Da in einem Beitrag zu Ungleichheits- und Verteilungsfragen nahezu unvermeidbar auch Werturteile eine Rolle spielen (und leicht Missverständnisse entstehen), sei hier offengelegt, dass der Autor des vorliegenden Beitrags sich weniger Ungleichheit in Deutschland und insbesondere in der Welt wünscht. Dies gilt insbesondere hinsichtlich der Ungleichheit von Lebenschancengleichheit; wobei sein Wunsch nach mehr Fairness gegenüber Kindern hinsichtlich Bildung und Erbschaften, die in Deutschland sehr ungleich verteilt sind, besonders ausgeprägt ist, während die personelle Ungleichheit der Netto-Einkommen im internationalen Vergleich nicht besonders auffällig ist (während die funktionale Einkommensverteilung ungewöhnlich stark zu Lasten der Arbeitseinkommen geht). Der Wunsch nach mehr Fairness heißt freilich nicht, dass der Autor automatisch jedes Umverteilungsinstrument, das diskutiert wird, befürwortet. Und der Autor teilt nicht die hinter dem Narrativ, dass „Deutschland immer ungleicher wird“ (Fratzscher 2016), stehende Tatsachenbehauptung.Footnote 1 Sie steht im Mittelpunkt dieses Beitrags, der diskutiert, warum das Narrativ der wachsenden ökonomischen Ungleichheit in Deutschland nicht zu einer nachhaltigen Stärkung der entsprechenden politischen Kräfte (SPD, Linkspartei und Gewerkschaften) geführt hat.

Der Fokus liegt dabei nicht auf politischen Widerständen hinsichtlich mehr ökonomischer Gleichheit, die es zweifelsohne gab und gibt, sondern auf der Gültigkeit des Ungleicheits-Narrativs. Es zeigt sich, dass es methodisch und empirisch wenig robust ist und – gemessen an der Lebenszufriedenheit der Menschen in Deutschland – an der Lebenswirklichkeit der Mehrheit der Menschen vorbeigeht. Zumindest war dies bis zum Beginn der Corona-Pandemie der Fall. Der Artikel macht Vorschläge für die Verbesserung der konzeptionellen wie empirischen Grundlagen der Analyse der Einkommens- und Vermögensverteilung und der Kommunikation der entsprechenden Analyseergebnisse.

Zentral ist: Bezüglich der Erzählung einer seit der Jahrtausendwende unaufhaltsam steigenden Ungleichheit und Verarmung bzw. Prekarisierung fehlt belastbare Empirie. Das macht auch der jüngste, der 6. Armuts- und Reichtumsbericht (AuR) der Bundesregierung deutlich (BMAS 2021; vgl. für noch neuere Zahlen Grabka 2021). Demnach – wie auch nach vielen wissenschaftlichen Veröffentlichungen – ist die Armutsquote (bzw. Armutsrisikoquote, wie es offiziell heißt) nur im recht kurzen Zeitraum von 2000 bis 2005 stark angestiegen. Erst mit der Zuwanderung von geflüchteten Menschen stieg die Ungleichheit seit etwa 2015 wieder etwas an – das hat aber nichts mit einem gewissermaßen hausgemachten Anstieg von Ungleichheit zu tun. Seither verharrt die Armutsrisikoquote bei etwa 15 bis 16 % – ob die Corona-Pandemie daran nachhaltig etwas ändern wird ist offen, aber auf keinen Fall ist dank vieler Hilfsmaßnahmen ein sprunghafter Anstieg zwingend.Footnote 2 Und: eine Quote von etwa 15 % ist hoch (dahinter stehen etwa 13 Mio. Menschen), aber sehr weit davon entfernt die Mehrheit der Bevölkerung zu erfassen wie mit dem Bild der unaufhaltsam steigenden Prekarisierung suggeriert wird. Zwei mehrdimensionale Deprivations-Indikatoren (materielle und erhebliche materielle Deprivation) zeigen zudem ein Sinken prekärer Lebenslagen an, auf weniger als 10 % für materielle und weniger als 5 % für erhebliche Deprivation an. Und die – im Armuts- und Reichtumsbericht allerdings nur am Rande thematisierte – Lebenszufriedenheit (ein subjektives Maß) lag im Jahr 2018 so hoch wie noch nie seit Messung dieses Indikators (1984) (vgl. z. B. Priem et al. 2020).Footnote 3 Es ist inzwischen auch bekannt, dass die Lockdowns die durchschnittliche Zufriedenheit – wenig überraschend – absinken haben lassen (vgl. etwa Sachverständigenrat für Verbraucherfragen 2021, Kapitel D.1). Dass dieses Absinken nachhaltig ist, ist allerdings eher unwahrscheinlich.

Was man im 6. AuR auch sieht: die Ungleichheit der Vermögen ist in Deutschland sehr hoch – aufgrund einer geringen Wohn-Eigentumsquote ist die Vermögensungleichheit auch im internationalen Vergleich hoch (besonders ausgeprägt, wenn man Rentenansprüche – wie international üblich – nicht als Vermögen zähltFootnote 4). Der Gini-Koeffizient, der den Wert Null bei völliger Gleichverteilung annimmt (vgl. Grabka und Halbmeier 2019), und den Wert 1 bei völliger Ungleichheit (dann würde einer einzigen Person in einer Volkswirtschaft das gesamte Vermögen gehören), liegt für das persönliche Nettovermögen bei 0,81. Anschaulicher dürfte der Anteil des Gesamtvermögens sein, dass von den 0,1 % der Menschen in Deutschland mit den höchsten Vermögen gehalten wird. Dieser Anteil liegt bei 13 %, also beim 130fachen des Bevölkerungsanteils. Gegenüber den bisherigen AuR-Berichten ist die Vermögensungleichheit drastisch angestiegen (vgl. auch Grabka et al. 2019bFootnote 5) – das liegt aber nur an einer (endlich) besseren statistischen Messung hoher und sehr hoher Vermögen mit Hilfe einer „Integrierten Verteilungsrechnung“ für das Jahr 2019, auf die unten eingegangen wird.

Zur Einschätzung der Bedeutung der Ungleichheit in Deutschland ist es wichtig festzuhalten, dass eine Analyse von Grabka und Schupp (2017) zeigt, dass seit 2005 nicht nur die Lebenszufriedenheit der mittleren und oberen Einkommensschichten angestiegen ist, sondern auch die der unteren Einkommensschichten. In den Zusammenhang ist es auch wichtig zu wissen, dass auch die Lebenszufriedenheit prekär Beschäftigter höher ist als Nicht-Erwerbstätiger (vgl. auch Arnold et al. 2016).

Die hohe durchschnittliche Lebenszufriedenheit bedeutet auch nicht, dass mehr Umverteilung zur Verkleinerung der Ungleichheit abgelehnt würde. Die Bereitschaft für mehr Umverteilung wird auch von Gutverdiendenden mit hoher Lebenszufriedenheit geteilt, wie viele Analysen der empirischen Gerechtigkeitsforschung zeigen (vgl. z. B. Adriaans und Liebig 2018). Aber es gilt offensichtlich auch: die grundsätzliche Bereitschaft für mehr Umverteilung bedeutet nicht automatischm, dass entsprechende Parteien gewählt werden. Wahlentscheidungen hängen von vielen Faktoren ab – und wenn man Umverteilung zu einem Wahljkampfthema macht, dann muss das offenbar in ein überzeugenderes Narrativ als das einer unaufhaltsamen Prekarisierung eingebunden sein.

Fasst man die vorliegende Evidenz zusammen, dann ist in der Literatur unstrittig, dass in der Regierungszeit von Gerhard Schröder die Einkommensungleichheit merkbar anstieg. Seit etwa 2005 stieg sie aber nicht mehr systematisch. Freilich wird der Anstieg unter Gerhard Schröder nach wie vor vielfach noch zum Anlass genommen von einer stetig steigenden Ungleichheit in Deutschland zu sprechen. Ein Beispiel für diese verfestigte „linke Erzählung“ ist das Buch „Die Abstiegsgesellschaft“ von Oliver Nachtwey (2016). Er will mit Macht nachweisen, dass die Ungleichheit durch den internationalen und zunehmende ungebändigtere Kapitalismus unaufhaltsam gewachsen sei und präsentiert Gegenargumente nur in Fussnoten. Einen Verbündeten hat er in Marcel Fratzscher (2016), dessen publikumswirksames Buch freilich überzeugender methodischer Kritik ausgesetzt wurde (vgl. Feld und Schmidt 2016; Niehues 2017; auch Biewen et al. 2019). Auch das in diesem Zusammenhang oft angeführte Argument, dass die Ungleichheit in Deutschland Wirtschaftswachstum koste, erweist sich als wenig belastbar (vgl. z. B. Wagner 2018). Darauf soll hier aber nicht näher eingegangen werden. Vielmehr sollen – als Kern des Beitrags – die vielfältigen Probleme bei der Messung der Einkommens- und Vermögensungleichheit dargestellt werden, die das linke Narrativ wachsender Ungleichheit auf schwankenden Grund stehen lassen. Daneben wird im Pro- und Epilog spekuliert, dass das irreführende Ungleichheits-Narrativ mit dazu geführt hat, dass politische und gewerkschaftliche Kräfte, die mehr Umverteilung zugunsten unterer Einkommensschichten wollen, keine Mehrheiten mehr finden.

Der Beitrag diskutiert nach einem Prolog und einer ganz kurzen Darstellung des historischen Hintergrunds zuerst konzeptionelle Probleme der Messung ökonomischer Ungleichheit und anschließend Probleme der tatsächlichen statistischen Messung von Einkommens- und Vermögensungleichheit. Als politisch hochrelevante methodische Probleme werden in der Anfangszeit der Armuts- und Reichtumsberichterstattung fehlende Angabe zur statistischen Unsicherheit, die bis 2020 fehlende Erfassung „richtig Reicher“ sowie der immer noch gegebene Zeitverzug, mit dem saubere Verteilungs-Statistiken vorgelegt werden, identifiziert. Danach wird in Abschn. 5 auf Probleme der Konzeption (insbesondere auch einer statistischen robusten Definition von Reichtum) und der „Governance“ vom Armuts- und Reichtumsberichterstattung eingegangen- – auch auf Möglichkeiten wirklich aktuelle Zahlen mit Hilfe eines „Nowcasts“ vorzulegen.

1 Prolog

Als Prolog sei die These gewagt, auf die am Ende dieses Beitrags im Epilog nochmals eingegangen wird, dass das Ungleichheits-Narrativ ganz beachtlich zu den politischen Schwierigkeiten der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften in den letzten Anderthalbjahrzenten mit beigetragen hat: im linken politischen Spektrum entstand, nicht zuletzt durch überzogene Interpretationen der frühen Armuts- und Reichtumsberichte, die in der Tat einen Anstieg der Ungleichheit durch die Politik der rot-grünen Koalition unter Gerhard Schröder anzeigten, ein Ungleichheits-Narrativ, das mittlerweile – so zeigt die Entwicklung der Lebenszufriedenheit – am erleben der großen Mehrheit der Bevölkerung vorbeigeht, wodurch mit einem entsprechenden Ungleichheits-Diskurs keine Mehrheiten zugunsten der in Armut- und Armutsgefährdung lebenden Menschen, deren Kinder schlechte Chancen haben, zu gewinnen sind.

Zugespitzt könnte man sagen: die SPD hat sich von den Armutsforschern in die Irre führen lassen, die mit einem Armutsbericht (an Reichtum wurde erst später gedacht) die Kohl-Regierung bekämpfen wollten (vgl. auch Absch. 2). Als die Schröder-Regierung schließlich die Oppositions-Forderung umsetzte, wusste sie nicht (einige ahnten es vielleicht), dass sie damit ihre eigenen Probleme offenlegen wird.

Zentral ist die persönliche Beobachtung, dass die vielen jungen Universitäts-Absolventen, die die Stäbe der Politiker und der Gewerkschaften füllen, noch immer unverdrossen die Geschichten der steigenden Ungleichheit erzählen, die ihnen von einigen Armutsforschern und insbesondere Großsoziologen in den Hochschulen beigebracht wurden.

2 Zeithistorischer Hintergrund

Die moderne empirische Armutsforschung in Deutschland, und damit die spätere Armuts- und Reichtumsberichterstattung der Bundesregierung, begann mit der Verfügbarkeit von anonymisierten Mikrodaten der amtlichen Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) in den 70er-Jahren im SPES-Projekt an der Universität Frankfurt am Main und im und um den DFG-Sonderforschungsbereich 3 herum („Mikroanalytische Grundlagen der Gesellschaftspolitik“ an den Universitäten Frankfurt und Mannheim sowie FU und TU Berlin) (vgl. dazu zusammenfassend z. B. Hauser et al. 1994a, 1994b). Befördert wurde diese neue Art von Forschung durch europäische Programme und Projekte, die bereits in den 80er-Jahren zu europaweit vergleichenden Analysen führten (vgl. etwa Hauser 1987).

In den 90er-Jahren wurden Ergebnisse der Armutsberichterstattung immer mehr im politischen Raum (DGB, Paritätischer Wohlfahrtsverband) und schließlich auch im Bundestag aufgegriffen (z. B. Arndt und Jung 2002). Auch „Reichtum“ geriet in das Blickfeld, z. B. im „Gemeinsamen Sozialwort“ der großen Kirchen in Deutschland.

Zu Beginn der Regierungszeit von Gerhard Schröder verband sich der politische Wille zur Armutsbekämpfung mit den Forschungsinteressen einer größer und größer werdenden spezialisierten Wissenschafts-Community. Erstmals hatten sich die Sozialwissenschaften im politischen Raum so durchgesetzt wie dies für die Naturwissenschaften seit den 50er-Jahren üblich war (mit der Einrichtung der Großforschung und der Etablierung der Atomindustrie und -forschung) und der Volkswirtschaftslehre Anfang der 60er-Jahre (mit der Einrichtung des Sachverständigenrates zur Beurteilung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung) gelang. Später waren freilich die Umwelt- und Klimaforscher weltweit noch erfolgreicher (man denke z. B. an den „Weltklimarat“ – IPCC)Footnote 6.

Nach dem Regierungswechsel 1998 hatten – auf Basis des Koalitionsvertrags – die Regierungsfraktionen im Januar 2000 erfolgreich einen Antrag in den Bundestag eingebracht, eine „Nationale Armuts- und Reichtumsberichterstattung“ als Regierungsbericht zu etablieren. Dabei war es von vorne herein klar, dass die Datengrundlage nicht optimal war, insbesondere im Hinblick auf Reichtum. Aber die Forschungscommunity, die diese Fragen bearbeitete, war froh, dass ihre Forschungsinteressen endlich regierungsamtlich geworden waren (vgl. auch Patzwald 2008).

Überblicke über konzeptionelle und methodische Probleme geben z. B. Hauser und Wagner (2002). Etliche Details werden von Goebel und Grabka (2011,S. 12ff) und Grabka et al. (2012, S. 4 f und 12 f) knapp diskutiert. Später sind im Hinblick auf Reichtums-Messung insbesondere Westermeier und Grabka (2015); Bartels und Schröder (2016); Ströing et al. (2016) und Tiefensee und Grabka (2016) zu nennen (sowie die in Abschn. 2 genannte jüngste Literatur).

3 Konzeptionelle Messprobleme

Ausgangspunkt der immer wieder beobachtbaren Verwirrung um Zahlen und Fakten zu Armut und Reichtum (vgl. etwa Nachtwey 2016) ist die Tatsache, dass aus wissenschaftlichen Theorien – gleich welcher Art – der Begriff „Ungleichheit“ nicht präzise ableitbar ist; dies gilt auch für den engeren Begriff der „ökonomischen Ungleichheit“. Die Unschärfe der Begriffe ist sogar riesig und dementsprechend groß sind die Möglichkeiten der statistischen Messung ökonomischer Ungleichheit (Sen 1975). Diese Unschärfen erlauben es auch auf der konzeptionellen Ebene sehr unterschiedliche Geschichten zu erzählen, wodurch es zu politischer Verwirrung kommen kann, da aus Sicht des Autors weder in den Spitzen der Politik noch von anderen gesellschaftlichen Gruppierungen die konzeptionellen Probleme des mehrdimensionalen Konstrukts „ökonomischer Ungleichheit“, die zumindest in Einkommens- und Vermögensungleichheit differenziert werden muss, hinreichend präzise diskutiert werden.

Einige Hinweise seien hier gegeben. Der spätere Nobelpreisträger Amartya Sen hat ein in jungen Jahren geschriebenes Buch über ökonomische Ungleichheit (Sen 1975) seinen zwei Töchtern, Antara und Nandana, in der Hoffnung gewidmet, „dass sie weniger Ungleichheit vorfinden werden, wenn sie heranwachsen, ganz gleich, wie sie diese messen wollen.“ Dieses Zitat bringt die zwei Kernprobleme der Armutsforschung – einem speziellen und zentralen Zweig der Ungleichheitsforschung – auf den Punkt: es ist alles andere als klar wie man Armut genau definieren und messen soll – aber viele Armuts- und Ungleichheitsforscher haben auf jeden Fall den Wunsch die Armut in ihrem Land oder weltweit zu verkleinern.

Die übliche Armutsmessung – von Hans-Werner Sinn (2008) als „bedarfsgewichteten Käse kritisiert (worauf unten noch eingegangen werden wird) – bezieht sich auf eine relative Größe, die die Spreizung der Einkommen zeigt, aber nicht „echte“ Armut (wie auch immer man diese definieren will). Intuitiv werden die meisten Menschen sagen, dass jemand auf jeden Fall arm ist, der sich kaum am Leben halten kann. Dies ist in vielen Ländern noch der Fall; und Flüchtlingsbewegungen sind oft von grausamer Armut diktiert. Aber lebensbedrohliche Armut ist nur eine Dimension von Armut, denn die meisten Menschen werden auch sagen, dass es einen Unterschied macht wo (und wann) man lebt. In einer insgesamt armen Gesellschaft werden Viele, das wenige was sie haben, nicht als individuelle Armut empfinden, wohl aber wäre dies der Fall, stünde in ihrem Land etlichen viel mehr zur Verfügung. Deswegen wurde wissenschaftlich das Konzept der „relativen Armt“ entwickelt, bei dem jemand als von Armut bedroht gilt, wenn er weniger als 60 % des mittleren Einkommens einer untersuchten Bevölkerung zur Verfügung hat.Footnote 7 Ob er im Verständnis seiner Mitmenschen und einer Gesamtbevölkerung „wirklich“ arm ist, ist freilich offen. Deswegen wird seit etwa 20 Jahren in Deutschland in offiziellen Berichten nur noch von der „Armuts-Risiko-Quote“ gesprochen und dieser Begriff drückt sich gewissermaßen elegant um das Problem herum zu definieren, was eigentlich Armut ist. Auf jeden Fall bringt die relative Armut eine Vielzahl von methodischen Problemen mit sich.

Warum 60 % des Durchschnitts? Und nicht 50 wie es zu Beginn der Armutsforschung in den 70er-Jahren der Fall war? (vgl. z. B. Hauser et al. 1981). Die Antwort lautet, dass der als Mittelwert benutzte Median der Verteilung (siehe Fußnote 7) eine robustere Messung als das arithmetische Mittel ist, aber auch für Einkommensverteilungen in der Regel niedriger ist als das arithmetische Mittel. Wenn man böse wäre, könnte man vermuten, dass bei einer 50-Prozent-Schwelle des Medians, unterhalb derer ein Armutsrisiko signalisieren würde, die so errechneten Armutsquoten niedriger und politisch weniger spektakulär wären, und die Armutsforschung sich deswegen weltweit darauf geeinigt hat als Armutsschwelle 60 % des Medianeinkommens festzulegen. Würde man hingegen eine Armutsgrenze zwischen 40 und 50 % des Durchschnitts wählen, wo in Deutschland ungefähr das steuerliche Existenzminimum und der Sozialhilfeanspruch („Hartz IV“) liegen, dann käme man in Deutschland „nur“ auf Armuts-Risiko-Quoten zwischen etwa 5 und 10 %, wo auch der Anteil der Sozialhilfe- bzw. Hartz IV beziehenden Haushalte tatsächlich liegt (vgl. z. B. Dittmann und Goebel 2018). Wie man es auch dreht und wendet: besonders überzeugend ist eine von Statistikern festgelegte Norm für die Messung des Armuts-Risikos nicht – was man schon daran erkennen kann, dass die Statistiker sich nicht trauen ihr Messergebnis als Armut zu bezeichnen.

Ganz schlicht genau die Haushalte als arm zu bezeichnen, die die in einem Land geltenden „Sozialhilfen“ beziehen, ginge auch. Dann sind aber weder intertemporale noch internationale Vergleichbarkeit gegeben. Ein Land könnte die so gemessene Armut senken, in dem es die Sozialhilfe absenkt. Und da die „Sozialhilfe-Sätze“ von Land zu Land verschieden sind, wären internationale Vergleiche wenig aussagefähig. Das war ein wichtiger Grund, warum die Wissenschaft das für alle Länder anwendbare Konzept der „relativen Armut“, gemessen am jeweiligen Einkommensdurchschnitt wie oben beschrieben, erarbeitet hat. Das bei Kritikern dieser Methode beliebte Gegenargument, dass durch diese Definition immer Arme gemessen werden, egal wie hoch das Durchschnittseinkommen sei, stimmt im übrigen nicht: wenn die Einkommen insgesamt steigen, aber gleichzeitig die untersten Einkommen überproportional, dann kann relative Armut bzw. die gemessene Armuts-Risiko-Quote im Grenzfall gegen Null gehen. In den Niederlanden war dies zeitweise in den 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts auch tatsächlich der Fall.

Während es eine ausdifferenzierte internationale Wissenschafts-Literatur zur Armutsmessung gibt, ist dies im Hinblick auf die Definition und Messung von Reichtum nicht der Fall. In Deutschland haben erst die Armuts- und Reichtumsberichte zu einer vertieften methodischen Diskussion geführt. Mit dem 6. AuR liegt nun – nach 20 Jahren der entsprechenden regierungsamtlichen Berichterstattung – ein aus Sicht des Autors überzeugendes Meßkonzept vor, das auch empirisch gut umgesetzt wird. Benutzt wird ein von Groh-Samberg et al. (2021) entwickeltes Konzept, das für den Bereich über der Mitte der Wohlstandsverteilung die Begriffe „Wohlstand“ und „Wohlhabenheit“ benutzt. Erwähnt sei, dass Lauterbach et al. (2016) für den 5. Armuts- und Reichtumsbericht die Spitze der „sehr Wohlhabenden“ nochmals in „Materiell Reiche“, „Materielle Elite“ und „Milliardäre“ differenziert hatte – ohne das es seinerzeit allerdings eine gute Messung für diese Spitzengruppen, die zusammen den „Materiellen Reichtum“ besitzen, gab. Diese Meßung wird mit dem 6. AuR vorgelegt (vgl. den einleitenden Abschnitt oben sowie Grabka et al. 2019b und Schröder et al. 2020b) – da es für die Jahre zuvor aber nicht die entsprechende Datenbasis gab, kann keine Zeitreihe berechnet werden.

Ein ganz schwieriges Kapitel der Ungleicheitsmessung ist es unterschiedlich große Haushalte vergleichbar zu machen. Wo es mehr Köpfe gibt ist unbestreitbar der Bedarf höher. Dies kann man durch die Berechnung von Pro-Kopf-Einkommen berücksichtigen. Das ist aber eine Methode, die nicht berücksichtigt, dass es „Kostendegression“ mit zunehmender Haushaltsgröße gibt und auch systematisch unterschiedliche Bedarfe je nach Lebenssituation (z. B. dem Alter). Ein 4‑Personen-Haushalt braucht nicht 4 mal so viel Wohnfläche wie ein 1‑Personen-Haushalt und auch der Kühlschrank muss nicht viermal so groß sein. Das heißt, dass man sinnvollerweise bei der Durchschnittsbildung mit unterschiedlich großen Köpfen rechnen sollte. Aber wie groß sollten diese Köpfe konkret sein? Was genau die „richtigen“ Faktoren sind, um unterschiedlich große Haushalte vom Einkommen her vergleichbar zu machen, ist eine Wissenschaft für sich (vgl. z. B. Sinn 2008) und ist unmittelbar für die Berechnung von bedarfsabhängigen Transfers (wie „Hartz IV“) relevant (vgl. dazu Dudel et al. 2013).

Es hat sich eine sogenannte Äquivalenzskala international durchgesetzt, die sehr einfach konstruiert ist: das Gewicht, durch das das Haushaltseinkommen geteilt wird, beträgt bei einem Einpersonenhaushalt 1. Dieses Gewicht bekommt in einem, Mehrpersonenhaushalt auch eine Person zugeteilt; alle weiteren erhalten Gewichte von 0,5, wenn sie erwachsen sind und 0,3, wenn sie Kinder sind. Nun muss man zusätzlich festlegen, ab welchem Alter man im Hinblick auf den Einkommensbedarf erwachsen ist. Die international festgelegte Antwort der Statistiker lautet: das vollendete 13. Lebensjahr macht ein Kind zum Erwachsenen. Zieht man die Zufriedenheit mit dem Einkommen oder mit dem Leben insgesamt als einen Indikator für die Kostendegression heran, dann zeigt sich, dass die Kostendegression – zumindest für Durchschnittshaushalte – größer ist als es Armuts-Statistiker mit ihrer „Äquivalenz-Gewichtung“ für die Normierung der Haushaltsgröße unterstellen, d. h. die Armutsgefährdung von Familien wird überschätzt und die Alleinlebender unterschätzt (vgl. z. B. bereits Kapteyn und van Praag 1976; sowie neuerdings Garbuszus et al. 2018).

4 Empirische Messprobleme

Neben den in Abschn. 3 diskutierten definitorischen Problemen der Ungleichheitsmessung treten empirische Messprobleme. „Richtig“ Reiche, im Sinne des von Lauterbach et al. (2016) definierten „Materiellen Reichtums“, fehlten bis 2019 in den der deutschen Reichtumsmessung zugrundeliegenden Stichproben. Und die veröffentlichten Ergebnisse sind bis heute nicht aktuell, sondern liegen – wie allerdings international üblich ist – ein bis zwei Jahre vom aktuellen Rand entfernt.Footnote 8 Hinzu kommen fehlende oder ignorierte Angaben zum Zufallsfehler der auf Stichproben beruhenden Messergebnisse („statistische Signifikanz“), die Auswirkungen von Messproblemen bei der vielbenutzten Datenbasis Sozio-oekonomisches Panel (SOEP) unmittelbar nach der deutschen Wiedervereinigung und bei den verschiedenen Zuwanderungswellen. Die Probleme führen dazu, wie im Folgenden ausgeführt wird, dass der Anstieg der Einkommensungleichheit seit der Wiedervereinigung überschätzt wird und viele Haushalte, die zur (soziologischen) Mittelschicht zählen als reich bezeichnet werden, da die „richtig Reichen“ in der Datenbasis bislang gar nicht enthalten sind (vgl. Seewald 2021 für eine aktuelle Zuspitzung).

Im Einzelnen: Zu Beginn der amtlichen Armuts- und Reichtumsberichterstattung standen die Stichproben neben der amtlichen Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) nur das SOEP zur Verfügung. Alle später dazugekommen Spezial-Stichproben weisen aber die gleichen Probleme wie das SOEP auf (EU-SILC, EZB-Vermögenserhebung).

Die EVS enthält aufgrund ihrer Stichprobenanlage grundsätzlich keine weit überdurchschnittlich vermögenden oder einkommensbeziehenden Haushalte; in der Stichprobe des SOEP kann theoretisch ein Milliardär enthalten sein, faktisch ist dies aber nicht der Fall und aufgrund der Stichprobengröße auch nicht erwartbar (selbst für den einige Hunderttausend Haushalte umfassenden amtlichen Mikrozensus nicht). Auch die seit 2002, im Zuge des Armuts- und Reichtumsberichts der Bundesregierung erhobene erste „Reichenstichprobe“ des SOEP enthält keine Multimillionäre, sondern nur wohlhabende Haushalte (vgl. Frick et al. 2007).Footnote 9 Die Folge dieser Stichprobensituation bzw. -selektion, die „richtig reiche“ Haushalte und Personen nicht erfasst, ist, dass etwa ein kinderloses Lehrerehepaar in einer Mietwohnung – dem es ohne Zweifel ökonomisch nicht schlecht geht – in den meisten vorliegenden Analysen als „reicher Haushalt“ gezählt wird (vgl. etwa Goebel et al. 2010)Footnote 10. Da es sich aber offenkundig soziologisch wie lebensweltlich gesehen um einen Teil der Mittelschicht handelt muss man sich nicht wundern, dass die so gemessene „Oberschicht“ größer werden kann ohne dass es zu Verwerfungen in der Gesellschaft kommt und die Lebenszufriedenheit in der Mitte und unten sogar steigt.Footnote 11

Spekulativ sei hier im Hinblick auf den Prolog angemerkt: wenn das Lehrerehepaar seine Klassifizierung reflektieren sollte, könnte es zu dem Ergebnis kommen, dass seine Klassifizierung lächerlich ist. Oder aber es könnte sich sagen: wenn wir zur oberen Schicht gehören, dann wählen wir FDP – oder, da sie uns umweltpolitisch näherstehen – die Grünen. Auf jeden Fall nicht mehr die Lehrerpartei der 60er und 70er-Jahre, die SPD (und schon gar nicht die Linke).

Ein zentrales Problem von Einkommensstatistiken wird merkwürdigerweise so gut wie gar nicht öffentlich diskutiert, ist aber nicht nur methodisch, sondern auch politisch hochrelevant. Den meisten Analysen der Einkommensverteilung liegen jahresbezogene Einkommen zugrunde, da einfach zu erhebende laufende Monatseinkommen in der Tat nur einen „Schnappschuss“ darstellen. Um alle Einkommensbestandteile eines Haushalts zu erfassen werden weltweit in den entsprechen Erhebungen für ein Befragungsjahr (t) – mit dessen demografischen Strukturen jeweils für das zurückliegende Kalenderjahr (t‑1) (das „Einkommensjahr“) alle Einkommenskomponenten, die einen befragten Haushalt als Ganzen betreffen, sowie alle individuellen Bruttoeinkommen der aktuell im Haushalt befragten Personen aufsummiert. Dafür werden die Markteinkommen aus der Summe von Kapital- und Erwerbseinkommen einschließlich privater Transfers und privater Renten, sowie Transfereinkommen, nämlich Einkommen aus gesetzlichen Renten und Pensionen sowie Sozialtransfers (Sozialhilfe, Wohngeld, Kindergeld, Unterstützungen vom Arbeitsamt und andere) erfragt. Und schließlich werden mithilfe einer Simulation der Steuer- und Sozialabgaben Jahresnettoeinkommen errechnet – dabei werden auch speziell erfragte einmalige Sonderzahlungen (13. und 14. Monatsgehalt, Weihnachtsgeld, Urlaubsgeld etc.) berücksichtigt. Das Ergebnis ist für Haushalte, in die Personen ein- oder auszogen, recht artifiziell: denn für die demographische Haushaltsstruktur des Jahres t werden gewissermaßen fiktive Haushalts-Einkommen für das Jahr t‑1 errechnet. In t‑1 sah aber bei gegebener Mobilität die demographische Zusammensetzung noch ganz anders aus. Es ist klar: wenn sich das Aus- und Einzugsverhalten ändert, zum Beispiel im Verlauf eines Konjunkturzyklus, entstehen dadurch unterschiedlich große Messfehler. Analysen zu diesem Problem gibt es aber so gut wie gar nicht. Das viel größere Problem ist jedoch, dass durch die angestrebte Genauigkeit der Einkommensmessung die Daten, die analysiert werden können, notorisch nicht aktuell sind, da die Datenbereinigung der aufwendig und zugleich fehleranfällig erhoben Daten, einschließlich dem „auffüllen“ fehlender Angaben (durch „Imputation“) ein monatelanger Prozess ist. Dieser Time-Lag kann immer dann zur Verwirrung der Öffentlichkeit führen, wenn konjunkturbedingt die Entwicklung der Ungleichheit die Richtung ändert, etwa durch Veränderungen der Arbeitslosenquote. Sinkt etwa die Arbeitslosenquote sinkt ceteris paribus auch die Ungleichheit der Gesamtbevölkerung sofort – die Ungleichheitstatistiken zeigen dies jedoch nicht an, sondern die für die Jahre t‑3 und t‑2 gemessene „aktuelle“ Veränderung kann noch ein ansteigen der Ungleichheit signalisieren. Was zum Beispiel in einem Wahljahr politische Konsequenzen haben kann.

Neben fehlender Aktualität gibt es das grundsätzliche Problem, dass Stichproben-Ergebnisse mit einem Stichprobenfehler versehen sind: je kleiner die Zahl von Beobachtungen, umso größer ist dieser Zufallsfehler (vgl. zur Illustration Goebel et al. 2013, Kasten 2). Deswegen muss die „statistische Signifikanz“ von Ergebnissen beachtet werden. Sie schätzt ab, ob eine Differenz, die mit Hilfe von Stichproben berechnet wird, nicht lediglich ein Zufallsprodukt ist. Statistische Signifikanz wurde lange Zeit in den diversen Armutsberichten nicht systematisch ausgewiesen und so wurde jede noch so kleine Erhöhung einer Armutsquote medial als neuerlicher Anstieg der Armut in Deutschland vermeldet. Rückgänge waren meist nicht so interessant. So „wackeln“ die Ungleichheits- und Armutsindikatoren seit 2005 vor sich hin; eine signifikante Veränderung ist aber erst seit den großen Flucht-Zuwanderungswellen nachweisbar (vgl. Grabka et al. 2019a).Footnote 12

Schließlich spielen für die deutsche Diskussion zwei sehr spezielle – aber für das Narrative der Ungleicheitserzählung und damit politisch durchaus hochrelevante – Messprobleme eine Rolle: (1) Auswirkungen von Messungenauigkeiten nach der Wiedervereinigung in Ostdeutschland und ein damit zusammenhängender Bruch im Erhebungskonzept des SOEP sowie (2) die bessere Berücksichtigung von Zuwanderern mit Hilfe einer 1994 eingeführten Spezialstichprobe mit Aus- und Übersiedlern (Immigranten in Westdeutschland aus Osteuropa und Ostdeutschland) in das SOEP (vgl. dazu Niehues 2017).

Da die Einkommensentwicklung in Ostdeutschland sehr dynamisch war, wurde für die Jahre 1990 und 1991 nicht das durchschnittliche Einkommen pro Jahr erhoben (wie im SOEP seit 1984 üblich) sondern das Einkommen im jeweiligen Oktober.Footnote 13 Deswegen wurde für das Einkommensjahr 1991 der Fragebogen auch für Westdeutschland angepasst, jedoch für das Jahr 1992 wieder – für beide Erhebungsgebiete – geändert, um wieder dem international üblichen Messkonzept zu folgen.

Wegen beider Effekte empfiehlt es sich für die Entwicklung der Einkommensverteilung nicht mit dem Einkommensjahr 1991 (SOEP-Erhebungsjahr 1992) und auch nicht mit den Einkommensjahren 1992 oder 1993 eine Zeitreihe zu beginnen, sondern mit dem Einkommensjahr 1994. Freilich: je nachdem mit welchem Jahr man eine Zeitreihe der Einkommensungleichheit startet, sieht die Entwicklung insbesondere für die niedrigsten Einkommen deutlich unterschiedlich aus (vgl. Niehues 2017, Tab. 1). Während beim Startjahr 1991 die bedarfsgewichteten Nettoeinkommen des untersten Zehntels der Einkommensverteilung (1. Dezil) inflationsbereinigt um 8,5 % zurückgingen, stiegen sie für den Zeitraum 1194 bis 2014 um 1,9 %. Die Tabelle bei Niehues zeigt auch einen analogen Effekt für die Hinzunahme einer speziellen Migrationsstichprobe, die 2013 beim SOEP hinzukam.

Konzeptionelle und methodische Probleme bei der statistischen Messung von Einkommen und Vermögen sowie Armut und Reichtum sind also – nach wie vor – (über)reichlich vorhanden. Und diese „kleinteiligen“ Probleme sind kein rein akademisches Problem, sondern politisch hoch relevant, da die methodischen Probleme bedeuten, dass man jede Umverteilungspolitik – gleichgültig ob sie mehr oder weniger Ungleichheit zum Ziel hat – sehr leicht mit guten methodischen Argumenten angreifen kann. In Abschn. 5 und dem Epilog wird darauf eingegangen werden.

5 Wie kann man die Armuts- und Reichtumsberichterstattung politisch relevant(er) machen?

5.1 Eine statistisch robuste Definition der „Oberschicht“

Um zu vermeiden, dass aufgrund von Stichproben, die keine oder nur ganz wenige Bezieher von Spitzeneinkommen enthalten und dadurch bereits gutverdienende Menschen in der Mittelschicht in der Stichprobe relativ gesehen Spitzeneinkommen erzielen und deswegen zur Oberschicht gezählt werden, könnte der bereits im 2. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung gemachte Vorschlag aufgegriffen werden Personen als „materiell reich“ zu bezeichnen, deren Vermögen so hoch ist, dass seine Erträge ausreichen, um ein zumindest durchschnittliches Konsumniveau zu erreichen (vgl. dazu Lauterbach et al. 2016, S. 75 f). Geht man für das Jahr 2020 davon ausgehen, dass im Sinne dieser Definition etwa 1 Mio. € Nettovermögen sich mit 5 % verzinsen (da Vermögensmillionäre ihr Geld nicht nur auf zinslosen Festgeldkonten liegen haben) und man damit als Einzelperson leben könnte, dann sind 1,5 % der Bevölkerung in Deutschland „materiell reich“.Footnote 14 Setzt man den Schwellenwert höher an kommt man auf weniger als ein Prozent der Menschen in Deutschland, die der „Oberschicht“ angehören.

Diese Definition von Reichtum hat den Vorteil, dass sie mit den konventionellen Haushalts-Stichproben SOEP und EU-SILC abgebildet werden kann (wie der Indikator R03 des Armuts- und Reichtumsberichts zeigt), da Vermögen im einstelligen Millionenbereich routinemäßig erfasst werden (aufgrund der wechselnden Stichprobenabgrenzung nur bedingt in der EVS). Auf Basis der SOEP-Daten könnte man sogar bis in Jahr 1988 (als erstmals ein Vermögens-Schwerpunkt erhoben wurde) zurückgehen, um eine Zeitreihe zu bilden.

Diese Definition für die Untergrenze von materiellem Reichtum ignoriert die besondere Lage von Menschen mit mindestens zweistelligen Millionenvermögen und gar Milliardenvermögen. Aber die vorgeschlagene Messung ist gegenüber Messproblemen robust (ähnlich wie der Median gegenüber dem arithmetischen Mittel das robustere statistische Maß ist) und sie hat den Vorteil, dass ihre Ergebnisse lebensweltllich leicht nachzuvollziehen sind.Footnote 15 Und das Datenmaterial, das für die letzten Jahrzehnte vorliegt, reicht aus, um die entsprechenden Zahlen berechnen zu können.

Die „Reichtums-Indikatoren“ (R-Indikatoren), die inzwischen im Armuts- und Reichtumsbericht zu finden sind, könnten unschwer in diese Richtung weiterentwickelt werden. Bis auf einen R‑Indikator basieren alle weiteren Indikatoren (R02 ff) auf absoluten Schwellenwerten; z. B. der R03-Indikator gibt die Zahl bzw. den Anteil der Vermögensmillionäre (in DM gerechnet!) an, basierend auf einem individuellen Vermögen von 500.000 € im Jahr 2018. Die dem R03-Indikator zugrundeliegende Schwelle eines (DM)Millionärs ist insofern allerdings wenig aussagekräftig, weil man aus den Erträgen eines Nettovermögens von 500.000 € im allgemeinen nicht gut leben kann. Die Schwelle wie oben angedeutet zu erhöhen wäre unschwer möglich.

5.2 Verbesserungen der Aktualität

Weltweit ist das vielleicht wichtigste Problem aller Statistiken zur Einkommens- und Vermögensverteilung, dass keine Informationen für den „aktuellen Rand“ vorliegen. Die statistische Erhebung von detaillierten Einkommen ist so komplex, dass die Aufbereitung der Daten der einschlägigen Erhebungen ein Jahr und länger dauert (vgl. Abschn. 4 oben).

Das bedeutet zum Beispiel: zum Anfang des Jahres 2021 können zu Jahreseinkommen nur Detail-Aussagen für das Kalenderjahr 2019 gemacht werden und dabei werden die direkten Steuerzahlungen und die Sozialabgaben simuliert und nicht erfragt. Als „aktuellen Rand“ kann man das nicht bezeichnen. Deswegen ist – wie oben bereits gesagt – die öffentliche Diskussion oft völlig schief: wenn es wieder aufwärts und die Arbeitslosigkeit sinkt, wird der Anstieg der Einkommensungleichheit zwei Jahre zuvor beklagt. Und umgekehrt: werden mehr Menschen arbeitslos wird dies in den Armutsstatistiken nicht widergespiegelt. Deswegen sollte über einen „Nowcast“ (endlich) ernsthaft nachgedacht werden. Der Begriff ist von Forcast abgeleitet, also einer in die Zukunft gerichteten Prognose. Mit einem Now-cast wird hingegen „nur“ der aktuelle Rand prognostiziert, wenn keine zeitnahe Primärerhebung vorliegt.Footnote 16

Derartige Schätzungen sind bei der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung (VGR) akzeptiert (und führen immer wieder zu – in der Regel auch klaglos akzeptierten – Revisionen), wären bei Einkommensstatistiken aber sicherlich anfänglich höchst strittig, da eine „Mikro-Simulation“ zur Schätzung der aktuellen Einkommenssituation durchgeführt werden müsste. Die Annahmen, die für eine solche Simulation des aktuellen Randes unvermeidbar notwendig wären, wären unvermeidbar auch solange höchst strittig bis genügend Erfahrungen damit gesammelt worden wären und die Öffentliche Diskussion gelernt hat damit umzugehen.Footnote 17

Interessanterweise ist der Begriff Nowcast durch die Corona-Pandemie nahezu fast in aller Munde, da der für die Beschreibung der Pandemie am aktuellen Rand wichtige Reproduktionswert (R-Wert) mit einem Nowcast geschätzt wird (vgl. an der Heiden und Hamouda 2020). Der Corona-Nowcast macht auch deutlich, dass die Schätzung aktueller Werte zu Streit führen kann – aber auf jeden Fall ist mehr belastbare Information vorhanden, die offen und rational diskutiert werden kann, als ohne Nowcast.

5.3 Verbesserungen der Governance der Berichterstattung

Der Armuts- und Reichtumsbericht ist ein Bericht, der von der Bundesregierung selbst erstellt wird. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) ist federführend und entwirft den Bericht, der dann durch die für Regierungsdokumente selbstverständliche (und selbstverständlich notwendige) Ressortabstimmung geht. Auf beiden Ebenen kann es zu dem Problem kommen, dass versucht wird, die Lage aus Regierungssicht möglichst rosig darzustellen. Dabei werden natürlich keine Statistiken gefälscht, sondern allein durch die Auswahl von Kennziffern das Bild beeinflusst (vgl. auch Abschn. 2 und 3 oben). Und bei der Bewertung empirischer Befunde sind natürlich große Spielräume gegeben. Regierungen, die wiedergewählt werden wollen, werden die Lage eher für sie günstig darstellen und Probleme eher herunterspielen.

Dabei fällt auf: dass politisch sensible wissenschaftliche Berichte von der Regierung selbst geschrieben werden, ist eher die Ausnahme (vgl. auch Hartmann 2002, S. 166f, Tiemann und Wagner 2013). Beim Mieten- und Wohngeldbericht ist das z. B. auch der Fall. Viele Politikbereiche, die wissenschaftlich durchdrungen und dargestellt werden, werden aber von auf Dauer eingesetzten Sachverständigenräten (etwa für Wirtschaft, Umwelt und neuerdings Verbraucherfragen, vgl. dazu SVRV 2021) oder fallweise eingesetzten Berichts-Kommissionen (etwa für Kinder- und Jugend, Familie oder Alte) geschrieben. Es ist erstaunlich, dass nicht eines dieser Modelle auch für den politisch hochsensiblen Armuts- und Reichtumsbericht gewählt wurde. Smith Ochoa und Yildiz (2019, S. 19ff.) berichten auf Basis von teilstrukturierten Interviews, dass es einen Glauben daran gab, dass es wichtig sei, dass „der Bundesadler irgendwo darüber steht oder das Logo irgendeines Ministeriums.“

Auch ohne vertiefte historische Analyse liegt die Schlussfolgerung nahe, dass die Form eines Regierungsberichtes, der notwendigerweise politisch zu Gunsten einer auf Wiederwahl bedachten Regierung formuliert wird und zu selektiven Darstellungen neigt, für die Armuts- und Reichtumsberichterstattung überdacht werden sollte. Ein System der Politikberatung, in dem ein Bericht von einer unabhängigen Sachverständigenkommission – oder einem „Sachverständigenrat für nachhaltige Lebensqualität“ – vorgelegt und von der Bundesregierung in einem „Jahreswohlstandsbericht“ kommentiert wird, wäre viel aussagekräftiger – und würde der jeweiligen Regierung Zensur-Vorwürfe und unproduktiven Ärger ersparen.

Wie wichtig die Einbettung von statistischen Indikatoren in ein geeignetes „Berichts-System“ ist, betonte auch die Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“ (Deutscher Bundestag 2013, S. 284). Danach sei es „recht naiv zu glauben, dass neuartige Indikatoren und ihre fundierte Zusammenstellung in einem Indikatorensatz aus sich selbst heraus wirkmächtig werden können. Stattdessen dürften statistische Indikatoren und ihre Zusammenstellung … nur dann eine große Wahrnehmung im öffentlichen Diskurs erfahren, wenn sie gleichrangig mit dem BIP kommuniziert werden. Die Frage lautet also: Wie kann ein institutioneller ‚Unter- und Überbau‘ aussehen, der dafür sorgt, dass ein auf die ganzheitliche Erfassung von Wachstum, Wohlstand und Lebensqualität ausgerichteter Indikatorensatz ‚in aller Munde‘ ist?“

Die Enquete fährt fort (und statt des von der Enquete benutzten Begriffs „Tableau“ könnte man auch den Begriff „Armuts- und Reichtumsbericht“ einsetzen): „Nur wenn die Bundesregierung das Tableau politisch ernst nimmt, kann es wirkmächtig werden. Deswegen ist nach Überzeugung der Enquete-Kommission eine (Selbst‑)Verpflichtung der Bundesregierung, dass sie zu dem durch den Indikatorensatz regelmäßig ausgewiesenen Stand von Wachstum, Wohlstand und Lebensqualität in konsistenter Weise explizit Stellung bezieht, von entscheidender Bedeutung. Diese Stellungnahme müsste über die jährlichen ‚Jahreswirtschaftsberichte‘ hinausgehen und organisatorisch beim Bundeskanzleramt verankert sein.“ (Deutscher Bundestag 2013, S. 284).

Die persönliche Erfahrung des Autors des vorliegenden Beitrags führt auch zur Überlegung, dass es für den politischen Diskurs gut sein könnte, wenn eine unabhängige Berichtskommission eine Empfehlungspflicht auferlegt bekommt. Empfehlungen kommen zwar ohne Werturteile nicht aus, aber diese könnten auch pflichtgemäß offengelegt werden. Der aus Empfehlungen mit großer Wahrscheinlichkeit resultierende politische Streit könnte nützlich sein, um relevante Themen auf die politische und öffentliche Agenda zu heben.

6 Fazit und Schlussfolgerungen

Ausgangspunkt des Fazits soll sein, dass wie einleitend gezeigt die Ungleichheit von Einkommen und Vermögen in den letzten 15 Jahren nicht systematisch zugenommen hat. Um an dieser Stelle Missverständnisse zu vermeiden, sei mit Niehues (2017. S. 133) auch ausdrücklich festgehalten, dass die in den Abschn. 3 und 4 oben festgehaltenen Meßprobleme nicht „den übergeordneten Befund infrage [stellen], dass die Ungleichheit aktuell auf einem höherem Niveau liegt als zu Zeiten der Wiedervereinigung.“ Aber „etwa seit 2005 haben alle Einkommensgruppen relativ in gleichem Maß von der positiven Wirtschaftsentwicklung profitiert.“

Wenn man die Geschichte der Armuts- und Reichtumsberichterstattung nüchtern bewertet, ist durchaus die Schlussfolgerung nicht völlig abwegig, dass aufgrund der vielfältigen methodischen Probleme das offizielle Berichtswesen mindestens zehn Jahre zu früh kam. Zudem wurde es als Regierungsbericht noch suboptimal organisiert und es dauerte 20 Jahre bis das Problem der statistischen Erhebung reicher Haushalte an der Spitze der Einkommenspyramide erfolgreich angegangen wurde.

Es hat nach persönlicher Einschätzung des Autors auch etwa zehn Jahre lang gedauert, bis die beteiligten Wissenschaftler die methodischen Probleme der Armuts- und Reichtumsmessung angemessen deutlich darstellten – und ebenso lange haben die Medien gebraucht, um von einer alarmistischen Berichterstattung, die Nachkommastellen grotesk überbewertet, zu einer ausgewogenen Darstellung zu kommen. Man kann natürlich auch argumentieren: wäre die Armuts- und Reichtumsberichterstattung nicht regierungsamtlich etabliert worden, wären diese Lernprozesse ausgeblieben. Wahrscheinlich war das „öffentliche Lernen“ sogar unvermeidlich.

Trotz aller methodischer Verbesserungen, die im 6. Armuts- und Reichtumsbericht auch – endlich – dazu führen werden, dass auf Basis einer Spezialstichprobe empirisch belastbare Aussagen über großen Reichtum gemacht werden können, ist ein methodisches Problem ungelöst: der „aktuelle“ Rand von differenzierten Einkommensstatistiken liegt – aufgrund der Komplexität der Datenerhebung und -aufbereitung – ein bis zwei Jahre zurück. Dadurch kommt es immer wieder zu die Öffentlichkeit verwirrenden Veröffentlichungen: Im Wirtschaftsaufschwung wird noch über ein Tief berichtet, und im Abschwung über ein Hoch. Vermeidbar wäre dies nur, wenn – wie bei der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung (VGR) oder dem Pandemien beschreibenden Reproduktionswert R – für den wirklich aktuellen Rand ein „Nowcast“ durchgeführt würde, also eine vorläufige Schätzung der aktuellen Situation.

Was ist nun die beste Methode, um ökonomische Ungleichheit, Armut und Reichtum zu messen und eine informierte Debatte zu führen? Da man – worauf Sen (1975) schon vor Jahrzehnten hinwies – niemals zu einer unstrittigen Definition von „Ungleichheit“ und „Armut“ kommen wird, ist „Volksbildung“ im wahrsten Sinne des Wortes das beste Instrument, um die Debatte über Armut zu verbessern. Gerd Gigerenzer, ein Psychologe mit dem Spezialgebiet „Risikokommunikation“, betont immer wieder zu Recht, dass in den Schulen weniger höhere Mathematik, die im Alltag kaum jemand braucht und um die viele versuchen einen Weg zu machen, gelehrt werden sollte, sondern – in allen Schulzweigen – die Grundzüge statistischer Methodik, einschließlich der Erhebungsprobleme, und der Interpretation statistischer Kennziffern gelehrt werden sollte (vgl. z. B. Gigerenzer 2007). Damit würde nicht nur Bildungs-Armut kleiner werden, sondern die öffentliche Debatte um Armuts-Statistiken auch auf eine informierte Grundlage gestellt werden.Footnote 18 Das Definitions-Problem bezüglich Ungleichheit, Armut und Reichtum müsste dann garnicht ein für allemal gelöst werden, sondern seine Diskussion würde neben den statistischen Messungen und Analysen politisch relevante Informationen erzeugen.

7 Epilog

Es ist dem Autor hier wichtig zu betonen, dass es in Deutschland prekäre Lebensverhältnisse gibt und deren Zahl und vor allem Verfestigung nicht kleingeredet werden kann. Aber für die politische Dynamik ist es ebenso wichtig zu wissen, dass es – zumindest in Deutschland – keineswegs einen ökonomisch oder „neoliberal“ verursachten unaufhaltsamen Trend zu immer höherer Ungleichheit gibt. Ungleichheit, die durch (Flucht)Zuwanderung verursacht wird, hat sicherlich auch ökonomische Gründe, die aber auf einer anderen Ebene liegen als in Deutschland.

Viele persönliche Erfahrungen des Autors lassen ihn die These wagen, dass der seit 2002 vierjährlich von der Bundesregierung vorgelegte Armuts- und Reichtumsbericht mit zu den Schwierigkeiten der Sozialdemokratie in den letzten zwei Jahrzenten beigetragen hat: im linken politischen Spektrum entstand durch überzogene Interpretationen der frühen Armuts- und Reichtumsberichterstattung ein nicht haltbares Narrativ einer immer weiter wachsenden Ungleichheit und Prekarisierung. Im Zuge des Anstiegs der Ungleichheit durch die Politik der rot-grünen Koalition unter Gerhard Schröder wurden viele Menschen der Mittelschicht zu Reichen erklärt und die seltenen dauerhaften Abstiege aus der Mitte in untere ökonomische Schichten wurden überzeichnet. Es entstand ein Ungleichheits-Narrativ, das seit etwa 2005 an der Lebenswirklichkeit der großen Mehrheit der Bevölkerung vorbeiging (ob die Folgen der Corona-Pandemie daran etwas ändern werden ist noch offen). Jürgen Kaube (2010) brachte dies auf den Punkt: „die Statusangst, die man der Mittelschicht … einreden will, scheint nicht anzukommen.“ Es ist insofern nicht verwunderlich, dass mit diesem Ungleichheits-Narrativ keine Mehrheiten zugunsten der in Armut- und Armutsgefährdung Lebenden, deren Kinder zudem dauerhaft schlechte Lebenschancen haben, zu gewinnen sind. Die im Wahlkampf 2021 zu beobachtende Betonung mangelnden Respekts vor der Lebensleistung hart arbeitender Menschen dürfte ein überzeugenderes Narrativ sein, zumal dann, wenn gleichzeitig betont wird, dass die Kosten des Klimawandels und seiner Bekämpfung sozial ausgewogen verteilt werden sollten. Dieses Narrativ könnte viele Menschen ansprechen.

Wer den Menschen in prekären Lebensverhältnissen und in Armut bzw. Armutsgefährdung wirksam helfen will, der braucht dafür politische Mehrheiten. Mit dem Armutsthema sind nur Mehrheiten zu gewinnen, wenn man die Mitte von dessen Relevanz überzeugt. Ob dazu statistisch-wissenschaftliche Daten notwendig sind, ist angesichts der Dynamik politischer Auseinandersetzungen und von Wahlen eine offene Frage. Aber wenn man Daten benutzt, dann müssen sie und ihre Interpretation überzeugend sein.