehen sich soziale Bewegungen und Subkulturen oft sowohl auf ihre besondere Lage als auch auf allgemeine normative Grundsätze. Durch radikale Demokratietheorie lässt sich hier zeigen, wie durch Prinzipien von Gleichheit, Freiheit und Solidarität ein demokratisches Imaginäres eingerichtet wurde, das bis heute als Bezugspunkt zahlreicher Identitätspolitiken dient (vgl. Laclau und Mouffe 2006 [1985]; Balibar 2012). Das sich hieraus ergebende Spannungsverhältnis zwischen etablierten Regimen der Demokratie, die Identitäten hierarchisieren, und einem konflikthaften Universalismus des Demokratischen, der Hierarchien infrage stelle und über den Status Quo hinausweist, lässt sich als „demokratische Differenz“ (Schwiertz 2019, 2021a) begreifen: Aus dem Abstand zwischen real-existierenden Institutionen, die sich als Demokratie bezeichnen, und einer Idee des Demokratischen, die nie ganz verwirklicht, aber überall und jederzeit artikuliert werden kann, entstehen potenziell emanzipatorische Kämpfe. Identitätspolitiken sind daher nicht, wie ihre Gegner meist suggerieren, auf eine partikulare Position beschränkt, sondern verweisen in ihren politischen Praxen vielfach auf den Horizont eines Universellen, indem sie Grundsätze wie Gleichheit, Freiheit und Solidarität bezogen auf ihre partikulare Situation artikulieren, was wir auch als „partikularistischen Universalismus“ bezeichnen können (Schubert 2020b, S. 45). Die Überlegungen zeigen, dass Identitätspolitiken üblicherweise über die Einforderung partikularer Rechte hinausreichen. Sie können eine ansteckende Wirkung für sozialen Wandel entfalten und solidarische Beziehungen knüpfen, indem Gemeinsamkeiten zwischen unterschiedlichen Kämpfen identifiziert werden, die sich insbesondere aus einem vergleichbaren Eintreten für demokratische Grundsätze von Gleichheit und Freiheit in der jeweils partikularen Situation ergibt. Dieser Bezug bildet auch den Hintergrund für die interne Kritik an Exklusionen innerhalb identitätspolitischer Projekte. Umgekehrt lässt sich aus dieser Analyseperspektive auch aufzeigen, dass Identitätspolitiken Gefahr laufen, ihr transformatives Potenzial zu verlieren und zu einer bloßen Interessenpolitik innerhalb der hegemonialen Ordnung zu werden, wenn keine Bezüge auf universell gedachte Grundsätze artikuliert werden (Rancière 2012, S. 101). Wie der Zusammenhang gemeinsamer Identität konkret hergestellt wird und dabei auch umkämpft ist, verdeutlichen die Fallbeispiele.

Im Feld migrantischer Selbstorganisierung lässt sich dies anhand von zwei Jugendgruppen aufzeigen, die über einen längeren Zeitraum forschend begleitet wurden (Schwiertz 2019). Jugendliche ohne Grenzen bezeichnen sich als „Zusammenschluss von jugendlichen Flüchtlingen“, wobei die Identität der Gruppe keineswegs so eindeutig und selbstverständlich ist, wie es auf den ersten Blick scheint. Sie muss vielmehr erst hergestellt werden, indem verschiedene Diskriminierungserfahrungen wie traumatische Fluchterlebnisse, Lagerunterbringung, Kettenduldungen, Familientrennungen und Rassismen in einen Zusammenhang gebracht und somit artikuliert werden. Auch die Immigrant Youth Coalition, eine vergleichbare Selbstorganisierung in den USA, stellt Identität durch die artikulatorische Verknüpfung der Erfahrungen der Jugendlichen mit der Protestkultur queerer, Schwarzer und mexikanisch-amerikanischer Bewegungen her. In beiden Gruppen wird deutlich, dass kollektive Identitäten einerseits Ausgrenzungen reproduzieren (etwa aufgrund von Herkunft oder Geschlecht), die teils im weiteren Selbstorganisierungsprozess problematisiert werden, andererseits aber nur durch eine Abgrenzung wahrnehmbar werden. Dabei setzen sich die Jugendlichen graduell von jenen ab, die nicht von Abschiebungen bedroht, die nicht in ihrer Lage sind, und sie markieren einen Konflikt zu Politiker_innen, die sie für ihre Lage mitverantwortlich machen. Dabei richten sie sich nicht in erster Linie gegen eine bestimmte Gruppe, sondern konstituieren sich durch einen Antagonismus zum dominanten Migrationsregime und strukturellen Rassismus. Konstitutiv für die hierbei konstruierten Identitäten sind allerdings nicht nur öffentliche Interventionen, sondern ebenso die relativ autonomen und sicheren Räume der Selbstorganisierung, die durch freundschaftliche und fürsorgliche Beziehungen produziert werden (Schwiertz 2021b). Diese Räume ermöglichen eine Dis-Artikulation diskriminierender Diskurse und eine Re-Artikulation von alternativen Zusammenhängen: Durch ihre Selbstorganisierung erfahren viele Jugendliche, dass ihre Nicht-Zugehörigkeit zur dominanten Mehrheitsgesellschaft hier eine spezifische lokale Zugehörigkeit, eine kollektive Identität erzeugt – ein Prozess, der als „Anti-Othering“ beschrieben werden kann (Schwiertz 2019, S. 324).

Schwule Identität wird durch mannigfaltige dezentrale Artikulationen hergestellt. Stile, Rituale und Habitus sind dabei von besonderer Bedeutung (Halperin 2012). Seit den 1970er-Jahren gibt es Auseinandersetzungen darum, welche Elemente zu einer schwulen Identität verknüpft werden. Beispielsweise hat das Gay Rights Movement darauf hingearbeitet, traditionelle Formen des bürgerlichen Lebens, wie Monogamie, Ehe, Karriere, Häuslichkeit und Kinder mit dem Schwulsein zu verknüpfen und so schwule Identität zu transformieren, wobei im Zuge dieser Artikulation auch die Bedeutung der genannten Elemente transformiert wird, beispielsweise durch die Veränderungen des Konzepts der Ehe und Familie. Dies wird wiederum von queeren Schwulen als homonormativ (Duggan 2002) kritisiert: Die Angleichung an bürgerliche Lebensformen führe zu einer neuen Normalisierung und Exklusion innerhalb schwuler Communities, ein Prozess, der durch HIV-bezogene Stigmatisierung verstärkt wurde (Schubert 2021). Demgegenüber ist bzw. sollte Schwulsein aus einer queeren Perspektive mit subversiven Praktiken wie der Durchbrechung von Geschlechtsnormen oder der Entwicklung gegenhegemonialer, polymorph-perverser Sexualität verknüpft sein. Identitätspolitik ist hier zu verstehen als queeres „world-making“, das präfigurativ andere Lebensformen praktiziert (Berlant und Warner 1998; Muñoz 77,76,b, a) und Ausschlussprozesse innerhalb der schwulen Community kritisiert. Ein wichtiger Unterschied zwischen diesen beiden Lagern besteht darin, ob Schwulsein überhaupt aktiv als Identität verstanden wird, oder eher als ein mit gesellschaftlicher Normalisierung und Gleichstellung zu überwindendes Stigma. Queere Schwule nehmen die Identität des Schwulseins aktiv und politisch an und berufen sich dafür auch auf vergangene politische Kämpfe und kulturelle Praktiken sowie allgemeine Gleichheitsgrundsätze, während die bürgerlichen Schwulen sich oft eher als akzidentiell homosexuell denn als bewusst schwul sehen – mit anderen Worten, sie versuchen, es aktiv zu vermeiden, ihr Schwulsein als Identitäts- und Lebensform zu praktizieren. Die schwul-queere Identität ermöglicht transversale Solidarität und ist deshalb ein Beispiel für die mit Fraser gesuchte transformative Identitätspolitik. Ihre Ablehnung führt hingegen tendenziell zu einer Entpolitisierung bzw. zu einfacher Interessenpolitik innerhalb der Verwertungsstrukturen des progressiven Neoliberalismus.

Diese Beispiele zeigen, dass Identitätspolitiken hier nicht auf vorgefertigte, wesenhafte Identitäten zurückgreifen, sondern dass (Sub‑)Kulturen und soziale Bewegungen eine intensive Identitätsarbeit erfordern, die heterogene Elemente in Beziehung setzt und deren Zusammenhang artikuliert. Die Kritik der potenziell repressiven Effekte einzelner Artikulationen ist begrifflich konstitutiver Teil der Identitätsartikulation und lässt sich empirisch in unterschiedlichen Intensitäten beobachten, was wiederum von den Repräsentationsstrukturen abhängt.

3.3 Repräsentation

Repräsentation ist nicht bloß eine Abbildung bereits bestehender Identitäten, sondern Teil ihrer Konstitution. Erst durch ihre Repräsentation können Identitäten als ein Zusammenhang begriffen werden und somit entstehen. In der Erweiterung des politikwissenschaftlichen Begriffs ist Repräsentation hierbei als performativer und symbolischer Prozess zu verstehen (Diehl 2019, S. 48). Im Einklang mit einem solchen Verständnis unterscheidet Mark Terkessidis (Terkessidis 2000; vgl. Schwiertz 2019, S. 228) drei Aspekte. Vertretung bezeichnet Repräsentationspraxen, in denen diejenigen, die zu einer kollektiven Identität gehören, in ihrem Namen sprechen und sich vertreten. Der zweite Aspekt der Darstellung bezieht sich auf die Art und Weise, wie sich eine Gruppe oder Kultur selbst beschreibt (siehe auch Villa Braslavsky 2020). Dies geschieht oftmals in Form von Narrativen, in denen heterogene Elemente aus unterschiedlichen Zusammenhängen so artikuliert werden, dass die Identitäten kohärent erscheinen (Keller 2011, S. 251). Drittens ist die Vorstellung bzw. Imagination einer kollektiven Identität als Einheit für Identitätspolitiken entscheidend.

Vertretung, Darstellung und Imagination haben eine wichtige strategische Bedeutung, weil sie politische Identitäten als solche sprachfähig und wahrnehmbar machen. Teil dieser Strategie der Repräsentation kann der rhetorische Bezug auf essentialisierte Elemente sein, also im Sinne von Spivak die eigene Gruppe so darzustellen, als ob sie klar definierte Wurzeln hätte, um auf diese Weise ein kollektiver Akteur mit spezifischer Überzeugungskraft zu werden. Dass dieser Verweis auf eine gemeinsame Essenz auch als Teil einer konstruktivistischen Strategie funktionieren kann, verdeutlicht Paul Gilroy (1993, S. 31ff.), wenn er den strategischen Essentialismus von einem ontologischen Essentialismus abgrenzt. Durch ersteren erzeugte Identitäten beruhen demnach auf der Erfahrung des kollektiv Durchlebten; nicht auf gemeinsamen Wurzeln (roots), sondern gemeinsamen Wegen (routes) (Gilroy 1995). Als Bezugspunkt dient hier die Vorstellung eines kollektiv erzeugten und imaginierten Erfahrungsraums, wobei er im Hinblick auf die Sklaverei den Schwarzen Atlantik als konstitutiv für eine Schwarze Identität beschreibt (Gilroy 1993).

Der Bezug auf die Fallbeispiele verdeutlicht die konstitutive Bedeutung von Repräsentation für Identitätspolitiken. Sich selbst zu vertreten und die eigene Stimme zu erheben ist ein grundlegendes Anliegen der Selbstorganisierung migrantischer Jugendlicher. Selbstvertretung ist sowohl der Ausgangspunkt als auch das Ziel ihrer Praxis. Für ihre Darstellung entwickeln die Jugendlichen spezifische Narrative, durch die sie die Kritik ihrer Entrechtung in einen Zusammenhang mit der Begründung ihrer Berechtigung stellen und dies anhand von Einzelfällen veranschaulichen. Über Methoden des Storytellings werden Geschichten vermittelt, die sie selbst nicht zu stereotypen Anderen machen und trotzdem ihre besondere Erfahrung artikulieren: Ein Narrativ, das die Betroffenen selbst sowie ein breiteres Publikum überzeugt, dass sie selbstverständlich Teil der Gesellschaft und nicht in einer fragwürdigen Position sind und sein sollten. Die Imagination einer Gemeinschaft ergibt sich aus dem gesamten Zusammenhang politischer Selbstorganisierung und zeigt die konstitutive Funktion von Repräsentation in Identitätspolitiken: Indem sich die migrantischen Jugendlichen durch ihre politischen Interventionen als einen Zusammenhang begreifen, können sie in der Gruppe enge Bindungen eingehen und laufend neue Jugendliche in die so entstehende kollektive Identität einbinden. Allerdings sind Identitätskonstruktiven auch in diesen Fällen oft ambivalent, wenn etwa Narrative auf nationale Integrationsdispositive anspielen, indem der besondere Bildungserfolg oder die Leistungsbereitschaft von einigen Jugendlichen hervorgehoben werden (McNevin 2013; Schwiertz 2019). Repräsentationsstrategien zur gezielten Berechtigung einer Gruppe können hierbei indirekt zur Delegitimierung von anderen führen, was in den genannten Gruppen jedoch wiederholt reflektiert wird und zu Veränderungen dieser Strategien führt.

In der schwulen Repräsentation sind alle drei Aspekte umstritten, wobei die angesprochene Konfliktlinie zwischen bürgerlicher Anpassung und queerer Kritik eine gute Heuristik für ihre Ordnung bildet. Erstens gibt es verschiedene Organisationen, die behaupten, Schwule bzw. queere Menschen zu vertreten, die sich zwischen bürgerlicher und queerer Politik einordnen lassen und die durch wirtschaftliche und diskursive Macht die identitätspolitischen Artikulationen beeinflussen können. Zweitens ist die Selbst- und Fremddarstellung von Schwulen ein zentrales Feld der identitätspolitischen Auseinandersetzungen (Rehberg 2018). Die Art der Darstellung von Schwulen insbesondere in den Medien ist nach der Frage, ob sie dort überhaupt sichtbar sind, zentral für die Vorstellung, die sich die Mehrheitsgesellschaft von Schwulen macht. Weil dies wiederum die konkrete Programmierung der gesellschaftlichen Homophobie und im Anschluss die Anpassungsversuche der Schwulen beeinflusst, ist der Kampf um die mediale Repräsentation für die schwule Identitätspolitik von enormer Bedeutung. Drittens betreffen diese Repräsentationen auch die Art der gemeinschaftlich hergestellten Imagination eines Zusammenhangs schwuler Identität. Sie wird seit der Jahrtausendwende von homonormativen bürgerlichen Narrativen geprägt, was auf vier Faktoren zurückgeführt werden kann. Neben der verstärkten Stigmatisierung von nicht-monogamer Sexualität während der AIDS-Krise ist der rechtliche und gesellschaftliche Fortschritt zu nennen, der überhaupt erst ein homonormatives Leben erlaubt, genauso wie Gentrifizierung und Online-Dating, die zu einem Rückgang von Community-Orten führen (Gould 2009; Haunss 2012; Schubert 2021; Halperin 2012). Dies führt zu einer realen Schlechterstellung alternativer queerer Lebensstile und lässt schwule Identitätspolitik überhaupt brüchig werden. Diese identitätspolitischen Zerfallsprozesse werden durch das Zusammenbrechen von alternativen Kulturstrukturen verstärkt – ein Teufelskreis, weil der Rückgang der Nachfrage nach solchen Strukturen sich proportional zur Verbürgerlichung entwickelt.

Insgesamt lässt das Konzept konstruktivistischer Identitätspolitik bezüglich beider Fälle die permanente Transformation und Neukonstruktion von Identität deutlich werden. Der Vergleich der beiden Fälle hat gezeigt, dass identitätspolitische Konstruktionen sehr unterschiedliche Formen annehmen, die mit dem Konzept beschrieben werden können. Während es im Feld der migrantischen Selbstorganisierungen im Rahmen politischer Gruppen um Prozesse ging, in denen trotz der Heterogenität der involvierten Positionen eine gemeinsame politische Identität entwickelt wird, haben wir im Hinblick auf das weitergefasste Feld schwuler Kultur und Politik einen Schwerpunkt auf die Aushandlung unterschiedlicher politischer Strategien gelegt, die sich im Verlauf einer langen Geschichte herausgebildet haben. Dabei zielen Identitätspolitiken auf einen politischen Wandel, der auch auf die Identitäten zurückwirkt, sodass diese selbst umstritten werden. So würde Migration mit der Überwindung einer nationalstaatlichen Weltordnung eine andere Bedeutung erlangen und der Kampf um einen Aufenthaltsstatus in einem Nationalstaat sowie die damit verbundenen Identitäten obsolet werden, wenngleich im Zuge einer solchen Transformation von Grenzen vermutlich neue Formen migrantischer Identitätspolitik entstünden. Bereits heute zeigen sich gegenläufige Strategien, die sich teils auf eine migrantische Position und teils auf eine post-migrantische Haltung beziehen (Tsianos und Karakayali 2014; Foroutan 2019). In der schwulen Identitätspolitik ist der Bezug auf eine kollektive Identität ebenfalls umstritten. Die Auflösung der Identität durch das Erreichen einer relativen rechtlich gesicherten Diskriminierungsfreiheit ist das erreichte Ziel der homonormativen Politik. Damit wird aber Heteronormativität keineswegs abgeschafft, sondern die Identitätspolitik hat sich in Assimilation aufgelöst. Queere Identitätspolitik insistiert folglich auf dem spezifischen Eigenwert von queerer Kultur und zielt nicht auf die Überwindung von Identitätspolitik (Halperin 2012). Auffällig ist dabei, dass gerade die Auflösung von spezifisch schwuler Identitätspolitik zu konservativer schwuler Interessenpolitik und der Vereinnahmung durch den progressiven Neoliberalismus führen. Eine unsolidarische Spaltung entsteht in diesem Fall also – contra Fraser – nicht durch, sondern wegen der Abkehr von Identitätspolitik. Im Schluss zeigen wir, wie diese Ergebnisse auf die aktuelle Debatte um Identitätspolitik und Demokratie antworten und wie das Konzept der konstruktivistischen Identitätspolitik als eine normative Heuristik zur Bewertung politischer Strategien verwendet werden kann.

4 Schluss

Identitätspolitik ist nicht eine nachträgliche Störung des politischen Diskurses, sondern bringt überhaupt erst die politischen Identitäten hervor, mit denen dieser Diskurs auf einer breiten gesellschaftlichen Basis geführt werden kann. Um diesen für Demokratien konstitutiven Prozess differenzierter zu verstehen, haben wir den Begriff der „konstruktivistischen Identitätspolitik“ vorgeschlagen und hinsichtlich der Aspekte Subjektivierung, Artikulation und Repräsentation ausdifferenziert. Auf dieser politik- und sozialtheoretischen Basis können wir einen neuen Blick auf den Hauptvorwurf gegen die Identitätspolitik richten: Sie zersetze Diskurse und das je nach politischer Orientierung unterschiedlich konzipierte „Wir“ durch die Essentialisierung von Identitäten. Alle drei Kritiken – die kommunitaristisch-liberale von Fukuyama, die kapitalismuskritische von Fraser und die identitätspolitikfreundliche von Susemichel und Kastner – setzen ein Universelles gegen den identitätspolitischen Partikularismus: das Universelle der nationalen Bürgerschaft und Leitkultur (Fukuyama), der transformativ-sozialistischen Politik (Fraser) und des intersubjektiven Diskurses (Susemichel/Kastner). Was ändert die konstruktivistische Perspektive bezüglich dieser Vorwürfe? Die Aufschlüsselung der verschiedenen Aspekte der Identitätskonstruktion und ihre Verknüpfung mit bestimmten Wissensformen zeigt, wie zentral die Partizipation in identitätspolitischen Projekten für politische Kritikfähigkeit, Handlungsmacht und Teilhabe ist. Durch identitätspolitische Subjektivierung entstehen politische Identitäten in Bezug auf eine besondere gesellschaftliche Position, die mit der Fähigkeit zur kritischen Reflexion von Machtverhältnissen in der Dominanzgesellschaft und in identitätspolitischen Projekten einhergehen. Das dabei entwickelte politische Wissen gewinnt durch Artikulation und Repräsentation nicht nur einen relativ kohärenten Zusammenhang, sondern potenziell intersubjektive Verallgemeinerung, aus der sich weithin nachvollziehbare politische Forderungen ergeben können. Diese Verallgemeinerung von standpunktbezogenem Wissen (Harding 2004) durch intersubjektive Aushandlung sowie den Bezug auf demokratische Grundsätze ermöglicht die Teilnahme an politischen Auseinandersetzungen. Ohne diese Auseinandersetzungen kann es nach der radikalen Demokratietheorie, die Demokratie als konflikthafte Praxis begreift, keinen Fortschritt geben (Celikates 2009, 2019; Celikates et al. 2015; Comtesse et al. 2019; Flügel-Martinsen et al. 2020; Gebhardt 2020; Schubert 2020d; Schwiertz 2019, 2021a). Der Bezug auf das Universelle ermöglicht es also, über einen Partikularismus hinauszugehen, ohne diesen aber aufzulösen, da das Universelle nur partikular-konkretisiert eingefordert werden kann (Schwiertz 2019, S. 89; Schubert 2020b, S. 45). Solche Verallgemeinerungen ermöglichen es zudem, über Identitätsgrenzen hinweg Beziehungen transversaler und inklusiver Solidarität einzugehen (Yuval-Davis 2001; Schwiertz und Schwenken 2020). Eine derart reflektierte Identitätspolitik steht daher nicht im Widerspruch zu pluralen Allianzen (Foroutan 2019) und der Suche nach dem Gemeinsamen (Hark 2021), sondern bildet eine Basis für Bündnisse mit jenen, die nicht unmittelbar von Rassismus oder Homophobie betroffen sind, sich aber zusammen gegen diese und weitere Diskriminierungsverhältnisse positionieren.

Der politische Diskurs wird somit nicht durch Identitätspolitik gefährdet und zersetzt, wie ihre Kritiker_innen behaupten, sondern ist auf sie angewiesen, weil sie ihn laufend um neue Perspektiven erweitert und damit die Auseinandersetzung um die Aktualisierung demokratischer Grundsätze belebt. Diese grundsätzliche Anerkennung des demokratischen Potentials von Identitätspolitiken ermöglicht es dann auch, deren problematische Wendungen in bestimmten Fällen gezielter zu kritisieren. So stimmen wir Lea Susemichel und Jens Kastner (2018) sowie Paula-Irene Villa Braslavsky (2020) zu, dass Identitätspolitiken mit einer Essentialisierung sowie einer unterkomplexen Sicht auf politische Auseinandersetzungen einhergehen können, wenn soziale mit inhaltlichen Positionen gleichgesetzt werden, was Villa Braslavsky als „positionalen Fundamentalismus“ (2020, S. 74) bezeichnet. Identitätskonstruktionen können tatsächlich für eine gemeinsame Aushandlung des Demokratischen zum Problem werden, wenn die eigene Identität als absolut verschieden gesetzt wird und so Grenzziehungen naturalisiert werden. Damit wird genau das Potenzial zur Freiheit als Kritik, das die Identitätspolitik auszeichnet, nicht eingelöst. Ebenso kann sich eine solche exzessive Essentialisierung sprachlich ausdrücken, wenn bestimmte Redeweisen als allgemein (voraus-)gesetzt und nicht ausreichend Bezugspunkte zur gewöhnlichen Sprache hergestellt werden (Mau 2021). Dies wird dann zum Problem, wenn neue Redeweisen nicht allgemeinverständlich vermittelt und übersetzt werden, weil die erforderlichen – aber aufgrund sozialer Positionen unterschiedlich verteilten – Ressourcen, die für das Lernen eines identitätssensiblen Sprachgebrauchs benötigt werden, nicht ausreichend mitgedacht werden. Diese Problematiken von Identitätspolitik können allerdings vermieden werden, wenn der Konstruktionsprozess der eigenen Identität wiederholt reflektiert wird, um unterschiedliche soziale Positionen, deren intersektionale Verknüpfung und ihre Transformation zu berücksichtigen. Diese kritische Reflexion prägt in heutigen Identitätspolitiken zwar nicht jede einzelne Handlung und Äußerung, ist aber doch insgesamt gängig, wie die beiden ganz unterschiedlich gelagerten Beispiele gezeigt haben.

Zudem ist es trotz dieser Fallstricke konstitutiv für die Demokratie, einen agonalen Raum des Gemeinsamen zu eröffnen, in dem sich Gesprächspartner_innen auch im Dissens als Gleiche anerkennen. Insofern gilt es grundsätzlich, jede intersubjektiv anschlussfähige Identitätspolitik als Teil solcher agonal-politischen Aushandlungsprozesse zu akzeptieren, auch dann, wenn sie sehr verhärtet artikuliert wird. Undemokratisch ist demgegenüber, sie im Namen eines selbstgesetzten Universellen aus dem Raum des Demokratischen herauszudefinieren, wie es in der aktuellen Identitätspolitikkritik oft geschieht. Weil das demokratische Universelle ohne partikulare Aktualisierung gar nicht denkbar ist, ist die Demokratie auf solche Identitätspolitik für ihre demokratische Erneuerung angewiesen. Während identitätspolitische Konstruktionsprozesse zwar immer wieder zu Essentialisierungen tendieren und Ausschlüsse produzieren, ist die kritische Reflexion solcher Tendenzen der Identitätspolitik inhärent. Identitätspolitik führt deshalb üblicherweise nicht zu schädlichen Spaltungen. Vielmehr ist sie grundlegend für eine breite gesellschaftliche Beteiligung am politischen Streit, weil marginalisierte Gruppen durch Identitätspolitik politische Handlungsmacht entwickeln können. Identitätspolitik ist deshalb notwendig für eine Demokratisierung der Demokratie.