1 Einleitung

Eine alte Debatte lebt wieder auf. Sie handelt vom Verhältnis von Demokratie und Meinungsforschung. Historisch war die Rechtfertigung als „democratic instrument indispensable to modern society“ (Igo 2012, S. 221) entscheidend für die Etablierung der Meinungsforschung. Elmo Roper bezeichnete sie 1944 gar als „greatest contribution to democracy since the introduction of the secret ballot“ (zit. nach Igo 2007, S. 121). An solchem Anspruch entzündete sich erbitterter Streit (Rogers 1949; Hennis 1957). Doch längst schien diese Debatte abgeflaut (Decker 2001, S. 33). Stattdessen diskutierte man kleinteiliger, etwa, wie sich Effekte von Umfragen auf Wahlen messen lassen (Hoffmann 2017). In der Öffentlichkeit gab es Spott, wenn Prognosen danebenlagen, aber keine Zeitung verzichtete auf deren Publikation. Doch seit kurzem kehrt die Kontroverse zurück. Der Grund ist der Aufstieg einer neuen Art politischer Meinungsforschung, die mit Big Data statt mit gängigen Umfragen arbeitet (vgl. Lepore 2015; Bennett und Lyon 2019). In Analogie zum automatisierten Extrahieren von Informationen aus dem Web ist heute von einer Praxis des digitalen „Demos Scraping“ die Rede (Ulbricht 2020, S. 427). Berüchtigt wurde vor allem das mittlerweile aufgelöste Unternehmen Cambridge Analytica, das Zugriff auf zahlreiche Facebook-Profile erlangte (Cadwalladr und Graham-Harrison 2018). Solche Firmen behaupten gerne, die Erforschung von Präferenzen zu revolutionieren. Einige KritikerinnenFootnote 1 übernehmen diesen Glauben, sprechen von „mind-reading software“ (zit. nach González 2017, S. 9) und fürchten, dass „our democracy was hijacked“ (Cadwalladr 2017). Empirisch ist unklar, wie effektiv die entsprechenden Techniken bislang wirklich sind (Baldwin-Philippi 2019). Aber warum erscheinen diese Dinge uns normativ – wieder – so beunruhigend?

Es dürfte nicht nur die neue Technik sein, die wie jede Innovation zunächst Skepsis weckt. Auch, dass Daten illegal beschafft wurden, dürfte fast fünfzig Jahre nach Watergate nicht schockieren. Das aktuelle Unbehagen offenbart vielmehr, dass alte Grundsatzfragen zum Verhältnis von Meinungsforschung und Demokratie ungeklärt sind. Im Fahrwasser des disruptiven Auftretens einer neuen Technik kehren sie auf die Tagesordnung zurück. Dass „die modernen Methoden der Massenbeobachtung über alles Tagespolitische hinaus die Grundlagen des Staatsdenkens berühren und die Gestalt des politischen Lebens verändern“ (Schmidtchen 1959, S. 101), war damals wie heute für manche Utopie und für andere Schreckensszenario. Ohne Frage sind heute komplexere Analysen als je zuvor möglich. Aber einen radikalen Bruch stellt das nicht dar. Bereits im US-Wahlkampf 1960 wurden erstmals differenzierte Computersimulationen verwendet (Pool et al. 1965; Lepore 2020). Ein zeitgenössischer Roman verklärte dies zum Beginn einer neuen, gefährlichen Ära (Burdick 1964). Wenn auch heutige Datenmengen bis vor kurzem undenkbar schienen, notierten Beobachter schon länger, dass „nothing is more noticeable (…) than the staggering proliferation of public opinion poll data and the easy access to it“ (Warren 2002, S. 102). Auch dass man heute nicht mehr nur direkt und aktiv Meinungen abfragt, sondern Verhaltensspuren analysiert und von ihnen auf politische Präferenzen Rückschlüsse zieht (vgl. Berg et al. 2020, S. 186), ist zum Teil die Verwirklichung eines alten Traums. Schon Gerhard Schmidtchen und Elisabeth Noelle-Neumann (1963, S. 171) sahen die Stärke der Demoskopie im „Studium von Gewohnheiten“ und indirekten „psychologischen Diagnosen“. Ähnlich verortet auch Armin Nassehi (2019, S. 62 f.) den Ursprung der Digitalisierung „ein ganzes Jahrhundert vor der Erfindung des Computers“, nämlich in den statistischen, planerischen und ökonomischen Verfahren zur Bearbeitung „gesellschaftlicher Komplexitätslagen“ in der Moderne, zu denen maßgeblich auch die frühe Demoskopie zählt.

Ein neuer Blick auf die ältere Debatte über Meinungsforschung und Demokratie kann uns daher auch heute helfen, die theoretischen und normativen Herausforderungen einzuordnen. Von Anfang an, so meine These, war dies nämlich nicht nur eine Debatte über die Vor- und Nachteile einzelner Instrumente. Vielmehr standen sich zwei Logiken der Demokratie gegenüber. Dabei handelt es sich nicht um systematische Theorien, sondern um basale Auffassungen dessen, wie Demokratie funktioniert, die ansonsten mit unterschiedlichen politischen Orientierungen einhergehen. Wie im ersten Schritt rekonstruiert wird, resultieren daraus aber charakteristische Interpretationen demokratischer Normen wie Aufklärung, Gleichheit, Teilhabe und gutes Regieren (Abschn. 2). Während die demoskopische Logik datenförmig ist und Gütekriterien wie Vollständigkeit und Fairness anlegt, ist die der Kritikerinnen konfigurativ, auf das Zusammenspiel bezogen, und verweist auf Kriterien wie Relationalität oder Erscheinungshaftigkeit. Im zweiten Schritt wird mit Michel Foucault, Armin Nassehi und Claude Lefort argumentiert, dass beide Logiken auf spezifische Modi verweisen, wie pluralistische Gesellschaften sich über verschiedenste Techniken der Verdopplung und Vergegenwärtigung eine politisch intelligible Form zu geben versuchen (Abschn. 3). Beide Modi sollten nicht a priori gegeneinander ausgespielt werden. Vielmehr, so die These des dritten Argumentationsschritts, ist das normative Problem als eines der gelingenden Balance zu reformulieren: Wie sind die beiden Logiken abgegrenzt und politisch aufeinander abgestimmt (Abschn. 4)? Im Lichte dieser Frage werden Verschiebungen durch Big Data angedeutet, die geeignet sind, das Gelingen dieser Balance zu erschweren, insofern sie Konfigurationsprozesse nicht nur abbrechen, sondern regelrecht übernehmen, und zugleich die personalen Grundlagen dieser Prozesse destabilisieren.

Dieses Vorgehen beruht auf einem pluralistischen Grundverständnis von Politik und Gesellschaft, ist normativ jedoch vor allem rekonstruktiv. Spezifischere Fragen, etwa, ob man in einer Theorie politischer Öffentlichkeit nun eher die Verständigungsorientierung oder das Unvernehmen betonen will (vgl. Ritzi 2019), werden dabei im Sinne der Parsimonität zurückgestellt, wo sie für das Argument keinen entscheidenden Unterschied implizieren.

2 Meinungsforschung und Demokratie. Eine Rekonstruktion

2.1 Aufklärung

Bereits Theodor W. Adorno attestierte der Meinungsforschung ein „demokratisches Potenzial“ und eine in „der Sache gelegene Beziehung zur Aufklärung, zur Auflösung blinder, dogmatischer und willkürlicher Thesen“ (Adorno 1952, S. 31). Sie trage zur Entideologisierung der Welt bei. Einen analogen kognitiven Lernprozess sah auch Gerhard Schmidtchen: Mit der Demoskopie gehe ein „archaisches Zeitalter“ zu Ende und werde es möglich, Politik gegen Demagogie „zu immunisieren“ (Schmidtchen 1959, S. 213/215). Auf einer Metaebene führe das, so die Hoffnung, zu einem aufgeklärten Verständnis des Konzepts öffentlicher Meinung selbst, das „vom diffusen Allgemeinverständnis (…) endgültig Abschied nimmt“ (Keller 2001, S. 77; vgl. Allport 1937). Kollektivistischen Vorstellungen einer über den Individuen wirkenden Kraft wurde eine „peculiarly modern vision of the public as composed of anonymous, atomized individuals holding discrete views“ entgegengehalten (Igo 2012, S. 217).

Kritiker warnten früh, dass der Aufklärungsanspruch in sein Gegenteil umschlage, weil Formulierungen und Antwortvorgaben nicht die Problematik widerspiegelten, wie sie sich den Befragten stelle. Bereits Wilhelm Hennis (1957, S. 37) unkte: „Die Gefahr des Umschlagens der Demoskopie in ein demokratiefeindliches Instrument liegt (…) [s]chon im Fragen nach unbekannten und unbeantwortbaren Gegenständen“. Berühmt wurde das Experiment des fiktiven ‚Public Affairs Act‘. Etliche Befragte äußerten eine Meinung zu diesem erfundenen Gesetz – warum sollten die Ergebnisse echter Umfragen mehr Aussagewert haben (vgl. Bishop 2005)? Die Kritikerinnen argumentierten, dass Meinungsbildung immer sozial eingebettet sei: „polling gives an inaccurate and unrealistic picture of public opinion because of the failure to catch opinions as they are organized and as they operate in a functioning society“ (Blumer 1948, S. 547). Analog war die Sentenz Pierre Bourdieus (1993 [zuerst 1972]) gemeint, der zufolge die öffentliche Meinung nicht existiere. Dass Umfragen Artefakte produzieren, liege demnach nicht an handwerklichen Schwächen. Vielmehr hänge der Sinn von Meinungen konstitutiv an Handlungs- und Beziehungskontexten. Insofern seien Meinungsverhältnisse immer auch „Machtkonflikte“ (Bourdieu 1993, S. 220 f.). Von dieser Relationalität abstrahiere Meinungsforschung jedoch aufgrund ihres atomistischen und seriellen Zugriffs, der Meinungen als etwas Dinghaftes begreife, das sich neutral abfragen lasse. Diese Kritik wurde meist als konkurrierende ‚Definition‘ öffentlicher Meinung schlechthin gedeutet. Damit reduzierte sich die Debatte auf einen unfruchtbaren Begriffsstreit (Converse 1987; vgl. Splichal 2012). Die eigentliche Pointe der Kritik betrifft aber den politischen Prozess. Die demoskopische Form von Aufklärung leiste dem politischen Diskurs einen Bärendienst: „neutrality does not enable a ‚true‘ opinion to emerge, it simply creates opinions that have no place in the existing structure of political debate“ (Herbst 1992, S. 222). Der Anspruch auf Entideologisierung werde selbst zur Ideologie, die die real wirkenden Konflikte kaschiere.

2.2 Gleichheit

Die Pioniere der Meinungsforschung beriefen sich emphatisch auf demokratische Gleichheit. George Gallup argumentierte, dass Umfragen lauten Minderheiten den Wind aus den Segeln nehmen: „Polls can (…) limit the claims of pressure groups to the facts, and thus prevent many insupportable demands for special privilege“ (Gallup 1948, S. 4; siehe auch Gallup und Rae 1940, S. 144 ff.; Gallup 1965, S. 548). Auch Adorno hob hervor, dass „der bei der Bildung von Querschnitten so wichtige Begriff des Repräsentativen kein Privileg kennt“ (Adorno 1952, S. 27). Sidney Verba hat dies später systematisiert. Demokratie impliziere eine gleichwertige Aufmerksamkeit gegenüber allen Anliegen. Dafür müssten letztere auch gleichermaßen in Erfahrung gebracht werden können – „if the government is to have the capability of giving equal consideration to the needs and preferences of all citizens, the public must be equally capable of providing that information“ (Verba 1996, S. 2). Gängige Kanäle produzierten jedoch Verzerrungen, etwa zugunsten ressourcenreicher Gruppen. Umfragen korrigierten diesen Bias: „it takes a poll to locate resource poor, unorganized, and otherwise silent citizens“ (Verba 1996, S. 6). Ähnlich ist heute zu hören, Big Data sorge für die Inklusion vergessener Bevölkerungsschichten (vgl. Göbel 2016). Das Argument ist dasselbe: Indem sie übersehene Segmente der Bevölkerung identifiziere und ihnen Gehör verschaffe, trage Meinungsforschung zur Gleichheit bei: „Surveys produce just what democracy is supposed to produce – equal representation of all citizens“ (Verba 1996, S. 3).

Auch in der Literatur findet man das Bild von egalitären Befürwortern und elitären Kritikerinnen (vgl. Raupp 2007, S. 35 ff.). Allerdings beklagen letztere oft ihrerseits ein unzureichendes Verständnis politischer Gleichheit. So seien es, erstens, häufig gerade kleine, lautstarke Gruppierungen gewesen, die sich öffentlich als Anwälte der Gleichheit erwiesen hätten. Auch die Arbeiter‑, Frauen- oder Bürgerrechtsbewegung habe mit kleinen, aber motivierten Gruppen begonnen, die auf eine zugespitzte Skandalisierung von Missständen angewiesen waren. Da Umfragen immer auch gleichgültige Positionen abbilden, erschwerten sie solche Zuspitzung: „polls are likely to suggest to public officials that they are working in a more permissive climate of opinion“ (Ginsberg 1989, S. 276). Häufig wird in diesem Zusammenhang Nixons Verweis auf eine demoskopische „silent majority“ angesichts der Protestkultur im Jahr 1969 genannt (Ginsberg 1989, S. 277; vgl. Converse 1987, S. 520). Im Ergebnis festige Meinungsforschung vor allem den Status Quo.

Dies werde, zweitens, dadurch verstärkt, dass Umfragen Vorstellungen der politischen Ordnung sedimentieren, ohne dass die Bürgerinnen diese infrage stellen könnten: „because they seldom pose questions about the foundations of the existing order, while constantly asking respondents to choose from among the alternatives defined by that order (…) the polls (…) reinforce the limits on what the public perceives to be realistic political and social possibilities“ (Ginsberg 1989, S. 288). Die Gleichheit des ‚citizen as respondent‘ (Verba) bleibe auf ein vordefiniertes Antwortfeld begrenzt, dessen Zustandekommen nicht durchschaubar ist. Herrschaftsstrukturen würden durch den Schein arithmetischer Gleichheit in den Ergebnissen unsichtbar gemacht (Champagne 2015).

Eine dritte Ebene der Kritik erweitert dieses Argument um die symbolische Dimension. Politik ist demnach auch ein Erscheinungsraum, in dem die Gesellschaft sich selbst anschaut, verfremdet und problematisiert (Rancière 2002, S. 109). Hierzu beanspruchen Handelnde symbolische Kategorien wie jene des gleichen Bürgers, die nicht in der sozialen Positivität aufgehen, sondern gerade deren Sinn verhandelbar machen. Wie werden Gruppen repräsentiert und dadurch zugleich politisch konstituiert (vgl. Champagne 2015, S. 252)? Was bedeutet das für das Zusammenleben? Politik ist demnach immer auch der Streit darum, wer in welcher Rolle und unter welchem Namen sichtbar werden kann. Demoskopie ersetze dies jedoch durch einen Strom von Messungen, Hochrechnungen und Anteilen. Der Demos sei dann „ganz in einer Struktur des Sichtbaren gefangen, einer Struktur, in der man alles sieht und alles gesehen wird, und in der es daher keinen Ort mehr für das Erscheinen gibt“ (Rancière 2002, S. 112 f.). Damit werde auch der Streit darüber, ob das Stück, das jeweils zu sehen ist, die ganze Geschichte erzählt, verstellt: „Nichts kann sich nunmehr unter dem Namen des Volks ereignen, außer die Aufrechnung der Meinungen und Interessen seiner genau aufzählbaren Teile“ (Rancière 2002, S. 115). Gleichheit werde so zu einem technischen Problem adäquater Stichprobenziehung (paradigmatisch bei Brehm 1993). Als symbolisches Prinzip, so die Kritik, ist Gleichheit hingegen etwas, das beansprucht werden kann, eine Art und Weise, wie Identitäten, Narrative und Handlungsziele öffentlich entworfen und umkämpft werden. Die ständige demoskopische Selbstbeobachtung verdränge jedoch den dafür notwendigen symbolischen Erscheinungsraum.

2.3 Partizipation

Wiederholt zitierte Gallup eine Stelle von James Bryce, der vier Stadien der öffentlichen Meinung unterschied, deren höchstes erreicht wäre, wenn eines Tages der Wille aller Bürger zu jedem Zeitpunkt ermittelbar wäre (Gallup und Rae 1940, S. 125). Nunmehr werde diese Utopie Realität: „With the development of the science of measuring public opinion (…) this stage in our democracy is rapidly being reached“ (Gallup 1938, S. 9). So werde Partizipation unter Bedingungen der Massendemokratie wieder möglich: „After one hundred and fifty years we return to the town meeting. This time the whole nation is within the doors“ (Gallup 1939, S. 15). Diese Sätze wurden oft zitiert, auch bei Autoren, die wie James Fishkin (1997, S. 71) bezweifeln, dass konventionelle Umfragen bereits der „Holy Grail“ (Newport 2004, S. 61) sind. Das Versprechen ist bis heute attraktiv, so hat etwa das Online-Meinungsforschungsinstitut „YouGov“ es in seinem Namen programmatisch herausgestellt (weitere Beispiele bei Ulbricht 2020, S. 430). Das Argument ist zunächst nicht von der Hand zu weisen: Indem die Bürgerinnen mittels Demoskopie ihre Ansichten regelmäßig einbringen, nehmen sie auch zwischen Wahlen intensiver an der politischen Willensbildung teil.

Umstritten ist, was ‚einbringen‘ hier genau bedeutet. Von Kritikern wurde eine plebiszitäre Herrschaftsform hineingelesen: „opinion polls are undermining our republican form of government to substitute a direct or ‚pure‘ democracy“ (McGuire 1940, S. 235; Bernays 1945). Auch Lindsay Rogers führte gegen die Demoskopie die gängigen Argumente gegen direkte Demokratie ins Feld – sie sei der Komplexität der Entscheidungen unangemessen, es fehlten ‚checks and balances‘ etc. (Rogers 1949, S. 65 ff.). Aber das war eine Scheindebatte. Dass die repräsentativen Institutionen umstandslos ersetzt werden sollten, behauptete kaum jemand. Trotz seiner partizipatorischen Rhetorik glaubte auch Gallup, dass „every Congressman should obviously follow his own best judgment“ (Gallup 1948, S. 99 f.). Umfragen sollten vielmehr eine stärkere informelle Rückkopplung zwischen Abgeordneten und Repräsentierten herstellen, was dem Repräsentationsprinzip, das neben dem elektoralen Mandat immer auch die „opinion“ kannte (Urbinati 2014), keineswegs widerspricht.

Die Kritik verlegte sich daher schnell auf die weiterführende Frage, wie und mit welchen Effekten Demoskopie diese Rückkopplung im Einzelnen leistet. Politikerinnen pflegen demnach einen strategischen Gebrauch von Umfragen: „elected government officials are sensitive to public opinion polls in the packaging of the policy but not in the determination of policy content“ (Crespi 1989, S. 39).Footnote 2 Durch datengestützte strategische Kommunikation könnten Repräsentanten offene und kontroverse Debatten umgehen (Jacobs und Shapiro 2000). Nicht Schwund an Führungsstärke (so allerdings Dönhoff 1970) sei das Problem, warnte Jürgen Habermas schon 1962, sondern eine neue Art von Führung, die „öffentlichem Räsonnement“ wie der Möglichkeit eines „Mißtrauensvotums im Bewußtsein präzise definierter Alternativen entzogen“ bleibe (Habermas 2006, S. 325).

Der erste Teil des Arguments betont das Räsonnement und fürchtet, dass Meinungen, die sich nicht in Debatten herausbilden, fremdbestimmt bleiben. So meinte auch Hannah Arendt: „Trotz aller Meinungsbefragungen sind (…) die Meinungen des Volkes schlechterdings unergründlich, aus dem einfachen Grunde, weil es sie nicht gibt. Meinungen kommen nur in einem Prozeß öffentlicher Diskussion zustande“ (Arendt 2011, S. 346). Meinungsbildung benötige den Kontakt mit anderen Meinungen. Infolge erodierender Voraussetzungen bürgerschaftlicher Meinungsbildung komme es so zu einer den partizipatorischen Anspruch konterkarierenden „Abwertung des Bürgers“ (Hennis 1957, S. 36). Der zweite Teil des Arguments stellt auf die fehlende Chance zum Misstrauensvotum ab. Auf Daten gestützt, würden maßgebliche Weichenstellungen bereits in einem Stadium des politischen Prozesses vorgenommen, in dem Alternativen sich noch nicht öffentlich formieren konnten. Von der Rational-Choice-Theorie aus gelangt John Geer (1996, S. 131) zu ähnlichen Schlussfolgerungen: Wenn Akteure dank Umfragen vorab wissen, dass bei einem Thema aktuell nichts zu gewinnen sei, sei es rational, einer kontroversen Debatte auszuweichen. Für den politischen Prozess impliziere das langfristig einen Verlust an Strukturierung (Geer 1996, S. 143 ff.). Am Ende sei nicht mehr erkennbar, wen man (ab)wählen müsse, um die Dinge in diese oder jene Richtung zu beeinflussen. Damit sinke die Chance eines von unten herbeigeführten Politikwandels.

Infrage stehen hier jene vorgelagerten Prozesse und Formelemente, durch die Repräsentation so inszeniert wird, dass Politik im Zusammenspiel der Akteure für die Bürgerinnen intelligible Gestalt annimmt und gemeinsamer Beurteilung und nachhaltiger Einwirkung zugänglich wird. Meinungsforschung drohe, diese Prozesse kurzzuschließen, insofern Repräsentanten nunmehr amorphe Stimmungslagen strategisch nutzen, ohne sich auf eine meinungsbildende Dramaturgie einzulassen, die sie nicht in der Hand haben.

2.4 Gutes Regieren

Der vierte Anspruch ist das gute Regieren. Durch stetige demoskopische Selbstevaluation bleibe die Regierung lernfähig, Gesetze würden „realistischer, ihre Anwendung wirksamer. Auf diese Weise wird zahlreichen Menschen das Gefühl vermittelt, in einem verständnisvoll geführten Staat zu leben, in einer guten Herrschaftsform“ (Schmidtchen und Noelle-Neumann 1963, S. 192). Demoskopie soll Nähe und Transparenz fördern und damit der Vielfalt und Besonderheit der zu regierenden Dinge, Gruppen und Situationen besser gerecht werden. Ganz ähnlich wird auch heute gefordert, Big Data für die Verbesserung der Beziehung zwischen Bürgern und Verwaltung einzusetzen – Clarke und Margetts (2014) regen gar an, dass dies doch eine gute Zweitverwendung für die vielen von Geheimdiensten gesammelten, aber nicht benötigten Daten wäre. Der Grundgedanke ist derselbe: Schon David B. Truman (1945, S. 62) argumentierte, dass Umfragen die „harmony (…) between government and governed“ durch differenziertere Planung, Umsetzung, Evaluation sowie adressatenspezifische Kommunikation verbesserten. Ähnlich notierte Rensis Likert: „The sample survey (…) can contribute materially to making our form of government the most powerful in the world. Its power will stem from its capacity to utilize fully the experiences and thinking of all and thereby to serve (…) the fundamental desires and needs of the people it governs“ (Likert 1948, S. 349). Auch er hoffte, feiner zwischen den „different segments of the population“ (Likert 1948, S. 345) unterscheiden und zielgruppenspezifische Regierungsweisen entwickeln zu können. Der Abschied vom ‚homme moyen‘ Quetelets und dem Durchschnittsbürger der Middletown-Studien (Igo 2007) zugunsten feinkörniger Steuerungsmöglichkeiten wurde also keineswegs erst mit Big Data entdeckt.

Dass Demoskopie effektives Regieren fördern kann, bezweifeln auch die Kritikerinnen nicht. Allerdings warnen sie, wie etwa Ludwig von Friedeburg (1961, 1992), dass die Grenze zur Manipulation fließend sei. Ginsberg (1989, S. 290) spricht von einer „managerial relationship between government and popular opinion“. Mit Bezug auf Michel Foucaults Analysen der Überwachung (etwa Foucault 2016, S. 906 f.) argumentiert Limon Peer (1992) gar, die Bevölkerung werde einem Regime der Sichtbarkeit unterworfen, das Meinungen diszipliniere, indem es sie messbar macht. Aus den demoskopischen „Momentaufnahmen“, lesen wir woanders, sei ein „nicht abreißender Kontroll- und Beobachtungsfilm geworden“, mit dem „die Technik der Massenbeobachtung eine kaum mehr überbietbare Perfektion erreicht hat“ (Gayer 1969, S. 103). Solche Superlative fanden sich unter umgedrehten Vorzeichen auch bei den Demoskopen. So hoffte Schmidtchen, mittels Meinungsforschung werde es „gelingen, den politischen Prozeß (…) soweit zu beherrschen“, dass es möglich werde, „das Moment der Überraschung (…) aus der politischen Geschichte zu entfernen“ (Schmidtchen 1959, S. 267). In den Augen der Kritiker wäre das eher ein Albtraum. Die Bürgerinnen würden auf eine passive Rolle als Objekte administrativer Sichtbarkeit reduziert, was eher dem „aufgeklärten Absolutismus“ als der Demokratie entspreche (Habermas 2006, S. 322) – eine Kritik, die aktuell mit Blick auf die passive Rolle der Bürgerinnen im „algorithmic leviathan“ (König 2019b) wieder ganz ähnlich zu lesen ist. Hinter solchen Parallelen der Versprechen wie der Kritik stehen, wie ich im Folgenden argumentiere, zwei bis heute wirksame, aber grundlegend verschiedene Logiken der Demokratie.

3 Die zwei Logiken der Demokratie

3.1 Demoskopie und Konfiguration

Die Argumente pro und contra lassen sich nicht einfach gegeneinander abwägen. Denn es ging in dieser Debatte nie nur um instrumentelle Einschätzungen der Vor- und Nachteile einer Technik, sondern um verschiedene Logiken von Politik. Damit sind nicht unbedingt elaborierte Modelle gemeint, sondern eher das, was Pierre Rosanvallon politische „Rationalitäten“ nennt: pragmatische, historisch unterschiedlich konkretisierbare Theorie-Praxis-Komplexe, die auf einer elementaren Ebene nahelegen, wie und wozu politische Dinge gemacht werden (Rosanvallon 1995, S. 28 f.). Sie erschließen sich daher eher auf eine phänomenologische Weise, die nach zugrundeliegenden „Sinnräumen“ (Loidolt 2020) fragt, als durch konventionelle ideengeschichtliche Subsumtionen unter Denkschulen und -strömungen (vgl. Dormal 2019). Ihre Elemente werden im Folgenden idealtypisch zusammengefasst.

  1. 1.

    Demoskopie beansprucht, durch ihre relative Objektivität, ihren postideologischen Charakter und eine individualistische Methodologie einen Beitrag zur Aufklärung zu leisten. Kritisiert wird daran, dass der relationale, also in gesellschaftliche Konstellationen und Handlungsfelder eingelassene Charakter von Meinungsbildung verfehlt werde. Die einen wollen ein nüchternes Licht auf das werfen, was da ist, die anderen hingegen auf das Zwielicht aufmerksam machen, in dem wir immer von Beziehungen zu anderen abhängig sind.

  2. 2.

    Demoskopie soll egalisierend wirken, indem sie Präferenzen gleich gewichtet und Verzerrungen minimiert. Kritikerinnen wenden ein, dass Gleichheit nicht nur die Zählwertgleichheit von Antworten sei, sondern ein Prinzip, in dessen Namen verhandelt werde, welche Fragen von wem überhaupt gestellt werden. Den einen geht es darum, die Dinge fair zu beziffern, den anderen darum, die Ordnung der Bezifferten und die Situation der Bezifferung selbst zu transformieren.

  3. 3.

    Das dritte Versprechen war, Politik kontinuierlich an die Bürger rückzukoppeln. Dem wird entgegengehalten, dass die Formlosigkeit dieser Rückkopplung ihre Wirksamkeit schwäche. Strukturierende kollektive Entscheidungsalternativen könnten sich nicht herausbilden und vorgelagerte Debatten würden kurzgeschlossen. Der Unterschied ist hier der zwischen Rückkopplung als Übermittlung von Informationen und als in-Form-setzendes Handeln.

  4. 4.

    Das letzte Versprechen lautete, durch differenzierte Nahaufnahmen eine friktionsfreie und diversitätsfreundliche Feinsteuerung der Gesellschaft zu ermöglichen. Die Einwände verwiesen auf manipulative Potenziale, vor allem aber darauf, dass den Bürgerinnen eine passive Rolle zugedacht wurde. Der Gegensatz lässt sich hier als einer zwischen Transparenz und Erscheinen fassen, wobei letzteres nie total ist, sondern einen Hintergrund voraussetzt, aus dem man aktiv hervortritt.

Objektivierung, faire Bezifferung, Rückkopplung durch Informationsübermittlung und Transparenz: Das sind die Charakteristika der demoskopischen Logik. Es geht um eine bestimmte Qualität, Anordnung und Kenntnis von Informationen. Natürlich wird die Existenz von Machtkämpfen, Wettbewerb etc. nicht bestritten. Aber der Unterschied zwischen mehr oder weniger Demokratie lässt sich aus dieser Sicht als Unterschied in der Verfügbarkeit, der Güte und der Verwendung von Daten beschreiben. Die ideale Demokratie wäre demnach eine, in der akkurate Daten möglichst vieler Menschen breit verfügbar sind und fair in die Politik eingespeist werden. Im Sinne dieser Logik wäre es daher auch, dass die Daten frei verfügbar und nutzbar wären.

Dem steht eine andere Logik gegenüber, deren Charakteristika Relationalität, die Transformation von Konstellationen, in-Form-setzendes Handeln und aktives Erscheinen sind. Hier geht es um Handlungsdynamiken, in denen Beziehungsmuster sich entfalten und zugleich verändern. Natürlich wird dabei nicht bestritten, dass Politik auch Informationen braucht. Aber der (antwortende, verknüpfende, auswählende, verschiebende, umgestaltende) Bezug auf andere und damit auf die gemeinsame Situation ist das Entscheidende. Ich nenne diese Logik daher ‚konfigurativ‘, also auf das Zusammenspiel ausgehend.

Beide Seiten reden letztlich über unterschiedliche Dinge, wenn sie sich auf normative Kriterien wie Gleichheit oder Teilhabe beziehen. Ein Beispiel mag das veranschaulichen. Anhand eines historischen Falls beschrieb Gallup, wie sein Institut Divergenzen zwischen Gewerkschaftsführung und Basis schnell zu erkennen und damit die Ansprüche der ersteren auf das gebührende Maß zurechtzustutzen vermochte (Gallup und Rae 1940, S. 150 f.). Idealerweise könne so jedem Repräsentationsanspruch der angemessene Platz zugewiesen werden. Repräsentation wäre dann vor allem ein Problem der Informationsbeschaffung und -kontrolle. Aber in den meisten Organisationen teilt die Basis die offizielle Linie keineswegs uneingeschränkt. (So dürfte auch manche Hochschuldozentin Mitglied einer Bildungsgewerkschaft sein, aber entgegen den Vorlieben der letzteren z. B. kein Problem damit haben, wenn in der Schule die Orthografie wieder strenger benotet würde.). Womöglich trägt man den offiziellen Kurs trotzdem mit, weil es so wichtig nicht ist und man seine Organisation deswegen nicht öffentlich zu schwächen wünscht. Vielleicht versucht man, hinter den Kulissen etwas zu ändern. Vielleicht findet man es irgendwann doch unerträglich und tritt aus. Entscheidend ist, dass derartige Urteile kein Problem unvollständiger Informationen sind (vgl. Yankelovich 1991), sondern etwas, das niemand dem Handelnden abnehmen kann. Er oder sie muss, wie oberflächlich auch immer, sich die Konstellation vergegenwärtigen, Prioritäten und Loyalitäten abwägen und sich zuletzt zu diesem oder jenem Schritt durchringen. In der konfigurativen Logik hieße gute Repräsentation entsprechend, die Ebenen und Gelegenheiten solchen Urteilens zu vervielfältigen. Radikaldemokraten, die das transformative Handeln von unten betonen, buchstabieren das im Einzelnen dann ganz anders aus als ein Verteidiger des Amtsgedankens wie Hennis, der die formgebende Wirkung institutionalisierter Verantwortung hervorhebt. Das Beispiel zeigt daher auch, dass die konkurrierenden Logiken eine Ebene unterhalb gängiger demokratietheoretischer Frontstellungen angesiedelt bleiben.

Nun lässt sich aber nicht sagen, dass nur die eine oder die andere Logik richtig wäre. Die demoskopisch ermittelte Divergenz zwischen Führung und Basis etwa war ja keine Erfindung. Nur hat diese Information nicht zwangsläufig einen klaren demokratischen Sinn und sie ist nicht die einzige Weise, die politische Welt zu vergegenwärtigen. Es wäre aber verkürzt, die Kritik vorschnell auf Herrschaftsvorwürfe zu reduzieren, wie es regelmäßig passiert. Um beim Beispiel zu bleiben: Amerikanische Gewerkschaftsfürsten waren einst ja durchaus mächtig. Gallups Zeitgenosse C. Wright Mills sprach von ihnen als den „new men of power“ (Mills 1948). Die Umfragen waren also auch ein Mittel der Machtkontrolle. Wie Nikolas Rose schreibt, sind Zahlen „not univocal tools of domination, but mobile and polyvocal resources“ (Rose 1991, S. 684). Sarah E. Igo (2007, S. 298) spricht von „statistical citizenship“: Soziale Kämpfe verschwinden nicht, sondern verschieben sich und drehen sich zunehmend darum, was auf welche Weise von wem abgefragt und gezählt wird. Davon zu reden, dass ‚die Macht‘ hier die ‚Unterworfenen‘ diszipliniere, wie es Peer (1992) in den Vordergrund stellt, wäre daher irreführend. Die oft bemühte Verwandtschaft zwischen dem „Panoptismus“ und der demoskopischen Logik liegt nicht darin, dass der Insasse „dem Blick des Aufsehers ausgesetzt ist“, sondern eher darin, dass ihn „die seitlichen Mauern (…) hindern, mit seinen Gefährten in Kontakt zu treten“ (Foucault 2016, S. 906). Hier wie da ist der Einzelne „Objekt einer Information, niemals Subjekt in einer Kommunikation“ und werden „Kollektiv-Effekt[e] (…) durch eine Sammlung von getrennten Individuen ersetzt“ (Foucault 2016, S. 906). Statt die Konkurrenz beider Logiken umstandslos einem Narrativ von Herrschaft und Widerstand zu subsumieren, plädiere ich im Folgenden dafür, sie als eigenständige Formen der politischen Weltverdopplung zu rekonstruieren.

3.2 Verdopplung und Dekorporierung

Beide Logiken sind spezifisch modern. Michel Foucault hat argumentiert, dass der Siegeszug der Statistik eng mit der Auflösung älterer Verkörperungen politischer Macht zusammenhängt. Solange „die Souveränität das Hauptproblem war“, Macht also gleichbedeutend war mit dem Befehl eines einheitlichen, übergeordneten Herrschersubjekts, habe eine auf differenzierte (Selbst‑)Beobachtung gegründete Regierungskunst sich nicht voll entwickeln können (Foucault 2017, S. 153). Ähnliches galt für die Familie, die jahrhundertelang ein zweites wichtiges Vorbild der Politik abgab – mit dem König als Vater, den Untertanen als Kindern etc. Foucault zufolge trat seit dem 18. Jahrhundert an die Stelle dieser älteren Modelle eine neue, flexible Regierungsweise, die nicht mehr auf königlicher oder väterlicher Befehlsgewalt, sondern auf einer systematischen Beobachtung der Dinge und ihren unterschiedlichen Verteilungen, Abweichungen und Regelmäßigkeiten beruht und in differenzierter Weise auf diese einzuwirken versucht.

Als Dreh- und Angelpunkt dieser neuen, statistisch operierenden Politikform identifiziert er die Figur der ‚Bevölkerung‘. Die Demoskopie lässt sich unschwer in dieses Bild einfügen. Sie ist die Vermessung der „Bevölkerung von der Seite ihrer Meinungen her“ (Foucault 2017, S. 115). Darauf bezugnehmend schreiben Anja Kruke und Benjamin Ziemann, dass die Demoskopie mit einer „de-corporation of the body politic“ einherging und eine neue Wahrnehmung etablierte, in der graduelle, gleitende Differenzen an die Stelle des Zusammenpralls substanzieller Einheiten treten: „Presented as results of opinion research in bar charts, even extreme political and moral opposites became mere endpoints on a sliding scale of gradual differences. Opinion polls were thus part and parcel of a discourse of ‚flexible normalism‘, which abandoned the notion of inevitable collisions between substantial political, religious or moral norms“ (Kruke und Ziemann 2012, S. 248). Sprich: Die Meinungsforschung etablierte eine neue, entdramatisierte Weise, wie eine konflikthafte, dezentrierte Gesellschaft ein Verhältnis zu sich selbst herstellte.

Hieran die Künstlichkeit zu skandalisieren,Footnote 3 wäre wenig erhellend. Daten werden immer durch Beobachtungen erzeugt. Auch „Demoskopie ist kein reiner Messvorgang, sondern ein umfangreicher Konstruktionsprozess“ (Faas 2017, S. 17). In diesem wertfreien Sinne gilt, dass „public opinion is created by the procedures that are established to ‚discover‘ it“ (Osborne und Rose 1999, S. 382). Entscheidend ist, hier folge ich Nassehi (2019), dass solche Konstruktionsprozesse einen Grundzug der modernen Gesellschaft offenbaren. Eine „anders gebaute Gesellschaft“ hätte „keine Verwendung“ dafür (Nassehi 2019, S. 177). Dabei geht es keineswegs nur um eine Intensivierung staatlicher und wirtschaftlicher Macht durch Statistik. Dahinter steht – wie schon von Kruke und Ziemann angedeutet – das „strukturelle Bezugsproblem moderner Gesellschaft“ (Nassehi 2019, S. 110). Dieses Problem liegt in der „Perspektivität des jeweiligen Weltzugangs“, im Verlust eines Zentrums, von dem aus die ganze Gesellschaft überblickbar wäre – letztere ist „nur noch in der Verdoppelung zugänglich, genauer: nur noch als Verdoppelung, die ihr Original nur in der Verdoppelung kennt“ (Nassehi 2019, S. 110; Hervorh. im Orig.).

Der Begriff der Verdoppelung lässt an eine getreue Reproduktion denken, doch so ist es gerade nicht gemeint. „Verdoppelung ist (…) ein ironischer Ausdruck, weil er auf die Paradoxie aufmerksam macht, dass das, was praktisch als Verdoppelung erscheint, exakt das Gegenteil bedeutet: Eine Neuschöpfung von etwas, das nur dadurch existiert, dass es verdoppelt wird“ (Nassehi 2019, S. 113). Dabei entstehen Vexierbilder, die je nach Perspektive unterschiedliches zeigen. Moderne Gesellschaften kennen sich nur noch, indem sie fortlaufend in vielfältigen „Repräsentationsform[en] ohne Original“ (Nassehi 2019, S. 141) ihre eigenen Muster vergegenwärtigen. Denn sie haben keine vorgängige intelligible Form etwa als Stände- oder Stammesordnung. Stattdessen bilden sich verschiedenste Techniken der Selbstvermessung aus, die im und durch den Prozess der Vermessung zugleich jenen Horizont hervorbringen, in dem wir gemeinsam über Gesellschaft sprechen und politisch auf diese einwirken können (vgl. auch Ulbricht et al. 2018, S. 156). Die Verwandlung der Welt in Daten seit den Anfängen der amtlichen Statistik löst dieses Grundproblem in effektiver und in verschiedensten sozialen Teilbereichen anschlussfähiger Weise.

Dieser Grundgedanke ist überzeugend. Während aber Nassehi die Einfachheit der Daten letztlich als Grundlage aller komplexeren sozialen Vorgänge begreift und entsprechend Politik für ihn von nachgeordneter Bedeutung bleibt (vgl. Berg et al. 2020, S. 181), möchte ich die Perspektive pluralistisch wenden. Es gibt demnach verschiedene Modi der politischen ‚Verdopplung‘ von Gesellschaft. Die Demoskopie, die datenförmige Verdopplung des Demos, stellt einerseits die den Überlegungen Nassehis entsprechende Technik auf dem Feld demokratischer Politik dar. Als Technik wirkt sie, wie auch Jeanette Hofmann (2019) argumentiert, dabei nicht deterministisch, sondern antwortet auf politische Aporien wie die moderne ‚Unauffindbarkeit‘ des Volkes (vgl. Dormal 2019), auf deren Wahrnehmung und Deutung sie dann prägend zurückwirkt. Nicht als fertige Theorie, sondern in einer pragmatischen Wechselwirkung von praktischer Innovation und öffentlicher Reflexion konkretisierten sich so nach und nach die Elemente der demoskopischen Logik der Demokratie.

Neben ihr existiert im Feld der demokratischen Politik andererseits aber zugleich jene zweite Logik, die ‚konfigurativ‘ genannt wurde. Der Ort der Verdopplung ist hier die politische Bühne (vgl. Bielefeld 2011). Das ist keineswegs authentischer als Zahlentabellen oder „data doubles“ (Ulbricht 2020, S. 435). So wie Daten durch einen Beobachter erzeugt werden, sind auch die Rollen, die wir auf dieser Bühne spielen, durch andere mit konstituiert und auf Zuschauer bezogen. Aber Zuschauer sind keine Beobachter. Ihr Bezug auf das Schauspiel ist ein anderer und die Künstlichkeit ist hier anderer Art. Man kann sie als ästhetische und theatralische Künstlichkeit bezeichnen.Footnote 4 Ersteres in dem Sinne, in dem Frank Ankersmit von ästhetischer Repräsentation als zur Antwort aufforderndem Entwurf spricht: So wie eine Landschaft nicht bestimme, aus welcher Perspektive sie betrachtet und gemalt wird, beinhalte auch politische Repräsentation eine konstitutive Einladung „that we see the world from a certain perspective and that we arrange what can be seen in a specific way“ (Ankersmit 1997, S. 39). Theatralisch ist das zugleich, insofern diese Einladung im Handeln verkörpert wird und in eine Geschichte und ein gemeinsames Spiel, das Applaus oder Kritik riskiert, eingebunden ist (Rebentisch 2012, S. 23). Solche Aspekte wurden zuletzt vor allem von agonalen Ansätzen näher theoretisiert (vgl. Trimçev 2018). Es handelt sich aber um eine grundlegende Erfahrung, die von verschiedensten Autoren festgehalten wurde (vgl. Kolesch 2008) – zuerst vielleicht von Machiavelli (1978, S. 74), der empfahl, dass es nicht darauf ankomme, wie jemand sei, sondern nur darauf, wie er im Spiegelspiel des Handelns dem Anderen erscheint.

Wie der demoskopische hat so auch der konfigurative Modus an jenem Prozess teil, in dem „die Menschen die Probe auf eine letzte Unbestimmtheit machen“ und die „Grundlagen der Macht, des Rechts und des Wissens“ auseinandertreten (Lefort 1990, S. 295). Er setzt seinerseits eine doppelte Distanz voraus, die der modernen Gesellschaft eigentümlich ist. Erstens muss die politische Bühne mehr sein als nur eine Verlängerung der Familie oder einer vorgängigen Ordnung. Wer sie betritt, schreibt sich in einen neuen Kontext ein und übernimmt Verantwortung für diese Wahl. Er oder sie muss sich z. B. im weiter oben beschriebenen Beispiel dafür oder dagegen entscheiden, im Zusammenspiel die Rolle des Gewerkschaftsmitglieds höher als andere zu gewichten. Zweitens muss es unterschiedliche, aber legitime Interpretationen des Stücks geben können, das auf der Bühne aufgeführt wird. So sehen die einen die Gewerkschaften in der Rolle des Helden, andere eher in jener des Schurken. Erst wo der Sinn „der gesellschaftlichen Spaltung durch das Spiel der gesellschaftlichen Teilung dazu bestimmt ist, zwischen den Menschen aufgestellt zu bleiben“ (Gauchet 1990, S. 233), kann Politik konfigurativ wirken, zeitweilige Szenen der Allianz, der Teilung usw. hervorbringen, die Handeln orientieren. Wie Juliane Rebentisch (2012, S. 22) unterstreicht, steht die moderne Demokratie somit „in einem internen Verhältnis“ zum ästhetischen Moment. Beide Modi der Verdopplung antworten auf die Auflösung älterer Formen der Verkörperungen der Macht und die damit einhergehende Umstellung von Einheit auf Pluralität und Differenz. Zur entscheidenden Frage wird dann, wie sie gegeneinander ausbalanciert sind.

4 Das Ideal der Balance und seine Herausforderungen

4.1 Die komplexe Balance der Demokratie

Vor diesem Hintergrund hat es wenig theoretischen Mehrwert, einfach nur für die eine oder andere Logik Partei zu ergreifen. Denn keine ist authentischer oder zwangsläufig demokratischer als die andere. Um die Debatte weiterzuführen, ist vielmehr eine Perspektive erforderlich, die mit dieser Pluralität zurechtkommt, ohne sie monistisch aufzulösen. Vorbilder dafür liefern etwa Rosanvallons Überlegungen zur „Verkomplizierung der Demokratie“ (Rosanvallon 2017) oder Michael Walzers Idee einer „komplexen Gleichheit“ als wechselseitiger Begrenzung eigensinniger Sphären (Walzer 2006, S. 26 ff.). Zwar ging es Walzer inhaltlich um etwas anderes, nämlich um Güter wie Geld oder Bildung und die ihnen jeweils angemessenen Verteilungsmaßstäbe. Doch seine pluralistische Grundperspektive kann als Inspiration dienen. Gegenüber monistischen Ansätzen können wir dann andere Arten von Fragen stellen. Etwa: Wie lassen sich die Grenzen der jeweiligen Logiken befestigen und Übergriffe eindämmen? Wie ließe sich eine Art komplexe Balance herstellen? Es liegt in der Natur der Sache, dass Kriterien einer solchen Balance nicht ihrerseits aus einer der beiden Logiken selbst abgeleitet werden können. Sie lassen sich aber, wie Walzer es für die eingebetteten Verteilungsprinzipien sozialer Güter getan hat, im Rückbezug auf die geteilte Praxis „phänomenologisch“ rekonstruieren, wobei das Resultat „kein Generalplan [ist], sondern höchstens eine Lageskizze, die von denjenigen Menschen handelt, für die sie gezeichnet ist“ (Walzer 2006, S. 58). Was heißt das für das Verhältnis der demoskopischen und der konfigurativen Logik?

Erstens interessieren sich die meisten Bürger prinzipiell durchaus für Umfragen, weswegen eine entsprechende Berichterstattung sich für Medien auch als wirksame Strategie erwiesen hat (Newport 2004, S. 6). Dieses Interesse pauschal herabzuwürdigen, wäre mit einer demokratischen Perspektive nicht kompatibel. Allerdings sollte die Erhebung, Vermittlung und Auswertung von Informationen im Großen und Ganzen dann auch die konfigurativen Formen respektieren, in denen politische Fragen sich den meisten Bürgerinnen im Alltag stellen. Das ist einer der Gründe, warum die bekannteste Umfrage, nämlich die sogenannte Sonntagsfrage nach den Wahlabsichten, relativ unproblematisch ist und auch die Frage ihres Einflusses auf Wahlverhalten durch ‚Bandwagon-Effekte‘ etc. (Schoen 2002) demokratietheoretisch uninteressant bleibt. Denn diese Umfragen beziehen sich auf klar konturierte und vertraute Figurationen. Sie sind in einen handlungsbezogenen Rahmen eingebettet, der die Fragen und Antwortmöglichkeiten mit dem verbindet, wie die Bürger selbst ihr Urteil verstehen. Schwieriger wird es hingegen etwa, wenn außerhalb von Wahlkämpfen persönliche Sympathiewerte erhoben werden. Denn es ist hier keineswegs in derselben Weise evident, welchen Sinn solche Sympathiebekundungen ausdrücken (vgl. Oberreuter 2003).

Zweitens entspricht es einer weithin geteilten Auffassung der Teilnehmerinnen an demokratischen Praktiken, dass die demoskopische Logik konfigurative Prozesse anstoßen darf, aber nicht verdrängen soll – „data as points of departure (…) to inaugurate debate and not to terminate it“ (Herbst 1995, S. 162). Dass dies eine wirksame Norm ist, zeigt sich insbesondere daran, dass politische Akteure in der Öffentlichkeit nach wie vor bemüht sind, eine demonstrative Unabhängigkeit gegenüber Umfragen an den Tag zu legen (vgl. Warren 2002, S. 197). Bei Gallups Beispiel der Gewerkschaften übertrumpfte der demoskopische Modus hingegen schlicht das konfigurative Spiel. Komplexere Repräsentationsansprüche und -ebenen wurden mit Verweis auf die einfache Gleichheit der Daten kurzgeschlossen. Allerdings gilt diese Grenze dann auch umgedreht: Das konfigurative Spiel muss kognitive Irritationen durch neue Informationen zulassen. Espeland und Stevens (2008) verweisen auf das Beispiel des Kinsey-Reports. Das war zwar keine politische Meinungsforschung, aber eine vergleichbare Form von Umfragedaten (vgl. Igo 2007, S. 191 ff.). Dass dabei eine hohe Zahl von Männern homosexuelle Neigungen offenbarte, schuf eine neue Form von öffentlicher Sichtbarkeit, an die dann auch die Pioniere des gay rights movement anschließen konnten, um neue politische Identitäten zu konfigurieren: „the statistical prevalence of homosexuality (…) served as the impetus for the definition of a minority group that could be organized politically“ (Espeland und Stevens 2008, S. 413).

Drittens sollte die Datenlogik die personalen Grundlagen konfigurativer Meinungsspiele intakt lassen. Hierzu gehört nach gängiger Auffassung auch eine gewisse Opazität: Wir wollen nicht völlig transparent und ausrechenbar sein (vgl. Han 2012, S. 8 f.). Wir rühmen Personen, die in totalitären Systemen gegen alle Wahrscheinlichkeit entscheiden, anders zu handeln. Wir geben dem Wahlgeheimnis Verfassungsrang und empfinden eine klammheimliche Freude, wenn Umfragen wie bei der Bundestagswahl 2005 daneben lagen. Soziologen mögen diesen Wunsch vieler Menschen, „so gerne Subjekte [zu] sein“, für eine „theoretische und moralische Zumutung“ halten (Nassehi 2019, S. 42). Eine Zumutung ist das in der Tat. Gleichwohl ist fraglich, wie Demokratie möglich sein soll, wenn die Bürger ihr eigenes Tun und Meinen nicht mehr auch als das von urteilenden, nicht völlig ausrechenbaren Personen interpretieren können. Die in der Pionierzeit der Demoskopie zu vernehmende Hoffnung einer maximalen Durchsichtigkeit politischer Meinungsbildung etwa, durch die es gelänge, das „Moment der Überraschung (…) aus der politischen Geschichte zu entfernen“ (Schmidtchen 1959, S. 267), wäre damit kaum kompatibel. Solche Deutungen würden mit dem Selbstverständnis der Bürgerinnen in ähnlicher Weise kollidieren, wie Habermas zufolge die reduktionistischen Erklärungen der Hirnforschung dort an „performative Grenzen der (…) Selbstobjektivierung“ stoßen, wo sich „Personen nicht mehr als Personen wiedererkennen können“ (Habermas 2009, S. 294/297). Umgekehrt bedeutet das: Solange diese Grenze nicht überschritten wird, sollten Personen es aushalten, dass ihre Meinungen und Präferenzen auch in der Form von Daten verhandelt werden, selbst wenn sie das „große Verhör“ (Gayer 1969) als Beleidigung ihrer Individualität empfinden. Denn prinzipiell ist einer pluralistischen Gesellschaft auch eine Vielfalt an Repräsentationsformen politischer Meinungen angemessen.

Das Verhältnis beider Logiken kann entlang dieser – hier nur tentativ skizzierten – Überlegungen als eine komplexe Balance konzipiert werden. Man könnte auch von ‚komplexer Verdopplung‘ sprechen: Beide Modi wären dann so aufeinander abgestimmt, dass sie demokratische Prinzipien vielfältig, aber wirksam umzusetzen erlauben. Dazu müssen die genannten drei Grenzziehungen respektiert werden. Hinzu kommen jene übergeordneten Zäune zwischen den Gütersphären, auf die Walzer selbst mit seiner Idee komplexer Gleichheit einst abzielte – etwa Brandmauern zwischen Geld und Macht, damit ein Unternehmer wie Silvio Berlusconi nicht (wie geschehen) demoskopische Institute aufkauft und zu persönlichen Zwecken einsetzt (Decker 2001, S. 65). Ich habe diese Balance hier als eine in der Praxis verankerte regulative Idee beschrieben. Inwieweit die Wirklichkeit in einzelnen Ländern dem entspricht und inwiefern solche Grenzziehungen dabei auch explizit reflexiver Gegenstand von Politik sind, etwa in den wiederkehrenden Debatten über die Regulierung von Umfragen (Petersen 2015), bliebe zu prüfen. Durch Big Data wird das Ideal der Balance heute jedoch in grundlegender Weise herausgefordert.

4.2 Herausforderungen der Balance

Die Grundzüge der aktuellen Entwicklung wurden oft benannt. Die Digitalisierung vieler Lebensbereiche erzeugt neue Arten von Daten, die häufig nicht mehr eigens erhoben werden, sondern als Nebenprodukte anfallen. Statt einer Stichprobe wird erschöpfend vermessen. Da die Mengen riesig und die Daten oft unstrukturiert sind, bedarf es neuer Analysemethoden, etwa lernender Algorithmen. Alles dies ist mitgemeint, wenn von „Big Data“ die Rede ist (vgl. etwa Weyer et al. 2018, S. 70 f.). Soweit es die Meinungsforschung betrifft, resultiert daraus ein heterogenes Feld an Praktiken. Die massenhafte Auswertung von Inhalten auf Twitter oder Youtube durch Firmen wie ‚Talkwalker‘ dient der Trend- und Impaktanalyse, die Kombination von Konsum- und Facebookprofilen, wie sie Cambridge Analytica betrieb, eher einer individualisierten Prognose. Weder das eine noch das andere stellt einen völligen Bruch mit der Logik der Demoskopie dar. Echtzeitanalyse, der Versuch indirekter Beobachtung, das Streben nach Feindifferenzierung, die Zusammenführung möglichst vieler Daten – schon das Simulmatics-Projekt von 1960 kombinierte dank früher Computertechnik Daten aus 66 unterschiedlichen Einzelumfragen (Pool et al. 1965, S. 15) –, nichts davon war frühen Meinungsforschern grundsätzlich fremd. So scheint Big Data auf den ersten Blick zu perfektionieren, wovon die mit Lochkarten hantierenden Protagonisten früherer Jahrzehnte nur träumten. Allerdings verändern sich die Bedingungen der skizzierten Balance dabei erheblich.

Die erste Bedingung war, dass die Demoskopie die konfigurativen Formen respektieren sollte, in denen politische Fragen sich den Bürgerinnen im Alltag stellen. Hier scheinen neuere Verfahren zunächst im Vorteil, da Daten verwendet werden, die hinter dem Rücken der Subjekte anfallen: „Diese Spuren menschlicher Aktivität, z. B. in sozialen Netzwerken oder über Smartphones verzeichnet, eröffnen einen bislang nicht möglichen, direkten Einblick in das Verhalten von Bürgern und politischen Eliten und sind dabei nicht-intrusiv, d. h. die Beobachtungsobjekte werden (…) nicht beeinflusst“ (Stier und Jungherr 2019, S. 309). So wird die alte methodische Schwierigkeit möglicher ‚Wording-‘ und Interviewer-Effekte umgangen. Diese Schwierigkeit hatte man zuvor durch eine maximale Neutralisierung der Frageformulierung und Interviewsituation selbst zu lösen versucht. Man verzichtete auf zuspitzende Schlagworte oder die Nennung von Personen, die bestimmte Positionen verkörpern (Gallus und Lühe 1998, S. 76). Den konfigurativen Bezügen der Bürger konnte man so schwer gerecht werden. Auf digitale Spuren alltäglicher Interaktionen gestützt, scheint es (wenn wir unterstellen, dass externe Störungen durch Bots, Fakes etc. sich technisch in den Griff kriegen lassen) heute besser möglich, Meinungen situiert zu konzipieren und in ihrer relationalen Dynamik zu beobachten. Dass Meinungen z. B. in sozialen Netzwerken oft polarisiert erscheinen (Sunstein 2017), mag man aus anderen Gründen bedauern. Die Dynamik solcher Polarisierung nachzuvollziehen, löst zunächst aber durchaus eine alte Forderung der Umfragekritiker ein – Meinungen so abzubilden, wie sie im Handgemenge, auf der Straße oder im Wirtshaus, in actu existieren.

Die zweite Bedingung war, dass die demoskopische Logik konfigurative Prozesse anstoßen und nicht verdrängen soll. Sicher sind auch zukünftig Beispiele denkbar, die in diesem Sinne funktionieren. So ist zu lesen, dass Big Data helfe, die Wahlbeteiligung zu steigern, indem man Nichtwählerinnen gezielter identifiziert und mobilisiert (Nebel 2015, S. 96). Langfristig scheint allerdings eher eine Schwächung konfigurativer Prozesse nahezuliegen. Hier ist vor allem die algorithmische Komponente relevant. Dies nicht primär, weil, wie O’Neil (2017) oder Mau (2017) fürchten, sich bestehende soziale Urteile in die Zahlen einschleichen, sondern gerade aufgrund der Möglichkeiten, Muster zu verarbeiten, die zuvor niemand problematisiert hat. Für die Wissenschaften gründet sich darauf die Vision einer Forschung ohne Theorie und Hypothesen (Anderson 2008). Übertragen auf die Politik würde das etwa bedeuten, dass nicht „durch aggregierte Forderungen diverser Anspruchsgruppen, sondern durch Muster oder Irregularitäten in Datensätzen (…) Themen in den policy cycle eingespeist“ würden (Ulbricht et al. 2018, S. 195). Noch ist das größtenteils Zukunftsmusik. Aber die Entwicklung und auch der politikwissenschaftliche Diskurs gehen doch in diese Richtung (Fleuß et al. 2019; König 2019b). Oft wird dabei die Frage der Macht aufgeworfen: Wer kontrolliert die relevante Infrastruktur (vgl. Berg und Thiel 2020)? Wird sie von Konzernen monopolisiert oder als Gemeingut offen verwaltet (Stalder 2016, S. 252 ff.)? Noch vor dieser berechtigten Frage angesiedelt ist aber der Umstand, dass sich im obigen Szenario das Verhältnis zwischen den beiden Logiken der Demokratie grundlegend verschiebt. Konfigurierende Prozesse der Gruppenkonstitution und -mobilisierung, der rhetorischen Ansprache und symbolischen Rahmung usw. (vgl. Disch 2011) würden nicht umgangen, sondern technisch emuliert. Wurden in Gallups Beispiel der Gewerkschaften demoskopische Instrumente benutzt, um bestehende „representative claims“ (Saward 2010) zu überprüfen, so gehen diese claims im oben beschriebenen Szenario an die Technologie selbst über. Algorithmen würden die zu repräsentierenden Gruppen hervorbringen, während konfigurative Prozesse sich in Spezialarenen zweiter Ordnung zurückzögen, etwa „algorithmic audits“ (O’Neil 2017, S. 210 f.), in denen Leitplanken algorithmischer Repräsentation verhandelt würden. Diese drohende Grenzverschiebung und eine entsprechende Verengung des politischen Raums motiviert m. E. denn auch wesentlich das Unbehagen an den neuen Formen der Meinungsforschung.

Die dritte Bedingung war, dass die Logik der Daten die personalen Grundlagen konfigurativer Meinungsspiele intakt lassen müsste. Nicht zuletzt der literarische Erfolg entsprechender Dystopien zeugt davon, dass dieser Punkt bei vielen Menschen starkes Unbehagen auslöst. Sie sehen ihr Selbstverständnis als frei urteilende und handelnde Person infrage gestellt, wenn etwa der Chef von Cambridge Analytica freimütig bekennt, es gehe ihm nicht nur darum, Wahlergebnisse vorherzusagen, sondern er wolle „begreifen, warum ein Wähler so denkt, wie er denkt“ und seine „Persönlichkeit dechiffrieren“ (Nix und Müller von Blumencron 2017). Auch die Vertreter weniger skandalträchtiger Firmen verfolgen ähnliche Ziele (etwa Wilson und Patterson 2018). Das Problem ist also nicht nur die Gefahr einer Manipulation durch sinistre Kräfte,Footnote 5 sprich eine Verletzung bestimmter Normen bürgerschaftlicher Interaktion. Vielmehr geht es um einen schleichenden Verlust dieser Normen selbst, insofern wir unser eigenes Tun als Bürgerinnen von ihr aus nicht mehr intelligibel machen können, wo Algorithmen vermeintlich besser wissen als wir, was wir denken und möchten, und „Fragen beantwortet werden, bevor sie gestellt werden“ (Stalder 2016, S. 191). Ob das wirklich möglich ist, darf zwar stark bezweifelt werden. Aber wo dieser Anspruch die Welt- und Selbstwahrnehmung prägt und damit eine „ontologisch-performative Macht“ (Ulbricht et al. 2018, S. 156) entfaltet, droht allein das, die Normen unserer Selbstinterpretation nachhaltig zu beschädigen. Die gängige Krisenerzählung, der die Auflösung von Allgemeinheit durch zu viel Personalisierung als Hauptproblem des digitalen Zeitalters gilt (vgl. Sunstein 2017), muss daher gegen den Strich gelesen werden. Vielmehr droht auch die Person selbst zerrieben zu werden zwischen der stillschweigenden Verflüchtigung jener Opazität, die wir einander als nicht-determinierte Akteure unterstellen, und der Auflösung personaler Integrität durch Algorithmen, die jene Freiheit „zweiter Ordnung“ unterlaufen, durch die eine Person erst „eine bewusste Haltung zu ihrem eigenen Wollen annimmt und die Widrigkeit anerkennt, dieses im Verhältnis zur Welt immer wieder neu aushandeln zu müssen“ (König 2019a, S. 451; mit Bezug auf Harry G. Frankfurt).

5 Schluss

Ausgehend von der Feststellung, dass aktuell eine Reihe von Topoi wieder auftauchen, die bereits in der älteren Kontroverse rund um das Verhältnis von Demoskopie und Demokratie verhandelt wurden, wurde letztere entlang der vier Punkte Aufklärung, Gleichheit, Teilhabe und gutes Regieren rekonstruiert. Über diesen Umweg wurde der Vorschlag entwickelt, von zwei eigenlogischen Weisen der Verdopplung von Gesellschaft auszugehen. Vom demoskopischen wurde dabei der konfigurative Modus unterscheiden. Beide haben an einer modernen Entwicklung teil, in der von Einheit auf Pluralität umgestellt wird. Im Sinne eines demokratietheoretischen Pluralismus wurde versucht, Minimalbedingungen einer Balance zu benennen und mögliche Verschiebungen derselben durch Big Data herauszuarbeiten. Diese zugleich offene und auf einer gewissen Abstraktionshöhe angesiedelte Perspektive vermag nicht nur, die allgemeine Kontinuität zwischen beiden Debatten sowie die spezifischen zusätzlichen Herausforderungen durch Big Data-gestützte Formen der Demoskopie neu zu beschreiben, sondern eignet sich auch als Heuristik für konkrete Problemfelder. Das offenkundige Beispiel ist der Datenschutz. Etliche Autorinnen neigen dazu, letzteren mit der Verteidigung der Privatsphäre gleichzusetzen. So meint Juli Zeh: „Nichts ist dem Menschen so natürlich wie die Einzäunung eines Stück Landes und die Aufstellung eines Schilds, auf dem ‚meins‘ geschrieben steht“, um sodann eine entsprechende „Einzäunung und Beschilderung der digitalen Privatsphäre“ zu fordern (Zeh 2015, S. 35). Aus der von mir vorgeschlagenen Sicht hätte Datenschutz aber weniger mit solchen digitalen Varianten des Besitzindividualismus zu tun. Seine Bedeutung läge vielmehr in der Unterbrechung spezifischer Beobachtungsmöglichkeiten, die sich nachteilig auf die Balance der konkurrierenden politischen Logiken auswirken. So würde ein guter Datenschutz erzwingen, dass die „Bürger nicht als Privatmenschen, sondern stärker als Teil der Öffentlichkeit angesprochen werden müssten“ (Richter 2015, S. 55). Der Schutz der Privatsphäre wäre ein Mittel zum öffentlichen Zweck. Der Mangel an Daten zwänge im Sinne einer kommunikativen Ordnungspolitik dazu, die politische Ansprache auf das Terrain geteilter konfigurativer Bezüge zu fokussieren.

Andere auf der Hand liegende Problematiken wären etwa, welche Hoffnungen in zivilgesellschaftliche Aneignungen von Big Data-Technologien (vgl. Weizenbaum Institut 2019) gesetzt werden können, die ihrerseits aber vor allem die Logik der Daten fortschreiben (Ulbricht 2020, S. 434), oder eine europäische Governance, die sich zur Hervorbringung öffentlicher Meinungen maßgeblich auf die demoskopische Logik in Gestalt des Eurobarometers stützt (Höpner und Jurczyk 2012), aber nur bedingt in der Lage scheint, das konfigurative Spiel grenzübergreifend zu organisieren. Natürlich wirft die digitale Transformation auch Fragen auf, die jenseits dieses Rahmens liegen, etwa im Hinblick auf Sicherheit und Souveränität (als Überblick Hofmann et al. 2019). Soweit es Grundfragen demokratischen Handelns betrifft, eröffnet sich jedoch ein weites Feld an alten und neuen Problemen, die fruchtbar rekontextualisiert werden können.