Wenn das Land über Wahlkämpfe spricht, dann spricht es selten über politische Optionen. Wir sprechen über Personen und Typen, über Inszenierungen und Authentizität, über Taktiken und Strategien, über Fauxpas und Fettnäpfchen, über Fehden und Allianzen. Zu selten sprechen wir über konkrete Inhalte. Zu selten sind politische Angebote Gegenstand der öffentlichen Diskussion. Natürlich gäbe es genügend policies, die verhandelt werden könnten und zu denen sich Parteien auch in der Tat in ihren Wahlprogrammen positioniert haben oder positionieren werden.Footnote 1 Allein resonieren diese Positionierungen zu selten in der öffentlichen Darstellung außerhalb der Diskurse der sogenannten Meinungsmacher:innen.

Machen wir die Alltagsprobe: Welches Thema hat in Ihren Augen den letzten Bundestagswahlkampf bestimmt? Welche Positionen standen sich hier gegenüber? Entlang welcher cleavages oder Wertesysteme entschied sich der Wahlkampf? Woran erinnern wir uns noch? Am ehesten wohl an die entmenschlichende Metapher der „Flüchtlingskrise“, an den früh ausgebremsten „Schulzzug“ und schließlich an die gescheiterten Jamaika-Verhandlungen und das paradigmatische „lieber gar nicht regieren, als schlecht regieren“ Christian Lindners. Wir erinnern uns also an Metaphorisches, an Inszenatorisches und natürlich an die Persönlichkeiten, die Wahlkämpfe prägen. Wir erinnern uns an den Wahlkampf als Ereignis an und für sich. Nur wenige konkrete politische Forderungen erzeugen spürbare Resonanzen im Wahlkampfdiskurs. Und wenn sie es tun, dann nicht, ob ihres Inhaltes, sondern immer im Rückbezug auf ihre „taktische“ oder „strategische“ Vernunft: Wird das Elektorat dieser Forderung folgen? Werden mögliche Koalitionäre sich einer solchen Forderung anschließen können? Selten wird gefragt: Ist diese Forderung sinnvoll und beantwortet sie drängende gesellschaftliche Fragen? Wenn Wahlkämpfe als „Ritual“ des Politischen nicht inhaltsleer oder sogar überflüssig sind, sondern elementar für die Überlebensfähigkeit von Demokratien (Dörner und Vogt 2002, S. 7), wie wirken sie dann und wie lässt sich ihr Verlauf angesichts außergewöhnlicher pandemischer Rahmenbedingungen verstehen und beeinflussen?

Dazu müssen wir zunächst feststellen, was Wahlkämpfe vom alltäglichen politischen Gespräch unterscheidet. Drei Distinktionsmerkmale lassen sich feststellen:

Erstens sind Wahlkämpfe ritualisierte Erneuerungsprozesse, die der „Sinnstiftung der politischen Ordnung“ dienen (Soeffner und Tänzler 2002, S. 93).

Zweitens sind Wahlkämpfe Zeiten eines erhöhten Kommunikationsaufkommens. Sie sind „klar vom politischen Normalbetrieb unterscheidbare Perioden intensivierter Kommunikationsanstrengungen der Parteien“ (Schmitt-Beck und Wolsing 2010, S. 48).

Drittens sind Wahlkämpfe Machtkämpfe. „Hier werden zunächst körperlose Institutionen mit handlungsfähigen Subjekten besetzt.“ (Jarzebski 2020, S. 15).

Wahlkämpfe unterscheiden sich also strukturell vom „Normalbetrieb“, was auch immer das in Zeiten einer globalen Pandemie und angesichts einer bedrohlichen Klimakrise für politische Akteure auch bedeuten mag. Aber gehen wir zunächst davon aus, dass Wahlkämpfe besonders symbolgeladene Zeiten sind, in denen Machtkämpfe mit einem aufgestockten kommunikativen Arsenal ausgefochten werden. Doch wie sieht diese Kommunikation aus? Und wie können die drei Aspekte zueinander in Beziehung gesetzt werden? Wie gestaltet sich das ritualisierte Sprechen über Politik?

1 Professionalisiertes Sprechen

Im „Superwahljahr 2021“ – schon diese Metapher zielt auf das Ereignis, auf den Event ab, weniger auf die richtungsweisenden Entscheidungen, die die Wähler:innen nach 16 Jahren Kanzlerin Merkel im September zu treffen haben – werden wir eine Neuauflage dieses selbstbezüglichen Diskurses beobachten können.

Aus Wahlkämpfen sind Inszenierungskämpfe geworden. Das Sprechen über Wahlkämpfe teilt sich dabei in zwei Extreme: Einerseits eine zahlenfixierte Umfrageforschung, die versucht dem Wählerwillen mittels metrischer Komplexitätsreduktion beizukommen und sich als täglicher Pulsmesser der Parteienlandschaft versteht. Andererseits eine an Sportberichterstattung erinnernde Beobachtung von Politik als Machtwettkampf, in dem das Gewinnen einem nicht näher definierten Selbstzweck dient. Natürlich lassen sich zwischen diesen beiden Extremformen der Wahlberichterstattung auch differenzierte Stimmen ausmachen, die kluge Analysen liefern, die den Wähler:innen bei der Verortung in der politischen Landschaft helfen. Doch wirken die diskursiven Zentrifugalkräfte letztlich so stark, dass sie im polyphonen Stimmengewirr für die Massen kaum noch wahrnehmbar sind. Beide extremen Spielarten der Wahlberichterstattung werden, für sich genommen, der Bedeutung von Wahlkämpfen nicht gerecht und reagieren doch auch nur auf eine schon früh beschriebene Professionalisierung politischer Kommunikation, die auch strukturell nachgewiesen werden konnte (Tenscher 2013). Parteien, Ministerien, Stiftungen, Verbände und NGOs bauten in den vergangenen Jahrzehnten ihre Kommunikationsabteilungen auf und teilweise massiv aus. In dieser Professionalisierung zeigen sich Segen und Fluch der gegenwärtigen politischen Kommunikation:

Professionalisierte Abläufe helfen bei der Übersetzung komplexer Inhalte sowie bei Ansprache und Mobilisierung von Wähler:innen. Sie bergen jedoch auch die Gefahr eines professionalisierten Sprechens, das stets „das Richtige“ sagen will und dabei die Form über den Inhalt stellt. Politische Kommunikator:innen in Deutschland entstammen heute einem sehr homogenen Milieu; es sind überwiegend Akademiker:innen, die das Handwerkszeug moderner Kommunikation aus der großen, weiten und schillernden Produktmarketingwelt adaptieren und für den politischen Kontext nutzbar machen wollen. Kommunikator:innen in Politik und öffentlichen Organisationen sowie in der politischen Beratung sind sich in ihrem Sprechen nah. Sie sprechen sprichwörtlich eine Sprache und nutzen die gleichen metaphorischen Bezugsrahmen, die sich aus dem Bildungs- und Erfahrungshorizont und dem kulturellen Erleben von Wirklichkeit zusammensetzen. So entsteht ein sprachliches „Amalgam“ (Zastrow 2013) aus Politik und Medien, das Lutz Hachmeister einmal sehr treffend als „symbiontisches Spiegelverhältnis“ beschrieben hat (Jarzebski 2015) und das die Selbstreferentialität des Sprechens über Wahlkämpfe befeuert. Durch diesen Gleichklang des Sprechens besteht die Gefahr einer graduellen Entpolitisierung von Wahlkämpfen. Denn neben den Geschichten des politischen Berlins (und in abgeschwächter Form auch denen der Landeshauptstädte) gibt es im Wortsinn unerhörte Geschichten des Lebens in Deutschland, die keine oder kaum politische Aufmerksamkeit geschenkt bekommen. Dabei geht es nicht allein um einen aufmerksamkeitsökonomisch vermachteten Diskurs, in dem bestimmten Sprecher:innenpositionen weniger Gehör geschenkt wird. Es geht vielmehr um ein fundamentaleres einander Nicht-Verstehen. Ein Nicht-Verstehen aufgrund unterschiedlicher Codes, unterschiedlicher kultureller Referenzpunkte. Ein Nicht-Verstehen, das auch durch das in jüngster Zeit beinahe inflationäre Beschwören des gesellschaftlichen Zusammenhalts nicht überwunden werden konnte. Dabei ist die Zusammenhalts-Metapher ein perfektes Beispiel für die Dysfunktionalität einer artifiziellen politischen Sprache, die nicht mit der Lebenswelt der Menschen resoniert. Denn wer soll denn hier wie gegen wen und für was zusammenhalten? Geht es nicht für viele Wähler:innen im Idealfall darum, in Ruhe gelassen zu werden? Sie wollen sich nicht täglich versichern müssen, ob sie noch auf der „richtigen Seite“ stehen. Vielmehr fragen sie sich, welche konkreten Auswirkungen politische Maßnahmen auf ihren Lebensalltag haben. Und dieser Lebensalltag ist maximal divers, ganz ohne, dass wir in eine fast absurde und rassistische Diskussion um „Parallelgesellschaften“ abgleiten. Denn was, wenn nicht eine Parallelgesellschaft bildeten dann beispielsweise die über 25.000 Menschen die (vor der Pandemie) jährlich das M’era Luna Festival in Leipzig besuchten und sich der Wave-Gothik-Szene zuordnen oder aber die zahlreichen christlichen Splittergruppen von Mennoniten über Pfingstler und Sieben-Tage-Adventisten bis hin zu den Zeugen Jehovas. Alle diese Menschen sind Wähler:innen und werden mit einer allgemeinen Aufforderung zum Zusammenhalt überfordert sein. Wie sähe ein solcher Zusammenhalt auch konkret aus? Ist nicht die friedliche Koexistenz unterschiedlichster Lebensentwürfe gerade die größte Errungenschaft moderner Demokratien?

Hier besteht eine zentrale Herausforderung für die politische Kommunikation: Sie muss die Menschen in ihrer Lebenswelt adressieren und dennoch die gemeinsame Grundlage einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft nicht außen vor lassen. Sie muss die metaphorischen Eigenarten und Vorlieben der unterschiedlichen Milieus kennen, sie ernstnehmen und sie vor allem nicht „benutzen“. Denn dann entsteht das, was beinahe alle politische Kommunikationsberatung in jüngster Zeit als größtes Manko ausgemacht hat: unauthentisches Erzählen. Obwohl Authentizität selbst kein ontischer Zustand von Kommunikation und politischem Handeln ist, sondern immer eine Zuschreibung in Form narrativer Muster (vgl. Bandtel 2012), gibt es nach wie vor große Affinität für das Authentische. Kaum ein Kommunikationskonzept, das ohne den Verweis auf „authentische Geschichten“ auskommt. Authentizität zeigt dabei, so Achim Saupe, ein „modernes Kommunikationsideal“ an, das auf Moralisierung und Privatisierung von Kommunikation verweist (Saupe 2015).

Wie also gelingt die viel beschworene Kommunikation „auf Augenhöhe“, die sich nicht anbiedert und die mit den imaginativen Erfahrungshorizonten der Menschen im Einklang ist?

Dafür muss politische Kommunikation unterschiedliche Geschichten erzählen und die Vielfalt der metaphorischen Deutungsrahmen berücksichtigen, denn gerade in der Beschränkung des imaginativen Potentials der Sprache liegt ein antidemokratisches Moment. Die Schriftstellerin Chimamanda Ngozi Adichie warnt uns eindringlich vor der Gefahr monolithischer, nicht kritisierbarer erzählerischer Deutungen, die die Entfaltung von Freiheiten einengen (Adichie 2009). Eine solche Gefahr birgt auch die Zusammenhaltsmetapher: Was, wenn Wähler:innen bestimmte Teile der Gesellschaft vielleicht dulden, sie akzeptieren, vielleicht auch respektieren, nicht aber mit ihnen zusammenhalten möchten? Sind sie dann außen vor? Duldung, Akzeptanz, Respekt, Zusammenhalt – alle diese großen Begriffe sind sinnbildlich für das professionalisierte Sprechen der Politik. Es sind zunächst „leere Signifikanten“ (Laclau 2010), Begriffe also, deren Gehalt sich letztlich auf eine symbolische Verkörperung des Allgemeinen beschränkt. Nun kann man dieser Form der Dekonstruktion auf Wortebene eine Hypersensibilität unterstellen, die wiederum in sich mit der politischen Kommunikationspraxis nichts zu tun hat. Doch sind es gerade diese Feinheiten, die einen Unterschied machen bei der Akzeptanz für Programme, für Kandidat:innen, für politische Maßnahmen und schließlich auch für die Wahlentscheidung. Nur wenn politische Sprache mit hoher Sensibilität für unterschiedliche Deutungsrahmen konfiguriert wird, kann sie Fallstricke und Fettnäpfchen vermeiden, kann sie inklusiv und demokratisch sein.

2 Kommunizieren in der Pandemie

Was bedeutet diese neue Sensibilität für die Wahlkämpfe im „Superwahljahr“? Klar ist, es ließe sich angesichts der drängenden gesellschaftlichen Herausforderungen über sehr vieles streiten. Doch schrumpft die Diversität der Themenfelder in Wahlkämpfen jenseits aller Personalisierung merklich zusammen. Tagespolitische Großdebatten überschatten die Vielfalt politischer Realitäten: Stand der Bundestagswahlkampf 2017 noch im Licht der Fluchtmigration des Sommers 2015 und dem damit einhergehenden Erstarken der rechtsextremen AfD, überschattet 2021 die globale Corona-Pandemie alle anderen globalen Krisen und gesellschaftspolitischen Anliegen.

In der Pandemie scheint jeder Tag gleich. Dort, wo soziale Erlebnisse außerhalb der eigenen vier Wände oder des Arbeitsplatzes fehlen, regiert die Monotonie und schrumpfen auch die imaginativen Arsenale zusammen. Dies zeigt sich auch an der metaphorischen Verortung von Wahlkämpfen, für die bislang der Marktplatz als Symbol galt. Hier, so das weit verbreitete Bild, treten Politiker:innen in den Austausch mit den Menschen. Hier sind sie „Nah bei de Leut“, hier spüren sie den Bürger:innenwillen am eigenen Leib, hier nehmen sie aufmunterndes Schulterklopfen und lautstarke Widerworte entgegen. Marktplätze und Stadthallen sind Meinungszentren, in denen sich abseits einer digitalen Aufmerksamkeitsökonomie Diskurse formieren. Zwischen aufeinanderprallenden Meinungen vollzieht sich politische Kommunikation als Austausch des gesprochenen Wortes. Auf dem Marktplatz sei Politik noch „echt“ – hier wirken die Narrative des Authentischen – und könne man die Stimmungen in der Gesellschaft und damit den Willen des Elektorats beinahe fühlen. Was also fehlt in der Pandemie? Es ist das Alltagsgespräch „am Gartenzaun“, in den Ortsverbänden, in den Vereinen. Natürlich finden diese Gespräche zurzeit auch statt und in Videokonferenzen lassen sich plötzlich auch lange vergessene Beziehungen reaktivieren und pflegen. Doch besteht ein fundamentaler Unterschied in der fehlenden Körperlichkeit. Politik leidet, wenn sie eines wichtigen performativen Moments beraubt ist. Man könnte behaupten: Im Rechteck des Bildschirms sind wir alle gleich und die persuasive Kraft des körperlichen weicht digitalen Techniken, die der Welt der Kommunikator:innen entstammen. Digitale und hybride Veranstaltungen verfangen vor allem dann, wenn sie Erlebnisse kreieren. So professionell die digitalen Parteitage auch choreographiert waren, sie reichen nicht an die Haptik und alle Sensoren ansprechende Vor-Ort-Performance der Kandidat:innen heran. Ein Teleprompter verursacht selten Standing Ovations in den Wohnzimmern.

Was also, wenn die traditionellen Schauplätze für Wahlkämpfe wegfallen? Was, wenn wir pandemiebedingt auf den digitalen Raum zurückgeworfen sind? Wie gelingt der Austausch zwischen Kandidat:innen und Wähler:innen? Wie können Parteien, NGOs, Verbände und Institutionen heute mobilisieren und sich Gehör verschaffen?

Die einfache Antwort lautet: indem sie ihre politischen Vorhaben erklären und den Mehrwert veranschaulichen. Wir erleben gegenwärtig extrem politisierte Zeiten. Die Entscheidungen der Ministerpräsidentenkonferenz, dem informellen „zentralen Entscheidungsgremium der Pandemie“ (Korte 2021, S. 33), stehen unter extremer öffentlicher Beobachtung. Warum? Weil die Entscheidungen jede:n im Land alltäglich berühren – eine wahrhaftig einzigartige Situation. Doch genau das ist es, was die Bürger:innen von Politik erwarten: Politik muss erfahrbar sein und politische Kommunikation muss auf diese Erfahrbarkeit verweisen. Überspitzt formuliert: Eine geschlossene Kita und auf ein Minimum reduzierte Freizeitaktivitäten sind für die Menschen weniger hinnehmbar als eine Absenkung des Grenzsteuersatzes für Spitzenverdiener oder die Verlängerung der Laufzeit von Kohlekraftwerken. Unmittelbar und alltäglich spürbare Konsequenzen sind es, die die Menschen politisieren. In der Vermittlung dieser Unmittelbarkeit liegt die große Kunst politischer Kommunikation.

Wie echte digitale Erlebnisse aussehen können, zeigt die Welt der Musik, der Kunst und der Mode eindrucksvoll. Es wird noch ein bisschen dauern, bis die Politik Meilensteine wie das Fortnite-Konzert von Travis Scott feiern wird – doch sieht so die Zukunft der politischen Kommunikation aus. Wer heute nicht verstanden hat, dass Zoom und Co keine Überbrückungshilfe für 2020 waren, sondern neue Chancen eröffnet, um Politik, Arbeit und sogar Gesellschaft neu zu denken, der wird den Weg zu den Menschen verlieren. Natürlich: weniger digital affine Menschen müssen auch weiterhin über den analogen Weg erreicht werden. Flyer und Plakate werden also nicht aussterben, sondern ggf. sogar noch intensiviert, wie die Wahlkämpfe in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz zeigten. Nie wurde mehr plakatiert. Doch wäre es ratsam, hier Lehren aus der digitalen Kommunikation zu ziehen und nicht länger in „one size fits all“-Lösungen zu denken. Menschen brauchen nicht einen Flyer mit allen Inhalten, sie brauchen den Flyer, der sie betrifft, der sie als junge Familie, als Rentner:in, als Arbeitnehmer:in, als Solo-Selbständige anspricht.

Dafür braucht es eine hohe Sensibilität für die Vielfalt der Menschen, für die unterschiedlichen Lebensentwürfe, für unterschiedliche Bedürfnisse und Deutungshorizonte, die das politische Geschehen mit Sinn ausstatten. Ein Schlüssel kann ein besseres Verständnis für die Wirkung narrativer Sinngebungsprozesse sein, die gerade in Wahlkampfzeiten ihre Wirkung voll entfalten.

Bürger:innen fällen ihre Wahl auf Grundlage narrativer Konfigurationen des politischen Geschehens. Sie fühlen sich wahrgenommen in Erzählungen, die ihre Alltagserfahrung mit ihren Werten, ihren Überzeugungen und ihrem imaginativen Erfahrungshorizont koppeln. Dies gilt auch und vor allem in Bezug auf dominante Krisen, die Wahlkampfdiskurse dominieren. Erst „das dynamische Zusammenspiel aus Erzählstoffen, Bildern und Emotionen [erzeugt] eine Resonanz […], die zu einer erfolgreichen Mobilisierung beim entsprechenden Publikum führt“ (Gadinger und Michaelis 2021, S. 79f.). Wahlkämpfe vollziehen sich demnach nicht im Kampf um das bessere Argument. Vielmehr sind es politische Narrative, die Wahlkampfdiskurse strukturieren (Jarzebski 2020). Narrative sind dabei mehr als nur ein Buzzword. Ein besseres Verständnis narrativer Muster bietet uns alternative Einsichten in die Wirkweisen politischer Sprache und hilft uns dabei, die Komplexität alltäglicher Sinngebungsprozesse zu verstehen. Denn wenn wir über Politik sprechen, dann nutzen wir den Modus des Erzählens. Und, wie eingangs beschrieben, steuern wir über unser Erzählen, wen wir an unseren Erzählungen teilhaben lassen wollen. Gleiches gilt für die politische Kommunikation: Narrative müssen anschlussfähig sein und dafür Metaphern aus der Alltagswelt der Menschen bedienen. Darüber hinaus erzählen wir uns in verschiedene Rollen. In der politischen Kommunikation sind Wähler:innen die Figuren und es ist einen besonderen Blick wert, welcher Art die ihnen zugewiesene Rolle ist: Sind sie passiv oder aktiv, handlungs- oder ohnmächtig, sind sie stark oder schwach, Teil der Lösung oder Teil des Problems? Erzählungen transportieren diese Rollenkonfigurationen, ob willentlich als strategisches Stilmittel oder eher zufällig als Produkt ungenauen Sprechens. Das dritte narrative Element neben Metaphern und Rollen ist die Zeitlichkeit. Sie wird in politischen Erzählungen immer mindestens implizit konfiguriert, indem Anfang, Mitte und Ende einer Geschichte gesetzt werden. So macht es einen Unterschied ob wir die dritte Welle der Pandemie auf ein zu spätes Handeln im Spätherbst 2020 zurückführen, die Mutanten verantwortlich machen oder eine mangelhafte Impfstrategie zum Ausgangspunkt nehmen. Je nach gesetztem Startpunkt öffnen und schließen sich andere Handlungsoptionen.

Auch in einem pandemischen Wahlkampf werden diese erzählerischen Mechanismen sichtbar. Die Pandemie korrespondiert mit den metaphorischen Reservoirs der Menschen. In diesem imaginativen Gespräch entstehen neue Deutungsangebote, die ihren Einfluss im Wahlkampf geltend machen werden. Für die politische Kommunikation in distanzierten Zeiten kann es nur darum gehen, mittels einer sensiblen und zugänglichen Sprache Distanzen zu überwinden. Dazu muss politische Kommunikation jedoch aus den eigenen Bezugsrahmen heraustreten und sich die imaginative Kraft alltäglicher Sprache bewusst machen.