Die Corona-Pandemie ist das dominierende Thema in Politik, Gesellschaft und Medien. Kein Tag vergeht, ohne dass uns das Thema auf den Titelseiten der Tageszeitungen oder in den Berichten der Nachrichtensendungen begegnet. Ebenso drehen sich viele Gespräche in der Familie, mit Freund:innen, Verwandten, Bekannten oder Kolleg:innen um das Thema. Somit dürfte es auch, ohne dass es dafür besonderer Kampagnenaktivitäten der Parteien bedürfte, eine große Rolle für die Wähler:innen in den dieses Jahr anstehenden Landtagswahlen und der Bundestagswahl spielen. Welche möglichen Auswirkungen kann die Corona-Pandemie also auf die Wahlen haben?
Zur Beantwortung der Frage, wie sich die Pandemie-Situation auf Wahlverhalten auswirken könnte, lohnt ein Blick auf die Literatur zu den elektoralen Implikationen externer Schocks wie Terrorismus oder Naturkatastrophen. Dabei wird einerseits auf emotionale Reaktionen – die von einem „Rally ’round the flag“-Effekt bis hin zu einem angstgetriebenen Rückzug der Unterstützung für Amtsinhaber:innen reichen – und andererseits auf rationale Reaktionen – Wähler:innen neigen nach Krisen stärker zu retrospektivem Wählen, da die Regierungsleistung, insbesondere ihr Krisenmanagement, stärker in den Blick der Wähler:innen kommt – fokussiert. Diese Literatur kann uns einige auch für die momentane Krise relevante Einsichten bieten, es ist jedoch einschränkend festzuhalten, dass sie sich auf Wahlen nach einer Krise bezieht. Während beziehungsweise in Erwartung großer und lang andauernder Krisen könnten jedoch Vermutungen über zukünftiges Krisenmanagement eine besonders wichtige Rolle spielen; was einen dritten neueren Erklärungsansatz darstellt.
Die Verbreitung von COVID-19 stellt in erster Linie eine Bedrohung für die Gesundheit der Bürger:innen dar. In dieser Hinsicht ist sie vergleichbar mit anderen Bedrohungen wie Krieg und Terrorismus. In der Tat erklärten US-Präsident Trump, der französische Präsident Macron und andere Staatsoberhäupter ihre Länder stünden im Krieg mit dem Virus.Footnote 1 Politikwissenschaftler:innen haben in Zeiten internationaler Konflikte sowie bei Naturkatastrophen einen „Rally ’round the flag“-Effekt festgestellt, durch den amtierende Politiker:innen an Unterstützung gewinnen (Mueller 1970; Boittin et al. 2020). Mueller argumentiert, dass Ereignisse, die zu einem solchen Effekt führen, einerseits international sein müssen und andererseits spezifisch, dramatisch und scharf fokussiert, um die öffentliche Aufmerksamkeit zu gewinnen. Diese Kriterien treffen durchaus auf die globale Pandemie zu und so könnte sich hier ein solcher „Rally ’round the flag“-Effekt einstellen. Tatsächlich stieg in Folge der ersten Welle und damit einhergehender Gegenmaßen in vielen europäischen Ländern das Vertrauen in und die Unterstützung für die Regierungen (Bol et al. 2020; Esaiasson et al. 2020; Schraff 2021). Ob sich daraus ein positiver Effekt der COVID-19-Pandemie auf zukünftige Wahlergebnisse amtierender Regierungsparteien ableiten lässt, bleibt jedoch abzuwarten.
Andere Untersuchungen haben diese Erwartungen spezifiziert: Zum Beispiel argumentieren Berrebi und Klor (2008), dass externe militärische Bedrohungen Regierungsparteien stärken, besonders dann, wenn diese von der politischen Rechten sind. Tatsächlich sehen wir, dass unter den Parteien in der Bundesregierung vor allem die Union und weniger die SPD in den ersten Monaten der Pandemie profitierte. Allerdings stellt diese mit der Kanzlerin auch die oberste Krisenmanagerin, auf die sich ein „Rally ’round the flag“-Effekt, so es ihn denn gibt, fokussieren würde. Weiterhin könnte die Pandemie auch die radikale Rechte stärken. Im Laufe der Geschichte scheinen Krankheiten mit einer erhöhten Feindseligkeit gegenüber Außenseitern einhergegangen zu sein, die teils extreme Ausmaße annahmen wie zum Beispiel die Pogrome gegen die Juden in Europa zur Zeit der Pest (Schweitzer und Perry 2002). 2020 dokumentieren Nachrichtenberichte aus aller Welt eine Zunahme von diskriminierendem Verhalten gegenüber asiatisch aussehenden Personen im Zuge der COVID-19-Pandemie.Footnote 2 Zumindest in Deutschland konnte die politische Rechte jedoch nicht von der Corona-Krise profitieren. In den bayerischen Kommunalwahlen im März 2020 schnitt sie in stärker betroffenen Gebieten schwächer ab (Leininger und Schaub 2020) und auch in den ersten Landtagswahlen 2021 verlor sie Stimmanteile.
Eine deutlich andere Erwartung in Bezug auf die emotionalen Reaktionen der Wähler:innen formulieren Achen und Bartels (2017). Demnach werden Wähler:innen von allgemeinen Gefühlen der (Un‑)Zufriedenheit in ihrer Wahlentscheidung beeinflusst, auch wenn die Ursachen außerhalb der Kontrolle der Regierung liegen. Sie illustrieren ihr Argument mit einer Serie von Haiangriffen, die an der Ostküste der Vereinigten Staaten im Sommer vor der Präsidentschaftswahl 1916 auftraten, was nach ihrer Ansicht zu Verlusten bei den Stimmenanteilen für den amtierenden Präsidenten Woodrow Wilson führte. Einen analogen Mechanismus beschreiben Healy et al. (2010), die zeigen, dass positive externe Ereignisse, wie zum Beispiel Siege der lokalen Sportmannschaft unmittelbar vor einer Wahl, mit einem Anstieg des Stimmenanteils der Amtsinhaber:innen einhergehen. Obwohl die konkreten empirischen Analysen nicht unumstritten sind (Fowler und Montagnes 2015; Fowler und Hall 2018), ist der zugrundeliegende psychologische Mechanismus instruktiv: Menschen übertragen zuweilen Emotionen aus einem Bereich auf die Bewertungen und Urteile in einem völlig anderen Bereich, insbesondere in komplexen und unsicheren Situationen. Die COVID-19-Pandemie ist zweifellos eine solche Situation.
Hingegen argumentieren Ashworth et al. (2018), dass Katastrophen und Krisen eine Gelegenheit für Wähler:innen bieten, etwas über die Kompetenz der Regierung zu lernen. Nach dieser Perspektive nutzen Bürger:innen Wahlen, um inkompetente Amtsinhaber:innen durch kompetentere Führungspersönlichkeiten zu ersetzen (Besley 2006). So können Naturkatastrophen als entscheidende Testfälle angesehen werden, ob Wahlen am Wähler:innenwillen ausgerichtetes Regierungshandeln sicherstellen können (Gasper und Reeves 2011; Arceneaux und Stein 2006). Kompetente Krisenreaktionen würden belohnt und schlechte Leistungen bestraft. Tatsächlich zeigen Bechtel und Hainmueller (2011), dass die Dankbarkeit für Gerhard Schröders energische Reaktion auf die Elbe-Flut 2002, welche unter anderem als ursächlich für seine erfolgreiche Wiederwahl angesehen wird, auch noch Jahre nach der Flutkatastrophe in den betroffenen Gegenden in Form höherer Stimmanteile für die SPD festgestellt werden konnte. Ob sich aus dieser Perspektive ein Vor- oder Nachteil für die regierenden Parteien ergibt, muss sich erst noch erweisen. Dies hängt wesentlich davon ab, wie das Krisenmanagement bis zur Bundestagswahl durch die Bevölkerung wahrgenommen und bewertet wird.
Während die Literatur sich bisher vor allem mit Wahlen nach einer Katastrophe befasste, argumentieren Leininger und Schaub (2020), dass Wähler:innen in sich entwickelnden oder längerfristigen Krisen wie einer Pandemie ein starkes Interesse an einer Führung haben, die sie sicher durch die Krise steuern wird, und daher vor allem prospektiv orientiert wählen. In Analysen der bayerischen Kommunalwahlen vom 15. März 2020 (kurz bevor der erste bundesweite Lockdown verhängt wurde) zeigen sie, dass die CSU in bereits von COVID-19 betroffenen Gebieten besser abschnitt als in Gebieten, die noch keine Corona-Infektion verzeichnet hatten. Der vermutete Mechanismus lautet, dass Wähler:innen in den betroffenen Gemeinden die Kommunalwahlen nutzen, um ihre lokale Regierung mit der Partei in Einklang zu bringen, die auf Länderebene an der Macht ist, um eine effektivere Katastrophenabwehr und -hilfe für ihre Gemeinde sicherzustellen. Tatsächlich hat die bisherige Forschung zu Auswirkungen von Naturkatastrophen auf die Wahlen gezeigt, dass die Wähler:innen die unterschiedliche Verantwortung verschiedener Regierungsebenen berücksichtigen können (Arceneaux und Stein 2006; Malhotra und Kuo 2008; Gasper und Reeves 2011). Aus dieser Sichtweise müsste vor allem die Union, welche die Bundesregierung anführt und zugleich an den meisten Landesregierungen beteiligt ist, profitieren.
Es lassen sich also aus der einschlägigen Literatur eine Vielzahl an unterschiedlichen und teils widerstreitenden Erwartungen ableiten. Emotionale und vorausschauende Wähler:innenreaktionen dürften dabei noch am ehesten zu Gunsten der regierenden Parteien auswirken. Ob sich dies am Wahlabend bewahrheitet, wird jedoch entscheidend von den Entwicklungen in den folgenden Monaten abhängen. Über die Zeit dürfte mit dem weiteren Voranschreiten der Pandemie und ihrer schrittweisen Bewältigung nämlich mehr und mehr die retrospektive Bewertung des Krisenmanagements der Bundes- und auch Landesregierungen an Bedeutung gewinnen. Höchstwahrscheinlich wird dies ein zentrales Thema der Bundestagswahl im September, auch wenn es für die Opposition in Krisenzeiten schwieriger ist, Kritik an der Regierung zu üben, da der Vorwurf droht, das Vertrauen in die Politik und staatliches Handeln allgemein zu beschädigen. Zudem drohen andere wichtige Themen wie die Klimakrise in den Hintergrund zu treten. Es ist also davon auszugehen, dass die Corona-Krise das bestimmende Thema der Bundestagswahl 2021 sein wird. Wie sich dies auf das Abschneiden der Parteien auswirken wird, haben die bestimmenden Akteur:innen in Regierungen und Parteien noch selbst in der Hand.